DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke

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DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
DISPUT
                                                                                      ISSN 0948–2407 | 67485

MITGLIEDER ZEITSCHRIF T DER PARTEI DIE LINKE
JANUAR 2019 2 EURO

                                 Der Mord an
                                 Karl und Rosa
                                 Vor 100 Jahren starben die Köpfe
                                                                    der Revolution

                                                                                     Grafik: Martin Heinlein
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
INHALT

                                                         große Empörungswelle, die darauf-                        und Bundestagsfraktion der LIN-
                                                         hin durch das Land ging. Auf Sei-                        KEN anlässlich der Tagung »Flucht
                                                         te 28 präsentiert der Historiker Jörn                    und Migration«.
                                                         Schütrumpf sein Buch zum Sparta-                         In einem Interview auf Seite 12
                                                         kusaufstand, in dem er belegt, dass                      erklärt die neue Leiterin des Be-
                                                         die Kommunisten an der Planung                           reichs Politische Bildung, Sophie
                                                         nicht federführend beteiligt waren.                      Dieckmann, warum die Seminare
                                                         Aber wir schauen nicht nur zurück,                       an Bedeutung gewonnen haben.
                                                         sondern auch nach vorn. Auf den Sei-                     Ich wünsche euch eine spannende
                                                         ten 6 und 7 stellen sich die vom Bun-                    Lektüre, frohe Weihnachten und
                                                         desausschuss der LINKEN vorge-                           einen guten Rutsch ins neue Jahr!
                                                         schlagenen Spitzenkandidaten zur

    V
                or einhundert Jahren                     Europawahl, Özlem Alev Demirel und                            Thomas Lohmeier ist Leiter des
                wurden Rosa Luxem-                       Martin Schirdewan, den Fragen des                             Bereichs Medien, Öffentlichkeitsar-
                burg und Karl Lieb-                      DISPUTs.                                                      beit, Bürgerdialog in der Bundesge-
                knecht von der Re-                       Die jüngsten Zahlen zu häuslicher Ge-                         schäftsstelle der LINKEN in Berlin
                aktion ermordet. Ihr                     walt schreckten auch unsere Autorin
    Tod war ein großer Verlust für die                   Kersten Artus auf. In ihrem Beitrag
    deutsche Linke. Ab Seite 20 erin-                    »Keine mehr!« kritisiert sie auf den
    nern wir in einem Beitrag von Dr.                    Seiten 8 und 9 das Fehlen von Plät-                                   DISPUT 01/2019
    Ronald Friedmann, Mitglied der                       zen in Frauenhäusern.
    Historischen Kommission der LIN-                     In voller Länge dokumentieren wir ab
    KEN, an die dramatischen Um-                         Seite 16 zudem die gemeinsame Er-                                          VOR-GELESEN VON
    stände der Ermordung und die                         klärung der Vorsitzenden von Partei                                       THOMAS  -GELESEN
                                                                                                                                        VORLOHMEIER
                                                                                                                                            VON ???

REGIONALKONFERENZEN                                                                                               DIESEL SK ANDAL
Diskussionen über Europa 4                                                                                        Warum die Linksfraktion den
                                                                                                                  Abschlussbericht nicht mitträgt 15
EUROPAWAHLEN
Die vorgeschlagenen                                                                                               GEMEINSAME ERKL ÄRUNG
Spitzenkandidaten                                                                                                 Partei- und Fraktionsspitze sind
der LINKEN im Gespräch 6                                                                                          sich einig 16

GE WALT GEGEN FR AUEN                                                                                             MIGR ATIONSKONFERENZ
In Deutschland fehlen                                                                                             Sachliche Debatten in Berlin 19
Frauenhausplätze 8
                                                                                                                  100. JAHRESTAG
FR AUENSTREIK                                                                                                     Im Januar 1919 wurden Karl und
Ein Plädoyer für mehr                                       JEDEN MONAT                                           Rosa ermordet 20
Widerstand 10                                               AUS DEM HAUS 5
                                                            PRES SEDIENST 24                                      CL AR A - ZE TKIN - PREIS
P OLITISCHE BILDUNG                                         DAS KLEINE BL ABL A 25                                Die Bewerbungsfrist läuft 26
Warum die Wissensvermittlung                                FEUILLE TON 27
wichtiger wird 12                                           NEU IM KINO 29                                        GESCHICHTE
                                                            KULTUR 30                                             Spartakusaufstand in neuem
SCHWAR ZFAHREN                                              JANUARKOLUMNE 31                                      Licht 29
Fachleute stützen Antrag der
LINKEN 14                                                                                                         Foto: Martin Heinlein

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der Partei DIE LINKE, herausgegeben vom Parteivorstand, und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH,
Weydingerstraße 14–16, 10178 Berlin VERÖFFENTLICHUNG gem. § 7A Berliner Pressegesetz Gesellschafter der NDZ GmbH Föderative Verlags-, Consulting- und Handelsgesell-
schaft mbH – FEVAC –, Gesellschafter der FEVAC GmbH: Uwe Hobler, Diplom-Agraringenieur, Berlin (5,52 Prozent); Dr. Ruth Kampa, Diplomjuristin, Berlin (4,13 Prozent);
Thomas Nord, Kulturwissenschaftler, Berlin (90,35 Prozent) REDAKTION Fabian Lambeck, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: 030 24009510, disput@die-linke.de
GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell DRUCK EVERSFRANK BERLIN GmbH | Ballinstraße 15 | Postfach 470355 | 12359 Berlin ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei
und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407
REDAKTIONSSCHLUSS HEFT 1: 10. Dezember 2018. DISPUT 2/2019 erscheint am 24. Januar 2019

2                                                                                                                                                DISPUT Januar 2019
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
FRAGEZEICHEN

                     Maria, was
                     ist für
                     Dich links?

                                                                                                        Foto: privat

                     Das Streben nach einer gerechteren Gesellschaft durch Realpolitik umzuset-
                     zen. Durch das praktische Angehen der großen sozialen Frage unserer Zeit –
                     bezahlbares Wohnen. Oder durch offene Migrationspolitik und durch ein kon-
                     sequentes »Nein« zu Krieg und Waffenexporten. Links sein heißt auch immer,
                     sich Faschisten und Rassisten in den Weg zu stellen. Was hat Dich in letzter
                     Zeit am meisten überrascht? Die Einfälle unseres Gesundheitsministers.
                     Seine Idee, dass alle Bürger Organspender sein sollen, es sei denn, sie wider-
                     sprechen in ihrem Organspendeausweis, fand ich sogar radikal gut. Andere
                     Vorschläge, wie die höheren Sozialabgaben für Kinderlose, halte ich für hoch-
                     gradig absurd. Manchmal weiß man im konservativ-rechten Parteienspekt-
                     rum nicht mehr, ob man es mit Satire oder tragischem Ernst zu tun hat. Was
                     regt Dich auf? Die permanente Beschäftigung der GroKo mit sich selbst, täg-
                     lich zu Hunderttausenden geschredderte Küken, die Verdrängung von Men-
                     schen mit niedrigem Einkommen durch Gentrifizierung, die bloße Existenz
                     der AfD und ihre Wahlergebnisse, das Wetter … Wovon träumst Du? Ich träu-
                     me davon, dass meine Freunde, die in der Pflege arbeiten, angemessen bezahlt
                     werden und einmal von ihrer Rente leben können. Davon, dass meine alleiner-
                     ziehenden Freundinnen und ihre Kinder nicht mehr unter der Armutsgrenze
                     leben müssen. Wovor hast Du Angst? Ich habe Angst davor, dass durch den
                     Rechtsruck viele unserer freiheitlichen und demokratischen Errungenschaf-
                     ten, wie etwa die Ehe für alle und Aspekte der Gleichberechtigung, rückgän-
                     gig gemacht werden. Ich weiß nicht, ob ich in so einem Deutschland noch leben
                     wollen würde. Wenn Du Parteivorsitzende wärst … würde ich darauf ach-
                     ten, dass andere Parteien uns nicht die klassischen linken Themen wegneh-
                     men. Auch auf dem Gebiet Netzpolitik könnten wir uns noch sicherer zeigen.
                     Maria Bischof ist Mitglied im Bezirksvorstand der LINKEN in Friedrichshain-Kreuzberg.

                                                                                           DISPUT fragt jeden Monat ein Mitglied
                                                                                           unserer Partei nach dem vollen Ernst im
                                                                                           richtigen Leben.

DISPUT Januar 2019                                                                                                                   3
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
REGIONALKONFERENZEN

Europa anders machen
Bei drei Regionalkonferenzen haben Mitglieder und Interessierte über die europapolitische
Ausrichtung der LINKEN diskutiert.

I
   n Mannheim, Berlin und Bielefeld     für Europa. Die Rechte mobilisiert.      Entwurf des Europawahlprogramms
   haben sich im Herbst mehr als        Das neoliberale Lager präsentiert        eingeflossen, das schließlich auf dem
   300 Mitglieder und Interessierte     sich als Gegenpol, will aber keinen      Europaparteitag vom 22. – 24. Febru-
im Vorfeld der Europawahlen Ende        neuen Entwicklungspfad einschla-         ar in Bonn verabschiedet wird.
Mai 2019 über die europapolitische      gen. Eine linke Alternative ist nötig.   Neben den inhaltlichen Fragen ging
Ausrichtung der LINKEN und den          Was das konkret bedeutet, wurde an-      es auch darum, wie ein guter Wahl-
Entwurf des Europawahlprogramms         geregt diskutiert. Nach der Debatte      kampf gelingen kann. Wie schaf-
ausgetauscht. Einige sind Gründungs-    im Plenum besprachen die Teilneh-        fen wir Dynamik, welche guten Er-
mitglieder der LINKEN, andere erst      menden jeweils in kleineren Run-         fahrungen haben Teilnehmende be-
seit Kurzem dabei. Manche sind von      den einzelne Themen vertiefter: Zu       reits gemacht, welche Methoden und
weit her angereist, um mitdiskutie-     Arbeit und Sozialem, Klima und Öko-      Ideen könnten ausprobiert werden?
ren zu können. Dazu gab es viel Ge-     logie, Migration, Frieden, Demokra-      Auch dazu sind in kleineren Arbeits-
legenheit. Es ist eine Zeit der Rich-   tie wurde ausführlich diskutiert. Er-    gruppen viele Anregungen zusam-
tungsentscheidungen für die EU und      gebnisse und Anregungen sind in den      mengekommen.                Sarah Nagel

                                                                                                 Fotos: Martin Heinlein

4                                                                                                      DISPUT Januar 2019
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
AUS DEM HAUS

W
                   enn ihr diese Ausga-                                                delsüberschüssen und Steuervermei-
                   be des DISPUTs in der                                               dungspraktiken profitieren: die Groß-
                   Hand haltet, dann nä-                                               konzerne. Unser Wahlkampf wird kein
                   hert sich ein ereig-                                                inhaltsarmer Wohlfühlwahlkampf wer-
                   nisreiches Jahr sei-                                                den, sondern kämpferisch sein: Für
nem Ende. Wir haben viel gemacht und                                                   ein anderes solidarisches Europa, ge-
viel erreicht: Wir haben mit zwei Kam-                                                 gen ein Europa der Rechten, der Rei-
pagnen »Bezahlbare Miete statt fet-                                                    chen und Konzerne. Dafür brauchen
ter Rendite« und »Menschen vor Profi-                                                  wir alle!
te: Pflegenotstand stoppen« weiter an                                                  Zugleich droht uns in Deutschland
den heißen Themen Wohnen und Pfle-                                                     durch die Stärke der AfD und die
ge gearbeitet. Themen, um die wir uns                    JÖRG SCHINDLER                Schwäche der Groko-Parteien ei-
schon vor Jahren gekümmert haben,                                                      ne politische Zeitenwende: Ein mas-
als sie für die Öffentlichkeit und ande-                                               siver Rechtsruck, der sogar in einer
re Parteien noch keine Bedeutung hat-                                                  Rechtsregierung gipfeln könnte. Füh-
ten. Der Pflegenotstand war lange nur                           Dafür                  rende CDU-Politiker haben Koalitio-
unter Pflegekräften, Gewerkschaften,                                                   nen mit der AfD nicht ausgeschlos-
Fachleuten und eben in der LINKEN ein                         kämpfen                  sen. Es ist unsere Aufgabe, in Thürin-
Thema. Wir haben einen Beitrag dazu                              wir!                  gen die Linksregierung gegen Rechts
geleistet, dass jetzt die breite Öffent-                                               zu verteidigen – »Bodo oder Barbarei«
lichkeit darüber diskutiert und Bundes-                                                brachten es die Genossen vor Ort auf
gesundheitsminister Jens Spahn ge-                                                     den Punkt. Auch in Brandenburg steht
zwungen ist, endlich etwas gegen den                                                   eine Regierung mit linker Beteiligung
Pflegenotstand zu unternehmen. Das           also für dieses andere Europa kämp-       zur Wahl, und in Sachsen treten wir
zeigt: politischer Druck wirkt. Gemein-      fen, bedeutet das zweierlei: Erstens –    gegen die stärkste AfD und die rech-
sam können wir etwas erreichen. Auch,        die EU ist eines der wichtigsten Felder   teste CDU Deutschlands an.
wenn das bisher Erkämpfte vorne und          der politischen Auseinandersetzung,       Doch bevor es mit den Wahlkämp-
hinten noch nicht reicht.                    und zwar ohne Wenn und Aber. Zwei-        fen im kommenden Jahr richtig los-
Unsere Genossinnen und Genossen              tens – wir kämpfen für andere Priori-     geht, wird erstmal gefeiert: Natürlich
in Hessen und Bayern haben bei den           täten in der EU: Frieden, Demokratie      zunächst Weihnachten und Silvester.
Landtagswahlen Großartiges geleistet.        und sozialen Fortschritt. Das unter-      Aber ich meine vor allem unseren po-
Sie haben Achtungserfolge erzielt. Da-       scheidet uns von allen anderen Partei-    litischen Jahresauftakt im Januar, der
rauf wollen wir aufbauen: in Bayern mit      en, selbstverständlich von Merkels Po-    direkt vor dem stillen Gedenken an
unserer Vertretung in allen bayerischen      litik des »Totsparens« Griechenlands      Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht,
Bezirkstagen und einer breiteren kom-        und der egoistischen Exportüber-          deren Ermordung dann hundert Jahre
munalpolitischen Präsenz 2020. Und in        schüsse, die in anderen Staaten nur       her sein wird, stattfindet.
Hessen mit einer gestärkten Fraktion         Arbeitslosigkeit und Schulden produ-
im Landtag. Das Superwahljahr 2019           ziert. Das unterscheidet uns natürlich
steht vor der Tür mit der Europawahl,        von der rassistischen Politik der AfD        Jörg Schindler ist Bundesgeschäfts-
vier Landtags- und neun Kommunal-            und auch der CSU. Aber das unter-            führer der LINKEN
wahlen. Die Vorbereitungen für die Eu-       scheidet uns auch von der Politik der
ropawahl laufen auf Hochtouren. Un-          Grünen und der SPD. Zwei Beispiele:
ser Wahlprogramm wird in den Kreis-          So befürworten die Grünen den Auf-        Fotos: Mark Mühlhaus/attenzione,
verbänden diskutiert. Und wir haben          bau einer EU-Armee und freuen sich        DIE LINKE
unser nominiertes Spitzen-Duo Özlem          dabei über die Sparpotentiale beim
Alev Demirel und Martin Schirdewan           gemeinsamen Waffenkauf, weil es we-
der Öffentlichkeit vorgestellt. Ich finde:   niger unterschiedliche Panzer-, Sturm-
Sie präsentieren unser anderes Europa        gewehr- oder Kriegsschiffmodelle gä-
– ein solidarisches Europa, ein Euro-        be. Und die Sozialdemokratie ist nicht
pa der Menschenrechte. Dafür kämp-           bereit, eine echte europäische Säu-
fen wir!                                     le für eine Absicherung bei Arbeitslo-
Dieses Europa soll ein anderes Euro-         sigkeit zu schaffen, die diejenigen zur
pa sein, als das bestehende. Wenn wir        Kasse bittet, die von den Außenhan-

DISPUT Januar 2019
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
EUROPAWAHL

                                                                                 »Probleme
                                                                                 aufzeigen,
                                                                                  Lösungen
Foto: Martin Heinlein

                                                                              präsentieren«
                        Der Bundesausschuss wählte MARTIN SCHIRDEWAN und ÖZLEM ALEV DEMIREL auf die
                        ersten beiden Plätze der Vorschlagsliste zur Europawahl. DISPUT traf beide zum Gespräch.

                        Özlem und Martin, Ihr seid die          der Förderung von Privatisierungen      bel bewegen, um die daraus resultie-
                        vorgeschlagenen Spitzenkan-             und Liberalisierungen durch die EU.     rende Spirale der Militarisierung zu
                        didaten der LINKEN im Europa-           Martin: Wir setzen uns für einen        stoppen.
                        wahlkampf. Mit welchen The-             europaweiten Mindestlohn ein, der       Wo seht Ihr eure Arbeits-
                        men wollt Ihr bei den Wählerin-         ein Leben in Würde garantiert, na-      schwerpunkte in Brüssel?
                        nen und Wählern punkten?                türlich gemessen an den Einkom-         Özlem: Als Gewerkschafterin wird
                        Özlem: Wir stehen gleichermaßen         mensniveaus der Mitgliedsstaaten.       es mir darum gehen, dass die The-
                        gegen die autoritären Rechten wie       DIE LINKE ist die einzige Partei in     men Arbeit und Soziales in das Zent-
                        auch gegen die neoliberale Politik,     Deutschland, die sich konsequent        rum der politischen Auseinanderset-
                        die in den europäischen Institutio-     gegen die Militarisierung der Euro-     zungen gestellt werden und gemein-
                        nen dominiert. Die Folge dieser Po-     päischen Union einsetzt. Neben ei-      sam mit unseren Bündnispartnern
                        litik ist, dass die Schere zwischen     ner europäischen Armee, die derzeit     auch öffentlich diskutiert werden.
                        Arm und Reich immer weiter ausei-       von Merkel und Macron gefordert         Gleichzeitig ist es angesichts der zu-
                        nanderklafft. Wir wollen endlich so-    wird, plant die europäische Kommis-     nehmenden Militarisierung der EU
                        ziale Sicherheit für Menschen und       sion einen neuen europäischen Mi-       eine wichtige Aufgabe einer linken
                        Schluss machen mit der Austeritäts-     litärfonds und verstößt damit, unse-    Partei, sich für antimilitaristische
                        politik. Es muss soziale Mindeststan-   rer Ansicht nach, gegen geltendes       Politik einzusetzen.
                        dards geben, die auch durchgesetzt      europäisches Recht. DIE LINKE wird      Martin: Ich bin zurzeit Mitglied im
                        werden. Es muss Schluss sein mit        alle juristischen und politischen He-   Ausschuss für Wirtschaft und Wäh-

                        6                                                                                                    DISPUT Januar 2019
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
Ich habe immer auf darauf geachtet, dass die
                                                        Interessen derjenigen Menschen,
                                                 die in unserem System ausgebeutet und
                                           marginalisiert werden, im Mittelpunkt stehen.

rung. Neben wichtigen steuerpoliti-     eine wichtige Rolle. Sobald die Herr-   die komplette Autoflotte. Kosten in
schen Fragen, wie etwa der Einfüh-      schenden registrieren: Da haben wir     Höhe von 150 Millionen Euro jähr-
rung einer Digitalsteuer, geht es in    etwas gemacht, was unseren Wähle-       lich werden dadurch verschwendet.
diesem Ausschuss um die zukünfti-       rinnen und Wählern gar nicht passt,     Darüber hinaus sehe ich die Proble-
ge Politik in der Eurozone und der      rudern sie zurück und ändern ihre       me tiefer: Ob ich mir auf Lesbos in
EU. Zusätzlich bin ich Koordinator      Politik.                                Griechenland einen Einblick über
des Sonderausschusses für Finanz-       Özlem, Du warst Landtagsab-             die Situation von Geflüchteten ge-
kriminalität. Hier geht es um den       geordnete in Nordrhein-West-            macht habe, ob ich auf Einladung
Kampf gegen Geldwäsche, Betrug,         falen und Bundesvorsitzen-              der Genossinnen und Genossen im
Steuerhinterziehung und Steuerver-      de der Föderation Demokrati-            Valle de los Caidos in Spanien auf
meidung, also um den Einsatz für        scher Arbeiterverein (DIDF).            hunderte von Nazis treffe, weil ich
Gerechtigkeit.                          Was nimmst Du von Deinen Er-            mich dort mit einer spanischen De-
Probleme gibt es also zur Ge-           fahrungen mit nach Brüssel?             legation des Europaparlamentes
nüge, doch linke Mehrheiten             Ich habe in verschiedenen Orga-         für die Abschaffung der rechten
auf europäischer Ebene sind             nisationen immer auf darauf ge-         Pilgerstätte eingesetzt habe, ob an
in weiter Ferne. Was kann eine          achtet, dass die Interessen derjeni-    der Seite von französischen Fern-
Linksfraktion im Parlament be-          gen Menschen, die in unserem Sys-       fahrern oder den Kolleginnen und
wirken?                                 tem ausgebeutet und marginalisiert      Kollegen von Siemens in Erfurt, es
Özlem: Zur Wahrheit gehört auch,        werden, im Mittelpunkt stehen. Sie      gibt sehr viel zu tun, und sowohl
dass das Europaparlament ein eher       müssen zusammengebracht wer-            Deutschland als auch Europa ha-
schwaches Parlament ist. Viele Men-     den und sich ihrer Macht bewusst        ben eine starke DIE LINKE im Par-
schen bekommen auch gar nicht           werden. Das galt bei der Durchset-      lament verdient.
mit, was dort alles verhandelt, dis-    zung einer neuen Gesamtschule als
kutiert oder beschlossen wird. Un-      Kommunalpolitikerin in Köln, das
sere Aufgabe ist zunächst einmal,       galt bei der Abschaffung der Stu-
Aufklärungsarbeit zu betreiben. Wir     diengebühren in NRW, an der wir                       Die Vorschlagliste
müssen deutlich machen, was die         als Landtagsfraktion einen wesent-
Politik der EU für die Menschen in      lichen Anteil hatten, und das galt,       Der Bundesausschuss hat auf
Städten wie Gelsenkirchen und Ge-       als wir als DIDF für die gleichen         seiner Sitzung am 17. Novem-
ra bedeutet. Gleichzeitig müssen wir    Rechte für Migrantinnen und Mig-          ber 2018 Özlem Alev Demirel
auch dafür sorgen, dass von diesen      ranten gekämpft haben. Dies wird          aus Nordrhein-Westfalen und
Menschen auch Druck auf die eu-         im EU-Parlament sicher nicht ganz         Martin Schirdewan aus Berlin
ropäischen Institutionen aufgebaut      einfach, aber es wird meine Hand-         als Spitzen-Duo für die Europa-
wird, damit ihre Interessen über-       lungsmaxime sein.                         wahl nominiert. Der Europaab-
haupt wahrgenommen werden. In           Martin, Du hast als wissen-               geordnete Schirdewan soll auf
Brüssel laufen sehr viele Lobbyisten    schaftlicher Mitarbeiter im               Platz 1 kandidieren. Die Politik-
herum, aber die normale Verkäufe-       Bundestag gearbeitet und bist             wissenschaftlerin Demirel auf
rin aus Dortmund kommt dort nicht       seit 2015 in Brüssel. Erst als            Platz 2. Insgesamt wurden 14
vor. Deshalb ist es unsere Aufgabe,     Büroleiter der Rosa-Luxem-                Listenplätze vergeben:
auch deren Interessen im EU-Parla-      burg-Stiftung, nun als Europa-            3. Cornelia Ernst
ment zu vertreten.                      abgeordneter. Was unterschei-             4. Helmut Scholz
Martin: Wir müssen die Probleme         det die Arbeit im Bundestag               5. Martina Michels
aufzeigen und unsere Lösungen prä-      von der im Europaparlament?               6. Ali Al-Dailami
sentieren. Eine Öffentlichkeit schaf-   Im Gegensatz zum Bundestag hat            7. Claudia Haydt
fen, worüber wir eine Mehrheit ge-      man im Europäischen Parlament             8. Malte Fiedler
winnen für gerechte Veränderun-         nur alle zwei Monate sogenann-            9. Judith Benda
gen. So können auch kleine Fraktio-     te grüne Wochen, d.h. eine Woche,         10. Jens Neumann
nen viel erreichen, wie wir auch mit    in der man seinen Wahlkreis besu-         11. Susanne Steffgen
dem Beschluss zur Digitalsteuer zei-    chen kann. Einmal im Monat gibt           12. Hannes Nehls
gen konnten. Aber natürlich ist es      man sich dem finanziellen und öko-        13. Johanna Scheringer-Wright
einfacher, Dinge aus einer Position     logischen Wahnsinn hin, das Parla-        14. David Schwarzendahl
der Stärke durchzusetzen. Mehrhei-      ment von Brüssel nach Straßburg
ten spielen nicht nur im Parlament      zu verlegen: Züge, Sattelschlepper,

DISPUT Januar 2019                                                                                                    7
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
GE WALT GEGEN FR AUEN

Keine mehr!
In der Bundesrepublik fehlen Tausende Plätze in Frauenhäusern – ein mitunter tödlicher
Mangel, wie Studien belegen VON KERSTEN ARTUS

D
       ie diamantene Hochzeit ist                                                   paart sein dürfte: An beinahe jedem
       ein Jubiläum, das zu Recht ein                                               Tag stirbt eine Frau durch die Hand
       Grund zum Feiern ist. 60 Jah-                                                ihres Partners oder Ex-Partners. 40
re Ehe – das erreichen nur 0,1 Pro-                                                 Prozent aller Frauen erfahren seit ih-
zent aller Paare. Welches die Geheim-                                               rem 16. Lebensjahr körperliche und /
nisse einer glücklichen Ehe sind, fra-                                              oder sexuelle Gewalt, 25 Prozent der
gen sich dennoch viele: Wie schafft                                                 in Deutschland lebenden Frauen er-
man das bloß? Eine 56-Jährige Köl-                                                  leben Gewalt durch gegenwärtige
nerin stellt sich derzeit wahrschein-                                               oder aktuelle Beziehungspartner. So
lich eine ganz andere Frage: Warum                                                  ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch,
hatten sich meine Eltern nicht schon                                                dass sich auch unter Politikerinnen
längst getrennt? Denn dann würde ih-                                                und Politikern sowie Journalistinnen
re Mutter noch leben. Laut Mordan-                                                  und Journalisten Täter befinden. Und
klage wollte die 88-jährige ihren ein     Trauriger Alltag: Immer wieder werden     möglicherweise auch (schweigende)
Jahr älteren Mann nach fast 60 Jah-       Frauen von ihren Partnern so schwer       Opfer.
ren wegen eines anderen verlassen.        misshandelt, dass sie im Krankenhaus          Man fragt sich dennoch in Anbe-
Da brachte er sie um. Die Tatwerkzeu-     landen Foto: Pixabay                      tracht dieser Zahlen, warum es im-
ge: Hammer und Küchenmesser. Sie                                                    mer noch zu wenige Plätze in Frau-
verblutete. Der Fall ist keine Einzel-                                              enhäusern gibt. Frauenhäuser kön-
tat und schon gar keine Ausnahme.         ner durch ihre Partnerinnen? Gewalt       nen nämlich nicht nur Gewalt ver-
Er ist – trotz des hohen Alters von       ist die größte Gesundheitsgefähr-         hindern, sie retten oft Leben. Sie
Opfer und Täter – typisch. Das er-        dung für Frauen. Männer verhalten         ermöglichen Betroffenen – Frauen
gibt sich aus dem Gutachten über Ge-      sich hingegen gesundheitsgefährden-       wie Kindern – die Chance auf einen
walt in Paarbeziehungen von Monika        der und risikoreicher – etwa durch        Neuanfang, einen Ausweg aus der oft
Schröttle aus dem Jahr 2017. Sie stellt   ihren Alkohol- und Drogenkonsum,          jahrelangen Gewaltspirale und eine
gleich eingangs fest: Auch in westli-     Suizide oder gefährliche Arbeitsplät-     Rückkehr in ein normales Leben.
chen Demokratien gibt es ein sehr         ze. Wer demnach Gewalt gegen Frau-            Aber es gibt zu wenige davon:
hohes Ausmaß von Gewalt gegen             en mit der Gewalt gegen Männer ver-       Der Europarat empfahl den Ländern
Frauen, welche insbesondere durch         gleicht, relativiert die Ausmaße für      2006, einen Frauenhausplatz je 7.500
männliche Partner und Ex-Partner          die weiblichen Opfer, und erschwert       Einwohner zur Verfügung zu stellen.
verübt wird. Sie sei Ausdruck fort-       letztlich auch von Gewalt betroffenen     2012 lag der Maßstab in Deutschland
bestehender Ungleichheiten und Hi-        Männern, sich Unterstützung zu ho-        aber nur bei 1:12.000; fünf Jahre spä-
erarchien im Geschlechterverhältnis       len.                                      ter sogar nur noch bei 1:12.500. Es ist
und ein maßgeblicher Hinderungs-                                                    daher unzureichend, dass es jetzt in
grund für die volle Gleichstellung der                                              Hamburg und Köln weitere Frauen-
Geschlechter auf allen gesellschaftli-           Verharmlosen und                   häuser geben wird. Vielmehr müsste
chen Ebenen. Ökonomische, kultu-                       verleugnen                   grundlegend investiert werden: 500
relle und soziale Ungleichheiten zwi-                                               Millionen Euro wären nötig, um ge-
schen den Geschlechtern trügen zur        Doch ist der Drang zu unsachlichen        nügend Frauenhausplätze zur Ver-
Aufrechterhaltung ungleicher Macht-       Vergleichen, Vereinfachungen bis          fügung zu stellen. Die Finanzierung
verhältnisse zwischen Frauen und          hin zur totalen Verleugnung oder          von Frauenhäusern gehört zudem
Männern bei.                              Schuldumkehr unverändert groß:            verstetigt. Manche Frauen müssen
   Schröttle macht keinen Unter-          Auf allen Ebenen finden Relativie-        für den Verbleib im Frauenhaus so-
schied, wie alt Täter und Opfer sind,     rungen und Beschönigungen von Ge-         gar selbst zahlen. Beziehen sie Leis-
welcher Nationalität sie angehören        walt an Frauen statt. Entweder wird       tungen nach dem SGB, werden die-
und welchen Bildungsgrad sie ha-          sie auf bestimmte Tätergruppen re-        se in einigen Bundesländern immer
ben. Gewalt gegen Frauen, insbeson-       duziert oder mit Begriffen wie »Fami-     noch angerechnet.
dere in Paarbeziehungen, gibt es in       lientragödie« oder »erweitertem Sui-          Mangelfinanzierung, Verharmlo-
allen Milieus, Ethnien, Generationen.     zid« umschrieben. Auch wenn Fach-         sen und Verleugnen bilden ein fatales
Ebenso ist sie eindeutig geschlechts-     kreise und Feministinnen konstant         Trio. Das trägt auch dazu bei, dass die
spezifisch. Und so wirkt es auch eher     dagegen halten. Es ist wohl eher ei-      wirkliche Ursache hinter den mittler-
hilflos, wenn stereotyp gefragt wird:     ne interessengeleitete Debatte, die zu-   weile schon fast katalogartigen Emp-
Und was ist mit Gewalt gegen Män-         dem oft mit eigenen Erfahrungen ge-       fehlungen und Forderungen von inter-

8                                                                                                         DISPUT Januar 2019
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
nationalen Gremien und Institutionen         Es darf keine Toleranz geben. Die
wie Europarat oder WHO, von Fach-         Initiative #keinemehr thematisiert
kreisen aus Justiz und Forschung wie      daher zu Recht seit einigen Jahren
auch von LINKEN, Grünen und vielen        den Femizid als Verbrechen gegen
Feministinnen unerkannt bleibt: Män-      die Menschlichkeit. Aber nur, wer           GEWALT IST MÄNNLICH
ner können es nämlich nach wie vor        sich der Hauptursache von Gewalt
nicht ertragen, Macht und Kontrolle       gegen Frauen bewusst ist und zum
über ihre Partnerin zu verlieren. Agie-   Leitprinzip des Handelns macht,
ren also bei Trennungsgefahr nach         stellt auch die erforderlichen Mittel   Opfer von Partnerschaftsge-
dem Motto: Lieber tot – als getrennt      bereit, um effektiv zu helfen.          walt sind zu über 82 Prozent
weiterlebend. Obwohl ihnen dann in                                                Frauen. Fast die Hälfte von ih-
der Regel Kurzschlusshandlung oder          Kersten Artus ist Mitarbeiterin von   nen hat in einem gemeinsamen
Affekt unterstellt wird, was unter an-      Cornelia Möhring, der frauen-         Haushalt mit dem Tatverdäch-
derem mit unserem Strafrechtsystem          politischen Sprecherin der Bundes-    tigen gelebt. Das zeigt die ak-
zu tun hat: Bei einer Verurteilung auf-     tagsfraktion DIE LINKE                tuelle Polizeiliche Kriminalsta-
grund von Mord nach § 211 StGB müs-                                               tistik (PKS). Demnach wurden
sen dem Täter Heimtücke und niedere                                               2017 insgesamt 138.893 Per-
Beweggründe nachgewiesen werden.                                                  sonen erfasst, die Opfer von
                                                                                  Partnerschaftsgewalt wurden.
                                                                                  Knapp 113.965 Opfer wa-
              Notwendig und                                                       ren weiblich. Bei Vergewalti-
                  überfällig                                                      gung und sexueller Nötigung in
                                                                                  Partnerschaften sind die Opfer
Dass sich aber vor allem die Herr-                                                zu fast 100 Prozent weib-
schaftsstruktur dieser Gesellschaft                                               lich, bei Stalking und Bedro-
auf Männermacht gegenüber Frauen                                                  hung in der Partnerschaft sind
und deren massive körperliche At-                                                 es fast 90 Prozent. Die PKS er-
tacken erklären, wollen dann viele                                                fasste folgende versuchte oder
doch nicht wahrhaben. Es ist aber tat-                                            vollendete Delikte gegen Frau-
sächlich der Hintergrund, wenn Frau-                                              en: Vorsätzliche, einfache
en durch die Hand ihrer Männer ster-                                              Körperverletzung: knapp
ben oder gesundheitlich lebenslang                                                69.000; Bedrohung: über
beeinträchtigt sind.                                                              16.700; Gefährliche Körper-
   Eine ausreichende Finanzierung                                                 verletzung: rund 11.800
und angemessener Ausbau der nach-                                                 Bedrohung, Stalking, Nö-
gewiesenermaßen wirksamen Schutz-                                                 tigung: knapp 29.000; Frei-
einrichtungen ist überfällig. Seit Jah-                                           heitsberaubung: über 1.500
ren stemmen sich aber alle Landesre-                                              Mord und Totschlag: 364
gierungen und auch die Bundesregie-                                                                 Quelle: BMFSFJ
rung dagegen, auch wenn jedes Jahr
am 25. November, dem internationa-
len Tag gegen Gewalt, gute und rich-
tige Worte sowie Ankündigungen von
Maßnahmen von Ministerinnen und
Ministern ausgesprochen werden.
   Mit 500 Millionen Euro ließen sich
die derzeit fehlenden 4.250 Frauen-
hausbetten bzw. 3.180 Frauenhaus-
zimmer finanzieren. Es ist in Anbe-
                                                                                                                         Grafik: Pixabay

tracht der Ausmaße von lebensbe-
drohlichen Situationen, in die Frau-
en alltäglich geraten, notwendig und
längst überfällig.

DISPUT Januar 2019                                                                                                   9
DISPUT - Der Mord an Karl und Rosa - Die Linke
FEMINISMUS

Der 8. März ist Frauenkampf-
tag. 2019 wird es an diesem
Tag einen bundesweiten
Frauenstreik geben
VON KATHARINA KIRCHHOFF
UND BIANCA THEIS

V
        ielen Frauen* reicht es nicht
        mehr, nur auf die Straße zu ge-
        hen und Gleichberechtigung
einzufordern. Dass in Deutschland
bis heute keine Geschlechtergerech-
                                              Foto: Christian Mang

tigkeit erreicht wurde, liegt auf der
Hand. Gerade auf dem Arbeitsmarkt
ist die Diskriminierung besonders
deutlich. Frauen* verdienen bundes-
weit durchschnittlich 22 Prozent we-
niger als Männer. Dazu kommt, dass
der deutsche Arbeitsmarkt stark se-
gregiert ist. Er ist klar zwischen Ge-
schlechtern aufgeteilt und macht              Neben der geringer entlohnten             gab es weltweit 177 Demonstrationen.
auch monetär einen Unterschied zwi-        Arbeit, kommt die gar nicht entlohn-         Feministische Bewegungen wie »Ni
schen Frauen*- und Männerarbeit.           te Sorgearbeit. Dazu zählen unter            una menos« wurden in die ganze Welt
Die Arbeit von Frauen* ist bei glei-       anderem reproduktive Tätigkeiten,            hinausgetragen. Dabei fiel 2018 beson-
cher Qualifizierung durchschnittlich       wie Kindererziehung und Haushalt.            ders der spanische Frauen*streik auf.
fünf Prozent weniger wert, als die         Trotz steigender Frauenerwerbsquo-           Am 8. März kam es in Spanien zu ei-
von Männern. Diese strukturelle Dis-       te wird diese Arbeit immer noch              nem Generalstreik, an dem sich über
kriminierung weiblicher Arbeitskraft       hauptsächlich von Frauen* geleis-            fünf Millionen Menschen beteiligten.
zieht andere sozioökonomische Fak-         tet, ohne Entlohnung und deshalb             Dieser Streik legte viele Bereiche des
toren nach sich. Frauen* sind einem        meist unsichtbar.                            öffentlichen Lebens lahm und war da-
höheren Armutsrisiko ausgesetzt, vor                                                    rum deutlich für »jederMann« zu spü-
allem mit Kindern und im höheren                                                        ren. Mit Mut und einer beispielhaften
Alter. Sie arbeiten oft in sozial konno-                             Kreativ streiken   aktivistischen Infrastruktur konnte ei-
tierten Tätigkeitsbereichen, wie der                                                    ne breite Masse für den Streik mobili-
Sozial- und Pflegearbeit. Der geringe-     Aus diesem Grund ist der Kampf um            siert werden, nicht zuletzt, da die Fe-
re Verdienst in Frauen*berufen geht        Geschlechtergerechtigkeit auch ein           ministinnen auch große Gewerkschaf-
auf die Zuschreibung von Frauen* in        Kampf um das Sichtbarmachen von              ten für ihren Aufruf gewinnen konn-
der häuslichen Sphäre zurück. Die          jener Arbeit, die nicht zur Lohnarbeit       ten.
Arbeit wird als erweiterte Hausarbeit      zählt. »Die Arbeit, die Frauen im Haus-         In Deutschland ist die Situation
angesehen, die unentgeltlich statt-        halt leisten, nicht zu sehen, bedeutet       anders. Deutsche feministische Bünd-
findet. Tatsächlich stehen Frauen*         blind zu sein für die Arbeit und die         nisse haben kaum Erfahrungen mit
aber an zentralen Stellen im Produk-       Kämpfe der überwiegenden Mehrheit            Streiks, zudem lassen sich die Ge-
tionsprozess. Die meisten arbeiten         der Bevölkerung, die nicht entlohnt          werkschaften nur schwer überzeugen,
im Dienstleistungssektor, der stetig       wird«, so die Feministin Silvia Federi-      da er als politischer Streik nicht im
wächst und mittlerweile 70 Prozent         ci. Die Frage des Wertes von Frauen-         deutschen Streikrecht verankert ist.
der Bruttowertschöpfung ausmacht.          arbeit ist auch immer eine Frage von         Aus diesem Grund gilt es, Druck auf
Diese Ungleichheit der Geschlechter        Machtverhältnissen und muss somit            die Gewerkschaften zu machen. Eine
auf dem Arbeitsmarkt ist tief in der       auf politischer Ebene gestellt werden.       erweiterte Sichtweise auf Streiks ist
Gesellschaft verankert. Es ist ein Per-    Der Kampf für Geschlechtergerech-            dringend notwendig. Denn die Forde-
spektivwechsel auf weibliche Arbeit        tigkeit ist längst ein internationaler       rungen des Frauen*streiks betreffen
nötig.                                     Kampf geworden. Am 8. März 2018              nicht nur einzelne Arbeitgeber, son-

10                                                                                                            DISPUT Januar 2019
einen Effekt haben«, so Alex. Wichtig
                                                                                    ist, dass nicht nur Frauen* in Lohn-
                                                                                    arbeit sich beteiligen, sondern auch
                                                                                    jene, die unbezahlte Hausarbeit leis-

   Räder                                                                            ten. Dazu hat das Frauen*bündnis
                                                                                    auch viele kreative Anreize, wie Alex
                                                                                    beschreibt: »Es ist natürlich schwie-
                                                                                    riger, in der Pflege oder Hausarbeit
                                                                                    zu streiken. Kinder oder Pflegebe-

stehen                                                                              dürftige können nicht einfach bei-
                                                                                    seitegelegt werden. Man kann aber
                                                                                    zum Beispiel Tücher aus dem Fenster
                                                                                    hängen, um seine Zustimmung zu si-

     still ...
                                                                                    gnalisieren, oder eine Nachbarinnen-
                                                                                    versammlung einberufen. Auf unse-
                                                                                    rer Website gibt es auch Lohnzettel
                                                                                    für Hausarbeit. Dann gibt es natür-
                                                                                    lich noch die Demos zum Frauen*-
                                                                                    kampftag, wo alle herzlich willkom-
                                                                                    men sind«. Der Frauen*streik ist si-
                                                                                    cherlich ein Prozess, der in Deutsch-
                                                                                    land noch ganz am Anfang steht.
dern das gesamte Feld der Arbeit. Die     rungen sichtbar zu machen und das         Alex aber ist zuversichtlich: »Ich ha-
gesellschaftliche Entgeldlücke, zum       nicht trotz, sondern wegen aller Un-      be wirklich das Gefühl, wir sind gra-
Beispiel, ist eine Abwertung ganzer       terschiede.                               de am Anfang der dritten Welle der
Arbeitsbereiche. Darum ist ein politi-                                              Frauen*bewegung.«
scher und kreativer Streik notwendig
– auf allen Ebenen. Alex Wischnew-                       Lohnzettel für                Katharina Kirchhoff und Bianca
ski, eine der Organisatorinnen des                         Hausarbeit                  Theis arbeiten im Bereich Medien,
Frauenstreiks, ist sich sicher: »Wir                                                   Öffentlichkeitsarbeit, Bürgerdialog in
könnten das auch, wenn wir uns ein-       Zum Beispiel ist die meist von Frau-         der Bundesgeschäftsstelle der
fach trauen würden. Hier können wir       en* geleistete Reproduktionsarbeit           LINKEN
noch viel von anderen Ländern ler-        eng mit weiblicher Arbeitsmigration
nen«. Gute Vernetzung ist daher der       verbunden. Die Erhöhung der Frau-         Die Autor*innen verwenden das *, um
erste wichtige Schritt hin zu einem er-   enerwerbsquote in den Industrielän-       alle Geschlechtsidentitäten abzubilden
folgreichen Frauen*streik.«               dern, lässt die Beschäftigten meist mi-   und orientieren sich damit am aktuel-
   Auf den Vernetzungstreffen des         grantischer Arbeiterinnen im Sorgebe-     len Feminismusdiskurs.
Frauen*streiks wird deutlich, dass        reich steigen. Der Frauen*streik soll
der Kampf um Frauen*rechte in             auch den sich durch Migration ver-
Deutschland längst auf globalem Ter-      ändernden Arbeitsmarkt in den Blick
rain angekommen ist. In Göttingen tra-    nehmen und Frauen* den Raum ge-                                              Info
fen im November Organisator*innen         ben, auf ihre eigene Situation auf-
des deutschen und des spanischen          merksam zu machen und sich zu ver-           Weitere Informationen zum Frau-
Frauen*streiks aufeinander. Auch          netzen. Darum ist die Organisation           enstreik, wie den Aufruf und
Frauen* aus der kurdischen Befrei-        auch dezentral angelegt und zielt auf        Downloadmaterial findest Du
ungsbewegung sowie selbstorgani-          viele verschiedene Aktionsformen ab.         auf frauenstreik.org. Aktiv wer-
sierte Sexarbeiterinnen aus Thai-            Der Frauen*streik soll zum Bei-           den kannst Du entweder in be-
land, Frauen* aus Afghanistan, Sy-        spiel auch Personen erreichen, die es        stehenden Ortsgruppen, oder
rien, von der Elfenbeinküste und          sich nicht leisten können, einen gan-        Du gründest einfach selber eine.
aus dem Iran kamen mit linken             zen Tag ausfallen zu lassen. »Auch           Dafür schreibst Du eine Mail an:
Gewerkschafter*innen zusammen.            kleine Aktionen, wie das Einberu-            frauenstreik@gmail.com.
Es ging vor allem darum, die unter-       fen einer Betriebsversammlung oder
schiedlichen Positionen und Forde-        kämpferische Mittagspausen können

DISPUT Januar 2019                                                                                                              11
WAS UND WIE

                                                                                                  WAS
»Der Bedarf ist groß«                                                                              UND
SOPHIE DIECKMANN vom Bereich Politische Bildung über die gestiegene
Bedeutung von Seminaren und neue Herausforderungen
                                                                                                  WIE

Sophie, Du wirst ab Januar               einen weil gerade die Europawahl      Woran liegt das?
den Bereich Politische Bildung           ansteht und wir mit unseren Wahl-     Vor allem daran, dass eine Generati-
leiten. Dein Bereich soll, so            kampf-Seminaren viele Landesver-      on von kritischen Wissenschaftler*-
hat es der Parteivorstand be-            bände unterstützen. Zum anderen       innen, die mit und nach 1968 an die
schlossen, »die Voraussetzun-            haben wir in den letzten Jahren un-   Hochschulen gelangt ist, in Rente
gen schaffen, dass sich mög-             glaublich viele Neumitglieder ge-     gegangen oder bereits verstorben
lichst viele Mitglieder an der           wonnen, von denen viele unter 30      ist. Zudem haben die Bologna-Refor-
Weiterentwicklung unserer Al-            sind. Diese jungen Leute erhoffen     men die Lehrpläne extrem verdich-
ternativen beteiligen und qua-           sich, dass wir ihnen Antworten auf    tet. Da bleibt kaum noch Zeit für
lifiziert in politische Debat-           die großen gesellschaftlichen Fra-    selbstorganisierte Marx-Seminare
ten eingreifen können«. Klingt           gen liefern. Bei vielen der jünge-    oder die Beteiligung an Studenten-
nach großer Verantwortung ...            ren Leute beobachten wird, dass       streiks. Außerdem kommen viele
Ja, aber wir sind hier im Bereich        linke Selbstverständlichkeiten kei-   Menschen in die Partei, die kein
ein hoch motiviertes Team. Des-          ne Selbstverständlichkeiten mehr      Studium absolviert oder keine Zeit
halb freue mich auf die neue Auf-        sind. Dass man etwa »Das Kapital«     fürs Selbststudium haben. Auch hier
gabe. Ich glaube, dass wir als Par-      gelesen hat oder durch einen kri-     gibt es Bedarf an Seminaren – etwa
tei gerade in einer Situation sind, in   tischen Professor an der Universi-    über die Geschichte der Arbeiter*-
der es politische Bildung besonders      tät an linkes Denken herangeführt     innenbewegung oder marxisitische
braucht. Der Bedarf ist groß. Zum        wurde.                                Theoretiker*innen.

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Ich glaube, dass wir als Partei gerade
                       in einer Situation sind, in der es
                politische Bildung besonders braucht.

Das heißt, wer eines Eurer Se-         kutiert. Aber bei uns wird tatsäch-
minare besucht, muss vor allen         lich in solidarischer Atmosphäre
Dingen büffeln?                        über die Sache gestritten. Die meis-
Es geht uns nicht nur um reine Wis-    ten Teilnehmer*innen fahren da-
sensvermittlung. Es geht auch dar-     nach mit einem guten Gefühl nach
um, wie wir eine Parteikultur schaf-   Hause. Ein Seminar kann so auch
fen können, in der wir aufeinander     die Atmosphäre im Kreisverband
zugehen und Verständnis für die Po-    verbessern.
sitionen der anderen entwickeln. Ge-   Wo kann ich mich als Partei-
rade in so einer pluralen Partei wie   mitglied über Eure Angebote
der LINKEN ist die Bildungsarbeit
ein Ort, an dem eine gewisse Partei-
                                       informieren?
                                       Auf unserer Webseite findet man
                                                                                Wir brauchen
kultur von Solidarität und Akzep-      viele Informationen – etwa zu unse-      Deine
tanz anderer Standpunkte gelernt       rer Frühlingsakademie, vom 30. Mai
werden kann.                           bis zum 2. Juni im EJB am Werbel-        Unterstützung
Das sind ja dann offenbar sehr         linsee. Das Thema diesmal: »Krasse
harmonische Veranstaltun-              Zeiten – Wie linke Mehrheiten orga-      DIE LINKE ist die einzige der
gen ...                                nisieren?«. Gedacht für alle, die sich   im Bundestag vertretenen Par-
Es wird schon auch energisch dis-      die Verhältnisse nicht bieten lassen     teien, die keine Großspenden
                                       wollen. Wir wollen vier Tage lang        von Konzernen, Banken, Versi-
                                       miteinander diskutieren, lernen,         cherungen und Lobbyisten er-
                                       analysieren – und wenn die Köpfe         hält. Unsere wichtigste Ein-
                                       rauchen, eine Runde in den Werbel-       nahmequelle sind unsere Mit-
                                       linsee springen.                         gliedsbeiträge. Das macht uns
                                       Können sich die Genossinnen              unabhängig vom Einfluss Drit-
                                       und Genossen auch direkt an              ter. Wir sind nicht käuflich. Für
                                       Euren Bereich in der Bundesge-           Spenden von Genossinnen und
                                       schäftsstelle wenden?                    Genossen, Sympathisantin-
                                       Ja, wir haben immer ein offenes Ohr      nen und Sympathisanten sind
                                       für euch und kommen sehr gerne,          wir aber dankbar. Durch diese
                                       wenn ihr uns ruft. Allerdings kön-       Spenden ist es möglich, Pro-
                                       nen wir nicht garantieren, dass das      jekte und Kampagnen zu finan-
                                       immer sofort geschieht. Schließ-         zieren, die wir uns sonst nicht
           Die Berlinerin              lich hat DIE LINKE 350 Kreisver-         oder nicht in diesem Maße leis-
           Sophie Dieckmann            bände und wir sind hier im Bereich       ten könnten.
           wird ab Januar              nur zu viert. Jeder Kreisverband         Das Spendenkonto des Partei-
           2019 die                    sollte zudem eine*n Bildungsver-         vorstandes lautet:
           Nachfolge von               antwortlichen haben. Auf alle Fäl-
           Heinz Hillebrand            le gibt es diese aber bei den Lan-       DIE LINKE. Parteivorstand
           antreten und den            desverbänden und die sind da eure        IBAN: DE38 1009 0000
           Bereich Politische          Ansprechparter*innen.                    5000 6000 00
           Bildung der                 Klingt so, als bist Du oft unter-        BIC: BEVODEBB
           Bundesgeschäfts-            wegs?                                    Berliner Volksbank eG
           stelle leiten.              Ja, wir sind als Bereich ständig un-     Kennwort: Spende
           Foto: Bianca Theis          terwegs. Die Wochenenden sind
                                       unsere Hauptarbeitszeit. Denn die        Bitte gib bei allen Spenden je-
                                       meisten Genossinnen und Genossen         weils Deinen Namen, Vornamen
                                       in den Kreisverbänden haben natür-       und die Anschrift an. Deine Da-
                                       lich nur am Wochenende Zeit. Einen       ten behandeln wir vertraulich.
                                       positiven Nebeneffekt hat die viele      Auf Wunsch stellen wir gern
                                       Reiserei aber auf jeden Fall: Die Par-   Spendenbescheinigungen aus.
                                       teibasis lernt man so wirklich ganz
                                       toll kennen.

                                                                                                                    13
RECHTSP OLITIK

Raus aus dem
Strafgesetzbuch!
DIE LINKE will das »Schwarzfahren« entkriminalisieren.
Während einer Anhörung des Bundestages stellten
sich viele Fachleute hinter diese Forderung
VON NIEMA MOVASSAT

O
       hne Ticket Bus fahren und im        entwurf die Straffreiheit für das Fah-    sich das »Schwarzfahren« mit dem
       Gefängnis landen? Deshalb vom       ren ohne Ticket gefordert.                Falschparken vergleichen. Das gilt
       neugeborenen Kind getrennt              In der Anhörung des Bundestages       nicht als Straftat, sondern nur als
werden? Ja, das gibt es, wie man vor       am 7. November forderte die Mehrheit      Ordnungswidrigkeit. Vielfach ist zu
kurzem bei »Stern TV« sehen konnte.        der Sachverständigen, das »Schwarz-       hören, dass die »ehrlichen Fahrgäs-
Eine junge Frau wurde wegen Fahrens        fahren« in seiner jetzigen Form aus       te« die »Schwarzfahrerinnen« und
ohne Fahrschein gemäß § 265a StGB          dem Strafgesetzbuch zu streichen. Da-     »Schwarzfahrer« subventionieren.
verurteilt. Zunächst wurde ihr eine        runter der Deutsche Anwaltsverein,        Dieses Argument geht fehl. Denn tat-
Geldstrafe vom Gericht auferlegt. Weil     der Deutsche Richterbund, ein ehe-        sächlich zahlen wir alle dafür, dass
sie diese jedoch von ihrem mageren         maliger BGH-Strafrichter, ein Straf-      der Staat Menschen, die ohne Ti-
Hartz IV-Satz nicht aufbringen konn-       rechtsprofessor und die Leiterin ei-      cket fahren, strafrechtlich verfolgt.
te, musste sie eine Ersatzfreiheitsstra-   nes Gefängnisses. Das zentrale juristi-   So werden 200 Millionen Euro jähr-
fe im Gefängnis absitzen und wurde         sche Argument: Das Strafrecht soll im     lich für die Vollstreckung der Ersatz-
von ihrem gerade geborenen Kind            freiheitlichen Rechtsstaat Ultima Ra-     freiheitsstrafe durch den Staat ver-
getrennt. Jährlich sitzen etwa 7.000       tio – das letzte Mittel – sein, um un-    schwendet. Ein Tag Gefängnis kostet
Menschen wegen »Schwarzfahrens«            erwünschtes Verhalten zu verhindern.      ca. 150 Euro. Das alles für eine Baga-
in deutschen Gefängnissen. Meistens        Im Leben werden Verträge oft verletzt.    telle wie »Schwarzfahren«.
erstatten die Verkehrsbetriebe Straf-      Doch wer seine Telefon- oder Strom-
anzeige, wenn die Person mehrmals          rechnung nicht bezahlt, muss nicht
ohne Ticket fährt.                         den Staatsanwalt fürchten, sondern                   Nicht schlimmer
                                           allenfalls zivilrechtliche Folgen wie                als Falschparken
                                           Schadenersatzforderungen. Anders
             Experten gegen                ist dies beim Fahren mit öffentlichen     Die Entkriminalisierung des Schwarz-
                Strafbarkeit               Verkehrsmitteln: Mit dem Einstieg in      fahrens ist ein Etappenziel zum fahr-
                                           ein öffentliches Verkehrsmittel wird      scheinfreien ÖPNV, welcher unter so-
Wichtig für das Verständnis ist, dass      ein zivilrechtlicher Vertrag begründet.   zialen wie ökologischen Aspekten not-
die Strafverfolgung das »erhöhte Be-       Aber die Folgen eines Verstoßes gegen     wendig ist. Mobilität darf nicht abhän-
förderungsentgelt« von derzeit 60 Eu-      diesen Vertrag, laut dem man mit ei-      gig vom Geldbeutel sein. In Zeiten des
ro für Fahren ohne Fahrschein tritt.       nem gültigen Ticket fahren muss, ha-      Klimawandels kann nur ein attrakti-
Je ärmer jemand ist, desto wahr-           ben nicht nur zivilrechtliche, sondern    ver und fahrscheinfreier ÖPNV den
scheinlicher ist es, dass er sich kein     wegen § 265a StGB auch strafrechtli-      Individualverkehr reduzieren. Mit der
Ticket leisten kann. Eine kriminolo-       che Folgen. Im schlimmsten Fall lan-      Streichung der »Beförderungserschlei-
gische Statistik aus Nordrhein-West-       det man im Gefängnis. Die Experten        chung« in § 265a StGB wird auf indi-
falen verdeutlicht dies: 58 Prozent        stellten klar, dass das »erhöhte Beför-   vidueller Ebene das schlimmste Un-
der Menschen, die wegen »Schwarz-          derungsentgelt« die Schäden der Ver-      recht gestrichen: Dass Menschen, weil
fahrens« verurteilt wurden, waren          kehrsunternehmen ausgleicht.              sie sich kein Ticket leisten können, im
Hartz IV-Empfängerinnen und -emp-              Ein relevanter Unrechtsgehalt ist     Gefängnis landen.
fänger. 21 Prozent waren obdachlos.        zudem nicht erkennbar. Denn eine er-
13 Prozent waren alkohol- und/oder         höhte »kriminelle Energie«, wie bei-         Niema Movassat ist verfassungs-
drogenabhängig. DIE LINKE im Bun-          spielsweise bei einem Dieb oder Be-          politischer Sprecher der Fraktion
destag hat deshalb in einem Gesetz-        trüger existiert nicht. Vielmehr lässt       DIE LINKE im Bundestag.

14                                                                                                           DISPUT Januar 2019
ABGASSK ANDAL

Kultur des Wegschauens
DIE LINKE im Bundestag wollte den beschönigenden Abschlussbericht zum Dieselskandal
nicht mittragen und veröffentlichte ein Sondervotum VON INGRID REMMERS

W
         ieso konnten Autoherstel-     gen Automobilkonzerne auf Ministe-        Sondervotum. Darin fordern wir, die
         ler über Jahre hinweg Au-     rien und Behörden wurde überdeut-         Zuständigkeiten für die Zulassung
         tos verkaufen, die bestimm-   lich.                                     und die Überwachung der Fahrzeuge
te Grenzwerte nur auf dem Prüfstand        Die Regierungsfraktionen von          zu trennen. Die Kumpanei zwischen
einhielten, nicht aber auf der Stra-   CDU/CSU und SPD wollten im Ab-            dem seit Jahren von der CSU gelei-
ße? Wie war es möglich, dass weder     schlussbericht des Untersuchungs-         teten Verkehrsministerium und der
das Kraftfahrtbundesamtes (KBA)        ausschusses das Bild einer Politik        Autoindustrie muss beendet werden.
noch das Verkehrsministerium ein-      malen, die im Umgang mit den Au-          Die Kontrolle der Fahrzeuge sollte da-
schritten, als es deutliche Hinweise   toherstellern alles richtig gemacht       her beim Umweltbundesamt liegen.
von Umweltverbänden wie der Deut-      hat. Der Skandal sei alleine das Prob-    Eine weitere Forderung ist die Ver-
schen Umwelthilfe gab? Dies sind ei-   lem eines betrügenden Konzerns und        pflichtung der Hersteller auf Hard-
nige der wichtigen Fragen, die sich    nicht der Politik. Genau in diesem        ware-Nachrüstungen an den mani-
nach dem Auffliegen der Betrügerei-    Sinne äußerte sich auch die Bundes-       pulierten Diesel-Fahrzeugen. Es darf
en bei VW im September 2015 stell-     kanzlerin vor dem Ausschuss »Wir          nicht sein, dass die Besitzer von Die-
ten. Der Dieselskandal zeigte ein      haben ja keinen Skandal, VW hat ei-       sel-Fahrzeugen für die Manipulati-
massives Versagen des KBAs und         nen Skandal«. Es scheint, die Regie-      onen der Hersteller mit Fahrverbo-
der Bundesregierung, weshalb der       rungsfraktionen im Bundestag haben        ten büßen müssen, obwohl sie die
Deutsche Bundestag auf Antrag von      vergessen, dass das KBA eigentlich        Fahrzeuge in gutem Glauben an de-
DIE LINKE und Bündnis 90/Die Grü-      eine kontrollierende Rolle spielen        ren Umweltverträglichkeit gekauft
nen in der letzten Legislaturperiode   sollte. Die Realität stellt sich anders   haben. Mit Hardware-Nachrüstun-
einen Parlamentarischen Untersu-       dar: Die Verklärung des Regierungs-       gen können Fahrverbote und Wert-
chungsausschuss zum Abgasskandal       handelns hatte Vorrang vor der Auf-       verlust von Diesel-Fahrzeugen ver-
unter Vorsitz von Herbert Behrens      klärung eines Skandals. Betrogen          mieden werden. Das Abgasproblem
(LINKE) einsetzte. Die achtmonatige    haben nicht nur VW, BMW, Daim-            in unseren Städten würde deutlich
Aufklärungsarbeit des Parlaments       ler, Opel und Renault. Auch anderen       entschärft.
zeigte auf, dass erhebliche struktu-   Herstellern konnte mittlerweile die          Zudem fordern wir, dass die Her-
relle Defizite bei der behördlichen    Verwendung illegaler Abschaltein-         steller für den betrügerischen Ein-
Aufsicht durch das KBA über die Au-    richtungen nachgewiesen werden.           satz von Abschalteinrichtungen Buß-
tomobilindustrie bestehen. Darüber         Einen Abschlussbericht, in dem        gelder zahlen müssen. Es ist skanda-
hinaus belegte sie eine Kultur des     sich Regierung und Autoindustrie          lös, dass die Regierung die gesetzlich
Wegschauens innerhalb der Bundes-      mit blütenweiser Weste präsentier-        vorgesehenen Bußgelder in Höhe
behörde und des Verkehrsministeri-     ten, konnte DIE LINKE nicht mittra-       von 5.000 Euro pro Fahrzeug bisher
ums. Die Einflussnahme der mächti-     gen und erstellte daher ein eigenes       nicht verhängt hat. Diese Ungleichbe-
                                                                                 handlung stellt die Legitimation des
                                                                                 Rechtsstaates in Frage: Jeder Laden-
                                                                                 dieb wird angeklagt, die Autoindust-
                                                                                 rie lässt man aber laufen.

                                                                                    Ingrid Remmers ist verkehrs-
                                                                                    politische Sprecherin von
                                                                                    DIE LINKE. im Bundestag.

                                                                                                                   Info

                                                                                   Sondervotum im Internet:
                                                                                   https://www.linksfraktion.de/
                                                                                   fileadmin/user_upload/
                                                                                   Publikationen/Broschueren/
                                                                                   180919_Sondervotum_Abgas.pdf
                                                               Foto: Pixabay

DISPUT Januar 2019                                                                                                        15
FLUCHT UND MIGR ATION

                     »Gleiche Rechte für alle«
                     Gemeinsame Erklärung von Katja Kipping, Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch und
                     Bernd Riexinger anlässlich der Tagung »Flucht und Migration« am 30. November 2018

                     A
                             uf Grundlage des Wahlpro-       Wir halten deshalb gemeinsam                            2. Asyl ist ein
                             gramms der LINKEN zur Bun-      fest:
                             destagswahl 2017 und des Be-                                                              Grundrecht
                     schlusses »Partei in Bewegung« auf
                     der 1. Tagung des 6. Parteitags der                        1. Niemand           Im Gegensatz zu allen anderen im
                     Partei DIE LINKE vom 8. bis 10. Juni                            flüchtet        Bundestag vertretenen Parteien ha-
                     2018 in Leipzig stellen wir fest:                                               ben wir als DIE LINKE jede Ein-
                         Flucht und Vertreibungen sind                             freiwillig        schränkung des Asylrechts geschlos-
                     ein globales Phänomen und eine di-                                              sen abgelehnt. Denn das Recht auf
                     rekte Folge von Kriegen, Gewalt und     Jede Flucht ist ein Versuch, sich       Schutz und Asyl ist eine zivilisatori-
                     politischer Verfolgung, von Hunger-     in eine bessere Zukunft zu retten.      sche Errungenschaft. Insbesondere
                     und Klimakatastrophen. Die aktuel-      Flüchtlinge sind die Botschafter        nach dem Schrecken des 2. Weltkrie-
                     le Debatte u.a. in Deutschland zeigt,   der Ungerechtigkeiten, der Krie-        ges stehen wir unbeirrt für Asyl als
                     wie weit es der Rechten gelungen ist,   ge und anderer Gewaltverhältnis-        Grundrecht. Es ist mittlerweile nor-
                     die gesellschaftlichen Herausforde-     se, einer ungerechten Handelspo-        mal geworden, Asyl nicht mehr als
                     rungen der Flucht- und Migrations-      litik, von Waffenlieferungen, dik-      Grundrecht zu verteidigen. Wir wol-
                     frage zu besetzen. Die rechtspopu-      tatorischen Regimen und Verfol-         len dagegen das Grundrecht auf Asyl
                     listischen Nationalisten verknüpfen     gung. Menschen, die um ihr Leben        vollständig wiederherstellen. Wir for-
                     gezielt soziale Ungerechtigkeiten mit   kämpfen, die Hand zu reichen, ist       dern, dass der Zugang zum individu-
                     rassistischen Parolen für ihren chau-   für uns LINKE selbstverständlich.       ellen Asylrecht in Europa erhalten
                     vinistischen Kulturkampf, sie spal-     Der Schutz von Geflüchteten und         bleibt und lehnen jede automatische
                     ten die Gesellschaft und vergiften      die Wahrung ihrer Menschenwür-          Rückführungsregelung in Transitlän-
                     den demokratischen Zusammenhalt.        de müssen an erster Stelle stehen.      der bzw. »Drittstaaten« ab.
                     Flucht und Migration sind emotiona-     Anstatt die Flüchtlingsabwehr wei-         Der EU-Türkei-Deal und jede wei-
                     le und zugleich hoch politische The-    ter auszudehnen, müssen legale und      tere Zusammenarbeit mit Diktatu-
                     men, denn es geht hier nicht nur um     gefahrenfreie Wege nach Europa er-      ren und Unrechtsregimen zur »Mig-
                     Menschen, die zu uns kommen, son-       öffnet werden. Seenotrettungen dür-     rationskontrolle« sind sofort zu be-
                     dern auch um die Frage, wie wir le-     fen nicht weiter kriminalisiert wer-    enden. Das Konstrukt der »sicheren
                     ben wollen. Denn der Kampf um den       den. Wir treten dafür ein, die Genfer   Herkunftsstaaten« darf nicht ausge-
                     gesellschaftlichen Zusammenhalt ist     Flüchtlingskonvention und die Eu-       weitet werden. Es gehört abgeschafft.
                     eine Wesensfrage unserer Demokra-       ropäische Menschenrechtskonventi-
                     tie selbst. DIE LINKE hat den Auf-      on uneingeschränkt gelten zu lassen
                     trag, diese gesellschaftliche Debatte   und die UN-Kinderrechtskonvention               3. Fluchtursachen
                     verantwortungsvoll zu führen.           vollständig umzusetzen.                                bekämpfen
                                                                                                     Um Fluchtursachen weltweit nach-
                                                                                                     haltig bekämpfen zu können, brau-
                                                                                                     chen wir den Mut und den Realismus
                                                                                                     einer strukturverändernden Global-
                                                                                                     politik. Das geht nicht ohne einen
                                                                                                     echten Paradigmenwechsel in der
                                                                                                     Außen- und Sicherheitspolitik. Die
                                                                                                     Interventionskriege mit ihren katas-
                                                                                                     trophalen Folgen für die Stabilität in
                                                                                                     ganzen Regionen müssen sofort be-
                                                                                                     endet werden. Aber auch in der Kli-
                                                                                                     ma- und Außenwirtschaftspolitik so-
                                                                                                     wie in den internationalen Handels-
                                                                                                     beziehungen und der Entwicklungs-
                                                                                                     hilfe muss es einen grundlegenden
                                                                                                     Wandel geben. Bereits 1970 hatten
                                                                                                     die Länder des globalen Nordens zu-
Foto: Bianca Theis

                                                                                                     gesagt, 0,7 Prozent ihres Bruttonati-

                     16                                                                                                   DISPUT Januar 2019
»Jede Flucht ist ein Ver-
          such, sich in eine bessere
          Zukunft zu retten. Flücht-
          linge sind die Botschaf-
          ter der Ungerechtigkeiten,
          der Kriege und anderer
          Gewaltverhältnisse, einer
          ungerechten Handels-
          politik, von Waffenliefe-
          rungen, diktatorischen
          Regimen und Verfolgung.«

          »Europa ist längst ein
          Kontinent der Einwande-
          rung wie Deutschland
          eine Einwanderungs-
          gesellschaft ist.
          Die individuelle Entschei-
          dung zur Auswanderung
          ist gespeist durch die

                                                                                                                        Foto: Bianca Theis
          Hoffnung auf ein besseres
          Leben.«

onaleinkommens (BNE) für die Ent-      gungsleistung der UN-Hilfswerke für     hungen und Einkommensverteilung
wicklungszusammenarbeit aufzu-         Flüchtlinge künftig garantiert wer-     eine gerechte globale Entwicklung
wenden. Angesichts der globalen Kri-   den kann.                               zu ermöglichen. Dem Bestreben in-
sen und Notlagen bedarf es zugleich                                            ternationaler Konzerne, sich die Ar-
einer menschenwürdigen Versor-                                                 beitsmigration zu Nutze zu machen,
gung von Geflüchteten. Das Budget               4. Rechte für                  um die Arbeitskraft billig zu halten,
des »Flüchtlingshilfswerks der Ver-     Arbeitsmigrant*innen                   gewerkschaftliche Mindeststandards
einten Nationen« (UNHCR) darf nicht                                            zu unterlaufen und die Arbeitenden
länger hauptsächlich durch freiwil-    Arbeitsmigration ist eine globale Re-   selbst zu entrechten, erteilen wir ei-
lige Beiträge von Regierungen, zwi-    alität. Nach Schätzung der Internati-   ne klare Absage.
schenstaatlichen Akteuren, Stiftun-    onalen Arbeitsorganisation (ILO) sind      Wir begrüßen, dass die Verein-
gen oder Privatpersonen bestritten     mehr als 150 Millionen Menschen         ten Nationen mit dem UN-Migrati-
werden. Wir fordern die Bundesre-      Arbeitsmigrant*innen. Arbeitsmig-       onspakt Flucht und Migration als
gierung auf, sich im Rahmen der        ration bzw. wirtschaftlich bedingte     globales Problem anerkennen und
zweijährigen Mitgliedschaft Deutsch-   Flucht oder Migration sind eine indi-   unterstützen grundsätzlich alles Be-
lands im UN-Sicherheitsrat für ver-    viduelle Antwort auf die bestehende     streben, die Rechte von Geflüchteten
bindliche Pflicht-Beitragsumlagen      globale Ungleichheit. Es sind Reakti-   und Arbeitsmigrant*innen zu stär-
für das UNHCR einzusetzen, damit       onen auf die Weigerung der reichen      ken. Gleichzeitig bilden sich in der
eine umfassende Hilfe- und Versor-     Länder, durch faire Handelsbezie-       Vereinbarung die derzeitigen Weltun-

DISPUT Januar 2019                                                                                                17
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