Erinnern für eine menschliche Zukunft - Projekte mit Schülerinnen und Schülern - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG ...

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Erinnern für eine menschliche Zukunft - Projekte mit Schülerinnen und Schülern - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG ...
APRIL 2020 | NR. 190

 DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG

Erinnern für eine
menschliche Zukunft
Projekte mit Schülerinnen
und Schülern
Erinnern für eine menschliche Zukunft - Projekte mit Schülerinnen und Schülern - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG ...
Impressum und Editorial

                    IMPRESSUM
                    HERAUSGEBER
                    Bischöfliches Generalvikariat Münster
                    Hauptabteilung Schule und Erziehung
                    48135 Münster, Fon 0251 495-412
                    www.bistum-muenster.de/schule

                    REDAKTION
                    Dr. Stephan Chmielus (verantwortlich), Georg Garz

                    KONZEPTION
                    Dr. Heiko Overmeyer, Abteilung Religionspädagogik

                    LAYOUT & SATZ
                    kampanile | medienagentur, Münster
                    www.kampanile.de

                    DRUCK
                    Druckerei Joh. Burlage, Münster | www.burlage.de

                    REDAKTIONSSEKRETARIAT
                    Bischöfliches Generalvikariat Münster,
                    Hauptabteilung Schule und Erziehung
                    Abteilung Religionspädagogik
                    Kardinal-von-Galen-Ring 55, 48149 Münster
                    Fon 0251 495-417, Fax 0251 495-7417
                    kluck@bistum-muenster.de

                    TITELBILD UND FOTOS
                    Ulrich Hubert / Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (Titel)
                    Karl-Heinz Jostmeier (29, 31)
                    iStock – tomograf (6)
                    Privat (20, 21, 34, 43, 33)
                    Matthias Ahlke / Westfälische Nachrichten (12, 16)
                    Kim Keen (15)
                    Raimund Knoke (22, 24, 27)
                    Markus van Offern (38)
                    Kristina Slotty (36)
                    Klaus Simon (10)
                    Sigismund von Dobschütz (43, 44)

                    ISSN: 2195-9447

                    Das verwendete Papier ist aus 100 % Altpapier hergestellt.
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LIEBE KOLLEGINNEN
UND KOLLEGEN!
   Am 8. Mai 2020 jährt sich das Ende des                   Die Frage, wie trotz eines Verblassens der
Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal. Bereits am 27.          Erinnerung durch den Verlust der Zeitzeugen die
Januar wurde des 75. Jahrestages der Befreiung           Generation der Nachgeborenen dazu motiviert
des Konzentrationslagers Auschwitz gedacht.              werden kann, Verantwortung zu übernehmen,
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier be-              lässt sich als Klammer für die Beiträge unter der
merkte dazu in seiner Rede in Yad Vashem, er             Rubrik BEISPIEL verstehen. Die dargestellten Pro-
wünsche sagen zu können, unser Erinnern habe             jekt- und Unterrichtsideen decken ein Spektrum
uns gegen das Böse immun gemacht. Stattdessen            von der Arbeit mit Grundschulkindern bis zu
müsse er einräumen, dass sich das Böse heute             Studierenden ab.
in neuem Gewand zeige. Aus pädagogischer
Perspektive kann man ergänzen: Der Notwendig-               Da nicht alle Beiträge im Heft abgedruckt
keit schmerzhafter und gefährlicher Erinnerung           werden konnten, finden Sie Im Serviceteil diesmal
stehen häufig genug Gleichgültigkeit und Über-           einen Hinweis auf Downloads zusätzlicher Bei-
druss gegenüber.                                         träge.

   Dr. Norbert Köster greift diesen Aspekt in seinem        Am 2. Dezember letzten Jahres verstarb im Alter
Artikel auf, indem er nach dem spezifischen Beitrag      von 91 Jahren der Theologe Johann Baptist Metz.
des Religionsunterrichts zum Gedenken an die Sho-        Beim Requiem erinnerte Dr. Ulrich Lüke daran,
ah fragt. Er lenkt den Blick auf religiöse Identitäts-   dass dieser seinen Schülerinnen und Schülern
findung angesichts des Terrors und des Martyriums        eingeschärft habe, die Rede vom Gott des Lebens
der Konzentrationslager. Wo sich das Individuum          müsse leidenssensibel und gerechtigkeitsorientiert
mit seinen eigenen Bedürfnissen und Emotionen            sein. Darum könne die christliche Auferstehungs-
wiedererkennt, kann eine Solidarität entstehen, die      hoffnung bei allem Jubel nicht über das Leid
mehr ist als eine Verpflichtung zur Erinnerung. Kim      hinwegjubilieren. Vielleicht lässt uns der erzwunge-
Keen bringt die Perspektive der Lehrerfortbildung        ne Verzicht auf gemeinsame gefeierte Kar- und
ein. Sie stellt die Aufgabe der Pflege von Erinne-       Ostertage in diesem Jahr deutlicher spüren: Das
rungskultur in den Zusammenhang von Demokra-             Gedächtnis des Leidens und des Todes Jesu Christi
tieförderung und Antisemitismusprävention. Die           sind Voraussetzung dafür, seine Auferstehung hoff-
Bildung historisch-politischen Bewusstseins wird         nungsvoll und zuversichtlich zu bezeugen.
durch das Lernziel Zivilcourage präzisiert. Es geht
eben auch darum, sich mit Tätern auseinanderzu-
setzten und ihnen entgegenzutreten.

                       Dr. William Middendorf
                       Leiter der Hauptabteilung                               Dr. Stephan Chmielus
                       Schule und Erziehung                                    Verantwortlicher Redakteur
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Inhalt und Impuls

                    INHALT

          6         SCHWERPUNKT
               6    Religiöses Lernen über die Erinnerung        38   Der Löwe von Münster
                    hinaus                                            Ein Escape-Room hält die Erinnerung
                    Die Shoah im Religionsunterricht                  wach
                    Dr. Norbert Köster                                Markus Hachmann

              12    Umgang mit bösen Geistern in neuem           40   Auf den Spuren jüdischen Lebens in
                    Gewand                                            Ochtrup
                    Erinnerungskultur, Demokratieförde-               Das Thema Holocaust im katholischen
                    rung und Antisemitismusprävention                 Religionsunterricht der Grundschule
                    Kim Keen                                          Tim Joest

                                                                 43   „Ich wollte noch einmal die Sonne
       19           BEISPIEL                                          sehen“
                                                                      Gedenken an der Erna-de-Vries-
                                                                      Realschule
              19    Ein Tempel, der verbindet                         Andrea Reiling
                    Zur Kooperation zwischen Kardinalvon-
                    Galen-Gymnasium und jüdischer Ge-
                    meinde                                  46        SERVICE
                    Santa Bitter/Gregor Osthues

              22    Sehen, hören, schweigen, zur Sprache         46   Sehenswert
                    bringen                                           Neu in der Mediothek
                    Tage religiöser Orientierung in
                    Auschwitz                                    48   Lesenswert
                    Raimund Knoke                                     Kirchengeschichte in Karikaturen
                                                                      Konfessionell-kooperatives Lernen
              28    Nur wer sich erinnert, wird niemals               Taschenlexikon Religionsdidaktik
                    vergessen
                    Versöhnungsarbeit auf dem jüdischen          50   Bemerkenswert
                    Friedhof in Miroslav, Tschechien                  Erinnerungsarbeit ohne Zeitzeugen
                    Karl-Heinz Jostmeier                              Spuren finden
                                                                      Antisemitismus an Schulen
              32    „Sind sie nicht eigentlich zu jung?“
                    Zur Konzeption der Gedenkstättenfahr-        51   Downloads
                    ten der Realschule St. Martin
                    Gerd Wilpert

                    Blicke schärfen. Stellung beziehen.
              34    Vielfalt leben.
                    Wie das Overberg-Kolleg der Shoah
                    gedenkt
                    Dr. Kristina Thies

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GEFÄHRLICHE ERINNERUNGEN
Es gibt Erinnerungen, in denen frühere Erfahrungen inmitten
unseres Lebens durchschlagen und die so neue, gefährliche
Einsichten für unsere Gegenwart aufkommen lassen.

Sie beleuchten für Augenblicke grell und hart die Fraglichkeit
dessen, womit wir uns scheinbar abgefunden haben, und die
Banalität unseres vermeintlichen „Realismus“.
                             Bild: Paul Klee, Angelus Novus
                             Text: Johann Baptist Metz. Erinnerung des Leidens als Kritik
                             eines teleologisch-technologischen Zukunftsbegriffs,
                             in: Evangelische Theologie 32 (1972), S. 338-352, hier: S. 348.
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Schwerpunkt

              RELIGIÖSES
              LERNEN
              ÜBER DIE
              ERINNERUNG
              HINAUS
              DIE SHOAH IM RELIGIONSUNTERRICHT

              Das Anwachsen des Antisemitismus macht
              ohne Frage eine Intensivierung der Gedenkkul-
              tur notwendig. Es ist ein wichtiger, öffentlicher
              Auftrag der Schule, Schülerinnen und Schüler
              an die Shoah zu erinnern. Die einzelnen Fächer
              haben dafür sehr unterschiedliche Begrün-
              dungszusammenhänge und dementsprechend
              auch unterschiedliche Zugänge und Inhalte des
              Gedenkens. Es ist wichtig, diese Unterschiede
              zu akzentuieren, damit bei den Schülerinnen
              und Schülern nicht der Gedanke aufkommt,
              immer das gleiche zu machen. Was ist das
              Spezifische des Gedenkens an die Shoah im
              Religionsunterricht?

              von Dr. Norbert Köster

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Geschichtliche Themen spielen im Religionsun-        weil es das Anliegen von Metz war, die biblische
terricht eigentlich fast gar keine Rolle. Zwar werden   Apokalyptik für aktuelle politische Diskurse frucht-
immer wieder historische Persönlichkeiten und           bar zu machen. Dieses Anliegen setzt Leimgruber
ihre Anliegen zu verschiedenen Themen heran-            konsequent und engagiert um.
gezogen, als historische Ereignisse an sich kommen
aber allenfalls die Reformation oder in der Ober-       Erinnern als moralische Funktion
stufe des Gymnasiums das II. Vatikanische Konzil        In der Perspektive des Kirchenhistorikers greift
vor. Der Religionsunterricht tut sich schwer mit der    dieser Ansatz aber zu kurz, und dies gilt letztlich
Geschichte, weil die Geschichte des Christentums        auch für das Gedenken der Shoah. Denn der Be-
ambivalent ist. Historische Themen gelten zunächst      gründungszusammenhang für das Erinnern liegt
einmal als Teil des Geschichtsunterrichts.              im Kontext des kollektiven Gedächtnisses und
                                                        seiner Erinnerungskultur, hat zunächst einmal
   Diese Problematik spiegelt sich in der Religions-    eine – gar nicht infrage zu stellende – moralische
didaktik von Georg Hilger, Stephan Leimgruber           Funktion im Blick auf die Opfer.6 „Erinnern ist das
und Hans-Georg Ziebertz, wenn Leimgruber hier           Letzte, das man den Opfern noch geben kann.“7
die Beschäftigung mit der Geschichte des Chris-         Das religiöse Lernen im Rahmen des Religionsun-
tentums unter das religionsdidaktische Prinzip          terrichts ist aber wesentlich weiter angelegt, als
„Erinnerungsgeleitetes Lernen“ fasst.1 Anset-           den Schülerinnen und Schülern die Verpflichtung
zend bei Johann Baptist Metz sieht Leimgruber           zur Erinnerung zu vermitteln. Es geht um die Er-
als Kern der Beschäftigung mit der Geschichte           schließung religiöser Grundfragen und die Refle-
des Christentums, „ein achtsames Gedenken,              xion religiöser Praxis angesichts eines historischen
das Veränderungen in der Einstellung und im             Ereignisses.
Handeln nach sich zieht, also kein rein äußerliches
Erinnern, sondern gleichsam einen Stachel für              Dabei begegnen sich jeweils zwei wesentliche
das Subjekt-Werden ein einfühlendes, aufwüh-            Aspekte. Religion wird immer in einer konkreten
lendes und folgenreiches Lernen für eine bessere        gesellschaftlichen und persönlichen Situation ge-
Zukunft. Als angemessene Zugänge zu (kirchen-)          lebt und zeichnet sich gerade dadurch aus, dass
geschichtlichen Themen eignen sich Biografien,          diese Situation mit dem Glauben an Gott in Ver-
das Erzählen von gelebten Geschichten, die Be-          bindung gebracht wird. Beide Aspekte verändern
gegnung mit Zeitzeugen und der Unterrichtsgang          sich dadurch: Die konkrete Situation wird auf den
zu Orten historischer Erfahrung.“2                      Glauben hin gedeutet und der Glaube auf die
                                                        Situation hin. Historisches Lernen im Religions-
   Die Erinnerungskultur versteht Leimgruber im         unterricht erschließt diese Prozesse und macht sie
Sinne von Metz als „gefährliche Erinnerung“, deren      für das religiöse Lernen fruchtbar.
didaktischer Zugang das Erzählen ist.3 Als Beispiele
für eine solche Erinnerung nennt Leimgruber das            Im Blick auf die Shoah heißt dies, nicht nur
Judentum als Ursprungsort der Erinnerung, die           einen Beitrag zur Erinnerungskultur8 zu leisten,
Erinnerung an das biblische Urchristentum und           sondern viel umfassender zu schauen, wie Christen
das Gedenken Gottes im Islam.4 Die didaktischen         und Juden die Shoah religiös gedeutet haben
Hinweise für den Religionsunterricht konzentrieren      und inwiefern sich ihr Glaube bzw. ihre Glaubens-
sich anschließend auf das Gedenken an die Shoah.5       praxis durch die Shoah verändert hat. Dabei geht
Die Kirchengeschichte kommt in diesem Ansatz            es nicht um eine Historisierung und damit auch
gar nicht vor und kann auch gar nicht vorkommen,        Relativierung des historischen Ereignisses, sondern

                                                                                                               7
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Schwerpunkt

              gerade um seine Singularität. Das ist sehr wichtig,       Lebensereignisse können dazu führen, dass
              wenn man auch die Shoah in das religiöse Lernen        man „etwas näher am Herzen der Schöpfung ist
              anhand der Geschichte einreiht.9                       als üblich“ und dadurch tradierte Formen der
                                                                     Religion, für die im Gedicht die Pfaffen stehen,
                  Was das konkret heißt, deutet das Bild auf         sprengt. Es sind die Ereignisse, die einen so aus
              Seite 5 dieser Ausgabe, der Angelus novus von          der Bahn werfen, dass man „diesseitig“ gar nicht
              Paul Klee, an. Er ist einer von sehr vielen Engeln,    mehr „faßbar“ ist. Historische Theologie spürt
              die Klee gemalt hat.10 Klees Engel durchkreuzen        auch und vielleicht gerade diese Grenzgänge-
              alle gängigen Vorstellungen, indem sie groteske        rinnen und Grenzgänger auf und macht sie für
              Züge annehmen.11 Das, wofür ein Engel steht, näm-      religiöses Lernen fruchtbar. Gerade dadurch, dass
              lich die Hoffnung auf Rettung, wird bei Klee mit       Schülerinnen und Schüler Menschen begegnen,
              einer Gestalt zum Ausdruck gebracht, die wenig         die angesichts eines Ereignisses an fundamentale
              Vertrauen erweckt, zumindest nicht darauf, retten      religiöse Fragen gekommen sind, kann in ihnen
              zu können. Die Engel scheinen selbst der Erlösung      eine Gedächtniskultur wachsen, die existentiell
              zu bedürfen. Das zwischen Himmel und Erde Ver-         verankert ist.
              mittelnde entschwindet und stellt viel radikaler die
              Frage, inwiefern Erde und Himmel noch zueinan-            Religiöses Lernen anhand der Geschichte be-
              der finden. Klees Engel stehen damit auch für eine     zieht sich aber auch auf diejenigen, die versucht
              sehr existenzielle Form des Religiösen. Ein Gedicht    haben, den Terror des Konzentrationslagers gerade
              von Paul Klee aus dem gleichen Jahr 1920, in dem       mit den Mitteln zu bewältigen, die ihnen aus der
              der Angelus novus entstand, kann das verdeut-          christlichen Tradition zur Verfügung standen. Den
              lichen:                                                Blick auch auf die nichtjüdischen Opfer des NS-Ter-
                                                                     rors zu richten, ist keineswegs eine Relativierung
                                                                     der Shoah. Sie ist notwendig, um Modelle zu
                                                                     entdecken, welche Gestalt Glaube unter diesen
               Diesseitig bin ich gar nicht faßbar.                  Umständen annehmen kann und mit jüdischen
                                                                     Wegen, angesichts der Shoah die Gottesfrage zu
               Denn ich wohne grad so gut bei den Toten,
                                                                     stellen, ins Gespräch zu bringen.
               wie bei den Ungeborenen.
               Etwas näher dem Herzen der Schöpfung                     Als Beispiel hierfür kann die Priesterweihe Karl
               als üblich.                                           Leisners im KZ Dachau am 26. Dezember 1944 die-
                                                                     nen.13 Die mit äußerstem Mut und viel Geschick
               Und noch lange nicht nahe genug.
                                                                     durchgeführten Vorbereitungen für die Weihe,
                                                                     in der, ohne dass die Aufseher es bemerkten, ein
               Geht Wärme von mir aus? Kühle??                       französischer Bischof mit polnischen Messdienern
               Das ist jenseits aller Glut gar nicht zu erörtern.    einen todkranken Deutschen zum Priester weihte,
               Am Fernsten bin ich am frömmsten.                     war ein Aufstand gegen den Terror gerade mit
                                                                     dem, was den Priestern zur Verfügung stand: ihre
               Diesseits manchmal etwas schadenfroh.
                                                                     eigene Identität. Ähnlich wie Alfred Delp und Diet-
               Das sind Nüancen für die eine Sache.                  rich Bonhoeffer fanden die Priester im KZ auf eine
               Die Pfaffen sind nur nicht fromm genug,               andere und neue Weise ihre Identität und feierten
               um es zu sehen.                                       sie sogar in der Weihe Karl Leisners. Die Berichte
                                                                     der Überlebenden erzählen eindrucksvoll davon.
               Und sie nehmen ein klein wenig Ärgernis,
                                                                     Religiöses Lernen heißt auch zu sehen, dass Ver-
               die Schriftgelehrten.12                               lust der Identität und Finden der Identität nicht

                                                                     nur sehr nahe beieinander liegen können, sondern
                                                       Paul Klee     jeweils eigene Formen existentieller Religiosität
                                                                     sein können.

                                                                        Können sich Schülerinnen und Schüler zwischen
                                                                     diesen Weisen der Religiosität verorten? Biogra-
                                                                     phisch kann dies eine Überforderung sein. In der
                                                                     Regel ist die Lernsituation im Religionsunterricht

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Erinnern für eine menschliche Zukunft - Projekte mit Schülerinnen und Schülern - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG ...
dafür zu wenig geeignet. Hier böte sich performa-    nen aus Münster erklärten sich bereit, und Bischof
tives Lernen an, in dem Schülerinnen und Schüler     Dr. Franz Josef Bode konnte im November 2007
Selbstversuche wagen können. Allerdings gehört es    das Kloster einweihen.
zu den Grundlagen der Gedenkstättenpädagogik,
dass performatives Lernen im Blick auf Konzentra-       Das Kloster ist allerdings wesentlich mehr als
tionslager prinzipiell weder möglich noch sinnvoll   nur ein Ort, an dem Schwestern beten und arbei-
ist. Die Realität eines Konzentrationslagers kann    ten. Es lädt Besuchergruppen ein, in drei Räumen
nicht nachempfunden werden.14                        dem Besuch der Gedenkstätte nachzugehen. Die
                                                     Räume haben jeweils unterschiedliche Schwer-
Gedenkstätte Esterwegen                              punktsetzungen. Zu den Räumen heißt es jeweils
Dass es doch einen Weg gibt, Schülerinnen und        auf der Homepage des Klosters:
Schülern behutsam einen Raum für die religiöse
Identitätsfindung angesichts der Shoah zur Verfü-    Gedenkraum
gung zu stellen, zeigt die Gedenkstätte Esterwe-     Wir öffnen Ihnen einen Raum für das Gedenken
gen. Bereits im Sommer 1933 entstanden in Bör-       der Geschundenen und Geschlagenen. Auf drei
germoor und in Esterwegen Konzentrationslager        Betonblöcken in einer Nische können Kerzen an-
für politische Gefangene. Auch zahlreiche Straf-     gezündet werden. Die Säulen sind Zeichen für die
gefangenenlager wurden im Emsland errichtet.         Standhaftigkeit und Gewissensüberzeugung der
Esterwegen wurde als Konzentrationslager 1934        Menschen, die hier grausam gefoltert und getötet
der SS unterstellt. „Wegen massiver Schikanen        wurden und dennoch ihrer Überzeugung treu ge-
und zahlreicher Mordfälle sprachen die Häftlinge     blieben sind. Sie sind eingebettet in heimischem
schon bald von der ‚Hölle am Waldesrand‘. Es wur-    Torf und stehen vor einer Wand, auf der das ‚Lied
den vorwiegend politische Häftlinge in ‚Schutz-      der Moorsoldaten‘ gedruckt ist.
haft‘ dort inhaftiert.“15 1937 wurde Esterwegen
in ein Strafgefangenenlager umgewandelt. Die         Raum der Sprachlosigkeit
Gefangenen mussten vor allem im Moor arbeiten,       Wir öffnen Ihnen einen Raum, wo Ihre Betroffen-
das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“ entstand in     heit und Sprachlosigkeit Gehör findet. Über eine
Esterwegen. Carl von Ossietzky war von 1934 bis      leicht nach unten führende Rampe gelangt man
1936 Gefangener in Esterwegen.                       in einen Raum, dessen Wände aus Metallma-
                                                     schen ihn in diffuses Licht hüllen. Die verros-
   Von dem Strafgefangenenlager Esterwegen hat       teten Räder der Torf-Lore und Schienen des
sich, wie von den meisten Emslandlagern, nichts      Drehkreuzes sind die gleichen, auf denen einst
erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die      der von den Häftlingen unter unmenschlichen
Spuren schnell verwischt. Auf dem Gelände des        Bedingungen errungene Torf zur Sammelstelle
Lagers war eine Einrichtung der Bundeswehr. Nach     transportiert wurde.
längeren Bestrebungen eines örtlichen Vereins
errichtete im Jahr 2008 der Landkreis Emsland die    Kapelle
Stiftung Gedenkstätte Esterwegen, die die Gedenk-    Wir öffnen Ihnen einen Raum, wo Sie die
stätte aufbaute. Während sich der Besucheremp-       Gegenwart Gottes erspüren können. Eine zweite
fang und die Ausstellungen in einem Bundes-          Rampe führt hinauf in die Kapelle, wo aus der
wehrgebäude befinden, wurden die ehemaligen          Torf-Lore ein Altar wird. Wie frühchristliche
Lagerbaracken im Außengelände lediglich durch        Altäre auf den Gräbern der Märtyrer errichtet
eine Bepflanzung angedeutet. Die Gedenkstätte        wurden, so soll dieser Altar an das Marter-
stellt vor allem zahlreiche Biografien von Opfern    werkzeug der Moorsoldaten erinnern. An der
und Tätern vor.                                      Seitenwand hängt ein großes, von einer Kriegs-
                                                     Verletzung gezeichnetes Kreuz. Die Wunde
   Das Bistum Osnabrück sah die Gedenkstätte als     eines Granateinschlags um 1944/45 gab dem
Herausforderung und hat sich in einzigartiger Wei-   aus einem dicken Eichenstamm herausgesägten
se engagiert. Auf dem Gelände des Lagers baute       Kreuz seine Form. Im Baum tickt eine Uhr –
das Bistum ein früheres Verwaltungsgebäude der       schlaf nicht ein.“16
Bundeswehr zu einem Kloster um und suchte nach
einer Ordensgemeinschaft, die bereit war, das           Die drei Räume bilden einen gut überlegten
Kloster zu beziehen. Die Mauritzer Franziskanerin-   didaktischen Dreischritt. Am Beginn steht das Ge-

                                                                                                          9
Erinnern für eine menschliche Zukunft - Projekte mit Schülerinnen und Schülern - DIE FACHZEITSCHRIFT DER HAUPTABTEILUNG SCHULE UND ERZIEHUNG ...
Schwerpunkt

                                                                        die nicht mehr wussten, ob sie noch leben. Die
                                                                        Sprachlosigkeit, die bleibt, hebt tradierte religiöse
                                                                        Sprachformen auf. Diese Erfahrung kann hier, an
                                                                        diesem Ort, in der Art und Weise gemacht werden,
                                                                        die für einen performativen Religionsunterricht
                                                                        wichtig ist: nicht als ein vermeintliches Eintauchen
                                                                        in die Geschichte, sondern als ein Hereinholen der
                                                                        Geschichte in die Gegenwart durch vermittelnde
                                                                        Gegenstände.

                                                                           Der dritte Raum, die Kapelle, führt zur Gottes-
                                                                        frage zurück. Ohne eine Antwort zu geben, lädt
                                                                        der Raum ein, die Gottesfrage neu zu stellen. „Am
                                                                        Fernsten bin ich am frömmsten“ schrieb Klee 1920.
                                                                        Aus der Sprachlosigkeit heraus eine Begegnung
                                                                        mit Gott zu wagen, ist die grundlegende Einladung
                                                                        der jüdisch-christlichen Tradition. Das Kreuz taucht
                                                                        ganz am Rand als Wegweiser wieder auf. Es ist
                                                                        eine Einladung für die, die gerade jetzt auf etwas
                                                                        zurückgreifen wollen, was für ihre religiöse Identi-
                                                                        tät wichtig ist. Die Richtung des Raums ist aber
                                                                        eine andere. Es steht die Frage Hiobs im Raum, ob
                                                                        er angesichts der Katastrophe trotzdem an Gott
                                                                        festhält. Aus der Sprachlosigkeit heraus mit der
                                                                        Gottesfrage nicht abzuschließen, sondern sie neu
                                                                        zu stellen, ist ein wesentliches Moment religiösen
                                                                        Lernens. Schülerinnen und Schüler werden in ih-
              denken. Durch die Möglichkeit, Kerzen anzuzünden,         rem Leben irgendwann an diesen Punkt kommen.
              kann das Gedenken auch symbolisch vollzogen
              werden, ohne dabei etwas sagen zu müssen. Dabei              Die Einladung des Klosters in Esterwegen, sich
              eröffnet das Gedenken in Form des Lichtes bereits         angesichts der Schrecken des NS-Terrors der Got-
              eine sehr zentrale Frage: Ist das Leben der Gefol-        tesfrage zu stellen, ist keine Verzweckung des Ge-
              terten hier zu Ende gegangen? Oder hatte es eine          schehenen. Es ist die Einladung, sich den religiösen
              Zukunft irgendwo, irgendwie? Daran kann sich auch         Fragen zu stellen, die auch die Häftlinge beschäftigt
              die Frage anschließen, ob die Opfer jemals Gerech-        haben. Diese Praxis geht über die Erinnerungskul-
              tigkeit erfahren. Diese Frage wird durch den Raum         tur hinaus. Die Frage nach Gott angesichts des Bö-
              nicht explizit gestellt, sie kommt allenfalls durch den   sen und des Leids ist eine Grundfrage des Lebens,
              freiwilligen Akt des Entzündens der Kerze selbst.         die diejenigen auf eine tiefe Art und Weise mit-
              Insofern kann das Licht auch schon Ausdruck der           einander verbindet, die sich ihr stellen, gleich, ob
              Hoffnung sein, dass es Gerechtigkeit gibt.                aufgrund eigenen oder fremden Leids. Es entsteht
                                                                        eine Solidarität, die mehr ist, als eine Verpflichtung
                 Der zweite Raum eröffnet eine doppelte Dimen-          zur Erinnerung. Hier liegt die Chance, wenn im
              sion. Durch die an einen Gitterzaun erinnernde            Religionsunterricht der Shoah gedacht wird.
              Wandgestaltung und die originalen Gegenstände
              kommt es zu einer behutsamen Berührung mit
              dem Geschehenen, wobei der Raum explizit ein
              gegenwärtiger ist. In diesem Raum sprechen die
              Gegenstände, die von den Häftlingen berührt
              wurden. Die überkommene religiöse Symbolik                                       Dr. Norbert Köster
              hält dem nicht stand. Das Kreuz liegt am Boden                                   Westfälische Wilhelms-Universität
              und erscheint als Drehkreuz. Man kann es drehen                                  Münster
                                                                                               Professor für Historische Theologie
              und wenden wie man will, es wird ganz zum Sym-                                   und ihre Didaktik
              bol derjenigen, deren Weg dieses Kreuz war und                                   n.koester@uni-muenster.de

10
1
     Stephan Leimgruber: Erinnerungsgeleitetes Lernen. in: Georg Hilger, Stephan Leimgruber, Georg Ziebertz: Religionsdidaktik. Ein Leit-
     faden für Studium Ausbildung und Beruf. München 32013, S. 365-373.
2
     Ebd. S. 366.
3
     Vgl. ebd. S. 366-367.
4
     Vgl. ebd. S. 368-370.
5
     Vgl. ebd. S. 370-373.
6
     Vgl. allerdings auch die Kritik der Erinnerungskultur bei Volkhard Knigge: Abschied von der Erinnerung. Zum notwendigen Wandel der
     Arbeit der KZ-Gedenkstätten in Deutschland. In: Gedenkstätten-Rundbrief 100 (2001), S. 136-143.
7
     Vgl. Jürgen Manemann: Weil es nicht nur Geschichte ist. Die Begründung der Notwendigkeit einer fragmentarischen Historiographie
     des Nationalsozialismus aus politisch-theologischer Sicht (Reihe: Religion Geschichte Gesellschaft. Fundamentaltheologische
     Studien 2, München 1995,), S. 158-164, hier S. 159.
8
     So der Tenor des Heftes „Schoah – Erinnern lernen“ der Katechetischen Blätter 1/2010.
9
     Vgl. Manemann, a.a.O., S. 246-275.
10
     Walter Benjamin hatte eine sehr eigene und weitreichende Deutung des Angelus novus. Vgl. Gershom Scholem: Walter Benjamin
     und sein Engel. In: Siegfried Unseld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Walter Benjamin
     herausgegeben von Siegfried Unseld, Frankfurt 1972.
11
     Vgl. Perdita Rösch: Die Hermeneutik des Boten. Der Engel als Denkfigur bei Paul Klee und Rainer Maria Rilke, München (u.a.) 2009.
12
     Paul Klee: Gedichte. Herausgegeben von Felix Klee. Zürich – Hamburg 1996.
13
     Vgl. die entsprechenden Quellen in Wolfgang Michalke Leicht, Clauß Peter Sajak: Brennpunkte der Kirchengeschichte, Paderborn
     2015, S. 535-537.
14
     Vgl. René Mounajed: Außerschulisches Lernen an KZ-Gedenkstätten. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007), S. 187-
     194.
15
     https://www.gedenkstaette-esterwegen.de/geschichte/lager-esterwegen/konzentrations-und-strafgefangenenlager.html (27. Februar
     2020).
16
     http://www.kloster-esterwegen.de (27. Februar 2020).

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Schwerpunkt

     UMGANG MIT
     BÖSEN GEISTERN
     IN NEUEM GEWAND
     ERINNERUNGSKULTUR, DEMOKRATIEFÖRDERUNG UND
     ANTISEMITISMUSPRÄVENTION

              Auf Seite 5 dieser Ausgabe wird der „Angelus    von Kim Keen
              Novus“ von Paul Klee gezeigt. Gekauft wurde
              dieses Bild 1921 vom Philosophen Walter            Zunächst sah Benjamin in dem Bild gemäß der
              Benjamin. Es sollte ihn noch fast 20 Jahre      Kabbala ein Sinnbild für die Möglichkeit Gottes,
              lang bis zu seinem Tod 1940 begleiten. Nach     jederzeit eine Unzahl neuer Engel erschaffen zu
              der Machtergreifung der Nationalsozialisten     können. Als Folge seiner Erlebnisse verfasst er
              floh er aufgrund seiner jüdischen Herkunft im   1940 die Thesen „Über den Begriff der Geschich-
              September 1933 nach Paris, wo der Philosoph     te“. „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus
              als „feindlicher Ausländer“ drei Monate in      heißt. […] Der Engel der Geschichte muss so
              einem Arbeitslager interniert wurde. Als die    aussehen. […] wo eine Kette von Begebenheiten
              Niederlage der französischen Armee gegen die    vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katas-
              Wehrmacht kurz bevorstand, nahm sich Walter     trophe. […] Aber ein Sturm weht vom Paradiese
              Benjamin nach einem missglückten Flucht-        her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und
              versuch nach Spanien über die Pyrenäen das      so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schlie-
              Leben. Das Bild hat ihn bis kurz vor diesem     ßen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam
              Zeitpunkt begleitet, bevor er es zusammen mit   in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während
              einigen Texten seinem Freund Georges Bataille   dieser Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel
              übergeben hatte.1                               wächst.“2

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Der „Neue Engel“ ist für Walter Benjamin zum        tiven Fakten“ konfrontiert werden? Muss ich als
Engel der Geschichte geworden. Der Blick des En-       Lehrkraft wirklich auf jeden Kommentar in diese
gels erscheint ihm nun dunkel, voll Trauer und Ent-    Richtung eingehen?
setzen in Anbetracht dessen, was Menschen an-
deren Menschen antun. In seinen Texten über den        Erinnerungskultur und Demokratieförderung
Engel verbindet er theologische Überlegungen           37 Prozent der Deutschen plädieren laut der
auch immer wieder mit denen der Erinnerungs-           im Januar 2020 veröffentlichten Umfrage der
kultur. Diese übernehme, laut Benjamin, auch die       Deutschen Welle für einen Schlussstrich unter die
Aufgabe „zu retten, was gescheitert ist.“3             Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.
                                                       25 Prozent finden, dass zu viel an die Verbrechen
   Welchen Auftrag muss Schule und Erziehung           von Nazi-Deutschland erinnert wird. Diese Zahlen
aus diesen Überlegungen ziehen? Im Januar 2020         beunruhigen.
mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
bei seiner Rede in der Mahn- und Gedenkstätte             Auf der anderen Seite sagen aber 55 Prozent,
Yad Vashem in Israel: „Die bösen Geister zeigen        dass sie den Umfang der Erinnerungsarbeit
sich heute in einem neuen Gewand. Mehr                 angemessen finden, und 17 Prozent betrachten
noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr        ihn als zu gering. 60 Prozent sprechen sich klar
völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für     gegen einen Schlussstrich aus.5 Das bedeutet
die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme          also, dass sich die Mehrheit der Deutschen nach
unserer Zeit.“4                                        wie vor klar zu einer aktiven Erinnerungskultur
                                                       an die Verbrechen und die Opfer des Natio-
   Angesichts steigender antisemitischer und           nalsozialismus bekennt und diese für wichtig
rassistisch motivierter Vorfälle stelle ich mir als    erachtet, auch wenn die anderen 25 Prozent
Geschichtslehrerin und Mitarbeiterin in einer Lern-    manchmal lauter erscheinen mögen. Doch
und Gedenkstätte und in Anbetracht meiner Tätig-       welchen Zweck verfolgen wir mit unser Erinne-
keiten in der Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung       rungsarbeit?
der Bezirksregierung Münster viele Fragen, auf die
ich in diesem Artikel sicherlich keine vollständigen      Zum einen geht es natürlich darum, der Opfer
Antworten finden werde. Trotzdem möchte ich            zu gedenken, ihnen ihre Identität zurückzugeben
meine Fragen und Gedanken erläutern.                   und sie nicht zu vergessen. Gleichzeitig möchten
                                                       wir mit dem Erinnern an diese unvorstellbaren
   Welche Rolle nimmt eine lebendige Erinne-           Verbrechen auch mahnen. Natürlich kann und
rungskultur an die Verbrechen und die Opfer des        darf die erinnerungskulturelle Arbeit nur ein
NS-Regimes bei der Demokratieförderung und Anti-       Baustein sein. Dieser Baustein ist aber enorm
semitismusprävention eigentlich ein?                   wichtig, um eine Beziehungsebene zwischen den
                                                       Generationen, der Vergangenheit, Gegenwart und
    Bedeutet es automatisch, dass wir durch eine       Zukunft herzustellen. Zudem bedarf es auch eines
differenzierte Auseinandersetzung mit der Vergan-      fundierten Sachwissens, um gegen Relativierungs-
genheit eine stabilere Demokratie und ein klareres     versuche und historisch bezogene Opfer-Täter-Ver-
Bekenntnis zu einer pluralistischen Gesellschaft       kehrungen argumentieren zu können.
erreichen? Wie reagieren wir darauf, dass immer
wieder Stimmen laut werden, die einen Schluss-         Präventionsangebote der Bezirksregierung
strich unter die Bewältigung der NS-Vergangenheit      Münster und ihrer Partnerorganisationen
ziehen möchten?                                        Im Bereich der „Holocaust-Education“ und
                                                       Antisemitismusprävention setzt die Bezirksre-
   Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer reagieren,        gierung Münster daher nicht nur auf eine klare
wenn es zu antisemitischen, diskriminierenden,         Vorgehensweise bei akuten antisemitischen
homophoben oder rassistischen Äußerungen               und rassistischen Vorfällen, sondern auch auf
im Klassenzimmer kommt? Sind wir dafür als             eine konsequente und möglichst nachhaltige
Lehrerinnen und Lehrer überhaupt gut genug aus-        Präventions- und Aufklärungsarbeit. Diese Arbeit
gebildet, wenn wir mit Verschwörungstheorien,          beruht auf mehreren Säulen. Ein Fokus liegt
israelbezogenem Antisemitismus und „alterna-           auf der historischen Aufklärungsarbeit und der

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Schwerpunkt

              Etablierung einer lebendigen Erinnerungskultur,       le-Plattform vernetzt, auf der sie sich über aktuelle
              der andere Fokus liegt auf aktuellen Ereignissen      Veranstaltungen, Projekte und vieles mehr zu dem
              und der Stärkung eines pluralistischen Demo-          Themenkomplex Holocaust-Education informie-
              kratieverständnisses, in dem Antisemitismus und       ren können. 2022 wird der nächste Studientag in
              Rassismus keinen Platz haben, sowie auf der           Bochum stattfinden.
              Extremismusprävention.
                                                                        Ein Phänomen, das immer wieder auftritt, ist,
              Landesweite Fortbildung „Erziehung nach               dass die meisten Menschen ein recht geringes
              Auschwitz“                                            Wissen über das Judentum haben und dieses
              Schon seit mehr als 20 Jahren bietet das Land         häufig direkt mit der Verfolgung, Entrechtung und
              Nordrhein-Westfalen die landesweite Fortbil-          Ermordung dieser Bevölkerungsgruppe in der
              dungsmaßnahme „Erziehung nach Auschwitz“ an.          NS-Zeit verbinden. Durch diese Verknüpfung ist
              Dabei werden Lehrerinnen und Lehrer aus allen         vielleicht auch zu erklären, wie es dazu kommt,
              Regierungsbezirken in enger Zusammenarbeit mit        dass immer wieder davon berichtet wird, dass „Du
              der Lern- und Gedenkstätte Yad Vashem in einem        Jude“ ebenso wie „Du Opfer“ als Beleidigung auf
              Zeitraum von zwei Wochen in Israel ausgebil-          unseren Schulhöfen verwendet wird. Daher ist es
              det. Zum einen werden vielfältige Wissens- und        wichtig, das Judentum als Kultur und Religion im
              Vermittlungsansätze im Bereich der „Shoah-Edu-        Unterricht in seiner Vielfalt darzustellen. Hier kann
              cation“ thematisiert, zum anderen werden ver-         und muss meiner Auffassung nach neben dem Re-
              schiedene Facetten des jüdischen Lebens heute         ligions- und Deutschunterricht auch der Unterricht
              und vor dem Zweiten Weltkrieg angesprochen.           in den Gesellschaftswissenschaften eine wichtige
              Auch der Bereich des Antisemitismus in seiner his-    Rolle einnehmen.
              torischen, aber auch aktuellen Dimension findet
              intensiven Eingang in die Fortbildungsmaßnahme.           Derzeit befasst sich ein Arbeitskreis aus Mo-
              Die Bezirksregierung Münster leitet diese Fort-       deratorinnen und Moderatoren aller Bezirksregie-
              bildung ausgehend vom Dezernat Lehreraus- und         rungen in Nordrhein-Westfalen und ehrenamt-
              -fortbildung. Innerhalb der Fortbildungsmaßnah-       lichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des
              me nahmen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer          Humberghauses in Hamminkeln mit dem Projekt
              2019 unter anderem auch an einer Veranstaltung        „Jüdische Nachbarn“. Die Mitwirkenden sind dabei
              der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission          fast alle ehemalige Teilnehmerinnen und Teilneh-
              in Tel Aviv in Zusammenarbeit mit israelischen        mer der Fortbildungsmaßnahme „Erziehung nach
              Lehrerinnen und Lehrern teil. Auf die Fortbildung     Auschwitz“. In dem Projekt werden beispielhaft
              in Israel können sich alle Lehrerinnen und Lehrer     Biographien aus Nordrhein-Westfalen für Schü-
              mit einer festen Stelle an einer weiterführenden      lerinnen und Schüler der Sekundarstufe I und II
              Schule bewerben. Weitere Informationen findet         aufgearbeitet und das jüdische Leben in der Stadt
              man auf www.brms.nrw.de/go/lehrerfortbildung          und auf dem Land vor 1933 in den Fokus genom-
              unter dem Stichwort „Erziehung nach Auschwitz“.       men. Hauptziel des Projekts ist es, Schülerinnen
                                                                    und Schülern die Vielfalt des jüdischen Lebens
                  Aus dieser Maßnahme haben sich zahlreiche         zugänglich zu machen.
              weiterführende Projekte entwickelt. So wird alle
              vier Jahre ein Studientag ehemaliger Teilnehme-          Mittlerweile hat Yad Vashem in Nordrhein-
              rinnen und Teilnehmer abgehalten. Der letzte          Westfalen fünf Partnerschulen benannt, die sich
              Studientag fand 2018 in Köln statt und widmete        durch ihre langjährige Arbeit zu den genannten
              sich dem Schwerpunktthema Antisemitismus,             Themenkomplexen besonders hervorgetan ha-
              unter anderem mit Vorträgen von Prof.‘in Dr. Astrid   ben. Mit der Hermann-Leeser-Schule in Dülmen,
              Messerschmidt, Professorin für Geschichtsdidaktik     dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium
              an der Bergischen Universität Wuppertal, und von      in Münster und der Realschule St. Martin in
              Deborah Hartmann, Leiterin der deutschsprachi-        Sendenhorst befinden sich drei dieser Schulen
              gen Abteilung der International School for Holo-      im Regierungsbezirk Münster. Hinzu kommen
              caust Studies, Yad Vashem.                            das Grabbe-Gymnasium in Detmold und die
                                                                    Fritz-Bauer-Gesamtschule in St. Augustin. Die
                Die ehemaligen Teilnehmerinnen und Teilneh-         fünf Partnerschulen sind ebenfalls über eine
              mer der Fortbildung sind zudem über eine Mood-        Moodle-Plattform vernetzt und haben unter

14
anderem mit dem Projekt Erasmus+ 2016/2017             Unter dem Namen „Erinnerungspaten – Erin-
ein gemeinsames Erinnerungsprojekt in Israel        nern über die Zukunft hinaus“ widmen sich Men-
und Münster mit Schülerinnen und Schülern           schen der Erinnerung an die NS-Zeit, indem sie die
der damals noch vier Partnerschulen, mit Schü-      individuelle Geschichte eines Opfers der NS-Zeit
lerinnen und Schüler aus Rishon LeZion, mit         wachhalten. Die Paten kannten den Zeitzeugen
Yad Vashem und mit der Villa ten Hompel um-         oder die Zeitzeugin persönlich und haben sie zu-
gesetzt. Derzeit findet zum Beispiel ein neues      mindest einen Teil ihres Lebensweges begleitet.
Erasmus+-Projekt mit einer Schule in Almelo         Sie können in Schulklassen und zu anderen Veran-
und dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymna-          staltungen eingeladen werden und berichten dann
sium Münster statt.                                 persönlich von deren Lebensgeschichte. Weitere
                                                    Informationen und Kontakte zu den Erinnerungs-
Erinnern für die Zukunft                            paten können unter http://lfbr-muenster.lms.
Zeitzeugeninnen und Zeitzeugen nehmen eine          schulon.org eingesehen werden.
ganz besondere Rolle ein, wenn wir über die Ver-
brechen der NS-Zeit etwas lernen möchten. Die          Als zweites Projekt stehen die Filme „Zeugen
Authentizität, die mit der berichtenden Person      der Shoah“, für die Videointerviews für den
verbunden ist, stellt eine besondere Verbindung     Unterricht aufbereitet wurden, zur Verfügung. Die
zu den Lernenden her – trotz aller Besonder-        hierfür bearbeiteten elf Interviews mit jüdischen
heiten, die im Umgang mit Zeitzeugeninnen und       Überlebenden aus der Region und die drei Quer-
Zeitzeugen beachtet werden müssen. Die Zeit-        schnittsfilme können über das Landesmedien-
zeugin und der Zeitzeuge vermitteln die Zeit des    zentrum Edmond online angesehen werden. Die
Nationalsozialismus persönlich und erlebbar. Doch   dazu erarbeitete Handreichung mit Unterrichts-
wie soll Schülerinnen und Schülern dieser Zugang    entwürfen können dort ebenfalls heruntergeladen
erhalten bleiben, wenn es keine Zeitzeuginnen       werden. Darin enthalten sind auch ein bilinguales
und Zeitzeugen mehr gibt?                           Angebot und konkrete Anregungen für den inklusi-
                                                    ven Unterricht.
   Unter der Schirmherrschaft von Regierungs-
präsidentin Dorothee Feller wurden zwei Projek-        In Zusammenarbeit mit dem Verein „Spuren
te als eine Antwort auf diese Herausforderung       Finden“, der Villa ten Hompel und der Bezirksre-
entwickelt.                                         gierung Münster wurde zudem der Stadtrundgang

                                                                                                         15
Schwerpunkt

              „Ins Stolpern kommen“ zu Spuren der NS-Zeit ent-   Die Bezirksregierung Münster unterstützt auch
              wickelt. Dieser ist unter anderem im Stadtmuseum   das Programm „Schule ohne Rassismus – Schule
              Münster und der Villa ten Hompel zu erhalten.      mit Courage“. Eine Kollegin und ein Kollege
              Der Stadtrundgang bietet zudem QR-Codes mit        übernehmen hier im Rahmen einer Abordnung
              Links zu vertiefendem Material an.                 die Koordination, Vernetzung und Beratung der
                                                                 teilnehmenden Schulen und unterstützen neue
              Gemeinsam erinnern – der internationale            Interessierte dabei, das Label zu erhalten und
              Holocaustgedenktag in Münster                      mit Leben zu füllen. Dabei geht es nicht nur um
              Die Bezirksregierung Münster hat über eine         Fragen zum Bereich des Antisemitismus. Die
              Lehrerinnenabordnung zusammen mit der Stadt        Schulen beschäftigen sich gleichermaßen mit
              Münster, der Villa ten Hompel und der Gesell-      Diskriminierungen aufgrund der Religion, der
              schaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit      sozialen Herkunft, des Geschlechts, körperlicher
              einen gemeinsamen Gedenktag der weiterfüh-         Merkmale, der politischen Weltanschauung oder
              renden Münsteraner Schulen zum internationalen     der sexuellen Orientierung. Die Bezirksregierung
              Holocaust-Gedenktag etabliert. 2020 fand er        Münster arbeitet zudem intensiv mit der Mobilen
              bereits zum vierten Mal statt.                     Beratung gegen Rechtsextremismus NRW zu-
              Die Lehrerinnenabordnung ist zudem bera-           sammen.
              tend bei Ausstellungen und deren didaktischen
              Konzeptionen der Villa ten Hompel tätig. Ferner       Ferner beteiligt sich die Bezirksregierung auch
              werden über die intensive Kooperation der Villa    am „Netzwerk Rassismuskritik“ der Stadt Münster
              ten Hompel mit der Bezirksregierung Münster        und unterstützt das Netzwerk bei der Konzeption
              zahlreiche sogenannte Yad Vashem Lectures mit      rassismuskritischer Lernangebote an Schulen.
              einem vielfältigen Fortbildungsangebot zu diesen   Überdies wird die Bezirksregierung Münster im
              Themenkomplexen angeboten.                         Kalenderjahr 2020 Fortbildungen für Lehrkräfte
                                                                 und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zur
                 Die Villa ten Hompel bietet ergänzend seit      rassismuskritischen Arbeit an Schulen anbieten.
              vielen Jahren vielfältige Workshops und Führun-
              gen wie den „Demokratiedschungel“ mit „Mut            Eine weitere Säule in der Präventionsarbeit
              zur Meinung“ und „Freude am Diskurs“ an. In        besteht in den Anstrengungen der Bezirksregie-
              Zusammenarbeit mit dem Franz Hitze Haus in         rung Münster zur Prävention des gewaltbereiten
              Münster werden auch Gedenkstättenfahrten für       Salafismus. Dazu bietet die Bezirksregierung
              Schulklassen nach Bergen Belsen und Buchen-        regelmäßig Fortbildungen für Lehrkräfte und So-
              wald veranstaltet.                                 zialarbeiterinnen und Sozialarbeiter an, um diese

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bei der Professionalisierung im Umgang mit ge-
waltbereitem Salafismus zu unterstützen und bei           Fortbildungsangebote
der Vermittlung von zuständigen Expertinnen und           im Rahmen der Yad Vashem Lecture
Experten zu helfen. Das Präventionsprogramm               in der Villa ten Hompel
„Wegweiser“ des Ministeriums des Innern des
Landes Nordrhein-Westfalen ist im Regierungs-             2. Schulhalbjahr 2019/20*
bezirk in den Städten Münster, Gelsenkirchen
und Bottrop sowie den Kreisen Recklinghausen,             29. April 2020, 10 bis 16 Uhr
Steinfurt und Warendorf aktiv. Durch die Teil-            Jüdisches Museum Dorsten
nahme von Vertreterinnen und Vertretern der               „Antisemi … Was? Wir reden darüber!“
Bezirksregierung an den Fachkommissionssitzun-
gen der „Wegweiser“-Stellen wird das direkte,             27. Mai 2020, 10 bis 16 Uhr
präventive Engagement in den Schulen koordiniert          Servicestelle für Antidiskriminierungs-
und sichergestellt. In Gelsenkirchen findet zudem         arbeit Beratung bei Rassismus und Anti-
regelmäßig das „Präventionsgespräch Salafismus“           semitismus (SABRA):
statt, an dem neben schulischen Vertreterinnen            Vorstellung des virtuellen Methodenkof-
und Vertretern und der Bezirksregierung auch              fers gegen Antisemitismus
zahlreiche andere Institutionen teilnehmen
(Jugendamt, Polizei, soziale Träger, Schulamtsver-        Vorankündigungen für das
treter …). Ziel dieses Gesprächskreises ist es, die       1. Schulhalbjahr 2020/21
aktuelle Gefährdungslage im Blick zu behalten und
präventive Maßnahmen voranzutreiben.                      26. August 2020
                                                          „Demokratie als Feind“ –
Zum Umgang mit Antisemitismus im Unterricht               Vorstellung der Ausstellung
Durch die hier vorgestellten Angebote wird deut-
lich, dass eine Professionalisierung und ständige         28. August 2020
Weiterbildung der Lehrkräfte unerlässlich ist, um         Gegen Vergessen – Für Demokratie:
eine gewisse Souveränität und Professionalität im         Argumentationstraining gegen Rechts
Umgang mit der Geschichte, aber auch mit aktuel-
len Problemfeldern, die unsere freie, demokrati-          7. Oktober, 2. Dezember 2020,
sche Gesellschaft gefährden, an den Tag zu legen.         13. Januar 2021
Wie sollen Lehrkräfte also konkret in solchen             Vorbereitungstermine für den gemein-
Konfliktsituationen reagieren, wenn zum Beispiel          samen Gedenktag
„Du Jude“ als Beleidigung gebraucht wird?
Die wichtigste Antwort lautet hier: Reagieren Sie         27. Januar 2021
überhaupt! Es kann und darf keine Option sein,            Gemeinsames Gedenken der
solche Äußerungen zu überhören – auch wenn es             Münsteraner Schulen
anstrengend ist. Gleiches gilt natürlich auch für
rassistische, diskriminierende oder homophobe
Äußerungen. Wir alle haben einen Eid auf die
Verfassung geleistet, die demokratischen Werte
unserer Gesellschaft zu schützen. Dazu gehört
auch, eine klare Haltung gegen Antisemitis-
mus und Rassismus zu zeigen. Wir können und
dürfen bei solchen Äußerungen nicht weghören.
Haltung zu zeigen ist eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe und gehört nicht nur in den Geschichts-
oder Politikunterricht. Immer wieder wird mir
von Kolleginnen und Kollegen berichtet, dass es
bei solchen Äußerungen zu Bagatellisierungen          * Diese Termine wurden vor der Corona-Pandemie festgelegt.
kommt, diese klein geredet werden und nicht im-         Sie stehen bei Redaktionsschluss unter Vorbehalt.
                                                        Aktuelle Informationen über folgenden Link:
mer offen damit umgegangen wird. Einige Schul-          www.stadt-muenster.de/villa-ten-hompel/veranstaltungen.
leitungen scheinen dabei auch darauf bedacht zu         html (27.03.2020)

                                                                                                                   17
Schwerpunkt

              sein, dass die Außenwahrnehmung ihrer Schule                       gegeben werden, indem Sie mit Fragen reagieren.
              durch einen offenen Umgang negativ gefärbt                         In diesem Fall empfiehlt die Initiative zum Bei-
              werden könnte.                                                     spiel zu fragen: „Warum nutzt du dieses Wort als
                                                                                 Schimpfwort? Warum ist das wichtig für dich? Wie
                  Dabei ist das Gegenteil der Fall. Es geht                      findest du es, als Deutscher / Christ / Moslem / …
              darum, klare Grenzen aufzuzeigen und ehrlich                       als Schimpfwort bezeichnet zu werden?“.6
              zu kommunizieren. Ansonsten tragen wir alle
              dazu bei, dass eine „Verrohung“ unserer Sprache                       Als ein Baustein gegen Antisemitismus an
              toleriert wird. Natürlich geht es nicht darum, eine                Schulen hat die Bezirksregierung Münster in
              Schülerin oder einen Schüler vor der Klasse mög-                   Zusammenarbeit mit den jüdischen Gemeinden
              lichst „klein“ zu reden. Es geht vielmehr darum                    und der Villa ten Hompel eine Broschüre heraus-
              aufzuklären, warum die entsprechende Äußerung                      gebracht, die uns Lehrkräften eine Hilfestellung
              nicht zu tolerieren ist und warum sie zum Beispiel                 im Umgang mit Antisemitismus geben soll. Diese
              nicht unter die Freiheit der Meinungsäußerung                      können Sie kostenlos auf der Seite der Bezirks-
              fällt, sondern ganz klar antisemitisch ist. Als Bei-               regierung im Bereich des Krisenmanagements
              spiel möchte ich hier auf eines von 35 Zitaten der                 herunterladen (Empfehlung auf Seite 50 unter
              Initiative „Stop-Antisemitismus“ aus Berlin ein-                   „Bemerkenswert“).
              gehen. Demnach sagte nach dem Forschungsbe-
              richt „Mach mal keine Judenaktion!“ der Frank-                        Wenn wir möchten, dass wir eine klare Haltung
              furter University of Applied Sciences ein Schüler                  gegen Antisemitismus, Diskriminierung und
              zu einem anderen auf dem Schulhof: „Komm her,                      Rassismus wirklich leben und es nicht nur bei
              du Jude“. Beide sind aber keine Juden. Das Wort                    öffentlichkeitswirksamen Lippenbekenntnissen
              „Jude“ als solches ist nicht als Schimpfwort zu                    bleibt, ist letztendlich jede und jeder Einzelne von
              sehen. Immer wieder findet sich die Verwendung                     uns gefragt. Wir dürfen unsere Demokratie nicht
              des Begriffes Jude allerdings als eine Form der                    als Selbstverständlichkeit ansehen und uns darauf
              intendierten Beleidigung wieder. Durch diese Art                   verlassen, dass jemand anderes aktiv wird – und
              der Verwendung des Begriffes drückt der Schüler                    genau diese Verantwortung müssen wir auch
              seine Verachtung gegenüber jüdischen Menschen                      unseren Schülerinnen und Schülern vermitteln.
              aus und betrachtet sie scheinbar als eine ein-
              heitliche Gruppe. So wird das Wort „Jude“ zum
              Stigma und letztendlich zu einem Schimpfwort.

                 Dies manifestiert sich besonders in der Tat-
              sache, dass er es zu einem Mitschüler sagt, der
              selbst kein Jude ist. Als Lehrkraft muss in einer
              solchen Situation eine sofortige, unmissver-
                                                                                                          Kim Keen
              ständliche Reaktion gezeigt werden. Drücken Sie                                             Lehrerin am Annette-von-Droste-
              aus, dass hier eine Grenze überschritten wurde.                                             Hülshoff-Gymnasium Münster,
              Dadurch zeigen Sie nicht nur Haltung, sondern                                               pädagogische Mitarbeiterin in der
                                                                                                          Lehrerfort- und Weiterbildung der
              schützen auch betroffene Minderheiten, auch in                                              Bezirksregierung Münster
              deren Abwesenheit. Häufig können Denkanstöße                                                keen@stadt-muenster.de

              1
                  Astrid Nettling: Walter Benjamins Engel der Geschichte. Deutschlandfunk, 10.02.2016.
                  https://www.deutschlandfunk.de/walter-benjamins-engel-der-geschichte-ein-sturm-weht-vom.2540.de.html?dram:article_
                  id=345151 (26.03.2020).
              2
                  Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. http://www.trend.infopartisan.net/trd0117/t010117.html (26.03.2020).
              3
                  Astrid Nettling: a.a.O.
              4
                  Tagesschau: Steinmeier in Yad Vashem. „Die bösen Geister in neuem Gewand“, 23.01.2020. https://www.tagesschau.de/ausland/
                  holocaust-gedenken-steinmeier-rede-101.html (26.03.2020).
              5
                  Deutsche Welle: Die Deutschen wollen keinen Schlussstrich, 24.01.2020. https://www.dw.com/de/die-deutschen-wollen-keinen-
                  schlussstrich/a-52094901 (26.03.2020).
              6
                  Stop Antisemitismus: Erkennen Sie Antisemitismus im Alltag? Und wissen Sie, wie Sie reagieren können?
                  Online unter: https://www.stopantisemitismus.de/ (26.03.2020).

18
Beispiel

  EIN TEMPEL, DER VERBINDET
  KOOPERATION ZWISCHEN DEM KARDINAL-VON-GALEN-
  GYMNASIUM UND DER JÜDISCHEN GEMEINDE

  Am 19. April 2018 war es endlich soweit. Der             Am Ende des Projekts stand eine vielbeachtete
  in neuem Glanz erstrahlende Tempel wechselte          Ausstellung im KvG, bei der das Tempelmodell in
  vom Kardinal-von-Galen-Gymnasium Hiltrup              der Mitte des Raumes ausgestellt war, umgeben
  (KvG) in die Synagoge in der Klosterstraße. Dies      von Plakatwänden, die das gesamte Umfeld des
  geschah im Rahmen eines vielbesuchten Fest-           Tempels sowie die Geschichte des Tempelberges
  akts im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde           beleuchteten.
  Münster, bei dem auch der Grundstein zu einer
  besonderen Beziehung zwischen der Jüdischen           Ein Modell auf Standortsuche
  Gemeinde und dem Hiltruper Gymnasium ge-              Nach der Ausstellung fand das Modell seinen
  legt wurde. Am Anfang war also der Tempel.            Platz an einer Wand in der Pausenhalle des
  Wie aber kam der Tempel nach Hiltrup? Blicken         Gymnasiums. Es diente in den folgenden Jahren
  wir dazu mehr als 20 Jahre zurück.                    vielen Schülerinnen und Schülern als Anschau-
                                                        ungsobjekt im Religions-, Geschichts- und Latein-
                                                        unterricht. Doch erst 2018, rund 20 Jahre später,
  von Santa Bitter und Gregor Osthues                   erhielt das Tempelmodell einen um ein Vielfaches
                                                        würdigeren Ort als es das KvG je hätte sein kön-
                                                        nen, denn die Jüdische Gemeinde Münster zeigte
  Ein fächerübergreifendes Projekt                      die Bereitschaft, dem Tempelmodell einen Platz
  In den Jahren 1998/99 fand am KvG ein ambi-           im Gebäude der Synagoge zu geben.
  tioniertes fächerübergreifendes Projekt statt.
  Das Thema des Projekts lautete: „Der zweite              Zunächst hatte Michael Rickert Kontakt zur Jü-
  (herodianische) Tempel in Jerusalem und die Ge-       dischen Gemeinde, insbesondere zu deren Leiter,
  schichte des Tempelberges von der Antike bis zur      Sharon Fehr, aufgenommen, mit der Frage, ob die
  Gegenwart“. Im Rahmen dieses Projekts bauten          Gemeinde Interesse an dem mittlerweile zwanzig
  Schülerinnen und Schüler eines Kunstkurses unter      Jahre alten Modell habe. Bei einem Besuch am KvG
  Leitung ihres Lehrers Michael Rickert maßstabs-       mit Besichtigung des Modells zeigte sich Sharon
  getreu ein Modell des antiken, im Auftrag des         Fehr hocherfreut und sehr interessiert daran, das
  bekannten Königs Herodes ausgebauten Tempels          Modell für die Jüdische Gemeinde zu übernehmen.
  in Jerusalem.
                                                            In der folgenden Zeit wurde das Modell gründ-
     Zusätzlich zum Bau des Modells beschäftigten       lich gereinigt und frisch in einer Farbe gestrichen,
  sich Schülerinnen und Schüler eines Religionskur-     die an den berühmten „Jerusalem-Stein“ erinnert,
  ses und einer Arbeitsgemeinschaft Geschichte mit      in dem der antike Tempel errichtet worden war. So
  der Entstehung des Tempels und seinem histori-        konnte das renovierte Tempelmodell endlich am
  schen Umfeld, mit dem Tempelkult sowie mit der        19. April 2018 an seinem neuen Platz im Vorraum
  weiteren Geschichte des Tempelberges von der An-      der Synagoge in der Klosterstraße vorgestellt wer-
  tike bis zur Gegenwart. Die am Projekt beteiligten    den. Die Gäste des Festaktes, welcher musikalisch
  Jugendlichen zogen dabei nicht nur den jüdischen      von einem Orchester des KvG begleitet wurde, wa-
  Geschichtsschreiber Flavius Josephus zu Rate, der     ren nicht nur von der herzlichen Atmosphäre und
  als Zeitgenosse den Tempel detailliert beschrie-      der großzügigen Bewirtung durch Mitglieder der
  ben hatte, sondern auch Texte aus der Bibel, dem      Jüdischen Gemeinde beeindruckt, sondern auch
  Talmud, der Pessach Haggada und andere Quellen.       von dem herausragenden Platz, den das Modell im
  Sie bezogen in ihre intensive und engagierte Arbeit   Gebäude der Synagoge erhalten hatte. In seiner
  archäologische Funde sowie Gegenstände und Bil-       Ansprache hob Sharon Fehr hervor, dass das Mo-
  der mit ein, die mit der Erinnerung an den Tempel     dell zum Bindeglied einer besonderen Beziehung
  verbunden sind.                                       zwischen der Jüdischen Gemeinde und dem KvG

                                                                                                               19
piel   Beispiel

                  werden solle. Für die Kolleginnen und Kollegen der    Gegenstände. Darüber hinaus beantwortete Herr
                  Schule, die an dem Festakt teilnahmen, bedeutete      Fehr Fragen der Schülerinnen und Schüler zur
                  dieses Angebot einen besonderen Ansporn, an der       aktuellen politischen Lage in Deutschland und zum
                  Erarbeitung eines Konzepts für die Zusammen-          aufkeimenden Antisemitismus sehr eindrucksvoll
                  arbeit mitzuwirken.                                   und für die Jugendlichen äußerst bewegend.

                  Die Entwicklung einer Partnerschaft                      Ein weiteres Element innerhalb des Programms
                  Seit zwei Jahren wird deshalb ein Programm entwi-     sind Unterrichtseinheiten, die in verschiedenen
                  ckelt, das unterschiedliche Aspekte der Verbindung    Jahrgangsstufen erprobt werden. So wird seit zwei
                  zur Jüdischen Gemeinde umfasst. Im Zentrum ste-       Jahren innerhalb des Geschichtsunterrichts der
                  hen natürlich die Besuche von Schülerinnen und        Einführungsphase in die Oberstufe (EF) in einem
                  Schülern in der Synagoge. Seit vielen Jahren, aber    Kurs das Halbjahresthema „Geschichte und Bedeu-
                  besonders seit der Übergabe des Tempelmodells         tung Jerusalems von der Antike bis zur Gegenwart“
                  sind bereits einige Klassen und Kurse des KvG sehr    behandelt. Dabei erhalten die Schülerinnen und
                  herzlich in den Räumen der Synagoge empfangen         Schüler auch Einblicke in die fast zweitausendjäh-
                  worden und erhielten die Gelegenheit, Einblicke in    rige jüdische Geschichte und Tradition im heutigen
                  den jüdischen Gottesdienst und das Leben der Ge-      Deutschland. Diese Unterrichtseinheit versteht
                  meinde zu gewinnen. Die Besuche in der Synagoge       sich als Ergänzung zum NRW-Lehrplan für das Fach
                  werden künftig im Rahmen des schulinternen Cur-       Geschichte. Zwar sieht der Lehrplan, auch vor dem
                  riculums auch integraler Bestandteil des Religions-   Hintergrund wachsender antisemitischer Tenden-
                  unterrichts am KvG sein.                              zen und Vorurteile, in mehreren Jahrgangsstufen
                                                                        die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus
                     Inzwischen besuchte Sharon Fehr auch selbst        und der Shoah vor, doch ist die Beschäftigung mit
                  am KvG den Unterricht eines Religionskurses der       anderen Epochen und Ereignissen der jüdischen
                  Jahrgangsstufe 8 und gab dort ausgesprochen           Geschichte im Lehrplan nur ansatzweise vorgese-
                  interessante Einblicke in die jüdische Religion und   hen. Auch hier sollen am KvG neue Impulse gesetzt
                  Lebensweise. Hierbei berichtete er über das reli-     und den Jugendlichen vermittelt werden, welch
                  giöse Leben in der Gemeinde und veranschaulichte      wichtigen Anteil die jüdische Tradition an der euro-
                  seine Ausführungen durch mitgebrachte rituelle        päischen und deutschen Geschichte hat.

       20
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