WORTE - Kinderschutzbund Forchheim
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D I E Z E I T S C H R I F T D E S K I N D E R S C H U T Z B U N D E S 4 . Q UA R TA L 2 0 2 0 / H 8 7 6 3 F KINDERSCHUTZ A K T U E L L 4.20 Sprache und Gewalt MÄCHTIGE WORTE Nicht nur körperlich, sondern auch verbal können Erwachsene Kindern gehörig zusetzen, sie verletzen und ihre Entwicklung beeinträchtigen.
starke eltern starke kinder Das Magazin des Deutschen Kinderschutzbundes Starke Kinder brauchen starke Eltern. Auf 192 Seiten finden Sie hilfreiche Ideen und Anregungen rund um das Thema Erziehung interessante Artikel zum Lesen und Schmökern weitere Informationen, Lesetipps und Internetlinks zu den Artikeln Reportagen, Interviews und viele Fotos starke eltern starke kinder ist ein zuverlässiger Ratgeber in allen Lebenslagen. Ab sofort am Kiosk oder beim Verlag erhältlich. Jetzt bestellen: Bestellschein per Post ZIEL:MARKETING Hiermit bestelle ich Exemplar(e) Danneckerstraße 23A des DKSB-Jahresheftes 2020 „starke eltern starke kinder” 70182 Stuttgart zum Stückpreis von 6,90 € zzgl. 2,00 € Versandkosten bequem und einfach im Internet unter Absender www.ziel-marketing.de Name Vorname per E-mail bestellungen@ziel-marketing.de Straße telefonisch PLZ Ort (0711) 9 66 95-0 Telefon Telefax per Fax (0711) 9 66 95-20 E-mail Datum Unterschrift KSA
Sprache und Gewalt: Mächtige Worte Seit genau 20 Jahren haben Kinder das gesetzlich verbriefte Recht darauf, gewaltfrei aufzuwachsen. Sie dürfen weder körperlich noch psychisch traktiert werden. Dass es den Jüngsten in unserer Gesellschaft nicht bekommt, geschlagen oder misshandelt zu werden, ist heute nahezu allen Erziehenden bekannt. Weniger herumgesprochen hat sich bisher dagegen, dass auch Worte Kinder verletzen, entwürdigen und beeinträchtigen können. Deshalb fokussiert KSA in diesem Heft die verbale Gewalt: Wie mächtig ist das ausgesprochene Wort – und was kann es bei Kindern anrichten? Ein Fazit vorweg: Das ausgesprochene Wort gehört öfter auf die Goldwaage als gedacht! 14 Inhalt 4.2020 KLIPP & KLAR 4 Kolumne, Nachrichten, 10 Weltkindertag 2020 THEMA 6 Schlag-Wörter Im Blick: Die Sprache selbst und ihre Wirkung auf Kinder 8 Ein Lob kann auch vergiftet sein Beobachtungen: (Mit)Freude stärkt mehr als bewertendes Lob Wenn Worte weh tun Und DU bist raus 10 Wenn Worte weh tun Verbale Gewalt ist die wohl häufigste Kaum jemand möchte es wahrhaben – Aufklärung: Verbale Gewalt verletzt Kinder Form von psychischer Gewalt. Sie stellt aber auch Kinder in Deutschland sind und ihre Rechte immer einen Angriff auf die Würde des alltäglichem Rassismus ausgesetzt. 12 Nicht frei von Nebenwirkungen Kindes dar, hinterlässt Spuren auf seiner Er zeigt sich in vielerlei Gestalt. Dass Digitale Sprachnachrichten: Seele und verletzt seine Rechte. Daher Bemerkungen und Beschimpfungen Der Ton verschärft sich ist es so wichtig, über sie zu sprechen. nur ein Teil davon sind, beweist ein 14 Und DU bist raus Ab Seite 10 Perspektivwechsel. Ab Seite 14 Perspektivwechsel: So alltäglich ist Rassismus in der Sprache 16 Süße Maus & echter Rabauke Zweiteilung: Wir sprechen mit Mädchen und Jungen nicht gleich KINDER IM BLICK 18 Verbandsentwicklung im DKSB Der LV Baden-Württemberg bleibt dran 19 Digitaler Kindermedienschutz Pädagogische und technische Möglichkeiten 20 20 Sexuelle Gewalt gegen Kinder Erkenntnisse und Konsequenzen aus DKSB-Sicht 22 Die machen Sachen Infos & Tipps aus der DKSB-Praxis Sexueller Missbrauch: 24 Corona I: Kommunikation im DKSB Erkenntnisse und Konsequenzen Was war neu, was könnte bleiben? Nordrhein-Westfalen wird seit einiger Zeit von schwersten Fällen sexueller Gewalt 25 Corona II: Forschung gegen Kinder erschüttert. Und die Ermittlungen decken immer neue Fälle auf, deren So erging es Kindern und ihren Familien Spuren auch weit ins Internet hineinragen. Dort können sich Kriminelle immer leichter 28 Corona III: Neustart im DKSB vernetzen und Darstellungen ihrer Taten austauschen. Besonders erschreckend: Wie Angebote und Einrichtungen Vielen Tätern (es sind meist Männer) fehlt jedes Unrechtsbewusstsein für ihr Tun. wieder angelaufen sind „Sexueller Missbrauch ist ein allgegenwärtiges Phänomen“, stellt die Expertin 30 Aktuelles aus dem Bundesverband Renate Blum-Maurice fest und zeigt auf, welche Konsequenzen 31 Impressum aus Sicht des DKSB zu ziehen sind. Ab Seite 20
KLIPP & Kolumne KLAR Liebe Leserinnen und Leser, die Gewalttaten von Lügde, Bergisch-Gladbach und Neue Stiftung: Münster haben unseren Verband und die gesamte Gesellschaft einmal mehr erschüttert. Jetzt für 2021 planen! Wieder folgte auf die Frage „Was tun?“ schnell der Ruf In Neustrelitz wurde am 23. Juni 2020 die nach Strafrechtsverschärfungen. Gleichzeitig gibt es Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt keine Aussicht darauf, dass Präventionsangebote künf- gegründet. Damit gibt es erstmals eine bundes- tig verlässlich finanziert werden oder die Justiz ernst- weite Anlauf- und Servicestelle für diesen Bereich. haft kindgerecht ausgestaltet wird. Auch ein wirksamer Ihr Förderprogramm ist für alle Gliederungen des Kinder- und Jugendmedienschutz, der Provider und Kinderschutzbundes spannend! Aktuell richtet es Plattformbetreiber in Haftung nimmt, ist nicht in Sicht. sich darauf, gemeinnützige Organisationen in der Corona-Pandemie zu unterstützen. Für dieses Jahr Prävention verlässlich zu finanzieren, ist Aufgabe der staatlichen Gemein- können zwar keine Anträge mehr gestellt werden – schaft. Zu Recht weisen die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe aber 2021 kommt bestimmt! darauf hin, dass sie unterfinanziert sind. Zur Wahrheit gehört aber auch: Gefördert werden z.B. Prävention ist Aufgabe aller Organisationen und Vereine, die Angebote für M der Auf- und Ausbau einer digitalen Infrastruktur Kinder bereithalten. Das macht vor dem Kinderschutzbund nicht halt. fürs Ehrenamt, Wir arbeiten jeden Tag daran, Kinder zu schützen, zu begleiten, für ihre M die Gewinnung und Sicherung von engagiertem Rechte zu kämpfen. Wir wollen ein starker Partner an der Seite der Kinder Nachwuchs, sein. Dennoch sind auch wir nicht gefeit. Wir wissen, dass Täterinnen und M die Verbesserung von Rahmenbedingungen für Täter die Nähe zu Kindern suchen, ob im Ehren- oder im Hauptamt. Engagement und Ehrenamt vor allem in Wir wollen niemanden unter Generalverdacht stellen, gleichzeitig können strukturschwachen und ländlichen Räumen. wir keinem Menschen hinter die Stirn schauen. Deshalb: Unbedingt auf die Homepage der Der Kinderschutzbund hat deshalb im Jahr 2015 beschlossen, dass jede Stiftung gehen, Möglichkeiten für den DKSB seiner Einrichtungen ein Schutzkonzept erarbeiten soll. Und hier ist der ausloten – und rechtzeitig planen! Weg das Ziel: Ein Schutzkonzept ist kein einfaches Regelwerk, das eine www.deutsche-stiftung-engagement- Einrichtung liest und unterschreibt. Ein Schutzkonzept ist vielmehr die und-ehrenamt.de konkrete Auseinandersetzung mit dem Kinderschutz insbesondere vor sexualisierter Gewalt. Welche Strategien setzen Täter und Täterinnen ein, um sexualisierte Gewalt zu verüben? Welche Gegebenheiten könnte ein Täter oder eine Kinderfreundlichkeit: Täterin in unserer Einrichtung ausnutzen? In der Erarbeitung eines Schutzkonzepts sollen Antworten auf derartige Fragen gefunden werden. Noch viel Luft nach Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit unterschiedlicher Konzepte oben für unterschiedliche Angebote. Ein Schutzkonzept für ein Kinderhaus Ist Deutschland kinderfreundlich? Nein, sagt nahe- unterscheidet sich in wichtigen Punkten von einem Schutzkonzept zum zu jede(r) Zweite in unserem Land. Das belegt eine Beispiel für Aktive, die eine Patenschaft übernehmen. Studie des Heidelberger Sozialforschungsinstitut Schutzkonzepte sind zwingend notwendig, um Kinder auch im Kinder- Sinus und des Meinungsforschungsinstitut YouGov schutzbund zu schützen. Dafür tragen wir alle im Kinderschutzbund anlässlich des diesjährigen Weltkindertages. die Verantwortung. Interessant daran: Mit höherem Alter beurteilen die Befragten die Kinderfreundlichkeit im Land zu- Erste Hinweise zur Erarbeitung gibt der Unabhängige Beauftragte für nehmend schlechter. Politischen Handlungsbedarf Fragen des sexuellen Missbrauchs unter www.kein-raum-fuer-miss- sehen die allermeisten beim Schutz der Kinder vor brauch.de. Der Kinderschutzbund Nordrhein-Westfalen stellt außerdem sexuellem Missbrauch und Gewalt. Eine jeweils eine umfangreiche Arbeitshilfe zur Verfügung: www.kinderschutzbund- deutliche Mehrheit sorgt sich aber auch um gleiche nrw.de/pdf/DKSB_SexualisierteGewalt.pdf Bildungschancen, ausreichende Betreuungsplätze Sie alle sind sicher schon in Überlegungen, welche Schwerpunkte Sie in sowie um die von Armut betroffenen Kinder. Ihrer Arbeit im nächsten Jahr setzen wollen. Ich appelliere an Sie: Immerhin 57 Prozent stimmen zu, dass die Kinder- Räumen Sie einem Schutzkonzept Priorität ein. rechte im Grundgesetz verankert werden sollten. Es bleibt also noch viel zu tun! (Quelle: dpa) Ihr Heinz Hilgers www.kinderrechte-ins-grundgesetz.de Präsident des Kinderschutzbundes 4 KSA 4.2020
AN SEHR VIELEN ORTEN IN DEUTSCHLAND konnte der Kinderschutzbund am Weltkindertag SPORTLICH FÜR DIE KINDERRECHTE UNTERWEGS: Marburger Kin- Jung wie Alt mobilisieren. derschützerinnen, darunter die OV-Vorsitzende Renate Oberlik (links) HomeRun am Weltkindertag DKSBAktion 2020 Zum diesjährigen Weltkindertag konnte der Kinderschutzbund mit einer virtuellen Spendenaktion auf die Situation bedürfti- ger Kinder in der Corona-Krise aufmerk- sam machen: „Laufen, um den Anschluss zu schaffen!“ Immer am Weltkindertag ist der DKSB mit ei- ner öffentlichkeitswirksamen Aktion in allen Medien. Aber in diesem Corona-Jahr konn- ten sich dafür unmöglich viele Menschen an einem Ort versammeln. Trotzdem ist es dem Kinderschutzbund gelungen, zahllose Ein- zelpersonen und kleine Gruppen für die Kin- derrechte zu mobilisieren, und zwar so: Schon seit vielen Jahren führt der DKSB Lan- desverband Niedersachsen in Kooperation mit regionalen Vereinen und der Stadt Ot- terndorf zum Weltkindertag den „Sparkas- sen-Küstenmarathon“ durch. Diese wurde nun kurzerhand in „HomeRun am Weltkin- dertag“ umbenannt und bundesweit ausge- AUF DIE PLÄTZE, FERTIG, LOS! Johannes Schmidt, Vorsitzender des DKSB-Niedersachsen (rechts), gibt Kindern rufen. Jeder einzelne Mensch konnte daran in Otterndorf das Startzeichen. Zu diesem Zeitpunkt hat DKSB-Präsident Heinz Hilgers (Mitte) seinen 5000-Meter-Lauf über das gleichnamige Internet-Portal kos- noch vor sich. Er hat ihn dann mit Bravour gemeistert. tenfrei bzw. gegen eine freiwillige Spende In Otterndorf, der Heimat des „Küstenmara- Wir können unter den schwierigen Corona- am Weltkindertag teilnehmen – mit echter thons“, wurden die Läufe am Weltkindertag Umständen wirklich zufrieden sein: Der „Ho- Startnummer und Urkunde. Das hat in ganz aus einem Rathaus-Studio ab 12 Uhr live in meRun am Weltkindertag“ hat viele Men- Deutschland 1.400 KinderschützerInnen in halbstündigem Rhythmus gesendet. Da hat- schen bewegt und zudem 23.000 Euro an Bewegung gesetzt. Sie sind für die Rechte ten die Jüngsten ihre 500- bzw. 1.000- Meter- Spenden erbracht. Aus diesem Fonds werden der Kinder gelaufen, gewalked, gewandert, Strecken schon hinter sich. DKSB-Präsident nun Internetanschlüsse und Tablets für be- mit dem Rollstuhl gefahren und haben auch Heinz Hilgers musste übrigens etwas länger dürftige Kinder finanziert. Ein besonderer andere zur Teilnahme animiert. Über Ort und durchhalten als die Kinder: Er hatte sich in Ot- Dank geht an den Aufzughersteller KONE für Länge der Strecke konnte jede(r) selbst be- terndorf die fünf Kilometer vorgenommen. seine Großspende (15.000 Euro). Und natür- stimmen. An diesem Tag erreichten den DKSB Bundes- lich an den OV Cuxhaven, den LV Niedersach- Botschafterinnen dieses spektakulären Solo- verband dann aus ganz Deutschland Fotos sen, das „Küstenmarathon“-Team und die laufs waren Dr. Franziska Giffey, die Bundes- und Videos von KinderschützerInnen, die Weser-Elbe-Sparkasse für das großartige En- familienministerin, sowie die Bundesvorsit- selbst für die Kinderrechte gelaufen waren gagement und die super Unterstützung! jw zende von Bündnis/90 Die Grünen, Annalena oder Corona-konforme Gruppenläufe orga- Baerbock. nisiert hatten. 5
SCHLAGWÖRTER TITEL- THEMA Foto: istock/fizkes Ausgesprochene Gewalt Kinder haben ein Recht darauf, ohne körperliche und psychische Gewalt aufzuwachsen. Im November 2020 steht ihr Recht auf gewaltfreie Erziehung fast auf den Tag genau seit 20 Jahren im Gesetzbuch. Aus diesem Anlass ist das folgende Schwerpunktthema der Frage gewidmet, ob Kinder und Jugendliche auch vom gesprochenen Wort verletzt und beeinträchtigt werden können. Während sich körperliche Gewalt relativ ein- hat gerade an Lenis neuem Perlenarmband ne und deutet freudig auf die Straße. Warum deutig beschreiben lässt, verhält es sich mit gezerrt und es dabei versehentlich zerrissen. sollte er auch „Papa“ sagen – schließlich sitzt der verbalen weitaus komplexer. Wie prak- Verbale Gewalt? Wohl kaum; bei nächster Ge- er bei dem doch auf dem Arm! tisch wäre da ein Vokabelheft mit allen Sätzen legenheit wird sich die Kleine mit ähnlichen Worte befinden sich nicht in der angeborenen und Begriffen, die einem Kind seelisch scha- Worten revanchieren. Derselbe Satz, ausge- Grundausstattung eines Kindes. Sie werden den können. „Schlag-Wort-Katalog“ hätte das sprochen von einer Erziehungsperson, hat im Laufe der ersten Lebensmonate wahrge- mein kleiner Bruder vor über fünfzig Jahren schon eine andere Wirkung. Und rutscht er nommen im Zusammenhang mit Menschen, wohl genannt, als Schläge noch fast regelhaft Erwachsenen nicht nur im Affekt heraus, son- die sie in bestimmten Situationen verwen- zur Erziehung gehörten. Ohrfeigen oder ein dern bestimmt – egal ob bedrohlich laut den. Früher oder später, meist um den ersten paar hintendrauf gab es unter anderem für oder beängstigend leise – den Grundton der Geburtstag herum, reift die Fähigkeit, sie den Gebrauch „böser Wörter“, die deshalb für verbalen Kommunikation zwischen Eltern nicht nur als Begriffe zu verstehen, mit dem meinen Bruder „Schlag-Wörter“ waren. Da- und Kind, so kann und muss man von Gewalt eine Person, ein Gegenstand, eine Handlung mals wurde mit körperlicher Gewalt auf uner- sprechen (Seite 10). bezeichnet wird, sondern Kinder bedienen wünschte Sprache reagiert; heute nehmen sich ihrer auch selbst, um etwas zu mitzutei- wir die Sprache selbst und ihre Wirkung auf SPRECHEN LERNEN, len. Bei diesem Lernprozess werden Wörter Kinder in den Blick. SINN ENTSCHLÜSSELN nie isoliert gespeichert wie später in der Schu- „Sprechen“ ist weitaus mehr als die Vermitt- Kleine Kinder lernen mit allen Sinnen wie von le die Vokabeln einer Fremdsprache, sondern lung einer Information, eines Gedankens oder selbst die Sprache kennen, die sie umgibt. Die sind untrennbar mit Bildern, Geschehnissen einer Aufforderung. Zur gesprochenen Kom- Worte sind von Handlungen, Mimik, Gesten, und Emotionen verbunden. Bald können Kin- munikation gehören mindestens zwei Perso- Tonfall begleitet und werden so mit Sinn be- der auch über etwas berichten, das sich wo- nen, die mit allen Sinneskanälen auf Senden haftet. „Er kann schon ‚Papa‘ sagen – los, Fritz- anders befindet oder schon vergangen ist. und Empfangen eingestellt sind. „Du blöde chen, sag mal ‚Papa‘!“, fordert der stolze Vater „Benni Bibatz Aua macht“. Ach so: Du (Benni) Kuh!“, fegt Leni ihre jüngere Schwester an. Die seinen Sprössling auf. „Audo…“, sagt der Klei- hast dir heute auf dem Spielplatz wehgetan, 6 KSA 4.2020
Foto: istock/Dobrila Vignjevic ich verstehe! Damit hat uns der Junge soeben stehende sagt noch nichts darüber aus, wie seine erste Geschichte erzählt. Abstrakte Be- sie beim Kind ankommen. Jede Familie hat griffe wie z. B. Gefühle sind hingegen schwe- ihren typischen und einzigartigen sprachli- rer in Worte zu fassen. „Angst, Angst…“, rief chen Umgangsstil, der von außen nicht im- ein kleines Mädchen oft und schien dabei mer nachvollziehbar ist. Und Kommunikation nach etwas zu suchen. Wonach nur? Erst nach ist viel mehr als das gesprochene Wort. In einer Weile fiel der Mutter ein, dass sie das manchen Familien brauchen die Menschen Kind oft mit den Worten beruhigte: „Du nicht viele Worte, um sich untereinander ver- brauchst keine Angst zu haben.“ Eben diese bunden zu fühlen. Angst wollte sich das Kind gern mal genauer „Haben Sie Ihr Kind heute schon gelobt?“ So anschauen… steht es bis heute auf manchem Aufkleber, der Es dauert noch lange, bis ein Kind damit um- in den 1980er Jahren jedes zweite Autoheck gehen kann, dass Worte Haltungen und Wer- zierte. Damals war das eine wichtige Botschaft te übermitteln und auch ein Eigenleben ha- an eine Elterngeneration, die selbst noch nach ben sowie täuschen können. Ja, wir Erwach- dem Prinzip erzogen wurde: Nicht geschimpft sene meinen nicht immer das, was wir laut sa- ist schon gelobt. Der Gedanke hinter der obi- gen. Wir bedienen uns auch der Ironie, wir gen Botschaft: Eltern sollen bei allem Alltags- sagte zurückzunehmen – bis zur nächsten verstecken uns hinter Worten, sagen schein- stress und allen Unzulänglichkeiten nicht ver- Eskalation? Oder ein offenes Gespräch mit bar Harmloses, das es aber in sich hat – und gessen, dass ihr Kind auch etwas ganz Lie- Entschuldigung und Erklärung und dem wir machen anderen (und uns selbst) auch benswertes hat. Gut, dass Wertschätzung und Wiederherstellen einer sicheren Basis der Zu- schon mal etwas vor. „Wir wollen doch nur Anerkennung heute viel selbstverständlicher neigung? Ohne Kenntnis dieser Zusammen- dein Bestes…“ – dieser bei Kindern so unbe- sind. Allerdings lohnt sich auch beim Loben hänge kann man kaum einschätzen, was sol- liebte Ausdruck elterlicher Sorge, meist als ein kritischer Blick hinter die Kulissen (Seite 8). che Worte beim Kind anrichten. Begründung für (aus Kindersicht) unerfreuli- Immer umfangreicher wird das gesprochene che Entscheidungen vorgebracht, fand sei- ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT Wort auch via digitale Kommunikation ge- nen Weg auf etliche Sticker mit der gleich Zu Recht sind die Erwartungen an die Kom- wechselt. Dabei häufen sich nicht nur Sprach- passenden Antwort dazu: „…und genau das munikation mit Kindern gestiegen. Sie soll nachrichten (Seite 16), sondern auch damit bekommt Ihr nicht!“ Natürlich müsste es kor- gewaltfrei verlaufen, unter jedem Verzicht einhergehende „Mobbing“-Erfahrungen von rekt heißen: Wir wollen doch nur das Beste für auf Rassismus (Seite 14) sowie möglichst ge- Kindern und Jugendlichen. Wie kann der Kin- Dich. Aber woher, liebe Eltern und Erziehen- schlechtergerecht sein (Seite 12). Das sind derschutzbund damit umgehen? de, wisst ihr eigentlich, was das Beste für mich absolut wichtige Forderungen, damit Kinder ist? Habt ihr mich einmal gefragt? durch Sprache nicht verletzt oder in ihrer Ent- SICH AN VIELFALT ERFREUEN wicklung beeinträchtigt werden. Darüber hi- Trotzdem gehört auch die digitale Sprach- ZU GUT GEMEINT? naus soll es beim Sprechen ehrlich zugehen, nachricht zur Vielfalt der heutigen Kommuni- Entkleidet von ihrem Zusammenhang kön- auf Augenhöhe, mit Ich-Botschaften, auch kation. Deshalb möchte ich mit einem Plä- nen Worte sehr missverständlich sein. Dass das Erziehen „aus dem Bauch heraus“ ist wie- doyer für Vielfalt in der Sprache enden – wie eine Mutter ihr Baby „Mäuseschwänzchen“ der gefragt. Doch aus dem Bauch heraus man sie etwa auf Verkehrsschildern findet. nannte und eine andere zu ihrer wenige Mo- brüllt es sich eben auch schon mal: „Jetzt halt „Aimez nos enfants!“ fordert man Autofahre- nate alten Tochter „kleine Hexe“ sagte, fand gefälligst die Klappe und lass mich in Ruhe!“ rInnen in Frankreich unverblümt auf, „Liebt eine besorgte Familienhelferin so unange- Was machen Erwachsene nach einem sol- unsere Kinder!“ Erst im Untertitel folgt die Er- messen, dass sie es schriftlich ihrem Auftrag- chen Satz? Verzweiflung, Kontaktabbruch, klärung, dass hier Tempo 30 gefahren werden geber, dem Jugendamt, meldete. Aber die In- Rechtfertigung mit „…hat er sich selbst zuzu- muss. Auf Niederländisch klingt das viel prag- terpretation solcher Begriffe durch Außen- schreiben“? Tränenreiche Versuche, das Ge- matischer: „Langzaam varen – kinderen spa- ren!“ (wobei „sparen“ hier die Bedeutung von „schützen/retten“ hat). Der deutschsprachige Hinweis auf den „verkehrsberuhigten Be- reich“ kommt da eher holperig-bürokratisch Foto: istock/miodrag ignjatovic daher – und Kinder kommen gar nicht darin vor. Aber sagt das irgendwas aus über den Grad der Wertschätzung für Kinder in ver- schiedenen Sprachgebieten? Ich bin sehr dafür, dass wir unsere Worte öfter mal auf die Goldwaage legen und bewusst abwiegen. Das wird Kindern zugutekommen. Manchmal sollten wir uns aber auch einfach nur über die vielen Möglichkeiten freuen, Worte durch Tonfall, Mimik, Gesten und an- deres bereichern zu können – und sich so ge- genseitig besser zu verstehen. Korinna Bächer, Redaktion 7
Erkenntnisse einer Mutter Ein Lob kann auch VERGIFTET SEIN Kinder zu loben gehört heute zum guten Ton in der Erziehung. Dass dieser Umgangsstil Kindern manchmal den für vollkommen banale Dinge oft gieß- kannenartig mit Lob überschüttet. Auch Groß- eltern brechen gern über die kleinste Kleinig- trotzdem nicht guttut, dürfte daher verwundern. keit in Jubel aus. Manche loben sogar das Ge- Danielle Graf ist dem Lob auf die Schliche gekommen. schäft in der Windel. Ja, ja, wir meinen es ei- gentlich alle nur gut - aber mindert unser groß- Als meine Tochter vier Jahre alt war, bat sie Beginne ich aber mal mit meiner Selbstbeob- zügiger und häufiger Überschwang nicht den mich ständig um Lob für alles Mögliche, das achtung. Dabei musste ich leider feststellen, Wert des echten Mitfreuens in besonderen sie machte. Ich war irritiert – zumal ich sie nach dass ich meine Tochter sehr oft lobte, um le- Momenten? meinem Empfinden durchaus viel und regel- diglich ein bestimmtes Verhalten zu verstär- mäßig lobte. Warum wollte sie immer noch ken. Wenn ich z.B. sagte „Prima, wie das heute DAUMEN HOCH DAUMEN RUNTER mehr? mit dem Zähneputzen klappt!“, so hoffte ich Vielleicht werden Sie vorhin ungläubig den Ich habe nachgeforscht und fand dafür nach tatsächlich, dass auch morgen das übliche Kopf geschüttelt haben bei meiner Erkennt- einigen Recherchen sogar eine wissenschaft- Zahnputz-Theater ausbleiben wird. Mir fiel nis, dass sich Lob auch negativ auf das Selbst- liche Erklärung: Menschen lieben das Lob, außerdem auf, dass ich häufig achtlos bis in- bewusstsein von Kindern auswirken kann. weil es ihr Grundbedürfnis nach Anerken- flationär anerkennende Worte spendierte. Aber ich frage Sie: Wie sollen Kinder ein ge- nung und Zugehörigkeit sehr schnell und ef- Hören Sie mal genau hin, wenn Sie das nächs- sundes Bewusstsein für ihr Selbst sowie Freu- fizient befriedigt. Und das funktioniert so: te Mal auf dem Spielplatz sind! „Das hast du de an ihrem Tun entwickeln, wenn ihr Han- Nach einem Lob schütten die Nervenzellen im sooo toll gemacht! Prima! Absolut Klasse! Nur deln pausenlos von uns Erwachsenen be- Belohnungszentrum des Gehirns die Glücks- weiter so, Spätzchen!“ Eine wahre Begeiste- wertet wird? Nach meinen Beobachtungen hormone Dopamin und Oxytocin sowie kör- rungswoge auch noch für den hundertsten hören Kinder auf, ihre Leistungen realistisch pereigene Opiate aus. Diese Substanzen sor- Sandkuchen aus dem Förmchen. Kinder wer- einzuschätzen, wenn sie es gewohnt sind, gen für Entspannung, Glücksgefühle und Le- bensfreude. Aha. Solche netten Effekte kann- te ich bis dahin vorwiegend vom Schokola- dengenuss. Aber wer kann für einen Glücks- kick schon andauernd Schokolade in sich hin- einstopfen, ohne dick zu werden? SELBSTBEFORSCHUNG Lob macht jedenfalls nicht dick, soviel steht schon mal fest. Kann es trotzdem gravierende Nachteile für`s Kind haben? Oder zumindest unerwünschte Nebenwirkungen? Mit diesen Forschungsfragen habe ich meine Tochter und mich dann eine Weile beobachtet und auch ein bisschen Feldforschung bei befreun- deten Familien betrieben. Die wichtigsten Er- gebnisse hier vorweg: Neben der Menge des Lobes kommt es ganz entscheidend auch auf die Art und Weise des Lobens an. Ein Lob kann nämlich auch manipulieren, wenn es einem „heimlichen“ Zweck dienen soll. Und das ist Foto: istock/ideabug häufiger der Fall, als Eltern meist vermuten. Wird das Lob zudem achtlos verteilt, stärkt es das Selbstwertgefühl der Kinder nicht, son- dern verringert es und schadet auch der El- tern-Kind-Beziehung. 8 KSA 4.2020
stets von anderen beurteilt werden. Dieses von uns Erwachsenen inflationär in Worte ge- bringen“, um unsere Zuwendung zu erhalten. Wird das im kindlichen Unterbewusstsein ver- LESETIPP kleidete Daumen hoch (oder im Gegenteil: knüpft, heißt das fürs Kind übersetzt: „Wenn der Autorin Daumen runter) kann dazu führen, dass Kin- ich mich so verhalte, wie meine Eltern es wün- „Liebe und Eigen- der die Fähigkeit zur selbstkritischen Eigen- schen, oder wenn ich außergewöhnliche Din- ständigkeit. Die Kunst einschätzung nicht ausreichend entwickeln, ge zustande bringe, dann bekomme ich un- bedingungsloser ständig an ihrer eigenen Urteilsfähigkeit zwei- eingeschränkt Aufmerksamkeit und Zunei- Elternschaft, jenseits feln oder aber ein übersteigertes Selbstbe- gung“ (über das Lob). von Belohnung und wusstsein ausbilden. Hand aufs Herz: Für uns Eltern oder auch für Bestrafung“ von Alfie Auch die Eltern-Kind-Beziehung wird durch andere Erziehende haben solche Verknüp- Kohn (arbor Verlag) ständiges Loben negativ beeinflusst. Ich sehe fungen einen durchaus praktischen Nutzen. das nämlich so: Wir Eltern wissen zwar, dass Denn das Kind wird sich bemühen, sein uns wir unser Kind vollkommen bedingungslos genehmes Verhalten oder seine Leistung zu authentisch jubeln. „Wow! Du kannst jetzt lieben – unsere Kinder können sich dessen je- wiederholen bzw. eine noch tollere abzulie- laufen – das ist ja großartig!“ In diesem Bei- doch nicht so sicher sein. Schließlich erleben fern, nur um immer neues Lob einzufahren. spiel ist das Lob durch Wahrnehmung und sie immer wieder, dass wir auch mal lauter Wir Erwachsenen finden die Ergebnisse viel- Mitfreude ersetzt. Auch dabei bekommt das oder strenger werden können. Je jünger ein leicht super – das Kind aber beginnt vielleicht Kind eine positive Rückmeldung, jedoch ganz Kind ist, desto weniger kann es verstehen, zu glauben, dass es sich unsere Zuneigung ohne dass es bewertet wird. dass wir nur bestimmte Verhaltensweisen ab- stets erst verdienen muss. Den durch solche Vertrauen wir doch einfach öfter darauf, dass lehnen, nicht aber das Kind selbst. Daher „Konditionierung“ entstehenden Leistungs- unsere Kinder viele Dinge aus eigener Moti- brauchen gerade die Kleinen regelmäßige druck mag ich mir gar nicht vorstellen. Armes vation heraus tun. Zum Beispiel das erste Mal Rückversicherungen durch elterliche Zuwen- Kind! Und auch Zweifel an unserer bedin- das Klettergerüst auf dem Spielplatz bis in die dung, zärtliche Berührungen und liebevolle gungslosen elterlichen Liebe oder Befürch- Spitze erklimmen. Dann strahlt es stolz zu uns Worte. Soweit, so richtig. tungen des Kindes, in unseren Augen nicht herab, und wir rufen ihm kein Lob à la „Toll ge- Allerdings ist mir aufgefallen, dass wir Eltern gut genug sein zu können, stören die Eltern- macht, du kannst schon soooo gut klettern“ uns unseren Kindern überwiegend dann be- Kind-Beziehung empfindlich. Also Vorsicht hinauf, sondern ein „Huhu! Ich sehe Dich! Du sonders lobend zuwenden, wenn sie eine in mit dieser Art „vergiftetem Lob“. bist bis ganz nach oben geklettert!“ Ober- unseren Augen gute Leistung erbracht ha- flächlich betrachtet mag das keinen Unter- ben, sich zum Beispiel – nach unseren Maßstä- „HUHU ICH SEHE DICH!“ schied machen, aber es gibt einen: Das Lob „ ben – besonders prima verhalten. Dadurch Nun mögen Sie fragen: „Soll ich etwa stumm bewertet die Leistung und Fähigkeit des Kin- kann das Kind im Laufe der Zeit jedoch das und emotionslos bleiben, wenn mein Kind des, das Huhu nicht. Gefühl entwickeln, dass die elterliche Liebe z.B. seine ersten Schritte macht?“ Nein, natür- Auch wenn das Kind z.B. beim Tischdecken nicht wirklich bedingungslos ist. Denn es lich nicht! Wir Eltern dürfen und sollen darü- hilft, können wir uns das Lob seiner Leistung muss schließlich irgendwie immer was „voll- ber begeistert sein, das Kind herzen und ganz sparen, weil es auf den Wiederholungszweck zielen und dem Kind möglicherweise auch Aufmerksame Wahrnehmung und einfühlsame Rück- signalisieren würde, dass wir mit seiner frei- meldung statt bewertendem Lob; ehrlich empfundene willigen Unterstützung gar nicht gerechnet haben. Gehen wir lieber davon aus, dass Kin- (Mit)Freude statt leistungsbezogenem Stolz der aus Lust am Helfen und Tun handeln und Foto: istock/Kyryl Gorlov sich als wertvolles Mitglied unserer Gemein- schaft erleben möchten – und sagen wir ein- fach wertschätzend „Danke für deine Hilfe!“ Nach meiner Feld- und Selbstbeforschung habe ich im Umgang mit meiner Tochter so- fort mein Training aufgenommen: aufmerk- same Wahrnehmung und einfühlsame Rück- meldung statt bewertendem Lob; ehrlich empfundene (Mit)Freude statt leistungsbe- zogenem Stolz. Schon bald hat sie aufgehört, nach Lob zu betteln. Meine Tochter scheint sich jetzt sicherer zu sein, dass ich sie unab- hängig von ihren (Best)Leistungen annehme, lieb habe und ihrer eigenen Motivation zum Handeln vertraue. Mehr geht nicht. Danielle Graf, Rechtsökonomin in Berlin, (Mit)Autorin des Blogs und der gleichnamigen bekannten Buchreihe „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten“ 9
Foto: istock/erikreis WANN BEGINNT VERBALE GEWALT? Stellen wir uns vor, Eltern sagen zu ihrem Kind: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist!“ oder „Du hast sie ja nicht alle!“ Ist das verbale Ge- walt? Eindeutig ja! Kinder spüren Abwertun- gen. Sie empfinden Bloßstellungen („Soll ich euch mal erzählen, was der Kleine schon wie- der angestellt hat?“), Demütigungen („Wie du schon wieder aussiehst!“), Erniedrigungen („Was bist du bloß für ein Angsthase!“), auch Drohungen, Erpressungen, Schuldzuweisun- gen. Und sie ziehen Rückschlüsse daraus, die sich auf ihr Selbstbild, ihr Selbstwertgefühl und ihr Vertrauen negativ auswirken. Viele Erwachsene machen sich kaum Gedan- ken über die Auswirkungen ihrer Kommuni- kation mit dem Kind. Möglicherweise ist ih- nen nicht bewusst, dass sie mit ihren Äuße- rungen verraten, wie es ihnen selbst gerade geht und was sie vom Kind halten. Natürlich kennen wir das alle: Mütter und Väter sind vom Alltag manchmal sehr gestresst, stehen Verbale Gewalt unter Druck – und dann quengelt auch noch das Kind mit seinen Wünschen. In solchen Mo- menten könnte man aus der Haut fahren und Wenn Worte das Kind als Blitzableiter benutzen: „Hast du keine Augen im Kopf? Du siehst doch, dass ich zu tun habe?!“ - „Mir reicht es gleich!“ - „Was bist du nur für eine Nervensäge!“. Solche Bot- WEH TUN schaften weisen aber dem Kind die Schuld für unsere Belastungen zu – und die Verantwor- tung für unser Wohlergehen. Wenn derartige oder andere das Kind beeinträchtigende Äu- ßerungen die Ausnahme im Alltag bleiben, vielleicht daraufhin sogar eine Entschuldi- gung folgt, wird das Kind kaum Schaden da- Ist von Gewalt gegen Kinder die Rede, denken wir zu- ran nehmen. meist an körperliche Grenzverletzungen – von der Ohrfeige Von psychischer Gewalt gegen Kinder muss hingegen gesprochen werden, wenn die Aus- bis hin zur schweren Misshandlung. Seltener kommt uns nahme im Familien-, Bildungs- oder Erzie- psychische Gewalt in den Sinn, die ihre Spuren nicht auf hungsalltag für ein Kind die Regel ist. Wird es dem Körper des Kindes hinterlässt, sondern auf seiner häufig oder gar ständig durch Worte herab- gesetzt, bedroht oder verletzt, so kann das Seele. Dazu zählt die verbale Gewalt. Sie ist die wohl schwere schädigende Folgen haben. häufigste Form von psychischer Gewalt, wird aber trotzdem viel zu wenig beachtet. Dabei ist es so wichtig, WAS KÖNNEN GESPROCHENE über sie zu sprechen! WORTE ANRICHTEN? In welchem Ausmaß sich verbale Gewalt auf Überall dort, wo Erwachsene mit Kindern und will. Du bist ja auch immer so frech zu den an- betroffene Kinder auswirkt, ist abhängig von Jugendlichen zusammenkommen, kann ver- deren“, so eine Erzieherin zu einem Kita-Kind. der jeweiligen Situation. Einfluss nehmen bale Gewalt auftreten – sowohl in Familien Alles nur dahingesagt? Nein. Solche Sätze be- hier das Alter des Kindes, seine Widerstands- als auch in professionellen Zusammenhän- einflussen nicht nur die Gestaltung der Welt, fähigkeit, die Qualität seiner Beziehungen gen von Erziehung, Bildung und Betreuung. sondern wesentlich auch die Entwicklung des sowie eben auch die Intensität und Häufig- „Wenn du nicht endlich dein Zimmer auf- jungen Menschen. keit der gewaltigen Worte. Es ist schon ein räumst, hab` ich dich nicht mehr lieb“, droht Im Vergleich zu körperlichen Übergriffen sind Unterschied, ob ein emotional stabiles, in eine Mutter ihrer Tochter. „Schon wieder `ne verbale Grenzverletzungen jedoch viel schwe- liebevolle Beziehungen eingebettetes Kind Fünf – aber von dir war ja nichts anderes zu er- rer als Gewalt zu identifizieren. Wir hören da- einmal hört „Was hast du jetzt schon wieder warten“, sagt ein Lehrer zu seinem Schüler. rüber hinweg – bei uns selbst und auch bei angestellt?“ – oder ob solche Botschaften „Selbst schuld, wenn mit dir keiner spielen anderen. einem Kind permanent vermittelt werden. 10 KSA 4.2020
„ Gewalt, auch in verbaler Form, stellt immer einen Angriff auf die Würde des Kindes dar und verletzt seine Rechte. Ehrlichkeit auszeichnen. In guten Beziehun- gen hört man einander zu und ist aneinander interessiert. Man kann offen über seine Ge- „ Dieses Kind wird die Überzeugung, dass es ritäre Erziehung glauben oder weil sie einfach fühle und Belange sprechen, über seine Zu- nichts taugt und sowieso nur Unfug treibt, keine Handlungsalternativen kennen. Gewalt neigung, seine Freude und Erfolge, aber auch schlimmstenfalls lebenslänglich in seinem wird als Form der Konfliktlösung verstanden, über seinen Schmerz, seine Enttäuschung Selbstbild und Selbstvertrauen tragen („Ich sie wird aus Überforderung, Ärger und Wut und Wut, seine Verletzungen und Kritik – oh- bin ein Taugenichts! Ich kann nichts! Ich ma- praktiziert – oder einfach aus der Macht des ne Angst haben zu müssen, vom anderen da- che sowieso immer alles falsch!“). Stärkeren heraus. Andererseits überfrachtet für abgelehnt zu werden. Kategorien für verbale Gewalt gegen Kinder unsere Gesellschaft heutige Eltern aber auch sind zum Beispiel Zuschreibungen, Abwer- mit riesigen Erwartungen, bietet für die Erfül- Erziehung ist Beziehung! tungen, Demütigungen, Anschreien, Bloß- lung jedoch keine angemessenen Rahmen- Diese Aussage ist der Kern stellungen, Einschüchterung, Entmutigung, bedingungen. Denken wir nur an die vielen Beleidigungen, Beschimpfung, Drohungen, von Armut betroffenen Kinder und Familien, jedes erzieherischen Handelns. Verspottung, Schuldzuweisung u.v.a.m. Die an das Fehlen von bezahlbarem Wohnraum, Folgen können sich auch als Entwicklungsver- an die Geschlechterungerechtigkeit in Sachen zögerungen, Lernschwierigkeiten, sprach- Kindererziehung oder an die schwierige Ver- liche Beeinträchtigungen, psychische Stö- einbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit. rungen beim Kind bzw. in der Jugend/im Er- So übt auch die Gesellschaft einen enormen wachsenenalter zeigen. In jedem Fall mindert Druck auf Eltern aus, der sich Bahn brechen verbale Gewalt das Wohlbefinden des Kin- und in Gewalt münden kann. des, sein Selbstwertgefühl und Vertrauen und auch seine Selbstwirksamkeitsgewiss- WAS KÖNNEN WIR NUN TUN? heit. Dennoch reagieren Kinder unterschied- Gewalt, auch in verbaler Form, stellt immer ei- Foto: istock/MarsBars lich auf gewaltförmige Kommunikation. Man- nen Angriff auf die Würde des Kindes dar und che widersetzen sich ihr, manche ziehen sich verletzt seine Rechte. Kinder haben ein Recht zurück, zeigen wenig Antrieb, manche provo- auf gewaltfreies Aufwachsen – körperlich wie zieren, manche verhalten sich auch entspre- seelisch. Deshalb liegt es einzig in der Verant- chend der Zuschreibungen. wortung von uns Erwachsenen, auch verbale Gewalt als Form der psychischen Gewalt zu BEDINGUNGSFAKTOREN erkennen, zu reflektieren und ihr entgegen- FÜR GEWALT zuwirken. Ein ebenso positives Menschenbild beinhal- Ursächlich für die Anwendung körperlicher Wichtig hierfür ist zunächst das Bewusstsein: tet die gewaltfreie Kommunikation, wie sie wie psychischer Gewalt gegen Kinder sind so- Erziehung ist Beziehung! Diese Aussage ist auch in den DKSB-Elternkursen „Starke Eltern wohl gesellschaftliche als auch individuelle der Kern jedes erzieherischen Handelns. Die – Starke Kinder®“ vermittelt wird. Hier steht Bedingungen. Einerseits greifen manche Müt- bedeutende Familientherapeutin Virginia Sa- an erster Stelle, dass wir lernen, ohne Bewer- ter und Väter zu gewaltvollen Erziehungsme- tir hat einmal gesagt: Gute Beziehungen zwi- tung wahrzunehmen und zu sprechen. Im thoden, weil sie es in ihrer Kindheit selbst so schen Menschen sind lebendige Verbindun- Anschluss wird geübt, Gefühle zu benennen, erfahren und keine wertschätzende Kommu- gen, die von gegenseitiger Wertschätzung die Ausdruck unserer Bedürfnisse sind, und nikation gelernt haben, weil sie an eine auto- getragen sind und sich durch Echtheit und möglichst eindeutige Bitten zu formulieren. Ziel der gewaltfreien Kommunikation ist es, stets Lösungen zu finden, die die Bedürfnisse aller Beteiligten berücksichtigen. Diese Ansätze weisen uns den Weg zu einer Sprache ohne Gewalt: Am Anfang stehen im- mer die Selbsterkenntnis und Selbstreflexion. Erst dann kann das Training neuer Verhaltens- weisen folgen, idealerweise begleitet vom Austausch unserer Erfahrungen, Haltungen Foto: istock/onebluelight und Orientierungen mit anderen. Da das ein längerfristiger Prozess ist, sollten wir gnädig mit uns selbst sein und damit beginnen, uns bei unserem nächsten verbalen Fehltritt beim Kind zu entschuldigen. Hanne Traulsen, Dipl.-Pädagogin Dr. Jutta Wedemann, Dipl.-Sozialpädagogin Wendepunkt e.V., Fachstelle Schutzkonzepte, Elmshorn 11
Digitale Sprachnachrichten Nicht frei von Foto: istock/ARTindividual NEBENWIRKUNGEN Telefonnummer wählen, aber nur den Anrufbeantworter REINE MONOLOGE Das Gesagte ist nicht immer korrekt, sprachlich, erreichen – in solch unverhoffter Situation hinterlassen grammatikalisch und auch inhaltlich nicht. die meisten nur ungern eine Nachricht nach dem Piep- Aber es gibt beim Draufsprechen kein Ge- Ton. Anders bei Sprachbotschaften, die über mobile genüber als Korrektiv wie bei einem traditio- nellen Gespräch: Jemand sagt was, jemand Messenger-Dienste wie WhatsApp verschickt werden. anderes hört zu, räuspert sich, redet rein, Reden statt tippen, das finden immer mehr AbsenderInnen grinst, korrigiert, verdreht die Augen, wider- bequem. Aber für diejenigen, an die die Botschaften gehen, spricht, stimmt zu, schüttelt den Kopf u.s.w. Das wird synchrone Kommunikation ge- sind sie nicht immer frei von Risiken und Nebenwirkungen. nannt. Sprachnachrichten sind anders, denn In jüngerer Zeit erleben Sprachnachrichten – le finden gesprochene Mitteilungen persönli- sie werden ungestört als reiner Monolog pro- auch Voice-Messages oder Audio-Postings cher als geschriebene Texte, und sie möchten duziert. Dass man seine Worte vor dem Ver- genannt – einen enormen Boom. Im Schnitt über ihre Stimme ihre Gefühle besser ausdrü- senden über eine versteckte Funktion in versenden Jugendliche von ihrem Smartpho- cken. Reden statt tippen wird auch häufiger WhatsApp nochmal überprüfen kann, ist vie- ne pro Tag knapp drei solcher Mitteilungen gewählt bei komplexen Problematiken, die len unbekannt. Zudem kostet das Abhören (JIM-Studie 2019). Möglich machen das Mes- erklärt werden müssen, sowie für längere Be- nochmal so viel Zeit wie die Aufnahme. Und senger-Dienste wie WhatsApp. Diese Pro- richte über Befinden und Erlebtes. Gerade würde man die Kontrolle trotzdem wollen – gramme bieten auf ihrer digitalen Plattform Letzteres erscheint von Bedeutung – sich un- eine misslungene Sprachaufnahme kann oh- verschiedene Möglichkeiten, zu kommuni- gestört aussprechen können und angehört nehin nicht passagenweise verbessert wer- zieren: über Texte, Bilder, Videos, Töne. Vor al- werden. Die meisten NutzerInnen finden an den wie ein Text, sondern muss im Ganzen lem junge NutzerInnen haben rasant einen Sprachnachrichten aber die Zeitersparnis gelöscht und völlig neu gestartet werden. eigenen Stil entwickelt, mit einem munteren und den Wegfall der lästigen Tipperei am Wer macht das schon? Also: SENDEN. Mix daraus untereinander fortwährend und besten. Die Produktion geht ganz einfach: Und zack landet die Nachricht auch schon ortsunabhängig zu kommunizieren. Denn Daumen aufs Mikrofon-Zeichen und drauf- beim anderen oder in der Gruppe. Passt es ge- das Smartphone ist immer und überall dabei. losreden. Sobald der Finger von der Taste rade, so kann auch daraus zumindest ein„qua- Die noch sehr junge Forschung über digitale verschwindet, schwirrt die Nachricht auto- si-synchroner“ Dialog entstehen, sofern es Sprachnachrichten hat herausgefunden: Vie- matisch ab. sich um kurze mündliche Mitteilungen via 12 KSA 4.2020
Smartphone handelt: rasch abhören, schnell antworten, auf die nächste Nachricht warten und so weiter. Den Überblick zu behalten über alle gerade laufenden Einzel- und Gruppen- „ Was mit dem Absenden einer (Sprach)Nachricht manchmal als Mutprobe anfängt, kann beim Ankommen als Mobbing und Ausgrenzung schlimme Folgen für EmpfängerInnen haben. Foto: istock/Khosrork unterhaltungen samt ihren Verzweigungen EmpfängerInnen förmlich in diesen Strudel fordert Höchstleistungen ab in Sachen Koor- hineingesogen. Gewalt im Kopf. dination. Schon ein einzelnes „Gespräch“, das Inzwischen sind immer mehr Sprachnach- oft auch Texte und Bilder enthält, kann näm- richten ethisch-moralisch zweifelhaft. Die lich lange mäandern, oft über Tage (und Näch- Rhetorik hat sich insgesamt verschärft in den te) hinweg, ohne in ein Ziel einzumünden, meist in sich geschlossenen Blasen der digi- zum Beispiel eine Verabredung. Und ohne talen Kommunikation mit einzelnen oder in dass jemand wie bei einem Telefonat sagt: der Gruppe. Kinder und Jugendliche imitie- „Du, jetzt muss ich aber Schluss machen, mein ren manchmal, was sie von irgendwoher auf- Akku ist leer, ich hab noch zu tun, das Essen schnappen. Vieles davon mag sich ihnen brennt an...“ auch nicht erschließen – aber es klingt oft Übermittelte lange Monologe führen dage- bedrohlich oder schlüpfrig genug, um es an gen meist zu stark zeitversetztem Abhören anderen auszuprobieren. Was mit dem Ab- und entsprechendem Beantworten. Ein sol- senden einer (Sprach)Nachricht manchmal ches Hin und Her wäre dann asynchron und als Mutprobe anfängt, kann beim Ankom- somit näher am Briefwechsel als an einem Ge- men als Mobbing und Ausgrenzung schlim- spräch. me Folgen für EmpfängerInnen haben. In der Öffentlichkeit hören wir häufiger un- freiwillig mit, wie Jugendliche ihre Sprach- ELTERN ERMUTIGEN Und was können wir KinderschützerInnen nachrichten aufs Smartphone sprechen oder Wir KinderschützerInnen erleben zunehmend tun, wenn wir in unserer Arbeit mit Fragen erhaltene Botschaften laut abhören, weil ge- Eltern, die von der sprachlichen (und auch zum Smartphone-Missbrauch konfrontiert rade kein Ohrhörer zur Hand ist. Solche un- bildlichen) Brutalität z.B. in Messenger-Grup- sind? Im ersten Schritt sollten wir uns gut erwünschten intimen Einblicke können für pen von Grundschulklassen schockiert sind. vertraut machen mit der digitalen Welt, zu die Kommunizierenden wie für Umstehende Und trotzdem nicht aktiv werden, auch weil der Kinder den Eingang längst gefunden ha- peinlich sein. Für den Schutz der Privatsphä- ihre Kinder sagen, dass das der heute übliche ben, sich dann aber auch verirren können. re hüben wie drüben sollten NutzerInnen Umgangston sei und die Eltern bitte nichts Daher sollten wir uns anschauen und anhö- daher sensibilisiert werden. unternehmen sollen gegen den Ton im Klas- ren, was so abgeht in Sprachnachrichten und sen-Chat – selbst wenn das Kind davon ver- Video-Schnipseln, in den Messenger-Diens- GEWALT IM KOPF ängstigt ist. ten insgesamt, aber auch auf anderen Platt- Das größte Problem von gesprochenen Mit- Hier könnte der Kinderschutzbund Eltern formen oder in Online-Spielen. Damit wir ler- teilungen ist jedoch: Sie lassen sich nicht ein- Mut machen, nicht länger zu dulden und zu nen, das Risiko ebenso gut einzuschätzen fach überfliegen, rasch einschätzen und ggf. schweigen, sondern ihrem moralischen Kom- wie die Gefahren in der analogen Welt, und sofort löschen wie böse Texte oder anstößi- pass zu folgen und das erforderliche Gespräch überzeugend damit umgehen können. ge, schockierende Fotos. Nein, Sprachnach- über respektvollen Umgang untereinander zu richten wollen von Anfang bis Ende abge- suchen: mit dem eigenen Kind, mit den Lehr- SELBST FIT SEIN hört werden. Steckt dann Übles in einer Bot- kräften, mit der Klassenelternschaft. Wir kön- Von Kindern und Jugendlichen in digitalen schaft – Beleidigungen, Ausgrenzung, Ras- nen Eltern auch mit unseren Positionen und Sprachnachrichten transportierte Gewalt ist sismus, Gewaltverherrlichung, Fremdenhass, Argumenten darin bestärken – und mit unse- kein Problem des Smartphones, denn das klei- Beschimpfung, Verhöhnung – so werden die rem eigenen Handeln. ne Gerät ist ja nur ein Werkzeug – aber doch Foto: istock/dmbaker der Dreh- und Angelpunkt in der Kommuni- kation der jungen Menschen. Daher könnte Foto: istock/Dobrila Vignjevic das Smartphone auch in Sozialkompetenzpro- jekten des DKSB in den Mittelpunkt rücken. Außerdem sollten wir uns selbst so fit machen im Umgang mit der Technik, dass Kinder uns bei verstörenden, schmerzenden digitalen Er- fahrungen als vertrauensvolle, kompetente Anlaufstelle ansehen. Und schließlich sollten wir Kinder und Ju- gendliche dabei unterstützen, sich mit ih- rem Smartphone kreativ und fröhlich auszu- drücken und toll inszenierte Geschichten zu erzählen, die Text und Töne, Bilder und Videos miteinander verbinden. Joachim Türk, Redaktion 13
Und DU bist Rassismus RAUS Foto: istock/Casarsa In Deutschland sind viele davon überzeugt, Rassismus sei bei uns kein Problem. Kaum jemand glaubt, selbst rassistisch zu denken, zu handeln oder zu sprechen. Trotzdem passiert es. Sogar in Kitas und Schulen. Obwohl dort jedes Kind gleich wertvoll erachtet und mit seinen eigenen Stärken gesehen werden soll. Schauen wir, wie Rassismus verletzt. Und ändern wir dafür die Perspektive. nialismus verknüpft, schlug sich im National- sozialismus nieder und zieht ihre Spuren bis Hallo! Mein Name ist Michelle. Ich bin zehn Obwohl ich ganz gut in der Schule bin, werde in die heutige Gesellschaft. Fest verankerte Jahre alt und gehe in die vierte Klasse einer ich mit großer Wahrscheinlichkeit keine Emp- Rassismen in unserem Sprachgebrauch of- Grundschule. Ich erlebe Rassismus. Jeden Tag. fehlung fürs Gymnasium kriegen. Weil keiner fenbaren sich dabei nicht immer direkt und Leider wird mir das nicht immer geglaubt oder glaubt, dass meine Eltern mich genug unter- unverfroren, sondern kommen oft subtil da- man vermittelt mir das Gefühl, ich hätte was stützen können. Wenn ich mich im Unterricht her. Sie können sich auch in Eigenschaftswör- falsch verstanden... Dann erzähle ich mal was falsch verhalte, wird das mit meinem „Tempe- tern verstecken (z.B. exotisch, rassig, primitiv, aus meinem Alltag: rament“ begründet. Dass ich einfach nur wü- wild, zivilisiert), die durch Rassentheorie und Ich fühle mich fremd in meinem eigenen Hei- tend oder frustriert sein könnte, hält kaum je- Kolonialzeit geprägt sind. Ein anderes Beispiel matland. Weil ich hier als »anders« definiert mand für möglich. ist die Farbe Schwarz, mit der in so vielen deut- werde. Dieses Gefühl hab` ich seit meiner Kita- Vieles werde ich mein Leben lang erleben: Auf schen Redewendungen Negatives zum Aus- Zeit. Die Puppen, mit denen wir spielen konn- Partys wird man mich fragen, wo ich denn her- druck gebracht werden soll: „Da könnte ich ten, waren alle weiß und hatten braunes oder komme?! Also ursprünglich? Dann wird meine schwarz vor Ärger werden“ und „Da sehe ich blondes Haar. Im Spiel konnte ich mir nicht Antwort „Aus Berlin“ nicht genügen. Die Leute schwarz“ oder für illegales Handeln „Schwarz- vorstellen, dass auch ich mal für ein Kind sor- werden mich auf Englisch ansprechen oder fahren/Schwarzarbeit“ etc., wie oft begegnen gen kann, das mir ähnelt. Bei den Büchern war übertrieben deutlich mit mir reden – obwohl uns solche Formulierungen im Alltag – und das nicht anders: Die Figuren in den Geschich- Deutsch meine Muttersprache ist. In der U- wie oft hören dies auch Kinder von uns?! ten sehen selten aus wie ich. Ich spiele eine Ne- Bahn werden mir fremde Menschen sagen, wie Sie lernen durch Äußerungen schon im Klein- benrolle. Offensichtlich erleben Kinder wie ich toll sie meine Locken finden; und ungefragt kindalter, wen unsere Gesellschaft als zuge- nie Abenteuer oder helfen anderen. hineingreifen. hörig definiert und wen als nicht zugehörig. In meiner Klasse sind gerade Pferdegeschich- Über Merkmale wie Hautton, Kleidung, Reli- ten angesagt. Auf dem Schulhof werden sie WAS MACHT RASSISMUS gion, Herkunft, Name etc. werden soziale Hie- nachgespielt. Da übernehme ich keine Rolle, MIT KINDERN? rarchien geschaffen, die weiße Menschen auf- weil die Kinder im Sattel alle weiß sind. Ich lese So wie Michelle ergeht es zahlreichen Kin- werten und Schwarze Menschen und People lieber andere Geschichten. dern in Deutschland. Es werden Grenzen ge- of Color abwerten. Diese angenommenen Schwarzen Menschen und People of Color wer- zogen und überschritten, weil sie für weiße Ungleichwertigkeiten zwischen Menschen den negative Eigenschaften zugeschrieben. Menschen zu den „Anderen“ gehören. Rassis- spiegeln sich auch in Spielzeug, Büchern, Bil- Mein Aussehen und mein Familienname ste- mus wird so lange Teil ihrer Biografie sein, so dern, Liedern und Spielen wider und werden cken mich in eine Schublade. Mir werden Ei- lange Menschen nichts an ihrem Denken, un- dadurch noch verfestigt. genschaften angedichtet, die nichts mit mir zu serem gesellschaftlichen System und ihrer Was Kinder hören und wie sie angesprochen tun haben. Ich werde mit Beschimpfungen fer- Sprache ändern. Denn Sprache verletzt. werden, hat enormen Einfluss auf ihre Iden- tigwerden müssen wie dem N-Wort oder Af- Rassismus gibt es überall auf der Welt; über- titätsentwicklung und ihren Werdungspro- fenlauten. In den Schulbüchern, mit denen wir all dort, wo die Interessen weißer Menschen zess. Auch über unser Sprechen empfangen lernen, werden Menschen meiner Hautfarbe konsequent bevorzugt werden. Auch der in sie Botschaften über sich, über andere und als rückständig, passiv und unterlegen darge- Deutschland bestehende Rassismus hat eine über die Welt. Werden Kinder durch Rassismus stellt. lange Geschichte. Sie ist eng mit dem Kolo- abgewertet, so verletzt es sie, schadet ihrem 14 KSA 4.2020
„ Sprache ist machtvoll. Sie operiert auf einer Bühne der Unterscheidungen und teilt Menschen in Haupt- und Nebendarsteller ein.“ Janne Grote & Ellen Kollende wie Sprachmuster hinterfragt werden. Dafür unseren Angeboten und Einrichtungen gut setzen wir uns im Kinderschutzbund Berlin zu, sensibilisieren uns gegenseitig, diskutie- besonders ein. ren miteinander; wir haben uns auch lesend mehr Wissen angeeignet und Schulungen WAS KÖNNEN WIR TUN? durchgeführt. Wissen hilft, Unsicherheiten Zunächst sollte jede und jeder Einzelne stär- abzubauen. ker auf Sprache achten. Denn Veränderung Wir haben auch gestritten, das Thema ist mit fängt bei uns selbst an, diese Verantwortung vielen Gefühlen verknüpft. Der Weg ist nicht kann keiner von sich wegschieben. Sie be- immer einfach. Aber er lohnt sich, denn auch ginnt mit dem Wissen, dass Sprache nie neu- kleine Schritte sind wichtig, um die Richtung tral, sondern stets von gesellschaftlich tra- zu ändern. Zu diesem Thema gibt es auch dierten Vorstellungen durchsetzt ist. Und in Workshops, ebenso bieten (Internet)Läden Deutschland gehören dazu leider immer vorurteilsbewusstes Vielfalt-Spielzeug an. Bei noch rassistische Vorstellungen. Wenn wir uns der Auswahl von Kinderbüchern kann hier mit ihnen kritisch beschäftigen, können wir das „KIMI-Siegel für Vielfalt“ ein guter Kom- ihnen auch in unseren eigenen Worten besser pass sein. Im Landesverband Berlin haben wir auf die Spur kommen. Anti-Rassismus braucht z.B. zusammen mit 14 Kindern und dem Carl- Selbstwertgefühl und mindert auch ihre Lern- diese kritische Auseinandersetzung mit sich sen-Verlag das Kinderbuch „3-2-1-los! Zusam- erfolge. Kinder haben nicht nur ein Recht auf selbst – mit dem eigenen Handeln, der eige- men sind wir stark!“ geschrieben. Weil es ganz gewaltfreies Aufwachsen, sondern auch auf nen Haltung und der eigenen Sprache. ohne Stereotype und Diskriminierungen aus- gleiche Bildungschancen! Deshalb müssen Auch wir im Berliner Kinderschutzbund set- kommt, wurde es mit dem KIMI-Siegel ausge- ihre Lebensrealität entsprechend gleichwer- zen uns seit langem intensiv mit Rassismus zeichnet. tig abgebildet und rassistische Strukturen so- auseinander. Dafür hören wir den Kindern in Stephan Knorre, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, unter Mitarbeit der sozialpädagogischen KLEINES GLOSSAR Fachkräfte Cynthia Amosse, MAntirassismus bezeichnet alle Ansätze, MWeiße Menschen enthält ein kursiv Pia Fischer, Maximilian Ringeis die zur aktiven Bekämpfung, Überwindung geschriebenes Adjektiv. Weiß ist eine gesell- und Katharina Weiß, alle LV Berlin oder Dekonstruktion von Rassismus beitra- schaftspolitische Bezeichnung, die besagt: gen. Antirassismus-Ziele sind die Freiheit Diese Person wird zur Gruppe der Weißen und Gleichberechtigung aller Menschen gezählt und dementsprechend behandelt. TIPP des Autorenteams sowie das Verhindern jeder Diskriminierung Weiß-Sein ist in der weißen Wahrnehmung „exit RACISM“ von Tupoka Ogette ( Unrast-Ver- und Apartheid. Quelle: wikipedia.de grundsätzlich die Norm. lag, Münster 2020, 9. Auflage) – eine Anleitung MDas „N-Wort“ ist eng verknüpft mit Skla- MFarbige/Dunkelhäutige sind kolonia- zum rassismuskritischen Denken und Sprechen. verei und Kolonisierung. Der Begriff steht listische Begriffe, die von vielen Menschen Als eBook oder Taschenbuch kostenflichtig, als für Brutalität, Gewalt und Schmerz. Er wird abgelehnt werden. Als Selbstbezeichnung Hörbuch auf allen gängigen Plattformen als weißes Konzept und Fremdbezeichnung wird von People of Color gesprochen (z.B. Spotify) kostenfrei. abgelehnt. Auch aus bekannten Kinder- (PoC, Singular: Person of Color). büchern wurde er entfernt. Quelle: Amnesty International MSchwarze Menschen ist eine Selbstbe- M„Rasse“ – dieser Begriff ist insbesondere zeichnung Schwarzer Menschen. Damit be- im deutschen Sprachgebrauch problema- schreiben sie ihre von Rassismus betroffene tisch, weil er mit einem wissenschaftlich gesellschaftliche Position. Dabei wird das nicht haltbaren biologistischen Konzept Adjektiv stets großgeschrieben, um zu ver- verbunden ist und nicht als soziale Konstruk- deutlichen: Es handelt sich um ein konstru- tion verstanden wird. Biologisch unter- iertes Zuordnungsmuster und nicht um eine schiedliche „Menschenrassen“ von äußeren reale „Eigenschaft“, die auf die Hautfarbe Merkmalen abzuleiten, entbehrt jeglicher zurückzuführen ist. In diesem Zusammen- wissenschaftlichen Basis. Der Begriff steht hang bedeutet Schwarz-Sein nicht, einer für eine lange Geschichte rassistischer tatsächlichen oder angenommenen „ethni- Vernichtung und Gewalt. Die UNESCO hat schen Gruppe“ zugeordnet zu werden, son- bereits 1950 festgestellt, dass er für ein dern ist mit der gemeinsamen Rassismus- gesellschaftliches Konstrukt steht, das erfahrung verbunden, auf eine bestimmte unermessliches Leid verursacht hat. Weise wahrgenommen zu werden. Quelle: Amnesty International Quelle: Amnesty International 15
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