Erinnern für eine menschliche Zukunft - Projekte mit Schülerinnen und Schülern - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG ...
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APRIL 2020 | NR. 190 DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG Erinnern für eine menschliche Zukunft Projekte mit Schülerinnen und Schülern
Impressum und Editorial IMPRESSUM HERAUSGEBER Bischöfliches Generalvikariat Münster Hauptabteilung Schule und Erziehung 48135 Münster, Fon 0251 495-412 www.bistum-muenster.de/schule REDAKTION Dr. Stephan Chmielus (verantwortlich), Georg Garz KONZEPTION Dr. Heiko Overmeyer, Abteilung Religionspädagogik LAYOUT & SATZ kampanile | medienagentur, Münster www.kampanile.de DRUCK Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de REDAKTIONSSEKRETARIAT Bischöfliches Generalvikariat Münster, Hauptabteilung Schule und Erziehung Abteilung Religionspädagogik Kardinal-von-Galen-Ring 55, 48149 Münster Fon 0251 495-417, Fax 0251 495-7417 kluck@bistum-muenster.de TITELBILD UND FOTOS Ulrich Hubert / Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (Titel) Karl-Heinz Jostmeier (29, 31) iStock – tomograf (6) Privat (20, 21, 34, 43, 33) Matthias Ahlke / Westfälische Nachrichten (12, 16) Kim Keen (15) Raimund Knoke (22, 24, 27) Markus van Offern (38) Kristina Slotty (36) Klaus Simon (10) Sigismund von Dobschütz (43, 44) ISSN: 2195-9447 Das verwendete Papier ist aus 100 % Altpapier hergestellt.
LIEBE KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN! Am 8. Mai 2020 jährt sich das Ende des Die Frage, wie trotz eines Verblassens der Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Bereits am 27. Erinnerung durch den Verlust der Zeitzeugen die Januar wurde des 75. Jahrestages der Befreiung Generation der Nachgeborenen dazu motiviert des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht. werden kann, Verantwortung zu übernehmen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier be- lässt sich als Klammer für die Beiträge unter der merkte dazu in seiner Rede in Yad Vashem, er Rubrik BEISPIEL verstehen. Die dargestellten Pro- wünsche sagen zu können, unser Erinnern habe jekt- und Unterrichtsideen decken ein Spektrum uns gegen das Böse immun gemacht. Stattdessen von der Arbeit mit Grundschulkindern bis zu müsse er einräumen, dass sich das Böse heute Studierenden ab. in neuem Gewand zeige. Aus pädagogischer Perspektive kann man ergänzen: Der Notwendig- Da nicht alle Beiträge im Heft abgedruckt keit schmerzhafter und gefährlicher Erinnerung werden konnten, finden Sie Im Serviceteil diesmal stehen häufig genug Gleichgültigkeit und Über- einen Hinweis auf Downloads zusätzlicher Bei- druss gegenüber. träge. Dr. Norbert Köster greift diesen Aspekt in seinem Am 2. Dezember letzten Jahres verstarb im Alter Artikel auf, indem er nach dem spezifischen Beitrag von 91 Jahren der Theologe Johann Baptist Metz. des Religionsunterrichts zum Gedenken an die Sho- Beim Requiem erinnerte Dr. Ulrich Lüke daran, ah fragt. Er lenkt den Blick auf religiöse Identitäts- dass dieser seinen Schülerinnen und Schülern findung angesichts des Terrors und des Martyriums eingeschärft habe, die Rede vom Gott des Lebens der Konzentrationslager. Wo sich das Individuum müsse leidenssensibel und gerechtigkeitsorientiert mit seinen eigenen Bedürfnissen und Emotionen sein. Darum könne die christliche Auferstehungs- wiedererkennt, kann eine Solidarität entstehen, die hoffnung bei allem Jubel nicht über das Leid mehr ist als eine Verpflichtung zur Erinnerung. Kim hinwegjubilieren. Vielleicht lässt uns der erzwunge- Keen bringt die Perspektive der Lehrerfortbildung ne Verzicht auf gemeinsame gefeierte Kar- und ein. Sie stellt die Aufgabe der Pflege von Erinne- Ostertage in diesem Jahr deutlicher spüren: Das rungskultur in den Zusammenhang von Demokra- Gedächtnis des Leidens und des Todes Jesu Christi tieförderung und Antisemitismusprävention. Die sind Voraussetzung dafür, seine Auferstehung hoff- Bildung historisch-politischen Bewusstseins wird nungsvoll und zuversichtlich zu bezeugen. durch das Lernziel Zivilcourage präzisiert. Es geht eben auch darum, sich mit Tätern auseinanderzu- setzten und ihnen entgegenzutreten. Dr. William Middendorf Leiter der Hauptabteilung Dr. Stephan Chmielus Schule und Erziehung Verantwortlicher Redakteur
Inhalt und Impuls INHALT 6 SCHWERPUNKT 6 Religiöses Lernen über die Erinnerung 38 Der Löwe von Münster hinaus Ein Escape-Room hält die Erinnerung Die Shoah im Religionsunterricht wach Dr. Norbert Köster Markus Hachmann 12 Umgang mit bösen Geistern in neuem 40 Auf den Spuren jüdischen Lebens in Gewand Ochtrup Erinnerungskultur, Demokratieförde- Das Thema Holocaust im katholischen rung und Antisemitismusprävention Religionsunterricht der Grundschule Kim Keen Tim Joest 43 „Ich wollte noch einmal die Sonne 19 BEISPIEL sehen“ Gedenken an der Erna-de-Vries- Realschule 19 Ein Tempel, der verbindet Andrea Reiling Zur Kooperation zwischen Kardinalvon- Galen-Gymnasium und jüdischer Ge- meinde 46 SERVICE Santa Bitter/Gregor Osthues 22 Sehen, hören, schweigen, zur Sprache 46 Sehenswert bringen Neu in der Mediothek Tage religiöser Orientierung in Auschwitz 48 Lesenswert Raimund Knoke Kirchengeschichte in Karikaturen Konfessionell-kooperatives Lernen 28 Nur wer sich erinnert, wird niemals Taschenlexikon Religionsdidaktik vergessen Versöhnungsarbeit auf dem jüdischen 50 Bemerkenswert Friedhof in Miroslav, Tschechien Erinnerungsarbeit ohne Zeitzeugen Karl-Heinz Jostmeier Spuren finden Antisemitismus an Schulen 32 „Sind sie nicht eigentlich zu jung?“ Zur Konzeption der Gedenkstättenfahr- 51 Downloads ten der Realschule St. Martin Gerd Wilpert Blicke schärfen. Stellung beziehen. 34 Vielfalt leben. Wie das Overberg-Kolleg der Shoah gedenkt Dr. Kristina Thies 4
GEFÄHRLICHE ERINNERUNGEN Es gibt Erinnerungen, in denen frühere Erfahrungen inmitten unseres Lebens durchschlagen und die so neue, gefährliche Einsichten für unsere Gegenwart aufkommen lassen. Sie beleuchten für Augenblicke grell und hart die Fraglichkeit dessen, womit wir uns scheinbar abgefunden haben, und die Banalität unseres vermeintlichen „Realismus“. Bild: Paul Klee, Angelus Novus Text: Johann Baptist Metz. Erinnerung des Leidens als Kritik eines teleologisch-technologischen Zukunftsbegriffs, in: Evangelische Theologie 32 (1972), S. 338-352, hier: S. 348.
Schwerpunkt RELIGIÖSES LERNEN ÜBER DIE ERINNERUNG HINAUS DIE SHOAH IM RELIGIONSUNTERRICHT Das Anwachsen des Antisemitismus macht ohne Frage eine Intensivierung der Gedenkkul- tur notwendig. Es ist ein wichtiger, öffentlicher Auftrag der Schule, Schülerinnen und Schüler an die Shoah zu erinnern. Die einzelnen Fächer haben dafür sehr unterschiedliche Begrün- dungszusammenhänge und dementsprechend auch unterschiedliche Zugänge und Inhalte des Gedenkens. Es ist wichtig, diese Unterschiede zu akzentuieren, damit bei den Schülerinnen und Schülern nicht der Gedanke aufkommt, immer das gleiche zu machen. Was ist das Spezifische des Gedenkens an die Shoah im Religionsunterricht? von Dr. Norbert Köster 6
Geschichtliche Themen spielen im Religionsun- weil es das Anliegen von Metz war, die biblische terricht eigentlich fast gar keine Rolle. Zwar werden Apokalyptik für aktuelle politische Diskurse frucht- immer wieder historische Persönlichkeiten und bar zu machen. Dieses Anliegen setzt Leimgruber ihre Anliegen zu verschiedenen Themen heran- konsequent und engagiert um. gezogen, als historische Ereignisse an sich kommen aber allenfalls die Reformation oder in der Ober- Erinnern als moralische Funktion stufe des Gymnasiums das II. Vatikanische Konzil In der Perspektive des Kirchenhistorikers greift vor. Der Religionsunterricht tut sich schwer mit der dieser Ansatz aber zu kurz, und dies gilt letztlich Geschichte, weil die Geschichte des Christentums auch für das Gedenken der Shoah. Denn der Be- ambivalent ist. Historische Themen gelten zunächst gründungszusammenhang für das Erinnern liegt einmal als Teil des Geschichtsunterrichts. im Kontext des kollektiven Gedächtnisses und seiner Erinnerungskultur, hat zunächst einmal Diese Problematik spiegelt sich in der Religions- eine – gar nicht infrage zu stellende – moralische didaktik von Georg Hilger, Stephan Leimgruber Funktion im Blick auf die Opfer.6 „Erinnern ist das und Hans-Georg Ziebertz, wenn Leimgruber hier Letzte, das man den Opfern noch geben kann.“7 die Beschäftigung mit der Geschichte des Chris- Das religiöse Lernen im Rahmen des Religionsun- tentums unter das religionsdidaktische Prinzip terrichts ist aber wesentlich weiter angelegt, als „Erinnerungsgeleitetes Lernen“ fasst.1 Anset- den Schülerinnen und Schülern die Verpflichtung zend bei Johann Baptist Metz sieht Leimgruber zur Erinnerung zu vermitteln. Es geht um die Er- als Kern der Beschäftigung mit der Geschichte schließung religiöser Grundfragen und die Refle- des Christentums, „ein achtsames Gedenken, xion religiöser Praxis angesichts eines historischen das Veränderungen in der Einstellung und im Ereignisses. Handeln nach sich zieht, also kein rein äußerliches Erinnern, sondern gleichsam einen Stachel für Dabei begegnen sich jeweils zwei wesentliche das Subjekt-Werden ein einfühlendes, aufwüh- Aspekte. Religion wird immer in einer konkreten lendes und folgenreiches Lernen für eine bessere gesellschaftlichen und persönlichen Situation ge- Zukunft. Als angemessene Zugänge zu (kirchen-) lebt und zeichnet sich gerade dadurch aus, dass geschichtlichen Themen eignen sich Biografien, diese Situation mit dem Glauben an Gott in Ver- das Erzählen von gelebten Geschichten, die Be- bindung gebracht wird. Beide Aspekte verändern gegnung mit Zeitzeugen und der Unterrichtsgang sich dadurch: Die konkrete Situation wird auf den zu Orten historischer Erfahrung.“2 Glauben hin gedeutet und der Glaube auf die Situation hin. Historisches Lernen im Religions- Die Erinnerungskultur versteht Leimgruber im unterricht erschließt diese Prozesse und macht sie Sinne von Metz als „gefährliche Erinnerung“, deren für das religiöse Lernen fruchtbar. didaktischer Zugang das Erzählen ist.3 Als Beispiele für eine solche Erinnerung nennt Leimgruber das Im Blick auf die Shoah heißt dies, nicht nur Judentum als Ursprungsort der Erinnerung, die einen Beitrag zur Erinnerungskultur8 zu leisten, Erinnerung an das biblische Urchristentum und sondern viel umfassender zu schauen, wie Christen das Gedenken Gottes im Islam.4 Die didaktischen und Juden die Shoah religiös gedeutet haben Hinweise für den Religionsunterricht konzentrieren und inwiefern sich ihr Glaube bzw. ihre Glaubens- sich anschließend auf das Gedenken an die Shoah.5 praxis durch die Shoah verändert hat. Dabei geht Die Kirchengeschichte kommt in diesem Ansatz es nicht um eine Historisierung und damit auch gar nicht vor und kann auch gar nicht vorkommen, Relativierung des historischen Ereignisses, sondern 7
Schwerpunkt gerade um seine Singularität. Das ist sehr wichtig, Lebensereignisse können dazu führen, dass wenn man auch die Shoah in das religiöse Lernen man „etwas näher am Herzen der Schöpfung ist anhand der Geschichte einreiht.9 als üblich“ und dadurch tradierte Formen der Religion, für die im Gedicht die Pfaffen stehen, Was das konkret heißt, deutet das Bild auf sprengt. Es sind die Ereignisse, die einen so aus Seite 5 dieser Ausgabe, der Angelus novus von der Bahn werfen, dass man „diesseitig“ gar nicht Paul Klee, an. Er ist einer von sehr vielen Engeln, mehr „faßbar“ ist. Historische Theologie spürt die Klee gemalt hat.10 Klees Engel durchkreuzen auch und vielleicht gerade diese Grenzgänge- alle gängigen Vorstellungen, indem sie groteske rinnen und Grenzgänger auf und macht sie für Züge annehmen.11 Das, wofür ein Engel steht, näm- religiöses Lernen fruchtbar. Gerade dadurch, dass lich die Hoffnung auf Rettung, wird bei Klee mit Schülerinnen und Schüler Menschen begegnen, einer Gestalt zum Ausdruck gebracht, die wenig die angesichts eines Ereignisses an fundamentale Vertrauen erweckt, zumindest nicht darauf, retten religiöse Fragen gekommen sind, kann in ihnen zu können. Die Engel scheinen selbst der Erlösung eine Gedächtniskultur wachsen, die existentiell zu bedürfen. Das zwischen Himmel und Erde Ver- verankert ist. mittelnde entschwindet und stellt viel radikaler die Frage, inwiefern Erde und Himmel noch zueinan- Religiöses Lernen anhand der Geschichte be- der finden. Klees Engel stehen damit auch für eine zieht sich aber auch auf diejenigen, die versucht sehr existenzielle Form des Religiösen. Ein Gedicht haben, den Terror des Konzentrationslagers gerade von Paul Klee aus dem gleichen Jahr 1920, in dem mit den Mitteln zu bewältigen, die ihnen aus der der Angelus novus entstand, kann das verdeut- christlichen Tradition zur Verfügung standen. Den lichen: Blick auch auf die nichtjüdischen Opfer des NS-Ter- rors zu richten, ist keineswegs eine Relativierung der Shoah. Sie ist notwendig, um Modelle zu entdecken, welche Gestalt Glaube unter diesen Diesseitig bin ich gar nicht faßbar. Umständen annehmen kann und mit jüdischen Wegen, angesichts der Shoah die Gottesfrage zu Denn ich wohne grad so gut bei den Toten, stellen, ins Gespräch zu bringen. wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung Als Beispiel hierfür kann die Priesterweihe Karl als üblich. Leisners im KZ Dachau am 26. Dezember 1944 die- nen.13 Die mit äußerstem Mut und viel Geschick Und noch lange nicht nahe genug. durchgeführten Vorbereitungen für die Weihe, in der, ohne dass die Aufseher es bemerkten, ein Geht Wärme von mir aus? Kühle?? französischer Bischof mit polnischen Messdienern Das ist jenseits aller Glut gar nicht zu erörtern. einen todkranken Deutschen zum Priester weihte, Am Fernsten bin ich am frömmsten. war ein Aufstand gegen den Terror gerade mit dem, was den Priestern zur Verfügung stand: ihre Diesseits manchmal etwas schadenfroh. eigene Identität. Ähnlich wie Alfred Delp und Diet- Das sind Nüancen für die eine Sache. rich Bonhoeffer fanden die Priester im KZ auf eine Die Pfaffen sind nur nicht fromm genug, andere und neue Weise ihre Identität und feierten um es zu sehen. sie sogar in der Weihe Karl Leisners. Die Berichte der Überlebenden erzählen eindrucksvoll davon. Und sie nehmen ein klein wenig Ärgernis, Religiöses Lernen heißt auch zu sehen, dass Ver- die Schriftgelehrten.12 lust der Identität und Finden der Identität nicht nur sehr nahe beieinander liegen können, sondern Paul Klee jeweils eigene Formen existentieller Religiosität sein können. Können sich Schülerinnen und Schüler zwischen diesen Weisen der Religiosität verorten? Biogra- phisch kann dies eine Überforderung sein. In der Regel ist die Lernsituation im Religionsunterricht 8
dafür zu wenig geeignet. Hier böte sich performa- nen aus Münster erklärten sich bereit, und Bischof tives Lernen an, in dem Schülerinnen und Schüler Dr. Franz Josef Bode konnte im November 2007 Selbstversuche wagen können. Allerdings gehört es das Kloster einweihen. zu den Grundlagen der Gedenkstättenpädagogik, dass performatives Lernen im Blick auf Konzentra- Das Kloster ist allerdings wesentlich mehr als tionslager prinzipiell weder möglich noch sinnvoll nur ein Ort, an dem Schwestern beten und arbei- ist. Die Realität eines Konzentrationslagers kann ten. Es lädt Besuchergruppen ein, in drei Räumen nicht nachempfunden werden.14 dem Besuch der Gedenkstätte nachzugehen. Die Räume haben jeweils unterschiedliche Schwer- Gedenkstätte Esterwegen punktsetzungen. Zu den Räumen heißt es jeweils Dass es doch einen Weg gibt, Schülerinnen und auf der Homepage des Klosters: Schülern behutsam einen Raum für die religiöse Identitätsfindung angesichts der Shoah zur Verfü- Gedenkraum gung zu stellen, zeigt die Gedenkstätte Esterwe- Wir öffnen Ihnen einen Raum für das Gedenken gen. Bereits im Sommer 1933 entstanden in Bör- der Geschundenen und Geschlagenen. Auf drei germoor und in Esterwegen Konzentrationslager Betonblöcken in einer Nische können Kerzen an- für politische Gefangene. Auch zahlreiche Straf- gezündet werden. Die Säulen sind Zeichen für die gefangenenlager wurden im Emsland errichtet. Standhaftigkeit und Gewissensüberzeugung der Esterwegen wurde als Konzentrationslager 1934 Menschen, die hier grausam gefoltert und getötet der SS unterstellt. „Wegen massiver Schikanen wurden und dennoch ihrer Überzeugung treu ge- und zahlreicher Mordfälle sprachen die Häftlinge blieben sind. Sie sind eingebettet in heimischem schon bald von der ‚Hölle am Waldesrand‘. Es wur- Torf und stehen vor einer Wand, auf der das ‚Lied den vorwiegend politische Häftlinge in ‚Schutz- der Moorsoldaten‘ gedruckt ist. haft‘ dort inhaftiert.“15 1937 wurde Esterwegen in ein Strafgefangenenlager umgewandelt. Die Raum der Sprachlosigkeit Gefangenen mussten vor allem im Moor arbeiten, Wir öffnen Ihnen einen Raum, wo Ihre Betroffen- das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“ entstand in heit und Sprachlosigkeit Gehör findet. Über eine Esterwegen. Carl von Ossietzky war von 1934 bis leicht nach unten führende Rampe gelangt man 1936 Gefangener in Esterwegen. in einen Raum, dessen Wände aus Metallma- schen ihn in diffuses Licht hüllen. Die verros- Von dem Strafgefangenenlager Esterwegen hat teten Räder der Torf-Lore und Schienen des sich, wie von den meisten Emslandlagern, nichts Drehkreuzes sind die gleichen, auf denen einst erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die der von den Häftlingen unter unmenschlichen Spuren schnell verwischt. Auf dem Gelände des Bedingungen errungene Torf zur Sammelstelle Lagers war eine Einrichtung der Bundeswehr. Nach transportiert wurde. längeren Bestrebungen eines örtlichen Vereins errichtete im Jahr 2008 der Landkreis Emsland die Kapelle Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, die die Gedenk- Wir öffnen Ihnen einen Raum, wo Sie die stätte aufbaute. Während sich der Besucheremp- Gegenwart Gottes erspüren können. Eine zweite fang und die Ausstellungen in einem Bundes- Rampe führt hinauf in die Kapelle, wo aus der wehrgebäude befinden, wurden die ehemaligen Torf-Lore ein Altar wird. Wie frühchristliche Lagerbaracken im Außengelände lediglich durch Altäre auf den Gräbern der Märtyrer errichtet eine Bepflanzung angedeutet. Die Gedenkstätte wurden, so soll dieser Altar an das Marter- stellt vor allem zahlreiche Biografien von Opfern werkzeug der Moorsoldaten erinnern. An der und Tätern vor. Seitenwand hängt ein großes, von einer Kriegs- Verletzung gezeichnetes Kreuz. Die Wunde Das Bistum Osnabrück sah die Gedenkstätte als eines Granateinschlags um 1944/45 gab dem Herausforderung und hat sich in einzigartiger Wei- aus einem dicken Eichenstamm herausgesägten se engagiert. Auf dem Gelände des Lagers baute Kreuz seine Form. Im Baum tickt eine Uhr – das Bistum ein früheres Verwaltungsgebäude der schlaf nicht ein.“16 Bundeswehr zu einem Kloster um und suchte nach einer Ordensgemeinschaft, die bereit war, das Die drei Räume bilden einen gut überlegten Kloster zu beziehen. Die Mauritzer Franziskanerin- didaktischen Dreischritt. Am Beginn steht das Ge- 9
Schwerpunkt die nicht mehr wussten, ob sie noch leben. Die Sprachlosigkeit, die bleibt, hebt tradierte religiöse Sprachformen auf. Diese Erfahrung kann hier, an diesem Ort, in der Art und Weise gemacht werden, die für einen performativen Religionsunterricht wichtig ist: nicht als ein vermeintliches Eintauchen in die Geschichte, sondern als ein Hereinholen der Geschichte in die Gegenwart durch vermittelnde Gegenstände. Der dritte Raum, die Kapelle, führt zur Gottes- frage zurück. Ohne eine Antwort zu geben, lädt der Raum ein, die Gottesfrage neu zu stellen. „Am Fernsten bin ich am frömmsten“ schrieb Klee 1920. Aus der Sprachlosigkeit heraus eine Begegnung mit Gott zu wagen, ist die grundlegende Einladung der jüdisch-christlichen Tradition. Das Kreuz taucht ganz am Rand als Wegweiser wieder auf. Es ist eine Einladung für die, die gerade jetzt auf etwas zurückgreifen wollen, was für ihre religiöse Identi- tät wichtig ist. Die Richtung des Raums ist aber eine andere. Es steht die Frage Hiobs im Raum, ob er angesichts der Katastrophe trotzdem an Gott festhält. Aus der Sprachlosigkeit heraus mit der Gottesfrage nicht abzuschließen, sondern sie neu zu stellen, ist ein wesentliches Moment religiösen Lernens. Schülerinnen und Schüler werden in ih- denken. Durch die Möglichkeit, Kerzen anzuzünden, rem Leben irgendwann an diesen Punkt kommen. kann das Gedenken auch symbolisch vollzogen werden, ohne dabei etwas sagen zu müssen. Dabei Die Einladung des Klosters in Esterwegen, sich eröffnet das Gedenken in Form des Lichtes bereits angesichts der Schrecken des NS-Terrors der Got- eine sehr zentrale Frage: Ist das Leben der Gefol- tesfrage zu stellen, ist keine Verzweckung des Ge- terten hier zu Ende gegangen? Oder hatte es eine schehenen. Es ist die Einladung, sich den religiösen Zukunft irgendwo, irgendwie? Daran kann sich auch Fragen zu stellen, die auch die Häftlinge beschäftigt die Frage anschließen, ob die Opfer jemals Gerech- haben. Diese Praxis geht über die Erinnerungskul- tigkeit erfahren. Diese Frage wird durch den Raum tur hinaus. Die Frage nach Gott angesichts des Bö- nicht explizit gestellt, sie kommt allenfalls durch den sen und des Leids ist eine Grundfrage des Lebens, freiwilligen Akt des Entzündens der Kerze selbst. die diejenigen auf eine tiefe Art und Weise mit- Insofern kann das Licht auch schon Ausdruck der einander verbindet, die sich ihr stellen, gleich, ob Hoffnung sein, dass es Gerechtigkeit gibt. aufgrund eigenen oder fremden Leids. Es entsteht eine Solidarität, die mehr ist, als eine Verpflichtung Der zweite Raum eröffnet eine doppelte Dimen- zur Erinnerung. Hier liegt die Chance, wenn im sion. Durch die an einen Gitterzaun erinnernde Religionsunterricht der Shoah gedacht wird. Wandgestaltung und die originalen Gegenstände kommt es zu einer behutsamen Berührung mit dem Geschehenen, wobei der Raum explizit ein gegenwärtiger ist. In diesem Raum sprechen die Gegenstände, die von den Häftlingen berührt wurden. Die überkommene religiöse Symbolik Dr. Norbert Köster hält dem nicht stand. Das Kreuz liegt am Boden Westfälische Wilhelms-Universität und erscheint als Drehkreuz. Man kann es drehen Münster Professor für Historische Theologie und wenden wie man will, es wird ganz zum Sym- und ihre Didaktik bol derjenigen, deren Weg dieses Kreuz war und n.koester@uni-muenster.de 10
1 Stephan Leimgruber: Erinnerungsgeleitetes Lernen. in: Georg Hilger, Stephan Leimgruber, Georg Ziebertz: Religionsdidaktik. Ein Leit- faden für Studium Ausbildung und Beruf. München 32013, S. 365-373. 2 Ebd. S. 366. 3 Vgl. ebd. S. 366-367. 4 Vgl. ebd. S. 368-370. 5 Vgl. ebd. S. 370-373. 6 Vgl. allerdings auch die Kritik der Erinnerungskultur bei Volkhard Knigge: Abschied von der Erinnerung. Zum notwendigen Wandel der Arbeit der KZ-Gedenkstätten in Deutschland. In: Gedenkstätten-Rundbrief 100 (2001), S. 136-143. 7 Vgl. Jürgen Manemann: Weil es nicht nur Geschichte ist. Die Begründung der Notwendigkeit einer fragmentarischen Historiographie des Nationalsozialismus aus politisch-theologischer Sicht (Reihe: Religion Geschichte Gesellschaft. Fundamentaltheologische Studien 2, München 1995,), S. 158-164, hier S. 159. 8 So der Tenor des Heftes „Schoah – Erinnern lernen“ der Katechetischen Blätter 1/2010. 9 Vgl. Manemann, a.a.O., S. 246-275. 10 Walter Benjamin hatte eine sehr eigene und weitreichende Deutung des Angelus novus. Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin und sein Engel. In: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin herausgegeben von Siegfried Unseld, Frankfurt 1972. 11 Vgl. Perdita Rösch: Die Hermeneutik des Boten. Der Engel als Denkfigur bei Paul Klee und Rainer Maria Rilke, München (u.a.) 2009. 12 Paul Klee: Gedichte. Herausgegeben von Felix Klee. Zürich – Hamburg 1996. 13 Vgl. die entsprechenden Quellen in Wolfgang Michalke Leicht, Clauß Peter Sajak: Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn 2015, S. 535-537. 14 Vgl. René Mounajed: Außerschulisches Lernen an KZ-Gedenkstätten. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 187- 194. 15 https://www.gedenkstaette-esterwegen.de/geschichte/lager-esterwegen/konzentrations-und-strafgefangenenlager.html (27. Februar 2020). 16 http://www.kloster-esterwegen.de (27. Februar 2020). 11
Schwerpunkt UMGANG MIT BÖSEN GEISTERN IN NEUEM GEWAND ERINNERUNGSKULTUR, DEMOKRATIEFÖRDERUNG UND ANTISEMITISMUSPRÄVENTION Auf Seite 5 dieser Ausgabe wird der „Angelus von Kim Keen Novus“ von Paul Klee gezeigt. Gekauft wurde dieses Bild 1921 vom Philosophen Walter Zunächst sah Benjamin in dem Bild gemäß der Benjamin. Es sollte ihn noch fast 20 Jahre Kabbala ein Sinnbild für die Möglichkeit Gottes, lang bis zu seinem Tod 1940 begleiten. Nach jederzeit eine Unzahl neuer Engel erschaffen zu der Machtergreifung der Nationalsozialisten können. Als Folge seiner Erlebnisse verfasst er floh er aufgrund seiner jüdischen Herkunft im 1940 die Thesen „Über den Begriff der Geschich- September 1933 nach Paris, wo der Philosoph te“. „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus als „feindlicher Ausländer“ drei Monate in heißt. […] Der Engel der Geschichte muss so einem Arbeitslager interniert wurde. Als die aussehen. […] wo eine Kette von Begebenheiten Niederlage der französischen Armee gegen die vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katas- Wehrmacht kurz bevorstand, nahm sich Walter trophe. […] Aber ein Sturm weht vom Paradiese Benjamin nach einem missglückten Flucht- her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und versuch nach Spanien über die Pyrenäen das so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schlie- Leben. Das Bild hat ihn bis kurz vor diesem ßen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam Zeitpunkt begleitet, bevor er es zusammen mit in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während einigen Texten seinem Freund Georges Bataille dieser Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel übergeben hatte.1 wächst.“2 12
Der „Neue Engel“ ist für Walter Benjamin zum tiven Fakten“ konfrontiert werden? Muss ich als Engel der Geschichte geworden. Der Blick des En- Lehrkraft wirklich auf jeden Kommentar in diese gels erscheint ihm nun dunkel, voll Trauer und Ent- Richtung eingehen? setzen in Anbetracht dessen, was Menschen an- deren Menschen antun. In seinen Texten über den Erinnerungskultur und Demokratieförderung Engel verbindet er theologische Überlegungen 37 Prozent der Deutschen plädieren laut der auch immer wieder mit denen der Erinnerungs- im Januar 2020 veröffentlichten Umfrage der kultur. Diese übernehme, laut Benjamin, auch die Deutschen Welle für einen Schlussstrich unter die Aufgabe „zu retten, was gescheitert ist.“3 Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. 25 Prozent finden, dass zu viel an die Verbrechen Welchen Auftrag muss Schule und Erziehung von Nazi-Deutschland erinnert wird. Diese Zahlen aus diesen Überlegungen ziehen? Im Januar 2020 beunruhigen. mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede in der Mahn- und Gedenkstätte Auf der anderen Seite sagen aber 55 Prozent, Yad Vashem in Israel: „Die bösen Geister zeigen dass sie den Umfang der Erinnerungsarbeit sich heute in einem neuen Gewand. Mehr angemessen finden, und 17 Prozent betrachten noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr ihn als zu gering. 60 Prozent sprechen sich klar völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für gegen einen Schlussstrich aus.5 Das bedeutet die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme also, dass sich die Mehrheit der Deutschen nach unserer Zeit.“4 wie vor klar zu einer aktiven Erinnerungskultur an die Verbrechen und die Opfer des Natio- Angesichts steigender antisemitischer und nalsozialismus bekennt und diese für wichtig rassistisch motivierter Vorfälle stelle ich mir als erachtet, auch wenn die anderen 25 Prozent Geschichtslehrerin und Mitarbeiterin in einer Lern- manchmal lauter erscheinen mögen. Doch und Gedenkstätte und in Anbetracht meiner Tätig- welchen Zweck verfolgen wir mit unser Erinne- keiten in der Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung rungsarbeit? der Bezirksregierung Münster viele Fragen, auf die ich in diesem Artikel sicherlich keine vollständigen Zum einen geht es natürlich darum, der Opfer Antworten finden werde. Trotzdem möchte ich zu gedenken, ihnen ihre Identität zurückzugeben meine Fragen und Gedanken erläutern. und sie nicht zu vergessen. Gleichzeitig möchten wir mit dem Erinnern an diese unvorstellbaren Welche Rolle nimmt eine lebendige Erinne- Verbrechen auch mahnen. Natürlich kann und rungskultur an die Verbrechen und die Opfer des darf die erinnerungskulturelle Arbeit nur ein NS-Regimes bei der Demokratieförderung und Anti- Baustein sein. Dieser Baustein ist aber enorm semitismusprävention eigentlich ein? wichtig, um eine Beziehungsebene zwischen den Generationen, der Vergangenheit, Gegenwart und Bedeutet es automatisch, dass wir durch eine Zukunft herzustellen. Zudem bedarf es auch eines differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergan- fundierten Sachwissens, um gegen Relativierungs- genheit eine stabilere Demokratie und ein klareres versuche und historisch bezogene Opfer-Täter-Ver- Bekenntnis zu einer pluralistischen Gesellschaft kehrungen argumentieren zu können. erreichen? Wie reagieren wir darauf, dass immer wieder Stimmen laut werden, die einen Schluss- Präventionsangebote der Bezirksregierung strich unter die Bewältigung der NS-Vergangenheit Münster und ihrer Partnerorganisationen ziehen möchten? Im Bereich der „Holocaust-Education“ und Antisemitismusprävention setzt die Bezirksre- Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer reagieren, gierung Münster daher nicht nur auf eine klare wenn es zu antisemitischen, diskriminierenden, Vorgehensweise bei akuten antisemitischen homophoben oder rassistischen Äußerungen und rassistischen Vorfällen, sondern auch auf im Klassenzimmer kommt? Sind wir dafür als eine konsequente und möglichst nachhaltige Lehrerinnen und Lehrer überhaupt gut genug aus- Präventions- und Aufklärungsarbeit. Diese Arbeit gebildet, wenn wir mit Verschwörungstheorien, beruht auf mehreren Säulen. Ein Fokus liegt israelbezogenem Antisemitismus und „alterna- auf der historischen Aufklärungsarbeit und der 13
Schwerpunkt Etablierung einer lebendigen Erinnerungskultur, le-Plattform vernetzt, auf der sie sich über aktuelle der andere Fokus liegt auf aktuellen Ereignissen Veranstaltungen, Projekte und vieles mehr zu dem und der Stärkung eines pluralistischen Demo- Themenkomplex Holocaust-Education informie- kratieverständnisses, in dem Antisemitismus und ren können. 2022 wird der nächste Studientag in Rassismus keinen Platz haben, sowie auf der Bochum stattfinden. Extremismusprävention. Ein Phänomen, das immer wieder auftritt, ist, Landesweite Fortbildung „Erziehung nach dass die meisten Menschen ein recht geringes Auschwitz“ Wissen über das Judentum haben und dieses Schon seit mehr als 20 Jahren bietet das Land häufig direkt mit der Verfolgung, Entrechtung und Nordrhein-Westfalen die landesweite Fortbil- Ermordung dieser Bevölkerungsgruppe in der dungsmaßnahme „Erziehung nach Auschwitz“ an. NS-Zeit verbinden. Durch diese Verknüpfung ist Dabei werden Lehrerinnen und Lehrer aus allen vielleicht auch zu erklären, wie es dazu kommt, Regierungsbezirken in enger Zusammenarbeit mit dass immer wieder davon berichtet wird, dass „Du der Lern- und Gedenkstätte Yad Vashem in einem Jude“ ebenso wie „Du Opfer“ als Beleidigung auf Zeitraum von zwei Wochen in Israel ausgebil- unseren Schulhöfen verwendet wird. Daher ist es det. Zum einen werden vielfältige Wissens- und wichtig, das Judentum als Kultur und Religion im Vermittlungsansätze im Bereich der „Shoah-Edu- Unterricht in seiner Vielfalt darzustellen. Hier kann cation“ thematisiert, zum anderen werden ver- und muss meiner Auffassung nach neben dem Re- schiedene Facetten des jüdischen Lebens heute ligions- und Deutschunterricht auch der Unterricht und vor dem Zweiten Weltkrieg angesprochen. in den Gesellschaftswissenschaften eine wichtige Auch der Bereich des Antisemitismus in seiner his- Rolle einnehmen. torischen, aber auch aktuellen Dimension findet intensiven Eingang in die Fortbildungsmaßnahme. Derzeit befasst sich ein Arbeitskreis aus Mo- Die Bezirksregierung Münster leitet diese Fort- deratorinnen und Moderatoren aller Bezirksregie- bildung ausgehend vom Dezernat Lehreraus- und rungen in Nordrhein-Westfalen und ehrenamt- -fortbildung. Innerhalb der Fortbildungsmaßnah- lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des me nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Humberghauses in Hamminkeln mit dem Projekt 2019 unter anderem auch an einer Veranstaltung „Jüdische Nachbarn“. Die Mitwirkenden sind dabei der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission fast alle ehemalige Teilnehmerinnen und Teilneh- in Tel Aviv in Zusammenarbeit mit israelischen mer der Fortbildungsmaßnahme „Erziehung nach Lehrerinnen und Lehrern teil. Auf die Fortbildung Auschwitz“. In dem Projekt werden beispielhaft in Israel können sich alle Lehrerinnen und Lehrer Biographien aus Nordrhein-Westfalen für Schü- mit einer festen Stelle an einer weiterführenden lerinnen und Schüler der Sekundarstufe I und II Schule bewerben. Weitere Informationen findet aufgearbeitet und das jüdische Leben in der Stadt man auf www.brms.nrw.de/go/lehrerfortbildung und auf dem Land vor 1933 in den Fokus genom- unter dem Stichwort „Erziehung nach Auschwitz“. men. Hauptziel des Projekts ist es, Schülerinnen und Schülern die Vielfalt des jüdischen Lebens Aus dieser Maßnahme haben sich zahlreiche zugänglich zu machen. weiterführende Projekte entwickelt. So wird alle vier Jahre ein Studientag ehemaliger Teilnehme- Mittlerweile hat Yad Vashem in Nordrhein- rinnen und Teilnehmer abgehalten. Der letzte Westfalen fünf Partnerschulen benannt, die sich Studientag fand 2018 in Köln statt und widmete durch ihre langjährige Arbeit zu den genannten sich dem Schwerpunktthema Antisemitismus, Themenkomplexen besonders hervorgetan ha- unter anderem mit Vorträgen von Prof.‘in Dr. Astrid ben. Mit der Hermann-Leeser-Schule in Dülmen, Messerschmidt, Professorin für Geschichtsdidaktik dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium an der Bergischen Universität Wuppertal, und von in Münster und der Realschule St. Martin in Deborah Hartmann, Leiterin der deutschsprachi- Sendenhorst befinden sich drei dieser Schulen gen Abteilung der International School for Holo- im Regierungsbezirk Münster. Hinzu kommen caust Studies, Yad Vashem. das Grabbe-Gymnasium in Detmold und die Fritz-Bauer-Gesamtschule in St. Augustin. Die Die ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilneh- fünf Partnerschulen sind ebenfalls über eine mer der Fortbildung sind zudem über eine Mood- Moodle-Plattform vernetzt und haben unter 14
anderem mit dem Projekt Erasmus+ 2016/2017 Unter dem Namen „Erinnerungspaten – Erin- ein gemeinsames Erinnerungsprojekt in Israel nern über die Zukunft hinaus“ widmen sich Men- und Münster mit Schülerinnen und Schülern schen der Erinnerung an die NS-Zeit, indem sie die der damals noch vier Partnerschulen, mit Schü- individuelle Geschichte eines Opfers der NS-Zeit lerinnen und Schüler aus Rishon LeZion, mit wachhalten. Die Paten kannten den Zeitzeugen Yad Vashem und mit der Villa ten Hompel um- oder die Zeitzeugin persönlich und haben sie zu- gesetzt. Derzeit findet zum Beispiel ein neues mindest einen Teil ihres Lebensweges begleitet. Erasmus+-Projekt mit einer Schule in Almelo Sie können in Schulklassen und zu anderen Veran- und dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymna- staltungen eingeladen werden und berichten dann sium Münster statt. persönlich von deren Lebensgeschichte. Weitere Informationen und Kontakte zu den Erinnerungs- Erinnern für die Zukunft paten können unter http://lfbr-muenster.lms. Zeitzeugeninnen und Zeitzeugen nehmen eine schulon.org eingesehen werden. ganz besondere Rolle ein, wenn wir über die Ver- brechen der NS-Zeit etwas lernen möchten. Die Als zweites Projekt stehen die Filme „Zeugen Authentizität, die mit der berichtenden Person der Shoah“, für die Videointerviews für den verbunden ist, stellt eine besondere Verbindung Unterricht aufbereitet wurden, zur Verfügung. Die zu den Lernenden her – trotz aller Besonder- hierfür bearbeiteten elf Interviews mit jüdischen heiten, die im Umgang mit Zeitzeugeninnen und Überlebenden aus der Region und die drei Quer- Zeitzeugen beachtet werden müssen. Die Zeit- schnittsfilme können über das Landesmedien- zeugin und der Zeitzeuge vermitteln die Zeit des zentrum Edmond online angesehen werden. Die Nationalsozialismus persönlich und erlebbar. Doch dazu erarbeitete Handreichung mit Unterrichts- wie soll Schülerinnen und Schülern dieser Zugang entwürfen können dort ebenfalls heruntergeladen erhalten bleiben, wenn es keine Zeitzeuginnen werden. Darin enthalten sind auch ein bilinguales und Zeitzeugen mehr gibt? Angebot und konkrete Anregungen für den inklusi- ven Unterricht. Unter der Schirmherrschaft von Regierungs- präsidentin Dorothee Feller wurden zwei Projek- In Zusammenarbeit mit dem Verein „Spuren te als eine Antwort auf diese Herausforderung Finden“, der Villa ten Hompel und der Bezirksre- entwickelt. gierung Münster wurde zudem der Stadtrundgang 15
Schwerpunkt „Ins Stolpern kommen“ zu Spuren der NS-Zeit ent- Die Bezirksregierung Münster unterstützt auch wickelt. Dieser ist unter anderem im Stadtmuseum das Programm „Schule ohne Rassismus – Schule Münster und der Villa ten Hompel zu erhalten. mit Courage“. Eine Kollegin und ein Kollege Der Stadtrundgang bietet zudem QR-Codes mit übernehmen hier im Rahmen einer Abordnung Links zu vertiefendem Material an. die Koordination, Vernetzung und Beratung der teilnehmenden Schulen und unterstützen neue Gemeinsam erinnern – der internationale Interessierte dabei, das Label zu erhalten und Holocaustgedenktag in Münster mit Leben zu füllen. Dabei geht es nicht nur um Die Bezirksregierung Münster hat über eine Fragen zum Bereich des Antisemitismus. Die Lehrerinnenabordnung zusammen mit der Stadt Schulen beschäftigen sich gleichermaßen mit Münster, der Villa ten Hompel und der Gesell- Diskriminierungen aufgrund der Religion, der schaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sozialen Herkunft, des Geschlechts, körperlicher einen gemeinsamen Gedenktag der weiterfüh- Merkmale, der politischen Weltanschauung oder renden Münsteraner Schulen zum internationalen der sexuellen Orientierung. Die Bezirksregierung Holocaust-Gedenktag etabliert. 2020 fand er Münster arbeitet zudem intensiv mit der Mobilen bereits zum vierten Mal statt. Beratung gegen Rechtsextremismus NRW zu- Die Lehrerinnenabordnung ist zudem bera- sammen. tend bei Ausstellungen und deren didaktischen Konzeptionen der Villa ten Hompel tätig. Ferner Ferner beteiligt sich die Bezirksregierung auch werden über die intensive Kooperation der Villa am „Netzwerk Rassismuskritik“ der Stadt Münster ten Hompel mit der Bezirksregierung Münster und unterstützt das Netzwerk bei der Konzeption zahlreiche sogenannte Yad Vashem Lectures mit rassismuskritischer Lernangebote an Schulen. einem vielfältigen Fortbildungsangebot zu diesen Überdies wird die Bezirksregierung Münster im Themenkomplexen angeboten. Kalenderjahr 2020 Fortbildungen für Lehrkräfte und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zur Die Villa ten Hompel bietet ergänzend seit rassismuskritischen Arbeit an Schulen anbieten. vielen Jahren vielfältige Workshops und Führun- gen wie den „Demokratiedschungel“ mit „Mut Eine weitere Säule in der Präventionsarbeit zur Meinung“ und „Freude am Diskurs“ an. In besteht in den Anstrengungen der Bezirksregie- Zusammenarbeit mit dem Franz Hitze Haus in rung Münster zur Prävention des gewaltbereiten Münster werden auch Gedenkstättenfahrten für Salafismus. Dazu bietet die Bezirksregierung Schulklassen nach Bergen Belsen und Buchen- regelmäßig Fortbildungen für Lehrkräfte und So- wald veranstaltet. zialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an, um diese 16
bei der Professionalisierung im Umgang mit ge- waltbereitem Salafismus zu unterstützen und bei Fortbildungsangebote der Vermittlung von zuständigen Expertinnen und im Rahmen der Yad Vashem Lecture Experten zu helfen. Das Präventionsprogramm in der Villa ten Hompel „Wegweiser“ des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen ist im Regierungs- 2. Schulhalbjahr 2019/20* bezirk in den Städten Münster, Gelsenkirchen und Bottrop sowie den Kreisen Recklinghausen, 29. April 2020, 10 bis 16 Uhr Steinfurt und Warendorf aktiv. Durch die Teil- Jüdisches Museum Dorsten nahme von Vertreterinnen und Vertretern der „Antisemi … Was? Wir reden darüber!“ Bezirksregierung an den Fachkommissionssitzun- gen der „Wegweiser“-Stellen wird das direkte, 27. Mai 2020, 10 bis 16 Uhr präventive Engagement in den Schulen koordiniert Servicestelle für Antidiskriminierungs- und sichergestellt. In Gelsenkirchen findet zudem arbeit Beratung bei Rassismus und Anti- regelmäßig das „Präventionsgespräch Salafismus“ semitismus (SABRA): statt, an dem neben schulischen Vertreterinnen Vorstellung des virtuellen Methodenkof- und Vertretern und der Bezirksregierung auch fers gegen Antisemitismus zahlreiche andere Institutionen teilnehmen (Jugendamt, Polizei, soziale Träger, Schulamtsver- Vorankündigungen für das treter …). Ziel dieses Gesprächskreises ist es, die 1. Schulhalbjahr 2020/21 aktuelle Gefährdungslage im Blick zu behalten und präventive Maßnahmen voranzutreiben. 26. August 2020 „Demokratie als Feind“ – Zum Umgang mit Antisemitismus im Unterricht Vorstellung der Ausstellung Durch die hier vorgestellten Angebote wird deut- lich, dass eine Professionalisierung und ständige 28. August 2020 Weiterbildung der Lehrkräfte unerlässlich ist, um Gegen Vergessen – Für Demokratie: eine gewisse Souveränität und Professionalität im Argumentationstraining gegen Rechts Umgang mit der Geschichte, aber auch mit aktuel- len Problemfeldern, die unsere freie, demokrati- 7. Oktober, 2. Dezember 2020, sche Gesellschaft gefährden, an den Tag zu legen. 13. Januar 2021 Wie sollen Lehrkräfte also konkret in solchen Vorbereitungstermine für den gemein- Konfliktsituationen reagieren, wenn zum Beispiel samen Gedenktag „Du Jude“ als Beleidigung gebraucht wird? Die wichtigste Antwort lautet hier: Reagieren Sie 27. Januar 2021 überhaupt! Es kann und darf keine Option sein, Gemeinsames Gedenken der solche Äußerungen zu überhören – auch wenn es Münsteraner Schulen anstrengend ist. Gleiches gilt natürlich auch für rassistische, diskriminierende oder homophobe Äußerungen. Wir alle haben einen Eid auf die Verfassung geleistet, die demokratischen Werte unserer Gesellschaft zu schützen. Dazu gehört auch, eine klare Haltung gegen Antisemitis- mus und Rassismus zu zeigen. Wir können und dürfen bei solchen Äußerungen nicht weghören. Haltung zu zeigen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und gehört nicht nur in den Geschichts- oder Politikunterricht. Immer wieder wird mir von Kolleginnen und Kollegen berichtet, dass es bei solchen Äußerungen zu Bagatellisierungen * Diese Termine wurden vor der Corona-Pandemie festgelegt. kommt, diese klein geredet werden und nicht im- Sie stehen bei Redaktionsschluss unter Vorbehalt. Aktuelle Informationen über folgenden Link: mer offen damit umgegangen wird. Einige Schul- www.stadt-muenster.de/villa-ten-hompel/veranstaltungen. leitungen scheinen dabei auch darauf bedacht zu html (27.03.2020) 17
Schwerpunkt sein, dass die Außenwahrnehmung ihrer Schule gegeben werden, indem Sie mit Fragen reagieren. durch einen offenen Umgang negativ gefärbt In diesem Fall empfiehlt die Initiative zum Bei- werden könnte. spiel zu fragen: „Warum nutzt du dieses Wort als Schimpfwort? Warum ist das wichtig für dich? Wie Dabei ist das Gegenteil der Fall. Es geht findest du es, als Deutscher / Christ / Moslem / … darum, klare Grenzen aufzuzeigen und ehrlich als Schimpfwort bezeichnet zu werden?“.6 zu kommunizieren. Ansonsten tragen wir alle dazu bei, dass eine „Verrohung“ unserer Sprache Als ein Baustein gegen Antisemitismus an toleriert wird. Natürlich geht es nicht darum, eine Schulen hat die Bezirksregierung Münster in Schülerin oder einen Schüler vor der Klasse mög- Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden lichst „klein“ zu reden. Es geht vielmehr darum und der Villa ten Hompel eine Broschüre heraus- aufzuklären, warum die entsprechende Äußerung gebracht, die uns Lehrkräften eine Hilfestellung nicht zu tolerieren ist und warum sie zum Beispiel im Umgang mit Antisemitismus geben soll. Diese nicht unter die Freiheit der Meinungsäußerung können Sie kostenlos auf der Seite der Bezirks- fällt, sondern ganz klar antisemitisch ist. Als Bei- regierung im Bereich des Krisenmanagements spiel möchte ich hier auf eines von 35 Zitaten der herunterladen (Empfehlung auf Seite 50 unter Initiative „Stop-Antisemitismus“ aus Berlin ein- „Bemerkenswert“). gehen. Demnach sagte nach dem Forschungsbe- richt „Mach mal keine Judenaktion!“ der Frank- Wenn wir möchten, dass wir eine klare Haltung furter University of Applied Sciences ein Schüler gegen Antisemitismus, Diskriminierung und zu einem anderen auf dem Schulhof: „Komm her, Rassismus wirklich leben und es nicht nur bei du Jude“. Beide sind aber keine Juden. Das Wort öffentlichkeitswirksamen Lippenbekenntnissen „Jude“ als solches ist nicht als Schimpfwort zu bleibt, ist letztendlich jede und jeder Einzelne von sehen. Immer wieder findet sich die Verwendung uns gefragt. Wir dürfen unsere Demokratie nicht des Begriffes Jude allerdings als eine Form der als Selbstverständlichkeit ansehen und uns darauf intendierten Beleidigung wieder. Durch diese Art verlassen, dass jemand anderes aktiv wird – und der Verwendung des Begriffes drückt der Schüler genau diese Verantwortung müssen wir auch seine Verachtung gegenüber jüdischen Menschen unseren Schülerinnen und Schülern vermitteln. aus und betrachtet sie scheinbar als eine ein- heitliche Gruppe. So wird das Wort „Jude“ zum Stigma und letztendlich zu einem Schimpfwort. Dies manifestiert sich besonders in der Tat- sache, dass er es zu einem Mitschüler sagt, der selbst kein Jude ist. Als Lehrkraft muss in einer solchen Situation eine sofortige, unmissver- Kim Keen ständliche Reaktion gezeigt werden. Drücken Sie Lehrerin am Annette-von-Droste- aus, dass hier eine Grenze überschritten wurde. Hülshoff-Gymnasium Münster, Dadurch zeigen Sie nicht nur Haltung, sondern pädagogische Mitarbeiterin in der Lehrerfort- und Weiterbildung der schützen auch betroffene Minderheiten, auch in Bezirksregierung Münster deren Abwesenheit. Häufig können Denkanstöße keen@stadt-muenster.de 1 Astrid Nettling: Walter Benjamins Engel der Geschichte. Deutschlandfunk, 10.02.2016. https://www.deutschlandfunk.de/walter-benjamins-engel-der-geschichte-ein-sturm-weht-vom.2540.de.html?dram:article_ id=345151 (26.03.2020). 2 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. http://www.trend.infopartisan.net/trd0117/t010117.html (26.03.2020). 3 Astrid Nettling: a.a.O. 4 Tagesschau: Steinmeier in Yad Vashem. „Die bösen Geister in neuem Gewand“, 23.01.2020. https://www.tagesschau.de/ausland/ holocaust-gedenken-steinmeier-rede-101.html (26.03.2020). 5 Deutsche Welle: Die Deutschen wollen keinen Schlussstrich, 24.01.2020. https://www.dw.com/de/die-deutschen-wollen-keinen- schlussstrich/a-52094901 (26.03.2020). 6 Stop Antisemitismus: Erkennen Sie Antisemitismus im Alltag? Und wissen Sie, wie Sie reagieren können? Online unter: https://www.stopantisemitismus.de/ (26.03.2020). 18
Beispiel EIN TEMPEL, DER VERBINDET KOOPERATION ZWISCHEN DEM KARDINAL-VON-GALEN- GYMNASIUM UND DER JÜDISCHEN GEMEINDE Am 19. April 2018 war es endlich soweit. Der Am Ende des Projekts stand eine vielbeachtete in neuem Glanz erstrahlende Tempel wechselte Ausstellung im KvG, bei der das Tempelmodell in vom Kardinal-von-Galen-Gymnasium Hiltrup der Mitte des Raumes ausgestellt war, umgeben (KvG) in die Synagoge in der Klosterstraße. Dies von Plakatwänden, die das gesamte Umfeld des geschah im Rahmen eines vielbesuchten Fest- Tempels sowie die Geschichte des Tempelberges akts im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde beleuchteten. Münster, bei dem auch der Grundstein zu einer besonderen Beziehung zwischen der Jüdischen Ein Modell auf Standortsuche Gemeinde und dem Hiltruper Gymnasium ge- Nach der Ausstellung fand das Modell seinen legt wurde. Am Anfang war also der Tempel. Platz an einer Wand in der Pausenhalle des Wie aber kam der Tempel nach Hiltrup? Blicken Gymnasiums. Es diente in den folgenden Jahren wir dazu mehr als 20 Jahre zurück. vielen Schülerinnen und Schülern als Anschau- ungsobjekt im Religions-, Geschichts- und Latein- unterricht. Doch erst 2018, rund 20 Jahre später, von Santa Bitter und Gregor Osthues erhielt das Tempelmodell einen um ein Vielfaches würdigeren Ort als es das KvG je hätte sein kön- nen, denn die Jüdische Gemeinde Münster zeigte Ein fächerübergreifendes Projekt die Bereitschaft, dem Tempelmodell einen Platz In den Jahren 1998/99 fand am KvG ein ambi- im Gebäude der Synagoge zu geben. tioniertes fächerübergreifendes Projekt statt. Das Thema des Projekts lautete: „Der zweite Zunächst hatte Michael Rickert Kontakt zur Jü- (herodianische) Tempel in Jerusalem und die Ge- dischen Gemeinde, insbesondere zu deren Leiter, schichte des Tempelberges von der Antike bis zur Sharon Fehr, aufgenommen, mit der Frage, ob die Gegenwart“. Im Rahmen dieses Projekts bauten Gemeinde Interesse an dem mittlerweile zwanzig Schülerinnen und Schüler eines Kunstkurses unter Jahre alten Modell habe. Bei einem Besuch am KvG Leitung ihres Lehrers Michael Rickert maßstabs- mit Besichtigung des Modells zeigte sich Sharon getreu ein Modell des antiken, im Auftrag des Fehr hocherfreut und sehr interessiert daran, das bekannten Königs Herodes ausgebauten Tempels Modell für die Jüdische Gemeinde zu übernehmen. in Jerusalem. In der folgenden Zeit wurde das Modell gründ- Zusätzlich zum Bau des Modells beschäftigten lich gereinigt und frisch in einer Farbe gestrichen, sich Schülerinnen und Schüler eines Religionskur- die an den berühmten „Jerusalem-Stein“ erinnert, ses und einer Arbeitsgemeinschaft Geschichte mit in dem der antike Tempel errichtet worden war. So der Entstehung des Tempels und seinem histori- konnte das renovierte Tempelmodell endlich am schen Umfeld, mit dem Tempelkult sowie mit der 19. April 2018 an seinem neuen Platz im Vorraum weiteren Geschichte des Tempelberges von der An- der Synagoge in der Klosterstraße vorgestellt wer- tike bis zur Gegenwart. Die am Projekt beteiligten den. Die Gäste des Festaktes, welcher musikalisch Jugendlichen zogen dabei nicht nur den jüdischen von einem Orchester des KvG begleitet wurde, wa- Geschichtsschreiber Flavius Josephus zu Rate, der ren nicht nur von der herzlichen Atmosphäre und als Zeitgenosse den Tempel detailliert beschrie- der großzügigen Bewirtung durch Mitglieder der ben hatte, sondern auch Texte aus der Bibel, dem Jüdischen Gemeinde beeindruckt, sondern auch Talmud, der Pessach Haggada und andere Quellen. von dem herausragenden Platz, den das Modell im Sie bezogen in ihre intensive und engagierte Arbeit Gebäude der Synagoge erhalten hatte. In seiner archäologische Funde sowie Gegenstände und Bil- Ansprache hob Sharon Fehr hervor, dass das Mo- der mit ein, die mit der Erinnerung an den Tempel dell zum Bindeglied einer besonderen Beziehung verbunden sind. zwischen der Jüdischen Gemeinde und dem KvG 19
piel Beispiel werden solle. Für die Kolleginnen und Kollegen der Gegenstände. Darüber hinaus beantwortete Herr Schule, die an dem Festakt teilnahmen, bedeutete Fehr Fragen der Schülerinnen und Schüler zur dieses Angebot einen besonderen Ansporn, an der aktuellen politischen Lage in Deutschland und zum Erarbeitung eines Konzepts für die Zusammen- aufkeimenden Antisemitismus sehr eindrucksvoll arbeit mitzuwirken. und für die Jugendlichen äußerst bewegend. Die Entwicklung einer Partnerschaft Ein weiteres Element innerhalb des Programms Seit zwei Jahren wird deshalb ein Programm entwi- sind Unterrichtseinheiten, die in verschiedenen ckelt, das unterschiedliche Aspekte der Verbindung Jahrgangsstufen erprobt werden. So wird seit zwei zur Jüdischen Gemeinde umfasst. Im Zentrum ste- Jahren innerhalb des Geschichtsunterrichts der hen natürlich die Besuche von Schülerinnen und Einführungsphase in die Oberstufe (EF) in einem Schülern in der Synagoge. Seit vielen Jahren, aber Kurs das Halbjahresthema „Geschichte und Bedeu- besonders seit der Übergabe des Tempelmodells tung Jerusalems von der Antike bis zur Gegenwart“ sind bereits einige Klassen und Kurse des KvG sehr behandelt. Dabei erhalten die Schülerinnen und herzlich in den Räumen der Synagoge empfangen Schüler auch Einblicke in die fast zweitausendjäh- worden und erhielten die Gelegenheit, Einblicke in rige jüdische Geschichte und Tradition im heutigen den jüdischen Gottesdienst und das Leben der Ge- Deutschland. Diese Unterrichtseinheit versteht meinde zu gewinnen. Die Besuche in der Synagoge sich als Ergänzung zum NRW-Lehrplan für das Fach werden künftig im Rahmen des schulinternen Cur- Geschichte. Zwar sieht der Lehrplan, auch vor dem riculums auch integraler Bestandteil des Religions- Hintergrund wachsender antisemitischer Tenden- unterrichts am KvG sein. zen und Vorurteile, in mehreren Jahrgangsstufen die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus Inzwischen besuchte Sharon Fehr auch selbst und der Shoah vor, doch ist die Beschäftigung mit am KvG den Unterricht eines Religionskurses der anderen Epochen und Ereignissen der jüdischen Jahrgangsstufe 8 und gab dort ausgesprochen Geschichte im Lehrplan nur ansatzweise vorgese- interessante Einblicke in die jüdische Religion und hen. Auch hier sollen am KvG neue Impulse gesetzt Lebensweise. Hierbei berichtete er über das reli- und den Jugendlichen vermittelt werden, welch giöse Leben in der Gemeinde und veranschaulichte wichtigen Anteil die jüdische Tradition an der euro- seine Ausführungen durch mitgebrachte rituelle päischen und deutschen Geschichte hat. 20
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