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AMNESTY Nr. 99 August 2019 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE BRASILIEN ÜBERWACHUNG SEXUELLE GEWALT Bolsonaro macht Ernst Der Spion in der Hosentasche Die Macht eines Wortes
Titelbild INHALT_AUGUST 2019 Mit der Gesichtserkennungstechnologie des staatlichen Herstellers Hikvision können ChinesInnen auf Schritt und Tritt überwacht werden. © KEYSTONE/AP/NG HAN GUAN AKTUELL THEMA 4 Good News 24 Brasilien 6 Aktuell im Bild «Es ist surreal» 7 Nachrichten 27 Überwachung Der Spion in der Hosentasche 9 Brennpunkt Der lange Arm des eritreischen Regimes 30 Nepal Schwierige Rückkehr ins Zivilleben 32 Sexuelle Gewalt Ein Wort mit Wirkung DOSSIER China: Auf dem Weg zur totalen Kontrolle Nur ein Ja ist ein Ja. KULTUR 35 Buch 10 Der Staat sieht alles Ein Leben im Zeitraffer 12 Härter denn je 36 Buch Chinas Wohlstand bringt keineswegs Demokratie. In der Hölle von Kivu 16 Die Mütter von Tiananmen 37 Film 128 ältere Damen legen sich mit dem Regime an. Der nackte König 18 Der dressierte Mensch 38 Ausstellung Ein System totaler Kontrolle erzieht zu «guten BürgerInnen». Beobachterin in Putins Reich 20 Im Land der unsichtbaren Lager Die muslimischen UigurInnen werden systematisch diskriminiert. CARTE BLANCHE 22 «Das System hat viele Risse» Interview mit Filmemacher Popo Fan über Homosexualität 39 Adrienne Fichter und LGBTI*-Filme in China. Digitale Bürgerrechte statt Techno-Diktatur Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 99, August 2019. Redaktion: Carole Scheidegger (cas, verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). MitarbeiterInnen dieser Nummer: Ulla Bein, Nadia Boehlen, Bernard Debord. Adrienne Fichter, Noëmi Grütter, Hannah El-Hitami, Julie Jeannet, Felix Lee, Emilie Mathys, René Raphaël, Reto Rufer, Ling Xi. Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin- amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 18. Oktober 2019. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 82 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3 AMNESTY August 2019
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N 37 Länder haben China Mitte Juli dafür gelobt, wie das Land mit der muslimischen Minder- heit in der Region Xinjiang um- gehe. Das ist eine erstaunliche Sicht auf die Dinge, denn GOO Amnesty-Auszeichnung an Greta Thunberg WELTWEIT − Amnesty International ehrt die Klimaaktivistin Greta Thun- berg und die SchülerInnenbewegung Fridays for Future mit dem Am- bassador of Conscience Award 2019. «Wir sind begeistert und inspi- riert von der Entschlossenheit, mit der diese jungen Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt uns auffordern, uns der Realität der Kli- makrise zu stellen», begründet Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo die Wahl. «Die Menschenrechte und die Klimakrise gehen Hand in Hand. Wir können die eine Krise nicht lösen, ohne die andere mitzu- Schätzungen zufolge sind im denken», so Preisträgerin Greta Thunberg an der Feier. Mit der Aus- betreffenden Gebiet etwa eine zeichnung Ambassador of Conscience (BotschafterIn des Gewissens) ehrt Amnesty International seit 2003 Persönlichkeiten oder Bewegun- Million Menschen in Umerziehungslagern einge- gen, die die Menschenrechte fördern, Ungerechtigkeit aufzeigen und sperrt. Der Lobgesang, unter anderem von Nordkorea, mit ihrem Einsatz andere inspirieren. Saudi-Arabien oder Russland, steht in einem Brief an © Amnesty International den Präsidenten des Uno-Menschenrechtsrats. Er ist die Antwort auf einen früheren Brief von 22 anderen Staaten, die das Vorgehen der chinesischen Regie- rung gegen die Uigurinnen und Uiguren in Xinjiang scharf kritisiert hatten. Dass die euphorische Reak tion der 37 Staaten gänzlich ohne Anregung aus Pe- king erfolgte, darf bezweifelt werden. Das Beispiel zeigt, wie die Regierung unter Xi Jinping den Druck gegen aussen und innen hochhält. Mit dem Projekt der «neuen Seidenstrasse» ist der chinesische Ein- fluss auch bei uns deutlich zu spüren. Gegenüber der eigenen Bevölkerung perfektioniert die Regierung den Überwachungsstaat. Möglich Greta Thunberg mit Kumi Naidoo, dem Generalsekretär von Amnesty International. macht dies der Ausbau der künstlichen Intelligenz. Only yes means yes! nien und Portugal werden ähnli- Unzählige Kameras und Gesichtserkennungssysteme GRIECHENLAND – Die griechische che Gesetzesanpassungen dis- verfolgen die Spuren der rund 1,3 Milliarden Chine- Regierung hat am 6. Juni 2019 kutiert. In der Schweiz führt entschieden, das Strafrecht so Amnesty Schweiz derzeit eine sen und Chinesinnen. anzupassen, dass Sex ohne Ein- Kampagne gegen sexuelle Ge- Eine abweichende Meinung zu äussern, das ist unter willigung als Vergewaltigung an- walt und für eine Änderung des diesen Umständen natürlich schwierig. Und doch erkannt wird. Die Istanbul-Kon- Strafgesetzbuchs (siehe beilie- vention, die Griechenland im gendes «In Action»). gibt es mutige Stimmen, die sich nicht einschüchtern Juni 2018 ratifiziert hat, besagt, lassen, so wie die «Mütter von Tiananmen» oder die dass Vergewaltigungen und an- Homosexualität dere sexuelle Handlungen ohne entkriminalisiert Organisatoren des Queer Film Festival in Peking. Einwilligung als Straftaten einzu- BOTSWANA/ANGOLA – Positiver stufen sind. Auch Dänemark hat Trend in Afrika: Im Juni 2019 hat Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin Reformen angekündigt, in Spa Botswana beschlossen, einver- 4 AMNESTY August 2019
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS nehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zu entkriminalisie- ren. Zuvor drohten dafür Freiheits- strafen von bis zu 7 Jahren. Im Januar schaffte auch Angola die Bestrafung von Homosexualität ab Keine Hinrichtung von Murtaja Qureiris SAUDI-ARABIEN – Zehn Jahre alt war Murtaja Qureiris, als er bei einer Fahrraddemo in Saudi-Arabien für Menschenrechte demonstrierte. Drei Jahre später, im September 2014, wurde er festgenommen, bei der Befragung geschlagen und schliesslich zum Tode verurteilt. Qurei- ris wird nicht wie be- IN KÜRZE FRANKREICH – Der junge Men schenrechtsverteidiger Tom Ciot kowski hatte dokumentiert, wie die französische Bereitschafts © Private – 133 Jahre nach Einführung des fürchtet hingerichtet. polizei Freiwillige daran hinderte, entsprechenden Gesetzes in der Stattdessen wurde er zu Essen an Flüchtlinge und Mig portugiesischen Kolonialzeit. Hier 12 Jahren Haft verur- rantInnen zu verteilen. Ihm droh ging das Oberste Gericht noch teilt. Es ist und bleibt in- ten fünf Jahre Gefängnis. Am weiter: Fortan wird in dem Land akzeptabel, dass die 20. Juni wurde er freigesprochen. jegliche Diskriminierung von Ho- saudischen Behörden mosexuellen unter Strafe gestellt. die Todesstrafe für MAROKKO – Am 5. April 2019 Auch in Namibia wächst die einen Teenager über- wurde der Menschenrechtsvertei LGBTI*-Bewegung und hofft auf haupt in Betracht gezo- diger Zine El Abidine Erradi nach eine baldige Abschaffung des gen haben. Die Todes Verbüssen einer einjährigen Haft «Sodomie-Gesetzes». In etwa strafe für Minderjährige strafe aus dem Gefängnis in Aga 25 Ländern südlich der Sahara ist eine eklatante Verlet- dir entlassen. Der Haft war ein wird Homosexualität weiterhin kri- zung des internationa- unfaires Gerichtsverfahren voraus minalisiert, zum Teil unter Andro- len Rechts. gegangen. Zine El Abidine Erradi hung der Todesstrafe. Murtaja Qureiris wird nicht hingerichtet. wollte nach dem Tod seines Vaters seine Familie besuchen und wur Oyub Titiev endlich frei de in Marokko inhaftiert. Am © Amnesty International RUSSLAND – Am 10. Juni hat ein Gericht entschieden, dass der 15. Mai konnte er endlich sicher tschetschenische Menschenrechtsverteidiger Oyub Titiev nach über nach Frankreich zurückkehren. einem Jahr Haft auf Bewährung freikommt. Am 9. Januar 2018 war Titiev von der Polizei in seinem Wagen gestoppt und mehrere Stunden VENEZUELA – Der venezolanische ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten worden. Die tschetscheni- Oppositionsabgeordnete Gilber schen Behörden gaben später an, dass in seinem Auto Drogen «ge- Caro wurde am 17. Juni aus der funden» worden seien. Titiev stritt die Vorwürfe ab und bestand da Haft entlassen – kurz vor dem rauf, dass man ihm die Drogen untergeschoben habe. Dennoch wurde Besuch der Uno-Hochkommissa er zu vier Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Titiev ist der Leiter rin für Menschenrechte Michelle des tschetschenischen Büros der Menschenrechtsorganisation Bachelet. Er war willkürlich in Memorial. haftiert und anschliessend ohne Oyub Titiev während seines Prozesses. Kontakt zur Aussenwelt in Haft gehalten worden. Die Behörden Ein bisschen Gerechtigkeit und Schutz © WIKIMEDIA Ruptura hatten zunächst bestritten, sein MEXIKO – Am 20. Februar wurde Samir Flores Soberanes Schicksal und seinen Aufent vor seiner Haustür durch vier Schüsse getötet. Zuvor hatte haltsort zu kennen. er Morddrohungen erhalten, die im Zusammenhang mit seiner Menschenrechtsarbeit standen. Soberanes war Mit- USA – Am 30. Mai 2019 stimmte glied der Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra y del der Senat von New Hampshire Agua de Morelos (FPDTA), einer NGO, die sich für den Um- für die Abschaffung der Todes weltschutz in den südöstlichen Bundesstaaten Morelos, strafe. Damit hat die Hälfte der Puebla und Tlaxcala einsetzt. Im Juni hat nun der General- amerikanischen Bundesstaaten bundesanwalt des Bundesstaats Morelos endlich ein Er die Todesstrafe entweder abge mittlungsverfahren eingeleitet. Für mehrere Mitglieder der schafft oder ein Hinrichtungsmo Umweltschutzorganisation sollen ausserdem Sicherheits- ratorium beschlossen. massnahmen ergriffen werden. Samir Flores Soberanes bei einem Radiointerview. 5 AMNESTY August 2019
AKTUELL_IM BILD © Grossinger / shutterstock.com USA – Trumps Null-Toleranz-Politik trifft die Jüngsten: In den US-amerikanischen Lagern für aufgegriffene MigrantInnen entlang der Grenze zu Mexiko bestehen offenbar unhaltbare Zustände: US-AnwältInnen, die die ansonsten abgeschirmten Einrichtungen im Juni besuchen konnten, sprachen davon, dass Hunderte Kinder und Jugendliche unter massiver Vernachlässigung, Krankheiten und Unterversorgung litten. Ältere Kinder müssten sich um die jüngeren kümmern, es fehle an allem. Inzwischen stimmte das US-Repräsentantenhaus, in welchem die demokra- tische Partei die Mehrheit hat, für die Freigabe von 4,5 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern für die MigrantInnen an der Grenze zu Mexiko. Die grosse Mehrheit der republikanischen Abgeordneten war dagegen. 6 AMNESTY August 2019
AKTUELL_NACHRICHTEN HelferInnen schikaniert Ntaganda weist die Vorwürfe zu- setzte damit dem faktischen Mo- USA – Die US-Regierung schikaniert und bedroht Menschen, die sich rück und wird voraussichtlich ratorium für die Todesstrafe ein an der Grenze zwischen den USA und Mexiko für Migrantinnen, Mig- Berufung einlegen. Ende. Im Juni 2019 wurde nun ranten und Asylsuchende einsetzen. Mit der Androhung strafrecht bekannt, dass die Exekution von licher Verfolgung werden MenschenrechtsverteidigerInnen systema- Wiederaufnahme von 13 zum Tode Verurteilten vor tisch und rechtswidrig eingeschüchtert. Die Behörden würden unter Hinrichtungen? bereitet werde. Am 5. Juli 2019 anderem die Grenzkontrollen missbrauchen, um die HelferInnen ohne SRI LANKA – Seit 1976 wurden in entschied jedoch der oberste richterlichen Beschluss zu durchsuchen, wie Betroffene berichten. Sie Sri Lanka keine Hinrichtungen Gerichtshof, dass die Hinrichtun- müssten sich Leibesvisitationen unterziehen, würden zu ihren finanzi- mehr vollzogen. Im Juli 2018 gen nicht stattfinden dürfen, bis ellen und beruflichen Kontakten verhört und müssten ihre elektroni- aber kündigte Präsident Maithri- die Rekurse gegen die Urteile schen Geräte abgeben, damit diese durchsucht werden könnten. Ziel pala Sirisena an, dass zum Tod vollumfänglich geprüft wurden. der Massnahmen ist es offensichtlich, unter dem Vorwand mutmassli- verurteilte DrogenhändlerInnen Das dafür zuständige Gericht cher Straftaten wie Menschenschmuggel eine Anklage gegen sie zu hingerichtet werden sollen; er wird am 29. Oktober 2019 tagen. konstruieren. Verantwortlich sind vor allem das US-amerikanische Heimatschutz- und das Justizministerium. Mörderischer Krieg gegen Drogen PHILIPPINEN – Drei Jahre nach dem Beginn des sogenannten Anti- © Alli Jarrar/ Amnesty International Drogen-Kriegs der philippinischen Regierung nimmt die Zahl der Opfer aussergerichtlicher Tötungen weiter dramatisch zu, wie Amnesty International in einem Bericht von Anfang Juli dokumentiert. Unter den Getöteten sind vor allem Menschen aus den armen Stadtvierteln und Regionen des Landes. Auf der Grundlage von konstruierten Namenslisten verhaftet und erschiesst die Polizei willkürlich angebli- che DrogenhändlerInnen und Süchtige. Lokale Behörden stehen unter Druck, möglichst viele Namen auf die Listen zu setzen. Mit fatalen Fol- gen: Schon eine einzige unbewiesene Anschuldigung kann den Tod bedeuten. Die Verantwortlichen gehen straffrei aus oder werden ver- setzt. Amnesty forderte den Uno-Menschenrechtsrat deshalb auf, eine unabhängige Untersuchung dieser Menschenrechtsverletzungen ein- zuleiten. © AI Amnesty-Researcherinnen sprechen bei einem Besuch an der US-Grenze mit HelferInnen und Flüchtlingen. «Terminator» verurteilt insgesamt 2123 Opfer teil, DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO – darunter ehemalige Kinder- Der Internationale Strafgerichts- soldatInnen. Im Jahr 2002 war hof (ICC) in Den Haag hat den Ntaganda, der auch «Terminator» ehemaligen Rebellen-Komman- genannt wurde, Leiter der militäri- danten Bosco Ntaganda wegen schen Operationen in der Rebel- dreizehn Kriegsverbrechen und lengruppe Union der kongolesi- fünf Verbrechen gegen die schen Patrioten, zu der auch Menschlichkeit verurteilt, darun- Thomas Lubanga gehörte. Luban- ter Massaker an ZivilistInnen, die ga wurde im März 2012 vom ICC Rekrutierung von KindersoldatIn- wegen des Einsatzes und der Re- nen sowie Vergewaltigung und krutierung von KindersoldatInnen Sklaverei. Am Prozess nahmen zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Polizist während einer Drogenrazzia in Manila. 7 AMNESTY August 2019
AKTUELL_NACHRICHTEN Klima und Menschenrechte © Sharad Raval / Shutterstock NEW YORK – Am 18. und 19. September wird in New York der erste glo- bale Gipfel zu Menschenrechten und Klimawandel stattfinden. An die- sem «People’s Summit on Climate, Rights and Human Survival» sollen die laufenden Bemühungen um Klimagerechtigkeit verstärkt und mit- einander verknüpft werden; eine vielfältige, breiter abgestützte Bewe- gung soll daraus entstehen. Amnesty International, Greenpeace Inter- national, das Uno-Menschenrechtsbüro sowie weitere Organisationen und Stiftungen werden die Veranstaltung gemeinsam ausrichten. Ziel ist eine menschenrechtsbasierte Klimapolitik. «Echte Lösungen müs- sen den Menschen und seine Grundrechte in den Mittelpunkt stel- len», schreiben Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo und die Gene- ralsekretärin von Greenpeace, Jennifer Morgan, in einem offenen Brief, der von sämtlichen beteiligten Organisationen veröffentlicht wurde. «Die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigen bereits heute unsere Rechte auf Gesundheit, Nahrung, Wasser, Wohnen, Arbeit und sogar das Leben selbst. Diese Auswirkungen sind noch gravierender für Menschen, die sich bereits in gefährdeten Situationen befinden oder von Armut und Unterdrückung betroffen sind.» Indien geht das Wasser aus. Dürreperioden treffen das Land immer häufiger. Gewalt gegen LGBTI* Trainingsflugzeuge in Saudi- HONDURAS – Eine TV-Moderatorin Arabien erbringen darf. Diese und eine LGBTI*-Aktivistin sind Geschäfte kämen einer Unter- JETZT ONLINE unabhängig voneinander in Hon- stützung für die Streitkräfte Sau- duras getötet worden. Beide di-Arabiens und der Vereinigten Erst ja, dann ahh: Mit vier provokativen Videoclips startete trans Frauen wurden von unbe- Arabischen Emirate gleich, wel- Amnesty Schweiz im Juli die Sensibilisierungskampagne gegen sexuelle Gewalt. Die Clips und ein Interview mit der kannten Tätern erschossen. che massgeblich am Krieg gegen Erfolgsregisseurin Barbara Miller. Santiago Carvajal war Moderato- Jemen beteiligt sind. Die Pilatus rin einer TV-Unterhaltungsshow AG will sich gegen den Entscheid AVOSAVIS: Verstehen Sie Französisch? Dann haben Sie und engagierte sich für die Rech- beim Bundesverwaltungsgericht bestimmt auch Freude an unseren Strassenbefragungen te von LGBTI*. Bessy Ferrera wehren. Auch die Geschäftsprü- «AVOSAVIS», die unsere Social-Media-KollegInnen zu war ein prominentes Mitglied der fungskommission (GPK) des Na- aktuellen Themen regelmässig produzieren. Jetzt auf unserem Asociación Arcoíris, die sich tionalrats wird sich an einer ihrer YouTube-Kanal. unter anderem um Opfer von nächsten Sitzungen mit dem Fall #FreeToAct: Die polnische Menschenrechtsverteidigerin homo- oder transphober Gewalt Pilatus befassen. Elżbieta Podleśna hat wegen ihres Aktivismus mehrere kümmert. Laut der Umwelt- und Klagen am Hals (siehe dazu den Text und die Petition im Bürgerrechtsorganisation CO- beiliegenden «In Action»). In einem witzigen Video erzählt PINH sind seit 2009 mindestens sie, wie in Polen mit AktivistInnen umgesprungen wird. 313 LGBTI* in Honduras ermor- det worden. Die Aufklärungsquo- Mein ganzes Leben auf der Flucht: Zehntausende Angehö rige ethnischer Minderheiten im hohen Lebensalter, die sich te ist extrem gering. aufgrund der Gewalttaten des myanmarischen Militärs auf © Christian Beutler/Keystone der Flucht befinden, erhalten keine angemessene humanitäre Dienstleistungen für Versorgung. Das Video «Fleeing my whole life – Older Saudi-Arabien verboten people’s experience of conflict and displacement in Myan SCHWEIZ – Das Departement für mar» bietet in Englisch einen Einblick in die Situation älterer auswärtige Angelegenheiten Flüchtlinge. (EDA) hat Ende Juni entschie- Ein Mitarbeiter in einem Flugzeug Jetzt online unter: www.amnesty.ch/magazin-august19 den, dass die Firma Pilatus AG des Typs Pilatus PC-21, wie er an keine Dienstleistungen mehr für Saudi-Arabien geliefert wurde. 8 AMNESTY August 2019
AKTUELL_BRENNPUNKT DER LANGE ARM DES ERITREISCHEN REGIMES Die Erfahrungen Daniel Mekon- vermutet wird. Auch von ande- © Keystone/Salvatore Di Nolfi nens passen in ein Muster: Im ren Ländern wie Ruanda oder Bericht «Repression Without Iran sind Morde an exilierten Borders» zeigt Amnesty auf, Oppositionellen bekannt. So wie eritreische Oppositionelle weit ist das eritreische Regime auch in Kenia, den USA, nicht gegangen. Die Vorfälle den Niederlanden, Norwegen, aber zeigen: Präsident Afewerki Schweden und Grossbritannien und die PFDJ dulden nach wie Gefahr laufen, von Angehörigen vor keine Kritik an ihrer Politik und SympathisantInnen des und an den Menschenrechts- eritreischen Regimes angegrif- verletzungen im Land – selbst fen zu werden. Betroffene be- dann nicht, wenn diese Kritik richten von tätlichen Angriffen, im vermeintlich sicheren Exil anonymen Drohanrufen und ertönt. Verleumdungskampagnen über soziale Medien. Die Fäden zieht Das passt leider ins Bild, das dabei offenbar die Regierungs- Amnesty von der Menschen- In der Schweiz wohnende Eritreer demonstrieren 2017 in Genf. partei PFDJ (People’s Front for rechtslage in Eritrea hat: Trotz Democracy and Justice): Die Beilegung des Konflikts mit Übergriffe und Bedrohungen Äthiopien und den damit ein- gingen zumeist von Mitgliedern hergegangenen Hoffnungen hat W er das eritreische Regime kritisiert, ist selbst im Exil nicht sicher – auch nicht in der und SympathisantInnen des Jugendflügels der PFDJ aus und wurden wiederholt über das Regime seinen stählernen Griff um Land und Leute nicht gelockert. Von vielen Verhafte- Schweiz. Dies zeigt ein neuer soziale Medien auch von Ange- ten fehlt weiterhin jede Spur. Bericht von Amnesty Interna hörigen des eritreischen Bot- Der Staat kontrolliert nach wie tional: Daniel Mekonnen, der schaftscorps begrüsst und an- vor sämtliche Medien. Und Präsident der Eritrean Law geheizt. Daniel Mekonnen auch am System des zeitlich Society, eines regierungskriti- betrachtet die Übergriffe als unbefristeten «Nationaldiens- schen Verbands eritreischer Teil einer umfassenden Strate- tes», das vielen jungen Eri Anwältinnen und Anwälte, wur- gie der PFDJ, Regimekritikerin- treerinnen und Eritreern jede de 2016 nach einer Uno-Dia- nen und Menschenrechtsver- Perspektive auf ein selbst be- logveranstaltung in Genf von ei- teidiger auch im Ausland zu stimmtes Leben raubt, wird ner Gruppe Demonstrierender bedrängen und so zum Schwei- nicht gerüttelt. Das Bild, das angegriffen, bedroht und be- gen zu bringen. diverse Schweizer Parlamenta- schimpft. Die aufgebrachte rierInnen von Eritrea vermitteln Menge bewarf ihn auf dem Weg Nun ist das eritreische Regime wollen als einem Land, in das zur Busstation mit Flaschen nicht die einzige Diktatur, die die Schweiz viele der Flüchtlin- und Dosen, beschimpfte ihn ihre KritikerInnen auch im Aus- ge wieder bedenkenlos zurück- als Verräter und verfolgte ihn. land verfolgt: Gaddafi schreckte schicken könne, bleibt deshalb Selbst als er Schutz beim vor Jahrzehnten sogar vor Mor- leider ein Zerrbild. Sicherheitspersonal der Uno den nicht zurück, ebenso wenig Reto Rufer suchte, nahmen die Bedrohun- wie das saudische Regime, das gen und Beschimpfungen kein als Auftraggeber des Mords am Ende. Journalisten Jamal Khashoggi 9 AMNESTY August 2019
D ie chinesische Regierung perfek tioniert die Methoden der Pro paganda und Unterdrückung. Heute kommen dank künstlicher Intelligenz ganz neue Mittel hinzu, um die Bevöl kerung in Schach zu halten. Wer sich konform verhält, wird in der Regel nicht weiter behelligt. Wer aber neben Wohlstand auch Freiheit und Demo kratie anstrebt, lebt gefährlich. Der Staat sieht alles Zwischen moderner Medienwelt und klassischer Propaganda: Eine junge Chinesin vor einem Werbe plakat im Vorfeld des Volkskongresses 2019. 10 AMNESTY August 2019
AMNESTY August 2019 11 © KEYSTONE/EP/Roman Pilipey
DOSSIER_CHINA In den Fussstapfen Maos: 2018 hob der chinesische Volkskongress die Beschränkung der Amtszeit für Präsident Xi Jinping auf. Damit kann dieser seine Macht weiter ausbauen. 12 AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA Härter denn je China ist heute die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt. Der Wohlstand hat bisher kein Streben nach Freiheit ausgelöst. Die kommunistische Führung lässt der Bevölkerung auch immer weniger Spielraum. Von Felix Lee, Peking D ie Informationstafeln mit den Wandzeitungen stehen noch. Ebenso die grossen schwarzen Bretter, an denen vor dreissig Jahren Tausende Protestnoten hingen. Heute nisieren, wäre heute fast unmöglich. Der Ort spiegelt damit wider, was das gesamte Land heute ist: ein technologisch hochmoderner, zugleich aber streng kontrollierter Sicher- hängen hier nur Zettel mit Aufschriften wie «Verkaufe heitsstaat. Fahrrad» oder «Suche E-Bike». Doch da die Verständigung In den drei Jahrzehnten seit der Niederschlagung der De- der Studierenden inzwischen fast vollständig über soziale mokratiebewegung ist China von einem armen Entwick- Medien läuft, sind selbst diese Botschaften selten geworden. lungsland zu ¬einer globalen Wirtschaftsmacht aufgestie- Wer den kritischen Geist sucht, der einst die Peking-Univer- gen. Mit einem Wachstum von durchschnittlich neun sität prägte, wird hier, im Westen der chinesischen Haupt- Prozent im Jahr hat sich das Bruttoinlandsprodukt auf heute stadt, nicht fündig. Denn politische Inhalte postet kaum über zwölf Billionen Dollar mehr als verzehnfacht. Auf der noch ein Student. Der Staat liest mit. Liste der grössten Volkswirtschaften nähert sich China 1989 war die Überwachung noch nicht so perfekt. Des- selbst den USA. halb konnte auf diesem Uni-Campus eines der bedeutends- Das wirkt sich auch auf das Leben jedes einzelnen Men- ten politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts seinen An- schen aus. Das durchschnittliche Jahreseinkommen hat sich fang nehmen: die Studierendenproteste, die das Militär im von rund 200 auf mehr als 9600 Dollar erhöht. Lebten 1989 Juni vor dreissig Jahren auf dem Platz des Himmlischen noch rund 70 Prozent der Menschen in China unter der Ar- Friedens (Chinesisch: Tiananmen) niederschlug. Das Re- mutsgrenze von 1,90 Dollar am Tag, ist es heute nur noch gime erkaufte sich damit Jahrzehnte der Ruhe – doch zu eine kleine Minderheit. Bis 2020 wird die absolute Armut in einem hohen Preis. Um auch heute noch politische Ruhe zu China besiegt sein. Damit hat das Land ein Millenniumsziel erzwingen, unternimmt der Überwachungsapparat immer der Vereinten Nationen praktisch allein erreicht: Die Halbie- groteskere Anstrengungen. rung der weltweiten Armut bis 2015. Wer den Campus der Peking-Universität heute besucht, Und auch das Ziel der kommunistischen Führung, bis muss seine Fantasie anstrengen, um sich die Lage im Jahr 2025 technologisch führend zu sein, ist keineswegs aus der 1989 vorzustellen – die Stimmung war völlig anders. Statt Luft gegriffen. Kein Land investiert derzeit so viele Milliar- © AP Photo/Andy Wong der fiebrigen Erregung von damals prägen heute Karriere- den in künstliche Intelligenz, Mikrochips und Industrie streben und Alltagssorgen das Denken der Studierenden. roboter wie die Volksrepublik. Wohlstand für alle gehöre Immerhin gibt es äusserliche Ähnlichkeiten: Der Vorplatz ebenfalls zu den «Menschenrechten», argumentiert die der Prestigeinstitution ist wie einst perfekt gepflegt und mit kommunistische Führung. frisch gepflanzten Geranien geschmückt. Frühling ist vorbei Auch den Studierenden ging Heute unmöglich Doch wer näher hinsieht, ent- es 1989 um Menschenrechte. Doch sie dachten dabei an deckt die Unterschiede. Sicherheitskameras hängen an Meinungsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaat – diese sämtlichen Laternenpfählen. Die wären dem Regime schon Schlagworte verwendet die Führung zwar noch heute, doch 1989 willkommen gewesen. Heute haben sie Funktionen, werden sie ebenso wie die «Menschenrechte» so lange ver- von denen die Geheimdienste damals nur träumen konnten. Sie erkennen Gesichter in der Menge und können sie mit den zahllosen Datenbanken abgleichen, in denen der Staat die Daten der BürgerInnen verwaltet. Einen Protest zu orga- Felix Lee ist China-Korrespondent in Peking. 13 AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA Angriff auf das Menschenrechtssystem die Zensur, duldete Debatten in den sozialen Medien und versprach mehr Rechtsstaat. Neue Medien entstanden, die China habe kein Interesse mehr an einem Menschenrechtsdialog mit Euro- nicht mehr ganz so streng den Vorgaben der Propaganda fol- pa. Vielmehr versuche die Regierung unter Xi Jinping, das bisherige inter- gen mussten. Die Führung dachte, sie könne China und sich nationale Menschenrechtssystem als überholt darzustellen. Das sagt Kat- selbst feiern. Schon war von einem «politischen Frühling» rin Kinzelbach, stellvertretende Direktorin des Global Public Policy Institute die Rede. (GPPi) in Berlin. Sie beobachtet, dass Peking stattdessen eine «Gemein- MenschenrechtsaktivistInnen nutzten diese Öffnung. Sie schaft der geteilten Zukunft» propagiere. In dieser Gemeinschaft gäbe es wagten es sogar, eine «Bürgerrechtscharta» zu verfassen, in Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Offenheit, Respekt, Inklusion, Sauberkeit, der sie das System selbst in Frage stellten. Auch die unter- Schönheit und Harmonie. Gleichzeitig müsste die absolute Souveränität drückten TibeterInnen und UigurInnen erhoben ihre Stim- eines jeden Staates akzeptiert und müssten kulturelle sowie politische Un- men. Der Fackellauf des olympischen Feuers geriet zum terschiede toleriert werden. Xi Jinping trage sein Konzept der «Gemein- Spiessrutenlauf. Weltweit kam es zu Protesten. Chinas Füh- schaft der geteilten Zukunft» in verschiedene internationale Foren und rung blamierte sich. Kurz nach den Spielen war es mit dem seine Gefolgsleute hätten es bereits in mehreren Resolutionen der Verein- «politischen Frühling» vorbei. ten Nationen untergebracht, hielt Katrin Kinzelbach in einem Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» fest. China habe ein eindeutiges Interesse daran, Haft und Hausarrest Eine Reihe von AktivistIn- das bisherige Menschenrechtssystem durch eine neue normative Ordnung nen, die es gewagt hatten, um 2008 herum Kritik zu üben, chinesischer Prägung zu ersetzen. wurden kurz danach zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, China hat bisher verschiedene Uno-Menschenrechtsabkommen unter- darunter auch der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträ- zeichnet, zum Beispiel die Anti-Folter-Konvention, allerdings ohne das zu- ger von 2010, Liu Xiaobo. «Anstiftung zur Untergrabung der gehörige Fakultativprotokoll. Den internationalen Pakt über die bürgerli- Staatsmacht» lautete schliesslich die Klage gegen ihn und chen und politischen Rechte hat China aber nicht ratifiziert. (cas.) andere. 2009 verurteilte ihn ein Volksgericht zu elf Jahren Haft. Seine Frau Liu Xia stellten die Behörden unter Hausar- rest. 2017 starb der Schriftsteller in der Haft. Seit dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping im Jahr dreht, bis sie zum Ziel des Machterhalts passen. Die Wahr- 2013 ging es mit den Menschenrechten weiter steil bergab. heit ist: Peking geht gegen KritikerInnen härter vor als jemals Die Festnahme von rund 300 Rechtsanwälten und Men- zuvor. schenrechtsverteidigerinnen im Juli 2015 markierte einen «Wir sind heute noch weiter von der Demokratie entfernt vorläufigen Tiefpunkt. Seitdem trauen sich JuristInnen mit als 1989», sagt Teng Biao, ein Menschenrechtsanwalt, der ihren Anliegen nur noch selten an die Öffentlichkeit. mit seiner Familie in die USA fliehen musste. Die Nieder- Die Sicherheitskräfte gehen besonders brutal gegen die schlagung der Proteste habe der Wirtschaftsentwicklung muslimische Minderheit der UigurInnen in Xinjiang im nicht geschadet, sondern genützt, lautet seine provokante Nordwesten der Volksrepublik vor. Hatte China seine be- These, mit der er dem üblichen Narrativ einer Verbindung rüchtigten Umerziehungslager aus Maos Zeiten 2015 offizi- zwischen Demokratie und Wohlstand widerspricht. Und die ell für verboten erklärt, wurden sie für muslimische Men- Kommunistische Partei (KP) sitze fester im Sattel als je zu- schen in Xinjiang wieder eingeführt. Niemand kann dort vor, glaubt Teng. sicher sein, nicht plötzlich festgenommen und ohne Ge- Keine Demokratie, dafür aber Wohlstand – die Formel richtsverfahren in ein Lager gebracht zu werden. mag simpel klingen, doch in der Praxis ist das Bild deutlich komplexer. Es gab die kritischen Stimmen durchaus, und es Kaum Kritik Kritik aus dem Ausland verbittet sich die gibt sie heute noch. In den 1990er-Jahren waren es Künstler, Führung. Kritik an Menschenrechtsverletzungen wird gene- Dichterinnen und andere Intellektuelle, die es wagten, die rell als Einmischung in innere Angelegenheiten abgetan. sozialen Verwerfungen zu thematisieren. In den Jahren nach Wirtschaftlich ist China für viele Länder so wichtig gewor- der Jahrtausendwende waren es vor allem Anwältinnen, Jour- den, dass es mit Ausnahme der USA kaum noch ein Staat nalisten und Bloggerinnen, die Kritik am Regime übten. wagt, die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen anzu- Dass vor allem diese Berufsgruppen in Erscheinung tra- prangern. Was die verbliebenen DissidentInnen in China be- ten, lag an einem anderen Grossereignis. Als China 2008 die sonders frustriert, ist, dass sie auch im eigenen Land kaum Olympischen Spiele austrug, wollte die Führung sich gegen- noch wahrgenommen werden. Vorübergehend keimte zwar über der Welt offen und tolerant präsentieren. Sie lockerte die Hoffnung auf, das Internet könnte sich zum Hort der 14 AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA Meinungsfreiheit in China entwickeln. Zwischenzeitlich ver- lagerten sich einige kritische Debatten auch ins Netz. Doch Massenmobilisierung in Hongkong 2009 gelang es der KP-Führung, den Zugang zu Netzwerken Hongkong ist seit Monaten Schauplatz von Grossdemonstrationen. Hun- wie Facebook, Twitter und YouTube zu blockieren. Inzwi- derttausende Menschen protestieren auf der Strasse gegen eine Revision schen hat sie auch die meisten chinesischen Online-Plattfor- des Abschiebegesetzes. Die Protestierenden fürchten, dass aufgrund die- men im Griff. ses Gesetzes China gegenüber kritisch eingestellte Menschen, Menschen- Die Öffnung der Märkte und der zunehmende Wohlstand rechtsverteidigerInnen, JournalistInnen oder NGO-MitarbeiterInnen Ge- haben bisher kein Streben nach Freiheit ausgelöst. Stattdes- fahr laufen, an China ausgeliefert zu werden – in einen Staat, der sich sen hat vor allem die aufstrebende junge Mittelschicht in den kaum an rechtsstaatliche Prinzipien hält und in dem gefoltert wird. Grossstädten schon früh verinnerlicht, dass das persönliche Die Demonstrierenden wurden eingeschüchtert und unter Druck gesetzt. Fortkommen und das der Familie viel wichtiger sind. In Um- Die Polizei ging mit grosser Härte und unverhältnismässiger Gewalt ge- fragen werden als wichtigste Dinge im Leben die Familie, ein gen sie vor. gut bezahlter Job und der Erwerb einer Wohnung genannt. Über diese Gesetzesreform hinaus sind die BürgerInnen Hongkongs be- Die Achtung der Menschenrechte und Demokratie kommen sorgt über die zunehmende Einschränkung der Freiheit durch Peking. allenfalls auf den hinteren Plätzen vor. Einem Grossteil der Nach Ansicht der Demonstrierenden verstösst der Gesetzesentwurf ge- Bevölkerung sind Namen wie Liu Xiaobo oder der seiner gen das Prinzip «Ein Land, zwei Systeme», das seit 1997 mit der Rückgabe Frau Liu Xia nicht bekannt. der ehemaligen britischen Kronkolonie an China herrscht. Peking ver- Die Macht der KP scheint auf absehbare Zeit gefestigt. Sie pflichtete sich damals, die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen bietet einen klaren Deal an: Wirtschaftlich und materiell geht Systeme Hongkongs für einen Zeitraum von 50 Jahren aufrechtzuerhal- es bergauf, dafür zieht das Volk mit. Doch was passiert, wenn ten und das Rechtssystem der Volksrepublik China nicht auf sie anzuwen- Chinas Führung das Versprechen, es werde noch mehr Wirt- den. Das Gebiet von Hongkong geniesst Freiheiten, die im übrigen China schaftswachstum und ein materiell immer besseres Leben unbekannt sind. geben, nicht mehr einlösen kann? Bereits 2014 führten prodemokratische AktivistInnen eine breite Mobili- Dieses Szenario ist durchaus realistisch. Denn für die KP sierungsbewegung an, die als «Regenschirmrevolution» bekannt wurde, ist es sehr viel schwerer geworden, mehr von allem anzubie- da die Demonstrierenden Regenschirme zum Schutz vor Tränengas ver- ten. Der Lebensstandard hat bereits ein hohes Niveau er- wendeten. Sie forderten, den nächsten Verwaltungschef Hongkongs reicht. Zuwächse sind kaum noch zu erzielen. Und um die selbst frei wählen zu dürfen, wie es China 2014 versprochen hatte. Statt- nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, die vergleichbar dessen wurden aber von einem Komitee KandidatInnen bestimmt, die wäre mit der etablierter Industrieländer, braucht es mehr als Peking genehm waren. Seitdem haben die Behörden Hongkongs viele den Bau von noch mehr Fabriken und Hochhäusern. friedliche Demonstrierende verhaftet, meist auf der Grundlage vage for- Die Lage könnte also rasch gefährlich werden für Xi und mulierter Anschuldigungen wie «unbefugte Versammlung» oder «Stö- sein Regime. Dafür hat die KP zwei Instrumente ersonnen, rung der öffentlichen Ordnung». (nbo/mre) um die Lage trotz allem stabil zu halten: Nach innen baut sie © LAM YIK FEI/NYT/Redux/laif den perfekten Überwachungsstaat auf. Und nach aussen wird Chinas Macht durch die Initiative Neue Seidenstrasse gefestigt. Letztere ist ein hochgradig expansives Projekt. Xi bindet ein Land nach dem anderen ein. Was als Handelspro- jekt daherkommt, wird immer mehr zu einer weltweiten Strategie der Macht. Auch die Peking-Universität macht mit, ein Symposium zur Seidenstrasse folgt derzeit dem anderen. In Ideologiekur- sen wird Xi-Jinping-Denken gelehrt – die Veranstaltungen sind Pflicht. Die ehrwürdige Bildungsinstitution, einst Quel- le kritischen Denkens, wird immer mehr zur Gehilfin der Macht. Xi erfüllt sich damit den alten Traum der chinesi- schen Herrscher, die Jugend unter Kontrolle zu bringen. Was den Kaisern, der Republik und den Kommunisten der 80er- Jahre nicht gelungen ist, könnte ihm gelingen – auf Kosten Bunte Regenschirme sind auch 2019 das Symbol der Bewegung – und ein Schutz der Menschenrechte. vor Tränengas. 15 AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA Die Mütter von Tiananmen Seit dreissig Jahren setzen sich die Mütter von Verschwundenen dafür ein, dass die Regierung Verantwortung für die Verbrechen von 1989 übernimmt. Von Bernard Debord 128 ältere Chinesinnen kämpfen dafür, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Die Mütter von Tiananmen wollen, dass endlich aufgeklärt wird, was 1989 auf dem Ti- So auch Ding Zilin, eine kleine Dame, die heute über 80 Jahre alt ist. Die ehemalige Professorin für Philosophie an der Volksuniversität Peking ist zu einem Ärgernis für das Re- ananmen-Platz geschehen ist. Und sie wollen ihre während gime geworden. Sie war nicht begeistert, als ihr damals des Massakers getöteten Angehörigen endlich rehabilitiert 17-jähriger Sohn nach Beginn der Demokratiebewegung im sehen. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 beendete die Frühjahr 1989 beim Ordnungsdienst am Gymnasium mit- chinesische Regierung mit Waffengewalt die Studieren- machte, der die Schüler und Schülerinnen mit Essen und denbewegung, die seit anderthalb Monaten das Herz Pekings Trinken versorgte. Ihr Sohn war eines der ersten Opfer: Er besetzt hatte. Nach dem Vorbild der Madres de la Plaza de wurde von einer Kugel in den Rücken getroffen und starb. Mayo in Argentinien, die sich in den 1980er-Jahren gegen Seine Eltern holten seine Überreste noch in der gleichen die argentinische Diktatur stellten, treffen sich die Tianan- Nacht ab, bevor die Behörden den Krankenhäusern erlaub- men-Mütter öffentlich, mit dem Ziel, dass das Massaker ten, die Leichen zurückzugeben – im Austausch für eine nicht vergessen geht. Sterbeurkunde, die das Datum und die Todesursache weg- liess. Vom Tod ihres Sohnes erholte sich Ding Zilin nie; sie versuchte sechs Mal, sich das Leben © Tiananmen Mothers Campaign zu nehmen. «Kleine Drängeleien» Seit dem Mas- saker wird das Offensichtliche geleugnet. Der General und damalige Stabschef Chi Haotian behauptete, dass «auf dem Platz des Himmli- schen Friedens kein einziger Mensch sein Leben verloren hat», und fügte hinzu: «In der Umge- bung kam es lediglich zu kleinen Drängeleien.» Aufgrund seiner «Verdienste» wurde er später zum Verteidigungsminister befördert. Auch jetzt, dreissig Jahre danach, bleibt die offizielle Version unverändert. Für die «Global Times», die staatliche Tageszeitung, «ist der 4. Juni ein ganz normaler Tag. Das jährliche Getue um den Vorfall ist nur eine Blase, die platzen wird.» Die- ses Getue gibt es nur im Ausland, denn in China Die Gründerinnen der Mütter von Tiananmen, Zhang Xianling (links) und Ding Zilin, im Jahr 2003. 16 AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA wird jede Erwähnung des 4. Juni in der Presse, in der Schule © Jeff Widener/Keystone/AP oder im Internet geahndet und ist faktisch unmöglich – aus- ser eben für die Mütter von Tiananmen. Dieser Realitätsverweigerung wollte Ding Zilin im Sep- tember 1989 gemeinsam mit Zhang Xianling etwas entge- gensetzen. Letztere hat ihren Sohn verloren, der getötet wur- de, als er Fotos von der «Reinigung» des Platzes machte. Bald schloss sich Xu Jue, ein Mitglied der Akademie der Wissen- schaften, der Bewegung an. Ihr verwundeter Sohn starb in einem Krankenhaus, nachdem ihm auf militärischen Befehl hin keine Bluttransfusion gegeben wurde. Gemeinsam ver- suchten die Mütter, die Familien weiterer Opfer zu finden und ihre Namen zu veröffentlichen. Nicht ohne Schwierig- keiten, denn das Regime übte weiterhin Druck aus. Seit 1989 stehen Ding Zilin und ihr Mann unter ständiger Beobach- 30 Jahre Tiananmen-Massaker tung. Die Beschwerde, die Ding Zilin gegen den damaligen Premierminister Li Peng einreichte, dem sie die Verantwor- Vor 30 Jahren sind Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Demonstrie- tung für Hunderte von Todesfällen zuschreibt, führte dazu, rende ums Leben gekommen, als die chinesische Regierung den dass sie von der Universität und von der Kommunistischen friedlichen Protest brutal niederschlug. Partei ausgeschlossen wurde; mehrmals wurde sie unter Be- wachung aus Peking vertrieben. Hunderttausende Chinesen und Chinesinnen, allen voran Studierende, lehnten sich 1989 gegen die kommunistische Diktatur auf. Sie besetzten Die Geister des 4. Juni Ähnliche Belästigungen den Tiananmen-Platz in Peking und forderten Freiheit und Demokratie. Am erleben die anderen Mütter, die sich davon aber nicht entmu- 3. und 4. Juni 1989 löste die Armee die studentischen Proteste gewaltsam tigen lassen. Trotz Telefonüberwachung wagen sie es, aus- auf. Das berühmte Foto vom «Tank Man» ist seither zum Symbolbild für das ländische Medienanfragen zu beantworten und mit exilierten damalige Massaker geworden: Ein Mann, zwei Einkaufstüten in der Hand, chinesischen DemokratInnen zu telefonieren. Seit 1996 steht am 4. Juni 1989 allein auf dem Platz vor einer anrollenden Panzerko- richten sie jedes Jahr einen offenen Brief an die Nationalver- lonne. Er hebt die Hand, und für einen kurzen Moment stoppen die Panzer. sammlung, in welchem sie eine öffentliche Untersuchung Der Mann wurde schliesslich von anderen Demonstrierenden weggezogen. der Repression verlangen wie auch das Recht, in der Öffent- Ob und wie viele Menschen auf dem Tiananmen-Platz selbst getötet wur- lichkeit der Toten zu gedenken. Ausserdem sollen die Ver- den, ist bis heute ungeklärt. In anderen Teilen der Stadt seien gemäss antwortlichen verurteilt werden und die Ereignisse Eingang einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 1990 zwischen in die Geschichtsbücher finden. mehreren Hundert und mehreren Tausend Menschen umgekommen. Im vergangenen Jahr zitierten die Mütter in ihrem offe- Presseberichte, die sich auf Quellen im chinesischen Roten Kreuz berie- nen Brief den Staatspräsidenten Xi Jinping mit seinen eige- fen, nannten 2600 Tote unter den Aufständischen und dem Militär und nen Worten: «Am Ende unseres Lebens hoffen wir, die Reha- rund 7000 Verletzte im Laufe der Woche in ganz Peking. bilitierung unserer Lieben vor unserem Tod zu erleben. Wir Die Regierung hat bis heute keine Verantwortung für die während des Mi- fordern Wahrheit, Verantwortlichkeit und Entschädigung für litäreinsatzes begangenen Menschenrechtsverletzungen übernommen, die Familien der Opfer.» Viele dieser Forderungen an die Be- und es wurde keiner der damals Verantwortlichen je zur Rechenschaft ge- hörden sind auf ihrer Website veröffentlicht und natürlich in zogen. Im Gegenteil: Die chinesischen Behörden zensieren weiterhin syste- China zensiert – aber in anderen Teilen der Welt sind sie zu- matisch jede Bezugnahme auf das Vorgehen des Militärs und schikanieren, gänglich. unterdrücken und verfolgen Personen strafrechtlich, die der Opfer der Nie- Peking gefiel es gar nicht, als die Welt erfuhr, dass der derschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz gedenken. 1993 kurzzeitig entlassene Dissident Wei Jingsheng seinen In den Wochen vor dem 30. Jahrestag der Niederschlagung der Tianan- ersten Besuch Ding Zilin abgestattet hatte. Im Jahr 2010 war men-Proteste haben chinesische Behörden Dutzende AktivistInnen be- es der Schriftsteller Liu Xiaobo, der in einer Botschaft, die er droht, inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt, um ein öffentliches Ge- aus dem Gefängnis nach Stockholm schickte, seinen Frie- denken zu verhindern. So wurde unter anderem auch Ding Zilin wieder densnobelpreis Ding Zilin und den «Geistern des 4. Juni» dazu gezwungen, Peking zu verlassen und in ihre mehr als 1100 Kilometer widmete. entfernte Heimatstadt zu reisen. (mre) 17 AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA Chinas Führung plant, bis 2020 alle grösseren Plätze des Landes mit Kameras zur Gesichts erkennung auszustatten. Die Daten fliessen in ein ausgefeiltes System sozialer Kontrolle. Von René Raphaël und Ling Xi, Rongcheng Der dressierte Mensch A n einer ruhigen Strasse in der Nähe des Volkskranken- hauses Nr. 1 in Hangzhou steht eine alte Frau auf dem Trottoir. Als sich ein Mittelklassewagen nähert, wirft sie sich den Bürger und jede Bürgerin einen Punktestand gebe: «So weit sind wir noch nicht, auch wenn wir über die gewöhnli- che Bonitätsprüfung hinausgehen. Im Laufe der Zeit werden auf die Kühlerhaube, springt hoch, setzt sich dann auf den alle Arten von Informationen über eine Person oder eine Or- Boden und rührt sich nicht mehr. Der junge Fahrer steigt ganisation gesammelt. Damit können vor allem unbescholte- zitternd aus seinem Auto. Eine Stunde lang wird verhandelt. ne Bürger oder Firmen, die bislang keine Nachweise über Am Ende einigt man sich auf eine Entschädigung. ihre Solvenz erbringen konnten, dank neuen Kriterien Kredi- Bei dem Vorfall handelt es sich um einen vorgetäuschten te bekommen, sich auf Ausschreibungen bewerben und viele Unfall, auf Chinesisch «peng ci». Wörtlich übersetzt heisst andere Dinge mehr.» dies «Porzellan anfassen», gemeint ist ein Erpressungsver- Das Sozialkreditsystem wird bis 2020 in 43 Pilotgemein- such. In den sozialen Medien wimmelt es nur so von «peng- den erprobt. Fast alle sammeln Informationen über soziale ci»-Videos, manche sind eher witzig, viele dramatisch. Auf- Netzwerke oder Smartphone-Apps, nutzen aber auch eine grund von Betrügereien aller Art, Skandalen um Lebensmittel zunehmend ausgefeiltere Videoüberwachung. Im Zuge des und gefälschte Produkte sind Massnahmen gegen Trickserei- Programms «Himmelsnetz» sollen bis 2020 alle grösseren en daher hochwillkommen. Ein guter Zeitpunkt also, um ein städtischen Plätze mit Kameras zur Gesichtserkennung aus- sogenanntes Sozialkreditsystem für vorbildliches Betragen gestattet werden. einzuführen. «Ein Gefühl der Sicherheit ist das beste Geschenk, das ein Land seinen Bürgern machen kann», erklärte Präsident Xi Belohnen und bestrafen Seit Sommer 2018 ste- Jinping in einer Dokumentation des Nationalfernsehens im hen die Worte «Ehrlichkeit» («cheng») und «Glaubwürdigkeit» Vorfeld des 19. Parteitags der Kommunistischen Partei Chi- («xin») ganz gross auf den Propagandaplakaten, mit denen das nas im Oktober 2017. Im Film hiess es, fast jede zweite Über- Sozialkreditsystem beworben wird. Staatliche und private Stel- wachungskamera weltweit stehe in China. len sammeln Daten zur Bewertung von BürgerInnen, Funktio- närInnen, Unternehmen und ganzen Branchen. Ziel ist es, die 1000 Punkte Startguthaben Willkommen in Guten zu belohnen und die Schlechten zu bestrafen. Rongcheng, einem Ort, der ursprünglich für Fischerei und Zu den Entwicklern des Punktesystems zählt der Pekinger Wohnwagenfirmen bekannt war. Bei unserem Besuch fällt Forscher Lin Junyue. Er bestreitet, dass es schon jetzt für je- auf, dass der Park rund um das Bürgeramt am Spätnachmit- 18 AMNESTY August 2019
© REUTERS/Thomas Peter DOSSIER_CHINA Graffiti geben Abzug In den Dörfern ist die Wirk- samkeit des Sozialkreditsystems noch stärker sichtbar. In Dongdao Lu Jia, einem hübschen Örtchen mit frisch asphal- tierten Gassen, erhielten die EinwohnerInnen im Juli 2018 ein zwölfseitiges Verzeichnis aller verdienstvollen oder uner- wünschten Tätigkeiten. Darin heisst es, dass man einen Punkt bekommt, wenn man zum Beispiel die Obstbäume des Nachbarn schneidet, ein Auto aus dem Graben zieht oder einen alten Menschen ins Krankenhaus oder auf den Markt begleitet. Wer hingegen seine Hühner frei herumlaufen lässt, muss 200 Yuan Strafe zahlen und verliert zehn Punkte. Eine Prügelei kostet 1000 Yuan und zehn Punkte. Für regie- rungskritische Graffiti oder Aufkleber sind 1000 Yuan und 50 Punkte fällig. Die höchste Strafe erhalten diejenigen, die sich direkt auf höherer Ebene beschweren, ohne zuvor den Alles im Blick: Überwachungsbild einer Softwarefirma in Peking. Dorfvorsteher zu konsultieren: 1000 Yuan Strafe und soforti- ge Herabstufung in Kategorie B. Der 64-jährige Liu Jian Yi hat viele Jahre auf verschiedenen Baustellen im ganzen Land gearbeitet, jetzt wohnt er wieder in dem grauen Steinhaus, in dem er geboren wurde. «Ich habe gerade den Kamin eines Nachbarn repariert. Wenn ich das unserem Parteichef melde, mein Freund es bestätigt und tag fast verlassen ist. Ein altes Paar erklärt uns den Grund: ein Foto vorlegt, dann müsste ich einen Punkt bekommen.» «Jetzt läuft im Fernsehen gerade ‹Das Leben des Volkes in Durchs Nachbardorf Ximu Jia mit seinen 250 Einwoh- 360 Grad›, und die meisten Leute schauen sich das an.» Täg- nern fliesst ein Fluss. Ein Häuschen, das von glitzernden lich sendet das Lokalfernsehen eine Zusammenstellung aller Scherben umgeben ist, trägt auf dem Betondach ein grosses Fehltritte, die innerhalb der vorangegangenen 24 Stunden rotes Kreuz. Es handelt sich um die protestantische Kirche. von den Überwachungskameras aufgezeichnet wurden. In Eine untersetzte Frau mit Kurzhaarschnitt erscheint auf der Rongcheng wurde das Sozialkreditsystem 2013 eingeführt. Schwelle. Über ihrer Tür hängt ein Emailleschild mit der Die Folge war ein merkbarer Wandel im Verhalten und in Aufschrift: «Familie mit vorbildlichem Sozialkredit». den sozialen Interaktionen. Frau Mu räuspert sich und erzählt: «Das ist jetzt drei Jahre Alle Einwohner bekamen zu Beginn ein Guthaben von her. Beamte haben den Ostteil des Dorfs ausgezeichnet – 1000 Punkten und lagen damit automatisch in der Kategorie ohne bestimmten Grund. Dieses Jahr wurde es ernster. Wir A. In der Folge konnten sie entweder Punkte gewinnen und in bekamen alle ein Büchlein, in dem stand, was man zu tun die Kategorie A+ aufsteigen oder Punkte verlieren und in die und zu lassen habe, es war wie in der Schule. Dazu die Kon- Kategorien B, C oder D abrutschen. Schon mit dem Verlust taktadresse der Stelle, der wir unsere guten Taten berichten eines Punkts, also bei einem Kontostand von 999, war Kate- und dafür Punkte einfordern sollten.» gorie B erreicht, was bedeutet, dass man von der Bank keinen Ihr Name steht nicht auf der aktuellen Liste der guten Sa- Immobilienkredit mehr erhält. Wer Müll auf der Strasse lie- mariterInnen, die im Hof des Gemeindezentrums hängt. gen lässt, büsst drei Punkte ein. Deshalb sind die Busse und «Ich bin noch nicht so weit, dass ich sie anrufe, nur weil ich Trottoirs extrem sauber, man sieht nirgendwo eine Zigaret- meiner Nachbarin geholfen habe.» Sie flüstert: «Ich habe tenkippe oder eine leere Getränkedose herumliegen. Zahlrei- eine Freundin, deren Mann einen Kredit nicht pünktlich zu- che Überwachungskameras ersetzen die Streifenpolizei. rückgezahlt hat. Er hat nur einen Monat ausgesetzt und kam In vielen Stadtvierteln wurden Verhaltensregeln aufge- auf eine schwarze Liste. Alle Nachbarn wussten Bescheid. stellt und von den AnwohnerInnen unterzeichnet. Die wich- Das hat vielleicht nichts miteinander zu tun, aber sie haben tigsten Verbote betreffen erotische Filme oder Bücher, Urban sich dann getrennt.» Gardening im öffentlichen Raum, den Besuch unregistrier- Dieser Text ist zuerst erschienen in: ter Kirchen, den rüden Umgang mit NachbarInnen und das «Le Monde diplomatique» (Hg.), LMd vom 10.01.2019, Berlin (taz Verlag) 2019, «Der dressierte Mensch» von René Raphaël und Ling Xi. Posieren in Luxuswagen bei Hochzeiten oder Begräbnissen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. 19 AMNESTY August 2019
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