AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...

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AMNESTY
                                                                                      Nr. 99
                                                                                August 2019

MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE

                 CHINA:
                 AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE

BRASILIEN               ÜBERWACHUNG                    SEXUELLE GEWALT
Bolsonaro macht Ernst   Der Spion in der Hosentasche   Die Macht eines Wortes
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SPINAS CIVIL VOICES

                                                               #StoppSexuelleGewalt

                      Sex braucht die Zustimmung von beiden.
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Titelbild                                                                                                                                                                   INHALT_AUGUST 2019
Mit der Gesichtserkennungstechnologie des staatlichen
Herstellers Hikvision können ChinesInnen auf Schritt und Tritt
überwacht werden.
© KEYSTONE/AP/NG HAN GUAN

        AKTUELL                                                                                                           THEMA
4       Good News                                                                                                 24       Brasilien
6       Aktuell im Bild                                                                                                    «Es ist surreal»
7       Nachrichten		                                                                                             27       Überwachung
                                                                                                                           Der Spion in der Hosentasche
9       Brennpunkt
        Der lange Arm des eritreischen Regimes                                                                    30       Nepal
                                                                                                                           Schwierige Rückkehr ins Zivilleben
                                                                                                                  32       Sexuelle Gewalt
                                                                                                                           Ein Wort mit Wirkung
        DOSSIER
        China:
        Auf dem Weg zur totalen Kontrolle

                                                                                                                                                              Nur ein Ja ist ein Ja.

                                                                                                                          KULTUR
                                                                                                                  35       Buch
10      Der Staat sieht alles
                                                                                                                           Ein Leben im Zeitraffer
12      Härter denn je                                                                                            36       Buch
        Chinas Wohlstand bringt keineswegs Demokratie.                                                                     In der Hölle von Kivu
16      Die Mütter von Tiananmen                                                                                  37       Film
        128 ältere Damen legen sich mit dem Regime an.                                                                     Der nackte König
18      Der dressierte Mensch                                                                                     38       Ausstellung
        Ein System totaler Kontrolle erzieht zu «guten BürgerInnen».                                                       Beobachterin in Putins Reich

20      Im Land der unsichtbaren Lager
        Die muslimischen UigurInnen werden systematisch
        diskriminiert.
                                                                                                                          CARTE BLANCHE
22      «Das System hat viele Risse»
        Interview mit Filmemacher Popo Fan über Homosexualität 		                                                 39       Adrienne Fichter
        und LGBTI*-Filme in China.                                                                                         Digitale Bürgerrechte statt Techno-Diktatur

Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 99, August 2019. Redaktion: Carole Scheidegger (cas, verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). MitarbeiterInnen dieser Nummer: Ulla Bein,
Nadia Boehlen, Bernard Debord. Adrienne Fichter, Noëmi Grütter, Hannah El-Hitami, Julie Jeannet, Felix Lee, Emilie Mathys, René Raphaël, Reto Rufer, Ling Xi. Korrektorat: Doris Yannick Héritier, Bern.
Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-
amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 18. Oktober 2019. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sek­tion von
Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unterstützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty Inter­national,
Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktions­adresse: Magazin «AMNESTY», Redak­tion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22,
E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 82 000 (dt.).

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                                                                                                                                                                                                           3
AMNESTY August 2019
AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N

                                             37 Länder haben China Mitte
                                             Juli dafür gelobt, wie das Land
                                             mit der muslimischen Minder-
                                             heit in der Region Xinjiang um-
                                             gehe. Das ist eine erstaunliche
                                             Sicht auf die Dinge, denn
                                                                                      GOO                Amnesty-Auszeichnung an Greta Thunberg
                                                                                                         WELTWEIT − Amnesty International ehrt die Klimaaktivistin Greta Thun-
                                                                                                         berg und die SchülerInnenbewegung Fridays for Future mit dem Am-
                                                                                                         bassador of Conscience Award 2019. «Wir sind begeistert und inspi-
                                                                                                         riert von der Entschlossenheit, mit der diese jungen Aktivistinnen und
                                                                                                         Aktivisten auf der ganzen Welt uns auffordern, uns der Realität der Kli-
                                                                                                         makrise zu stellen», begründet Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo
                                                                                                         die Wahl. «Die Menschenrechte und die Klimakrise gehen Hand in
                                                                                                         Hand. Wir können die eine Krise nicht lösen, ohne die andere mitzu-
                                             Schätzungen zufolge sind im                                 denken», so Preisträgerin Greta Thunberg an der Feier. Mit der Aus-
                                             betreffenden Gebiet etwa eine                               zeichnung Ambassador of Conscience (BotschafterIn des Gewissens)
                                                                                                         ehrt Amnesty International seit 2003 Persönlichkeiten oder Bewegun-
               Million Menschen in Umerziehungslagern einge-
                                                                                                         gen, die die Menschenrechte fördern, Ungerechtigkeit aufzeigen und
               sperrt. Der Lobgesang, unter anderem von Nordkorea,                                       mit ihrem Einsatz andere inspirieren.
               Saudi-Arabien oder Russland, steht in einem Brief an
                                                                               © Amnesty International
               den Präsidenten des Uno-Menschenrechtsrats. Er ist
               die Antwort auf einen früheren Brief von 22 anderen
               Staaten, die das Vorgehen der chinesischen Regie-
               rung gegen die Uigurinnen und Uiguren in Xinjiang
               scharf kritisiert hatten. Dass die euphorische Reak­
               tion der 37 Staaten gänzlich ohne Anregung aus Pe-
               king erfolgte, darf bezweifelt werden. Das Beispiel
               zeigt, wie die Regierung unter Xi Jinping den Druck
               gegen aussen und innen hochhält. Mit dem Projekt
               der «neuen Seidenstrasse» ist der chinesische Ein-
               fluss auch bei uns deutlich zu spüren.
               Gegenüber der eigenen Bevölkerung perfektioniert
               die Regierung den Überwachungsstaat. Möglich                                              Greta Thunberg mit Kumi Naidoo, dem Generalsekretär von Amnesty International.
               macht dies der Ausbau der künstlichen Intelligenz.
                                                                                                         Only yes means yes!                      nien und Portugal werden ähnli-
               Unzählige Kameras und Gesichtserkennungssysteme                                           GRIECHENLAND – Die griechische           che Gesetzesanpassungen dis-
               verfolgen die Spuren der rund 1,3 Milliarden Chine-                                       Regierung hat am 6. Juni 2019            kutiert. In der Schweiz führt
                                                                                                         entschieden, das Strafrecht so           Amnesty Schweiz derzeit eine
               sen und Chinesinnen.
                                                                                                         anzupassen, dass Sex ohne Ein-           Kampagne gegen sexuelle Ge-
               Eine abweichende Meinung zu äussern, das ist unter                                        willigung als Vergewaltigung an-         walt und für eine Änderung des
               diesen Umständen natürlich schwierig. Und doch                                            erkannt wird. Die Istanbul-Kon-          Strafgesetzbuchs (siehe beilie-
                                                                                                         vention, die Griechenland im             gendes «In Action»).
               gibt es mutige Stimmen, die sich nicht einschüchtern                                      Juni 2018 ratifiziert hat, besagt,
               lassen, so wie die «Mütter von Tiananmen» oder die                                        dass Vergewaltigungen und an-            Homosexualität
                                                                                                         dere sexuelle Handlungen ohne            entkriminalisiert
               Organisatoren des Queer Film Festival in Peking.
                                                                                                         Einwilligung als Straftaten einzu-       BOTSWANA/ANGOLA – Positiver
                                                                                                        stufen sind. Auch Dänemark hat           Trend in Afrika: Im Juni 2019 hat
                       Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin                                   Reformen angekündigt, in Spa­            Botswana beschlossen, einver-

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                                                                                                                                                                      AMNESTY August 2019
AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_GOOD NEWS

D NEWS                    nehmliche gleichgeschlechtliche
                          Beziehungen zu entkriminalisie-
                          ren. Zuvor drohten dafür Freiheits-
                          strafen von bis zu 7 Jahren. Im
                          Januar schaffte auch Angola die
                          Bestrafung von Homosexualität ab
                                                                  Keine Hinrichtung von Murtaja Qureiris
                                                                  SAUDI-ARABIEN – Zehn Jahre alt war Murtaja Qureiris, als er bei einer
                                                                  Fahrraddemo in Saudi-Arabien für Menschenrechte demonstrierte.
                                                                  Drei Jahre später, im September 2014, wurde er festgenommen, bei
                                                                  der Befragung geschlagen und schliesslich zum Tode verurteilt. Qurei-
                                                                  ris wird nicht wie be-
                                                                                                                                                                         IN KÜRZE
                                                                                                                                                                         FRANKREICH – Der junge Men­
                                                                                                                                                                         schenrechtsverteidiger Tom Ciot­
                                                                                                                                                                         kowski hatte dokumentiert, wie
                                                                                                                                                                         die französische Bereitschafts­

                                                                                                                                                   © Private
                          – 133 Jahre nach Einführung des         fürchtet hingerichtet.                                                                                 polizei Freiwillige daran hinderte,
                          entsprechenden Ge­setzes in der         Stattdessen wurde er zu                                                                                Essen an Flüchtlinge und Mig­
                          portugiesischen Kolonialzeit. Hier      12 Jahren Haft verur-                                                                                  rantInnen zu verteilen. Ihm droh­
                          ging das Oberste Gericht noch           teilt. Es ist und bleibt in-                                                                           ten fünf Jahre Gefängnis. Am
                          weiter: Fortan wird in dem Land         akzeptabel, dass die                                                                                   20. Juni wurde er freigesprochen.
                          jegliche Diskriminierung von Ho-        saudischen Behörden
                          mosexuellen unter Strafe gestellt.      die Todesstrafe für                                                                                    MAROKKO – Am 5. April 2019
                          Auch in Namibia wächst die              einen Teenager über-                                                                                   wurde der Menschenrechtsvertei­
                          LGBTI*-Bewegung und hofft auf           haupt in Betracht gezo-                                                                                diger Zine El Abidine Erradi nach
                          eine baldige Abschaffung des            gen haben. Die Todes­                                                                                  Verbüssen einer einjährigen Haft­
                          «Sodomie-Gesetzes». In etwa ­           strafe für Minderjährige                                                                               strafe aus dem Gefängnis in Aga­
                          25 Ländern südlich der Sahara           ist eine eklatante Verlet-                                                                             dir entlassen. Der Haft war ein
                          wird Homosexualität weiterhin kri-      zung des internationa-                                                                                 unfaires Gerichtsverfahren voraus­
                          minalisiert, zum Teil unter Andro-      len Rechts.                                                                                            gegangen. Zine El Abidine Erradi
                          hung der Todesstrafe.                                                Murtaja Qureiris wird nicht hingerichtet.                                 wollte nach dem Tod seines Vaters
                                                                                                                                                                         seine Familie besuchen und wur­
                                                                  Oyub Titiev endlich frei                                                                               de in Marokko inhaftiert. Am
© Amnesty International

                                                                  RUSSLAND – Am 10. Juni hat ein Gericht entschieden, dass der                                           15. Mai konnte er endlich sicher
                                                                  tschetschenische Menschenrechtsverteidiger Oyub Titiev nach über                                       nach Frankreich zurückkehren.
                                                                  einem Jahr Haft auf Bewährung freikommt. Am 9. Januar 2018 war
                                                                  Titiev von der Polizei in seinem Wagen gestoppt und mehrere Stunden                                    VENEZUELA – Der venezolanische
                                                                  ohne Kontakt zur Aussenwelt festgehalten worden. Die tschetscheni-                                     Oppositionsabgeordnete Gilber
                                                                  schen Behörden gaben später an, dass in seinem Auto Drogen «ge-                                        Caro wurde am 17. Juni aus der
                                                                  funden» worden seien. Titiev stritt die Vorwürfe ab und bestand da­                                    Haft entlassen – kurz vor dem
                                                                  rauf, dass man ihm die Drogen untergeschoben habe. Dennoch wurde                                       Besuch der Uno-Hochkommissa­
                                                                  er zu vier Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Titiev ist der Leiter                         rin für Menschenrechte Michelle
                                                                  des tschetschenischen Büros der Menschenrechtsorganisation                                             Bachelet. Er war willkürlich in­
                                                                  Memorial.                                                                                              haftiert und anschliessend ohne
                          Oyub Titiev während seines Prozesses.                                                                                                          Kontakt zur Aussenwelt in Haft
                                                                                                                                                                         gehalten worden. Die Behörden
                          Ein bisschen Gerechtigkeit und Schutz
                                                                                                                                                   © WIKIMEDIA Ruptura

                                                                                                                                                                         hatten zunächst bestritten, sein
                          MEXIKO – Am 20. Februar wurde Samir Flores Soberanes                                                                                           Schicksal und seinen Aufent­
                          vor seiner Haustür durch vier Schüsse getötet. Zuvor hatte                                                                                     haltsort zu kennen.
                          er Morddrohungen erhalten, die im Zusammenhang mit
                          seiner Menschenrechtsarbeit standen. Soberanes war Mit-                                                                                        USA – Am 30. Mai 2019 stimmte
                          glied der Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra y del                                                                                      der Senat von New Hampshire
                          Agua de Morelos (FPDTA), einer NGO, die sich für den Um-                                                                                       für die Abschaffung der Todes­
                          weltschutz in den südöstlichen Bundesstaaten Morelos,                                                                                          strafe. Damit hat die Hälfte der
                          Puebla und Tlaxcala einsetzt. Im Juni hat nun der General-                                                                                     amerikanischen Bundesstaaten
                          bundesanwalt des Bundesstaats Morelos endlich ein Er­                                                                                          die Todesstrafe entweder abge­
                          mittlungsverfahren eingeleitet. Für mehrere Mitglieder der                                                                                     schafft oder ein Hinrichtungsmo­
                          Umweltschutzorganisation sollen ausserdem Sicherheits-                                                                                         ratorium beschlossen.
                          massnahmen ergriffen werden.                                          Samir Flores Soberanes bei einem Radiointerview.

                                                                                                                                                                                                               5
                      AMNESTY August 2019
AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_IM BILD

                                                                                                                                                      © Grossinger / shutterstock.com
       USA – Trumps Null-Toleranz-Politik trifft die Jüngsten: In den US-amerikanischen Lagern für aufgegriffene MigrantInnen entlang der Grenze zu
       Mexiko bestehen offenbar unhaltbare Zustände: US-AnwältInnen, die die ansonsten abgeschirmten Einrichtungen im Juni besuchen konnten,
       sprachen davon, dass Hunderte Kinder und Jugendliche unter massiver Vernachlässigung, Krankheiten und Unterversorgung litten. Ältere
       Kinder müssten sich um die jüngeren kümmern, es fehle an allem. Inzwischen stimmte das US-Repräsentantenhaus, in welchem die demokra-
       tische Partei die Mehrheit hat, für die Freigabe von 4,5 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern für die MigrantInnen an der Grenze zu Mexiko. Die
       grosse Mehrheit der republikanischen Abgeordneten war dagegen.

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AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_NACHRICHTEN

                                       HelferInnen schikaniert                                                              Ntaganda weist die Vorwürfe zu-            setzte damit dem faktischen Mo-
                                       USA – Die US-Regierung schikaniert und bedroht Menschen, die sich                    rück und wird voraussichtlich              ratorium für die Todesstrafe ein
                                       an der Grenze zwischen den USA und Mexiko für Migrantinnen, Mig-                     Berufung einlegen.                         Ende. Im Juni 2019 wurde nun
                                       ranten und Asylsuchende einsetzen. Mit der Androhung strafrecht­                                                                bekannt, dass die Exekution von
                                       licher Verfolgung werden MenschenrechtsverteidigerInnen systema-                     Wiederaufnahme von                         13 zum Tode Verurteilten vor­
                                       tisch und rechtswidrig eingeschüchtert. Die Behörden würden unter                    Hinrichtungen?                             bereitet werde. Am 5. Juli 2019
                                       anderem die Grenzkontrollen missbrauchen, um die HelferInnen ohne                    SRI LANKA – Seit 1976 wurden in            entschied jedoch der oberste
                                       richterlichen Beschluss zu durchsuchen, wie Betroffene berichten. Sie                Sri Lanka keine Hinrichtungen              Gerichtshof, dass die Hinrichtun-
                                       müssten sich Leibesvisitationen unterziehen, würden zu ihren finanzi-                mehr vollzogen. Im Juli 2018               gen nicht stattfinden dürfen, bis
                                       ellen und beruflichen Kontakten verhört und müssten ihre elektroni-                  aber kündigte Präsident Maithri-           die Rekurse gegen die Urteile
                                       schen Geräte abgeben, damit diese durchsucht werden könnten. Ziel                    pala Sirisena an, dass zum Tod             vollumfänglich geprüft wurden.
                                       der Massnahmen ist es offensichtlich, unter dem Vorwand mutmassli-                   verurteilte DrogenhändlerInnen             Das dafür zuständige Gericht
                                       cher Straftaten wie Menschenschmuggel eine Anklage gegen sie zu                      hingerichtet werden sollen; er             wird am 29. Oktober 2019 tagen.
                                       konstruieren. Verantwortlich sind vor allem das US-amerikanische
                                       Heimatschutz- und das Justizministerium.                                             Mörderischer Krieg gegen Drogen
                                                                                                                            PHILIPPINEN – Drei Jahre nach dem Beginn des sogenannten Anti-
© Alli Jarrar/ Amnesty International

                                                                                                                            Drogen-Kriegs der philippinischen Regierung nimmt die Zahl der
                                                                                                                            Opfer aussergerichtlicher Tötungen weiter dramatisch zu, wie Amnesty
                                                                                                                            International in einem Bericht von Anfang Juli dokumentiert. Unter
                                                                                                                            den Getöteten sind vor allem Menschen aus den armen Stadtvierteln
                                                                                                                            und Regionen des Landes. Auf der Grundlage von konstruierten
                                                                                                                            Namenslisten verhaftet und erschiesst die Polizei willkürlich angebli-
                                                                                                                            che DrogenhändlerInnen und Süchtige. Lokale Behörden stehen unter
                                                                                                                            Druck, möglichst viele Namen auf die Listen zu setzen. Mit fatalen Fol-
                                                                                                                            gen: Schon eine einzige unbewiesene Anschuldigung kann den Tod
                                                                                                                            bedeuten. Die Verantwortlichen gehen straffrei aus oder werden ver-
                                                                                                                            setzt. Amnesty forderte den Uno-Menschenrechtsrat deshalb auf, eine
                                                                                                                            unabhängige Untersuchung dieser Menschenrechtsverletzungen ein-
                                                                                                                            zuleiten.
                                                                                                                     © AI

                                       Amnesty-Researcherinnen sprechen bei einem Besuch an der US-Grenze mit
                                       HelferInnen und Flüchtlingen.

                                       «Terminator» verurteilt                insgesamt 2123 Opfer teil,
                                       DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO –         darunter ehemalige Kinder­-
                                       Der Internationale Strafgerichts-      ­sol­da­tInnen. Im Jahr 2002 war
                                       hof (ICC) in Den Haag hat den           Ntaganda, der auch «Terminator»
                                       ehemaligen Rebellen-Komman-             genannt wurde, Leiter der militäri-
                                       danten Bosco Ntaganda wegen             schen Operationen in der Rebel-
                                       dreizehn Kriegsverbrechen und           lengruppe Union der kongolesi-
                                       fünf Verbrechen gegen die               schen Patrioten, zu der auch
                                       Menschlichkeit verurteilt, darun-       Thomas Lubanga gehörte. Luban-
                                       ter Massaker an ZivilistInnen, die      ga wurde im März 2012 vom ICC
                                       Rekrutierung von KindersoldatIn-        wegen des Einsatzes und der Re-
                                       nen sowie Vergewaltigung und            krutierung von KindersoldatInnen
                                       Sklaverei. Am Prozess nahmen            zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt.           Ein Polizist während einer Drogenrazzia in Manila.

                                                                                                                                                                                                           7
                                   AMNESTY August 2019
AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_NACHRICHTEN

                                                                                                                    Klima und Menschenrechte

                                                                                    © Sharad Raval / Shutterstock
                                                                                                                    NEW YORK – Am 18. und 19. September wird in New York der erste glo-
                                                                                                                    bale Gipfel zu Menschenrechten und Klimawandel stattfinden. An die-
                                                                                                                    sem «People’s Summit on Climate, Rights and Human Survival» sollen
                                                                                                                    die laufenden Bemühungen um Klimagerechtigkeit verstärkt und mit-
                                                                                                                    einander verknüpft werden; eine vielfältige, breiter abgestützte Bewe-
                                                                                                                    gung soll daraus entstehen. Amnesty International, Greenpeace Inter-
                                                                                                                    national, das Uno-Menschenrechtsbüro sowie weitere Organisationen
                                                                                                                    und Stiftungen werden die Veranstaltung gemeinsam ausrichten. Ziel
                                                                                                                    ist eine menschenrechtsbasierte Klimapolitik. «Echte Lösungen müs-
                                                                                                                    sen den Menschen und seine Grundrechte in den Mittelpunkt stel-
                                                                                                                    len», schreiben Amnesty-Generalsekretär Kumi Naidoo und die Gene-
                                                                                                                    ralsekretärin von Greenpeace, Jennifer Morgan, in einem offenen
                                                                                                                    Brief, der von sämtlichen beteiligten Organisationen veröffentlicht
                                                                                                                    wurde. «Die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigen bereits
                                                                                                                    heute unsere Rechte auf Gesundheit, Nahrung, Wasser, Wohnen,
                                                                                                                    Arbeit und sogar das Leben selbst. Diese Auswirkungen sind noch
                                                                                                                    gravierender für Menschen, die sich bereits in gefährdeten Situationen
                                                                                                                    befinden oder von Armut und Unterdrückung betroffen sind.»
       Indien geht das Wasser aus. Dürreperioden treffen das Land immer häufiger.
                                                                                                                    Gewalt gegen LGBTI*                                                Trainingsflugzeuge in Saudi-
                                                                                                                    HONDURAS – Eine TV-Moderatorin                                     Arabien erbringen darf. Diese
                                                                                                                    und eine LGBTI*-Aktivistin sind                                    Geschäfte kämen einer Unter-
       JETZT ONLINE                                                                                                 unabhängig voneinander in Hon-                                     stützung für die Streitkräfte Sau-
                                                                                                                    duras getötet worden. Beide                                        di-Arabiens und der Vereinigten
          Erst ja, dann ahh: Mit vier provokativen Videoclips startete
                                                                                                                    trans Frauen wurden von unbe-                                      Arabischen Emirate gleich, wel-
        Amnesty Schweiz im Juli die Sensibilisierungskampagne
        gegen sexuelle Gewalt. Die Clips und ein Interview mit der                                                  kannten Tätern erschossen.                                         che massgeblich am Krieg gegen
        Erfolgs­regisseurin Barbara Miller.                                                                         Santiago Carvajal war Moderato-                                    Jemen beteiligt sind. Die Pilatus
                                                                                                                    rin einer TV-Unterhaltungsshow                                     AG will sich gegen den Entscheid
          AVOSAVIS: Verstehen Sie Französisch? Dann haben Sie                                                       und engagierte sich für die Rech-                                  beim Bundesverwaltungsgericht
        bestimmt auch Freude an unseren Strassenbefragungen                                                         te von LGBTI*. Bessy Ferrera                                       wehren. Auch die Geschäftsprü-
        «AVOSAVIS», die unsere Social-Media-KollegInnen zu                                                          war ein prominentes Mitglied der                                   fungskommission (GPK) des Na-
        aktuellen Themen regelmässig produzieren. Jetzt auf unserem
                                                                                                                    Asociación Arcoíris, die sich                                      tionalrats wird sich an einer ihrer
        YouTube-Kanal.
                                                                                                                    unter anderem um Opfer von                                         nächsten Sitzungen mit dem Fall
          #FreeToAct: Die polnische Menschenrechtsverteidigerin                                                     homo- oder transphober Gewalt                                      Pilatus befassen.
        Elżbieta Podleśna hat wegen ihres Aktivismus mehrere                                                        kümmert. Laut der Umwelt- und
        Klagen am Hals (siehe dazu den Text und die Petition im                                                     Bürgerrechtsorganisation CO-
        beiliegenden «In Action»). In einem witzigen Video erzählt                                                  PINH sind seit 2009 mindestens
        sie, wie in Polen mit AktivistInnen umgesprungen wird.                                                      313 LGBTI* in Honduras ermor-
                                                                                                                    det worden. Die Aufklärungsquo-
          Mein ganzes Leben auf der Flucht: Zehntausende Angehö­
        rige ethnischer Minderheiten im hohen Lebensalter, die sich                                                 te ist extrem gering.
        aufgrund der Gewalttaten des myanmarischen Militärs auf
                                                                                                                                                        © Christian Beutler/Keystone

        der Flucht befinden, erhalten keine angemessene humanitäre                                                  Dienstleistungen für
        Versorgung. Das Video «Fleeing my whole life – Older                                                        Saudi-Arabien verboten
        people’s experience of conflict and displacement in Myan­                                                   SCHWEIZ – Das Departement für
        mar» bietet in Englisch einen Einblick in die Situation älterer                                             auswärtige Angelegenheiten
        Flüchtlinge.
                                                                                                                    (EDA) hat Ende Juni entschie-                                      Ein Mitarbeiter in einem Flugzeug
        Jetzt online unter: www.amnesty.ch/magazin-august19                                                         den, dass die Firma Pilatus AG                                     des Typs Pilatus PC-21, wie er an
                                                                                                                    keine Dienstleistungen mehr für                                    Saudi-Arabien geliefert wurde.

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                                                                                                                                                                                                           AMNESTY August 2019
AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
AKTUELL_BRENNPUNKT

                                DER LANGE ARM DES ERITREISCHEN REGIMES
                                                                                                               Die Erfahrungen Daniel Mekon-      vermutet wird. Auch von ande-
© Keystone/Salvatore Di Nolfi

                                                                                                               nens passen in ein Muster: Im      ren Ländern wie Ruanda oder
                                                                                                               Bericht «Repression Without        Iran sind Morde an exilierten
                                                                                                               Borders» zeigt Amnesty auf,        Oppositionellen bekannt. So
                                                                                                               wie eritreische Oppositionelle     weit ist das eritreische Regime
                                                                                                               auch in Kenia, den USA,            nicht gegangen. Die Vorfälle
                                                                                                               den Niederlanden, Norwegen,        aber zeigen: Präsident Afewerki
                                                                                                               Schweden und Grossbritannien       und die PFDJ dulden nach wie
                                                                                                               Gefahr laufen, von Angehörigen     vor keine Kritik an ihrer Politik
                                                                                                               und SympathisantInnen des          und an den Menschenrechts-
                                                                                                               eritreischen Regimes angegrif-     verletzungen im Land – selbst
                                                                                                               fen zu werden. Betroffene be-      dann nicht, wenn diese Kritik
                                                                                                               richten von tätlichen Angriffen,   im vermeintlich sicheren Exil
                                                                                                               anonymen Drohanrufen und           ertönt.
                                                                                                               Verleumdungskampagnen über
                                                                                                               soziale Me­dien. Die Fäden zieht   Das passt leider ins Bild, das
                                                                                                               dabei offenbar die Regierungs-     Amnesty von der Menschen-
                                In der Schweiz wohnende Eritreer demonstrieren 2017 in Genf.                   partei PFDJ (People’s Front for    rechtslage in Eritrea hat: Trotz
                                                                                                               Democracy and Justice): Die        Beilegung des Konflikts mit
                                                                                                               Übergriffe und Bedrohungen         Äthiopien und den damit ein-
                                                                                                               gingen zumeist von Mitgliedern     hergegangenen Hoffnungen hat

                                                                        W     er das eritreische Regime
                                                                              kritisiert, ist selbst im Exil
                                                                        nicht sicher – auch nicht in der
                                                                                                               und SympathisantInnen des
                                                                                                               Jugendflügels der PFDJ aus
                                                                                                               und wurden wiederholt über
                                                                                                                                                  das Regime seinen stählernen
                                                                                                                                                  Griff um Land und Leute nicht
                                                                                                                                                  gelockert. Von vielen Verhafte-
                                                                        Schweiz. Dies zeigt ein neuer          soziale Medien auch von Ange-      ten fehlt weiterhin jede Spur.
                                                                        Bericht von Amnesty Interna­           hörigen des eritreischen Bot-      Der Staat kontrolliert nach wie
                                                                        tional: Daniel Mekonnen, der           schaftscorps begrüsst und an-      vor sämtliche Medien. Und
                                                                        Präsident der Eritrean Law             geheizt. Daniel Mekonnen           auch am System des zeitlich
                                                                        Society, eines regierungskriti-        betrachtet die Übergriffe als      unbefristeten «Nationaldiens-
                                                                        schen Verbands eritreischer            Teil einer umfassenden Strate-     tes», das vielen jungen Eri­
                                                                        Anwältinnen und Anwälte, wur-          gie der PFDJ, Regimekritikerin-    treerinnen und Eritreern jede
                                                                        de 2016 nach einer Uno-Dia-            nen und Menschenrechtsver-         Perspektive auf ein selbst be-
                                                                        logveranstaltung in Genf von ei-       teidiger auch im Ausland zu        stimmtes Leben raubt, wird
                                                                        ner Gruppe Demonstrierender            bedrängen und so zum Schwei-       nicht gerüttelt. Das Bild, das
                                                                        angegriffen, bedroht und be-           gen zu bringen.                    diverse Schweizer Parlamenta-
                                                                        schimpft. Die aufgebrachte                                                rierInnen von Eritrea vermitteln
                                                                        Menge bewarf ihn auf dem Weg           Nun ist das eritreische Regime     wollen als einem Land, in das
                                                                        zur Busstation mit Flaschen            nicht die einzige Diktatur, die    die Schweiz viele der Flüchtlin-
                                                                        und Dosen, beschimpfte ihn             ihre KritikerInnen auch im Aus-    ge wieder bedenkenlos zurück-
                                                                        als Verräter und verfolgte ihn.        land verfolgt: Gaddafi schreckte   schicken könne, bleibt deshalb
                                                                        Selbst als er Schutz beim              vor Jahrzehnten sogar vor Mor-     leider ein Zerrbild. 
                                                                        Sicherheitspersonal der Uno            den nicht zurück, ebenso wenig                             Reto Rufer
                                                                        suchte, nahmen die Bedrohun-           wie das saudische Regime, das
                                                                        gen und Beschimpfungen kein            als Auftraggeber des Mords am
                                                                        Ende.                                  Journalisten Jamal Khashoggi

                                                                                                                                                                                        9
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AMNESTY - CHINA: AUF DEM WEG ZUR TOTALEN KONTROLLE - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE - Amnesty ...
D    ie chinesische Regierung perfek­
          tioniert die Methoden der Pro­
     paganda und Unterdrückung. Heute
     kommen dank künstlicher Intelligenz
     ganz neue Mittel hinzu, um die Bevöl­
     kerung in Schach zu halten. Wer sich
     konform verhält, wird in der Regel
     nicht weiter behelligt. Wer aber neben
     Wohlstand auch Freiheit und Demo­
     kratie anstrebt, lebt gefährlich.

     Der Staat
     sieht alles

     Zwischen moderner Medienwelt und klassischer
     Propaganda: Eine junge Chinesin vor einem Werbe­
     plakat im Vorfeld des Volkskongresses 2019.

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AMNESTY August 2019
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© KEYSTONE/EP/Roman Pilipey
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       In den Fussstapfen Maos: 2018 hob der chinesische Volkskongress die Beschränkung der Amtszeit für Präsident Xi Jinping auf.
       Damit kann dieser seine Macht weiter ausbauen.

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                                                                                                                                     AMNESTY August 2019
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                              Härter denn je
                              China ist heute die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt. Der Wohlstand hat bisher kein
                              Streben nach Freiheit ausgelöst. Die kommunistische Führung lässt der Bevölkerung auch
                              immer weniger Spielraum.                Von Felix Lee, Peking

                              D     ie Informationstafeln mit den Wandzeitungen stehen
                                    noch. Ebenso die grossen schwarzen Bretter, an denen
                              vor dreissig Jahren Tausende Protestnoten hingen. Heute
                                                                                               nisieren, wäre heute fast unmöglich. Der Ort spiegelt damit
                                                                                               wider, was das gesamte Land heute ist: ein technologisch
                                                                                               hochmoderner, zugleich aber streng kontrollierter Sicher-
                              hängen hier nur Zettel mit Aufschriften wie «Verkaufe            heitsstaat.
                              Fahrrad» oder «Suche E-Bike». Doch da die Verständigung             In den drei Jahrzehnten seit der Niederschlagung der De-
                              der Studierenden inzwischen fast vollständig über soziale        mokratiebewegung ist China von einem armen Entwick-
                              Medien läuft, sind selbst diese Botschaften selten geworden.     lungsland zu ¬einer globalen Wirtschaftsmacht aufgestie-
                              Wer den kritischen Geist sucht, der einst die Peking-Univer-     gen. Mit einem Wachstum von durchschnittlich neun
                              sität prägte, wird hier, im Westen der chinesischen Haupt-       Prozent im Jahr hat sich das Bruttoinlandsprodukt auf heute
                              stadt, nicht fündig. Denn politische Inhalte postet kaum         über zwölf Billionen Dollar mehr als verzehnfacht. Auf der
                              noch ein Student. Der Staat liest mit.                           Liste der grössten Volkswirtschaften nähert sich China
                                  1989 war die Überwachung noch nicht so perfekt. Des-         selbst den USA.
                              halb konnte auf diesem Uni-Campus eines der bedeutends-             Das wirkt sich auch auf das Leben jedes einzelnen Men-
                              ten politischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts seinen An-       schen aus. Das durchschnittliche Jahreseinkommen hat sich
                              fang nehmen: die Studierendenproteste, die das Militär im        von rund 200 auf mehr als 9600 Dollar erhöht. Lebten 1989
                              Juni vor dreissig Jahren auf dem Platz des Himmlischen           noch rund 70 Prozent der Menschen in China unter der Ar-
                              Friedens (Chinesisch: Tiananmen) niederschlug. Das Re-           mutsgrenze von 1,90 Dollar am Tag, ist es heute nur noch
                              gime erkaufte sich damit Jahrzehnte der Ruhe – doch zu           eine kleine Minderheit. Bis 2020 wird die absolute Armut in
                              einem hohen Preis. Um auch heute noch politische Ruhe zu         China besiegt sein. Damit hat das Land ein Millenniumsziel
                              erzwingen, unternimmt der Überwachungsapparat immer              der Vereinten Nationen praktisch allein erreicht: Die Halbie-
                              groteskere Anstrengungen.                                        rung der weltweiten Armut bis 2015.
                                  Wer den Campus der Peking-Universität heute besucht,            Und auch das Ziel der kommunistischen Führung, bis
                              muss seine Fantasie anstrengen, um sich die Lage im Jahr         2025 technologisch führend zu sein, ist keineswegs aus der
                              1989 vorzustellen – die Stimmung war völlig anders. Statt        Luft gegriffen. Kein Land investiert derzeit so viele Milliar-
       © AP Photo/Andy Wong

                              der fiebrigen Erregung von damals prägen heute Karriere-         den in künstliche Intelligenz, Mikrochips und Industrie­
                              streben und Alltagssorgen das Denken der Studierenden.           roboter wie die Volksrepublik. Wohlstand für alle gehöre
                              Immerhin gibt es äusserliche Ähnlichkeiten: Der Vorplatz         ebenfalls zu den «Menschenrechten», argumentiert die
                              der Prestigeinstitution ist wie einst perfekt gepflegt und mit   kommunistische Führung.
                              frisch gepflanzten Geranien geschmückt.
                                                                                                  Frühling ist vorbei Auch den Studierenden ging
                                 Heute unmöglich Doch wer näher hinsieht, ent-                 es 1989 um Menschenrechte. Doch sie dachten dabei an
                              deckt die Unterschiede. Sicherheitskameras hängen an             Meinungsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaat – diese
                              sämtlichen Laternenpfählen. Die wären dem Regime schon           Schlagworte verwendet die Führung zwar noch heute, doch
                              1989 willkommen gewesen. Heute haben sie Funktionen,             werden sie ebenso wie die «Menschenrechte» so lange ver-
                              von denen die Geheimdienste damals nur träumen konnten.
                              Sie erkennen Gesichter in der Menge und können sie mit
                              den zahllosen Datenbanken abgleichen, in denen der Staat
                              die Daten der BürgerInnen verwaltet. Einen Protest zu orga-                            Felix Lee ist China-Korrespondent in Peking.

                                                                                                                                                                    13
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       Angriff auf das Menschenrechtssystem                                              die Zensur, duldete Debatten in den sozialen Medien und
                                                                                         versprach mehr Rechtsstaat. Neue Medien entstanden, die
       China habe kein Interesse mehr an einem Menschenrechtsdialog mit Euro-            nicht mehr ganz so streng den Vorgaben der Propaganda fol-
       pa. Vielmehr versuche die Regierung unter Xi Jinping, das bisherige inter-        gen mussten. Die Führung dachte, sie könne China und sich
       nationale Menschenrechtssystem als überholt darzustellen. Das sagt Kat-           selbst feiern. Schon war von einem «politischen Frühling»
       rin Kinzelbach, stellvertretende Direktorin des Global Public Policy Institute    die Rede.
       (GPPi) in Berlin. Sie beobachtet, dass Peking stattdessen eine «Gemein-              MenschenrechtsaktivistInnen nutzten diese Öffnung. Sie
       schaft der geteilten Zukunft» propagiere. In dieser Gemeinschaft gäbe es          wagten es sogar, eine «Bürgerrechtscharta» zu verfassen, in
       Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Offenheit, Respekt, Inklusion, Sauberkeit,        der sie das System selbst in Frage stellten. Auch die unter-
       Schönheit und Harmonie. Gleichzeitig müsste die absolute Souveränität             drückten TibeterInnen und UigurInnen erhoben ihre Stim-
       eines jeden Staates akzeptiert und müssten kulturelle sowie politische Un-        men. Der Fackellauf des olympischen Feuers geriet zum
       terschiede toleriert werden. Xi Jinping trage sein Konzept der «Gemein-           Spiessrutenlauf. Weltweit kam es zu Protesten. Chinas Füh-
       schaft der geteilten Zukunft» in verschiedene internationale Foren und            rung blamierte sich. Kurz nach den Spielen war es mit dem
       seine Gefolgsleute hätten es bereits in mehreren Resolutionen der Verein-         «politischen Frühling» vorbei.
       ten Nationen untergebracht, hielt Katrin Kinzelbach in einem Artikel in der
       «Neuen Zürcher Zeitung» fest. China habe ein eindeutiges Interesse daran,             Haft und Hausarrest Eine Reihe von AktivistIn-
       das bisherige Menschenrechtssystem durch eine neue normative Ordnung              nen, die es gewagt hatten, um 2008 herum Kritik zu üben,
       chinesischer Prägung zu ersetzen.                                                 wurden kurz danach zu langjährigen Haftstrafen verurteilt,
       China hat bisher verschiedene Uno-Menschenrechtsabkommen unter-                   darunter auch der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträ-
       zeichnet, zum Beispiel die Anti-Folter-Konvention, allerdings ohne das zu-        ger von 2010, Liu Xiaobo. «Anstiftung zur Untergrabung der
       gehörige Fakultativprotokoll. Den internationalen Pakt über die bürgerli-         Staatsmacht» lautete schliesslich die Klage gegen ihn und
       chen und politischen Rechte hat China aber nicht ratifiziert.           (cas.)   andere. 2009 verurteilte ihn ein Volksgericht zu elf Jahren
                                                                                         Haft. Seine Frau Liu Xia stellten die Behörden unter Hausar-
                                                                                         rest. 2017 starb der Schriftsteller in der Haft.
                                                                                             Seit dem Amtsantritt von Präsident Xi Jinping im Jahr
                  dreht, bis sie zum Ziel des Machterhalts passen. Die Wahr-             2013 ging es mit den Menschenrechten weiter steil bergab.
                  heit ist: Peking geht gegen KritikerInnen härter vor als jemals        Die Festnahme von rund 300 Rechtsanwälten und Men-
                  zuvor.                                                                 schenrechtsverteidigerinnen im Juli 2015 markierte einen
                     «Wir sind heute noch weiter von der Demokratie entfernt             vorläufigen Tiefpunkt. Seitdem trauen sich JuristInnen mit
                  als 1989», sagt Teng Biao, ein Menschenrechtsanwalt, der               ihren Anliegen nur noch selten an die Öffentlichkeit.
                  mit seiner Familie in die USA fliehen musste. Die Nieder-                  Die Sicherheitskräfte gehen besonders brutal gegen die
                  schlagung der Proteste habe der Wirtschaftsentwicklung                 muslimische Minderheit der UigurInnen in Xinjiang im
                  nicht geschadet, sondern genützt, lautet seine provokante              Nordwesten der Volksrepublik vor. Hatte China seine be-
                  These, mit der er dem üblichen Narrativ einer Verbindung               rüchtigten Umerziehungslager aus Maos Zeiten 2015 offizi-
                  zwischen Demokratie und Wohlstand widerspricht. Und die                ell für verboten erklärt, wurden sie für muslimische Men-
                  Kommunistische Partei (KP) sitze fester im Sattel als je zu-           schen in Xinjiang wieder eingeführt. Niemand kann dort
                  vor, glaubt Teng.                                                      sicher sein, nicht plötzlich festgenommen und ohne Ge-
                     Keine Demokratie, dafür aber Wohlstand – die Formel                 richtsverfahren in ein Lager gebracht zu werden.
                  mag simpel klingen, doch in der Praxis ist das Bild deutlich
                  komplexer. Es gab die kritischen Stimmen durchaus, und es                  Kaum Kritik Kritik aus dem Ausland verbittet sich die
                  gibt sie heute noch. In den 1990er-Jahren waren es Künstler,           Führung. Kritik an Menschenrechtsverletzungen wird gene-
                  Dichterinnen und andere Intellektuelle, die es wagten, die             rell als Einmischung in innere Angelegenheiten abgetan.
                  sozialen Verwerfungen zu thematisieren. In den Jahren nach             Wirtschaftlich ist China für viele Länder so wichtig gewor-
                  der Jahrtausendwende waren es vor allem Anwältinnen, Jour-             den, dass es mit Ausnahme der USA kaum noch ein Staat
                  nalisten und Bloggerinnen, die Kritik am Regime übten.                 wagt, die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen anzu-
                     Dass vor allem diese Berufsgruppen in Erscheinung tra-              prangern. Was die verbliebenen DissidentInnen in China be-
                  ten, lag an einem anderen Grossereignis. Als China 2008 die            sonders frustriert, ist, dass sie auch im eigenen Land kaum
                  Olympischen Spiele austrug, wollte die Führung sich gegen-             noch wahrgenommen werden. Vorübergehend keimte zwar
                  über der Welt offen und tolerant präsentieren. Sie lockerte            die Hoffnung auf, das Internet könnte sich zum Hort der

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Meinungsfreiheit in China entwickeln. Zwischenzeitlich ver-
lagerten sich einige kritische Debatten auch ins Netz. Doch
                                                                 Massenmobilisierung in Hongkong
2009 gelang es der KP-Führung, den Zugang zu Netzwerken          Hongkong ist seit Monaten Schauplatz von Grossdemonstrationen. Hun-
wie Facebook, Twitter und YouTube zu blockieren. Inzwi-          derttausende Menschen protestieren auf der Strasse gegen eine Revision
schen hat sie auch die meisten chinesischen Online-Plattfor-     des Abschiebegesetzes. Die Protestierenden fürchten, dass aufgrund die-
men im Griff.                                                    ses Gesetzes China gegenüber kritisch eingestellte Menschen, Menschen-
    Die Öffnung der Märkte und der zunehmende Wohlstand          rechtsverteidigerInnen, JournalistInnen oder NGO-MitarbeiterInnen Ge-
haben bisher kein Streben nach Freiheit ausgelöst. Stattdes-     fahr laufen, an China ausgeliefert zu werden – in einen Staat, der sich
sen hat vor allem die aufstrebende junge Mittelschicht in den    kaum an rechtsstaatliche Prinzipien hält und in dem gefoltert wird.
Grossstädten schon früh verinnerlicht, dass das persönliche      Die Demonstrierenden wurden eingeschüchtert und unter Druck gesetzt.
Fortkommen und das der Familie viel wichtiger sind. In Um-       Die Polizei ging mit grosser Härte und unverhältnismässiger Gewalt ge-
fragen werden als wichtigste Dinge im Leben die Familie, ein     gen sie vor.
gut bezahlter Job und der Erwerb einer Wohnung genannt.          Über diese Gesetzesreform hinaus sind die BürgerInnen Hongkongs be-
Die Achtung der Menschenrechte und Demokratie kommen             sorgt über die zunehmende Einschränkung der Freiheit durch Peking.
allenfalls auf den hinteren Plätzen vor. Einem Grossteil der     Nach Ansicht der Demonstrierenden verstösst der Gesetzesentwurf ge-
Bevölkerung sind Namen wie Liu Xiaobo oder der seiner            gen das Prinzip «Ein Land, zwei Systeme», das seit 1997 mit der Rückgabe
Frau Liu Xia nicht bekannt.                                      der ehemaligen britischen Kronkolonie an China herrscht. Peking ver-
    Die Macht der KP scheint auf absehbare Zeit gefestigt. Sie   pflichtete sich damals, die wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen
bietet einen klaren Deal an: Wirtschaftlich und materiell geht   Systeme Hongkongs für einen Zeitraum von 50 Jahren aufrechtzuerhal-
es bergauf, dafür zieht das Volk mit. Doch was passiert, wenn    ten und das Rechtssystem der Volksrepublik China nicht auf sie anzuwen-
Chinas Führung das Versprechen, es werde noch mehr Wirt-         den. Das Gebiet von Hongkong geniesst Freiheiten, die im übrigen China
schaftswachstum und ein materiell immer besseres Leben           unbekannt sind.
geben, nicht mehr einlösen kann?                                 Bereits 2014 führten prodemokratische AktivistInnen eine breite Mobili-
    Dieses Szenario ist durchaus realistisch. Denn für die KP    sierungsbewegung an, die als «Regenschirmrevolution» bekannt wurde,
ist es sehr viel schwerer geworden, mehr von allem anzubie-      da die Demonstrierenden Regenschirme zum Schutz vor Tränengas ver-
ten. Der Lebensstandard hat bereits ein hohes Niveau er-         wendeten. Sie forderten, den nächsten Verwaltungschef Hongkongs
reicht. Zuwächse sind kaum noch zu erzielen. Und um die          selbst frei wählen zu dürfen, wie es China 2014 versprochen hatte. Statt-
nächste Entwicklungsstufe zu erreichen, die vergleichbar         dessen wurden aber von einem Komitee KandidatInnen bestimmt, die
wäre mit der etablierter Industrieländer, braucht es mehr als    Peking genehm waren. Seitdem haben die Behörden Hongkongs viele
den Bau von noch mehr Fabriken und Hochhäusern.                  friedliche Demonstrierende verhaftet, meist auf der Grundlage vage for-
    Die Lage könnte also rasch gefährlich werden für Xi und      mulierter Anschuldigungen wie «unbefugte Versammlung» oder «Stö-
sein Regime. Dafür hat die KP zwei Instrumente ersonnen,         rung der öffentlichen Ordnung».                                (nbo/mre)
um die Lage trotz allem stabil zu halten: Nach innen baut sie

                                                                                                                                              © LAM YIK FEI/NYT/Redux/laif
den perfekten Überwachungsstaat auf. Und nach aussen
wird Chinas Macht durch die Initiative Neue Seidenstrasse
gefestigt. Letztere ist ein hochgradig expansives Projekt. Xi
bindet ein Land nach dem anderen ein. Was als Handelspro-
jekt daherkommt, wird immer mehr zu einer weltweiten
Strategie der Macht.
    Auch die Peking-Universität macht mit, ein Symposium
zur Seidenstrasse folgt derzeit dem anderen. In Ideologiekur-
sen wird Xi-Jinping-Denken gelehrt – die Veranstaltungen
sind Pflicht. Die ehrwürdige Bildungsinstitution, einst Quel-
le kritischen Denkens, wird immer mehr zur Gehilfin der
Macht. Xi erfüllt sich damit den alten Traum der chinesi-
schen Herrscher, die Jugend unter Kontrolle zu bringen. Was
den Kaisern, der Republik und den Kommunisten der 80er-
Jahre nicht gelungen ist, könnte ihm gelingen – auf Kosten       Bunte Regenschirme sind auch 2019 das Symbol der Bewegung – und ein Schutz
der Menschenrechte.                                             vor Tränengas.

                                                                                                                                                                             15
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       Die Mütter von Tiananmen
       Seit dreissig Jahren setzen sich die Mütter von Verschwundenen dafür ein, dass die Regierung
       Verantwortung für die Verbrechen von 1989 übernimmt.                       Von Bernard Debord

                128        ältere Chinesinnen kämpfen dafür, die Wahrheit
                           ans Licht zu bringen. Die Mütter von Tiananmen
                wollen, dass endlich aufgeklärt wird, was 1989 auf dem Ti-
                                                                                   So auch Ding Zilin, eine kleine Dame, die heute über 80
                                                                                Jahre alt ist. Die ehemalige Professorin für Philosophie an
                                                                                der Volksuniversität Peking ist zu einem Ärgernis für das Re-
                ananmen-Platz geschehen ist. Und sie wollen ihre während        gime geworden. Sie war nicht begeistert, als ihr damals
                des Massakers getöteten Angehörigen endlich rehabilitiert       17-jähriger Sohn nach Beginn der Demokratiebewegung im
                sehen. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 beendete die    Frühjahr 1989 beim Ordnungsdienst am Gymnasium mit-
                chinesische Regierung mit Waffengewalt die Studieren-           machte, der die Schüler und Schülerinnen mit Essen und
                denbewegung, die seit anderthalb Monaten das Herz Pekings       Trinken versorgte. Ihr Sohn war eines der ersten Opfer: Er
                besetzt hatte. Nach dem Vorbild der Madres de la Plaza de       wurde von einer Kugel in den Rücken getroffen und starb.
                Mayo in Argentinien, die sich in den 1980er-Jahren gegen        Seine Eltern holten seine Überreste noch in der gleichen
                die argentinische Diktatur stellten, treffen sich die Tianan-   Nacht ab, bevor die Behörden den Krankenhäusern erlaub-
                men-Mütter öffentlich, mit dem Ziel, dass das Massaker          ten, die Leichen zurückzugeben – im Austausch für eine
                nicht vergessen geht.                                           Sterbeurkunde, die das Datum und die Todesursache weg-
                                                                                              liess. Vom Tod ihres Sohnes erholte sich Ding
                                                                                              Zilin nie; sie versuchte sechs Mal, sich das Leben
                                                                                        © Tiananmen Mothers Campaign

                                                                                              zu nehmen.

                                                                                                                          «Kleine Drängeleien» Seit dem Mas-
                                                                                                                       saker wird das Offensichtliche geleugnet. Der
                                                                                                                       General und damalige Stabschef Chi Haotian
                                                                                                                       behauptete, dass «auf dem Platz des Himmli-
                                                                                                                       schen Friedens kein einziger Mensch sein Leben
                                                                                                                       verloren hat», und fügte hinzu: «In der Umge-
                                                                                                                       bung kam es lediglich zu kleinen Drängeleien.»
                                                                                                                       Aufgrund seiner «Verdienste» wurde er später
                                                                                                                       zum Verteidigungsminister befördert. Auch
                                                                                                                       jetzt, dreissig Jahre danach, bleibt die offizielle
                                                                                                                       Version unverändert. Für die «Global Times»,
                                                                                                                       die staatliche Tageszeitung, «ist der 4. Juni ein
                                                                                                                       ganz normaler Tag. Das jährliche Getue um den
                                                                                                                       Vorfall ist nur eine Blase, die platzen wird.» Die-
                                                                                                                       ses Getue gibt es nur im Ausland, denn in China

                                                                                                                       Die Gründerinnen der Mütter von Tiananmen,
                                                                                                                       Zhang Xianling (links) und Ding Zilin, im Jahr 2003.

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wird jede Erwähnung des 4. Juni in der Presse, in der Schule

                                                                                                                                            © Jeff Widener/Keystone/AP
oder im Internet geahndet und ist faktisch unmöglich – aus-
ser eben für die Mütter von Tiananmen.
   Dieser Realitätsverweigerung wollte Ding Zilin im Sep-
tember 1989 gemeinsam mit Zhang Xianling etwas entge-
gensetzen. Letztere hat ihren Sohn verloren, der getötet wur-
de, als er Fotos von der «Reinigung» des Platzes machte. Bald
schloss sich Xu Jue, ein Mitglied der Akademie der Wissen-
schaften, der Bewegung an. Ihr verwundeter Sohn starb in
einem Krankenhaus, nachdem ihm auf militärischen Befehl
hin keine Bluttransfusion gegeben wurde. Gemeinsam ver-
suchten die Mütter, die Familien weiterer Opfer zu finden
und ihre Namen zu veröffentlichen. Nicht ohne Schwierig-
keiten, denn das Regime übte weiterhin Druck aus. Seit 1989
stehen Ding Zilin und ihr Mann unter ständiger Beobach-            30 Jahre Tiananmen-Massaker
tung. Die Beschwerde, die Ding Zilin gegen den damaligen
Premierminister Li Peng einreichte, dem sie die Verantwor-         Vor 30 Jahren sind Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Demonstrie-
tung für Hunderte von Todesfällen zuschreibt, führte dazu,         rende ums Leben gekommen, als die chinesische Regierung den
dass sie von der Universität und von der Kommunistischen           friedlichen Protest brutal niederschlug.
Partei ausgeschlossen wurde; mehrmals wurde sie unter Be-
wachung aus Peking vertrieben.                                     Hunderttausende Chinesen und Chinesinnen, allen voran Studierende,
                                                                   lehnten sich 1989 gegen die kommunistische Diktatur auf. Sie besetzten
    Die Geister des 4. Juni Ähnliche Belästigungen                 den Tiananmen-Platz in Peking und forderten Freiheit und Demokratie. Am
erleben die anderen Mütter, die sich davon aber nicht entmu-       3. und 4. Juni 1989 löste die Armee die studentischen Proteste gewaltsam
tigen lassen. Trotz Telefonüberwachung wagen sie es, aus-          auf. Das berühmte Foto vom «Tank Man» ist seither zum Symbolbild für das
ländische Medienanfragen zu beantworten und mit exilierten         damalige Massaker geworden: Ein Mann, zwei Einkaufstüten in der Hand,
chinesischen DemokratInnen zu telefonieren. Seit 1996              steht am 4. Juni 1989 allein auf dem Platz vor einer anrollenden Panzerko-
richten sie jedes Jahr einen offenen Brief an die Nationalver-     lonne. Er hebt die Hand, und für einen kurzen Moment stoppen die Panzer.
sammlung, in welchem sie eine öffentliche Untersuchung             Der Mann wurde schliesslich von anderen Demonstrierenden weggezogen.
der Repression verlangen wie auch das Recht, in der Öffent-        Ob und wie viele Menschen auf dem Tiananmen-Platz selbst getötet wur-
lichkeit der Toten zu gedenken. Ausserdem sollen die Ver-          den, ist bis heute ungeklärt. In anderen Teilen der Stadt seien gemäss
antwortlichen verurteilt werden und die Ereignisse Eingang         einem Bericht von Amnesty International aus dem Jahr 1990 zwischen
in die Geschichtsbücher finden.                                    mehreren Hundert und mehreren Tausend Menschen umgekommen.
    Im vergangenen Jahr zitierten die Mütter in ihrem offe-        Presseberichte, die sich auf Quellen im chinesischen Roten Kreuz berie-
nen Brief den Staatspräsidenten Xi Jinping mit seinen eige-        fen, nannten 2600 Tote unter den Aufständischen und dem Militär und
nen Worten: «Am Ende unseres Lebens hoffen wir, die Reha-          rund 7000 Verletzte im Laufe der Woche in ganz Peking.
bilitierung unserer Lieben vor unserem Tod zu erleben. Wir         Die Regierung hat bis heute keine Verantwortung für die während des Mi-
fordern Wahrheit, Verantwortlichkeit und Entschädigung für         litäreinsatzes begangenen Menschenrechtsverletzungen übernommen,
die Familien der Opfer.» Viele dieser Forderungen an die Be-       und es wurde keiner der damals Verantwortlichen je zur Rechenschaft ge-
hörden sind auf ihrer Website veröffentlicht und natürlich in      zogen. Im Gegenteil: Die chinesischen Behörden zensieren weiterhin syste-
China zensiert – aber in anderen Teilen der Welt sind sie zu-      matisch jede Bezugnahme auf das Vorgehen des Militärs und schikanieren,
gänglich.                                                          unterdrücken und verfolgen Personen strafrechtlich, die der Opfer der Nie-
    Peking gefiel es gar nicht, als die Welt erfuhr, dass der      derschlagung der Proteste auf dem Tiananmen-Platz gedenken.
1993 kurzzeitig entlassene Dissident Wei Jingsheng seinen          In den Wochen vor dem 30. Jahrestag der Niederschlagung der Tianan-
ersten Besuch Ding Zilin abgestattet hatte. Im Jahr 2010 war       men-Proteste haben chinesische Behörden Dutzende AktivistInnen be-
es der Schriftsteller Liu Xiaobo, der in einer Botschaft, die er   droht, inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt, um ein öffentliches Ge-
aus dem Gefängnis nach Stockholm schickte, seinen Frie-            denken zu verhindern. So wurde unter anderem auch Ding Zilin wieder
densnobelpreis Ding Zilin und den «Geistern des 4. Juni»           dazu gezwungen, Peking zu verlassen und in ihre mehr als 1100 Kilometer
widmete.                                                          entfernte Heimatstadt zu reisen.                                    (mre)

                                                                                                                                                                         17
AMNESTY August 2019
DOSSIER_CHINA

       Chinas Führung plant, bis 2020 alle grösseren
       Plätze des Landes mit Kameras zur Gesichts­
       erkennung auszustatten. Die Daten fliessen in
       ein ausgefeiltes System sozialer Kontrolle.
       Von René Raphaël und Ling Xi, Rongcheng

       Der dressierte Mensch
                 A    n einer ruhigen Strasse in der Nähe des Volkskranken-
                      hauses Nr. 1 in Hangzhou steht eine alte Frau auf dem
                 Trottoir. Als sich ein Mittelklassewagen nähert, wirft sie sich
                                                                                   den Bürger und jede Bürgerin einen Punktestand gebe: «So
                                                                                   weit sind wir noch nicht, auch wenn wir über die gewöhnli-
                                                                                   che Bonitätsprüfung hinausgehen. Im Laufe der Zeit werden
                 auf die Kühlerhaube, springt hoch, setzt sich dann auf den        alle Arten von Informationen über eine Person oder eine Or-
                 Boden und rührt sich nicht mehr. Der junge Fahrer steigt          ganisation gesammelt. Damit können vor allem unbescholte-
                 zitternd aus seinem Auto. Eine Stunde lang wird verhandelt.       ne Bürger oder Firmen, die bislang keine Nachweise über
                 Am Ende einigt man sich auf eine Entschädigung.                   ihre Solvenz erbringen konnten, dank neuen Kriterien Kredi-
                     Bei dem Vorfall handelt es sich um einen vorgetäuschten       te bekommen, sich auf Ausschreibungen bewerben und viele
                 Unfall, auf Chinesisch «peng ci». Wörtlich übersetzt heisst       andere Dinge mehr.»
                 dies «Porzellan anfassen», gemeint ist ein Erpressungsver-            Das Sozialkreditsystem wird bis 2020 in 43 Pilotgemein-
                 such. In den sozialen Medien wimmelt es nur so von «peng-         den erprobt. Fast alle sammeln Informationen über soziale
                 ci»-Videos, manche sind eher witzig, viele dramatisch. Auf-       Netzwerke oder Smartphone-Apps, nutzen aber auch eine
                 grund von Betrügereien aller Art, Skandalen um Lebensmittel       zunehmend ausgefeiltere Videoüberwachung. Im Zuge des
                 und gefälschte Produkte sind Massnahmen gegen Trickserei-         Programms «Himmelsnetz» sollen bis 2020 alle grösseren
                 en daher hochwillkommen. Ein guter Zeitpunkt also, um ein         städtischen Plätze mit Kameras zur Gesichtserkennung aus-
                 sogenanntes Sozialkreditsystem für vorbildliches Betragen         gestattet werden.
                 einzuführen.                                                          «Ein Gefühl der Sicherheit ist das beste Geschenk, das ein
                                                                                   Land seinen Bürgern machen kann», erklärte Präsident Xi
                    Belohnen und bestrafen Seit Sommer 2018 ste-                   Jinping in einer Dokumentation des Nationalfernsehens im
                 hen die Worte «Ehrlichkeit» («cheng») und «Glaubwürdigkeit»       Vorfeld des 19. Parteitags der Kommunistischen Partei Chi-
                 («xin») ganz gross auf den Propagandaplakaten, mit denen das      nas im Oktober 2017. Im Film hiess es, fast jede zweite Über-
                 Sozialkreditsystem beworben wird. Staatliche und private Stel-    wachungskamera weltweit stehe in China.
                 len sammeln Daten zur Bewertung von BürgerInnen, Funktio-
                 närInnen, Unternehmen und ganzen Branchen. Ziel ist es, die          1000 Punkte Startguthaben Willkommen in
                 Guten zu belohnen und die Schlechten zu bestrafen.                Rongcheng, einem Ort, der ursprünglich für Fischerei und
                    Zu den Entwicklern des Punktesystems zählt der Pekinger        Wohnwagenfirmen bekannt war. Bei unserem Besuch fällt
                 Forscher Lin Junyue. Er bestreitet, dass es schon jetzt für je-   auf, dass der Park rund um das Bürgeramt am Spätnachmit-

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                                                                                                                                 AMNESTY August 2019
© REUTERS/Thomas Peter
                                                                                                                                                                                      DOSSIER_CHINA

                                                                                               Graffiti geben Abzug In den Dörfern ist die Wirk-
                                                                                           samkeit des Sozialkreditsystems noch stärker sichtbar. In
                                                                                           Dongdao Lu Jia, einem hübschen Örtchen mit frisch asphal-
                                                                                           tierten Gassen, erhielten die EinwohnerInnen im Juli 2018
                                                                                           ein zwölfseitiges Verzeichnis aller verdienstvollen oder uner-
                                                                                           wünschten Tätigkeiten. Darin heisst es, dass man einen
                                                                                           Punkt bekommt, wenn man zum Beispiel die Obstbäume
                                                                                           des Nachbarn schneidet, ein Auto aus dem Graben zieht oder
                                                                                           einen alten Menschen ins Krankenhaus oder auf den Markt
                                                                                           begleitet. Wer hingegen seine Hühner frei herumlaufen
                                                                                           lässt, muss 200 Yuan Strafe zahlen und verliert zehn Punkte.
                                                                                           Eine Prügelei kostet 1000 Yuan und zehn Punkte. Für regie-
                                                                                           rungskritische Graffiti oder Aufkleber sind 1000 Yuan und
                                                                                           50 Punkte fällig. Die höchste Strafe erhalten diejenigen, die
                                                                                           sich direkt auf höherer Ebene beschweren, ohne zuvor den
Alles im Blick: Überwachungsbild einer Softwarefirma in Peking.                            Dorfvorsteher zu konsultieren: 1000 Yuan Strafe und soforti-
                                                                                           ge Herabstufung in Kategorie B.
                                                                                               Der 64-jährige Liu Jian Yi hat viele Jahre auf verschiedenen
                                                                                           Baustellen im ganzen Land gearbeitet, jetzt wohnt er wieder
                                                                                           in dem grauen Steinhaus, in dem er geboren wurde. «Ich
                                                                                           habe gerade den Kamin eines Nachbarn repariert. Wenn ich
                                                                                           das unserem Parteichef melde, mein Freund es bestätigt und
tag fast verlassen ist. Ein altes Paar erklärt uns den Grund:                              ein Foto vorlegt, dann müsste ich einen Punkt bekommen.»
«Jetzt läuft im Fernsehen gerade ‹Das Leben des Volkes in                                      Durchs Nachbardorf Ximu Jia mit seinen 250 Einwoh-
360 Grad›, und die meisten Leute schauen sich das an.» Täg-                                nern fliesst ein Fluss. Ein Häuschen, das von glitzernden
lich sendet das Lokalfernsehen eine Zusammenstellung aller                                 Scherben umgeben ist, trägt auf dem Betondach ein grosses
Fehltritte, die innerhalb der vorangegangenen 24 Stunden                                   rotes Kreuz. Es handelt sich um die protestantische Kirche.
von den Überwachungskameras aufgezeichnet wurden. In                                       Eine untersetzte Frau mit Kurzhaarschnitt erscheint auf der
Rongcheng wurde das Sozialkreditsystem 2013 eingeführt.                                    Schwelle. Über ihrer Tür hängt ein Emailleschild mit der
Die Folge war ein merkbarer Wandel im Verhalten und in                                     Aufschrift: «Familie mit vorbildlichem Sozialkredit».
den sozialen Interaktionen.                                                                    Frau Mu räuspert sich und erzählt: «Das ist jetzt drei Jahre
   Alle Einwohner bekamen zu Beginn ein Guthaben von                                       her. Beamte haben den Ostteil des Dorfs ausgezeichnet –
1000 Punkten und lagen damit automatisch in der Kategorie                                  ohne bestimmten Grund. Dieses Jahr wurde es ernster. Wir
A. In der Folge konnten sie entweder Punkte gewinnen und in                                bekamen alle ein Büchlein, in dem stand, was man zu tun
die Kategorie A+ aufsteigen oder Punkte verlieren und in die                               und zu lassen habe, es war wie in der Schule. Dazu die Kon-
Kategorien B, C oder D abrutschen. Schon mit dem Verlust                                   taktadresse der Stelle, der wir unsere guten Taten berichten
eines Punkts, also bei einem Kontostand von 999, war Kate-                                 und dafür Punkte einfordern sollten.»
gorie B erreicht, was bedeutet, dass man von der Bank keinen                                   Ihr Name steht nicht auf der aktuellen Liste der guten Sa-
Immobilienkredit mehr erhält. Wer Müll auf der Strasse lie-                                mariterInnen, die im Hof des Gemeindezentrums hängt.
gen lässt, büsst drei Punkte ein. Deshalb sind die Busse und                               «Ich bin noch nicht so weit, dass ich sie anrufe, nur weil ich
Trottoirs extrem sauber, man sieht nirgendwo eine Zigaret-                                 meiner Nachbarin geholfen habe.» Sie flüstert: «Ich habe
tenkippe oder eine leere Getränkedose herumliegen. Zahlrei-                                eine Freundin, deren Mann einen Kredit nicht pünktlich zu-
che Überwachungskameras ersetzen die Streifenpolizei.                                      rückgezahlt hat. Er hat nur einen Monat ausgesetzt und kam
   In vielen Stadtvierteln wurden Verhaltensregeln aufge-                                  auf eine schwarze Liste. Alle Nachbarn wussten Bescheid.
stellt und von den AnwohnerInnen unterzeichnet. Die wich-                                  Das hat vielleicht nichts miteinander zu tun, aber sie haben
tigsten Verbote betreffen erotische Filme oder Bücher, Urban                               sich dann getrennt.»
Gardening im öffentlichen Raum, den Besuch unregistrier-                                                   Dieser Text ist zuerst erschienen in:
ter Kirchen, den rüden Umgang mit NachbarInnen und das                                                     «Le Monde diplomatique» (Hg.), LMd vom 10.01.2019, Berlin (taz Verlag) 2019,
                                                                                                           «Der dressierte Mensch» von René Raphaël und Ling Xi.
Posieren in Luxuswagen bei Hochzeiten oder Begräbnissen.                                                   Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

                                                                                                                                                                                                 19
AMNESTY August 2019
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