"Gestern Schüler/in - morgen Lehrer/in?" Psychodramatische Arbeit mit Praktikumserfahrungen in der 1. Phase der Lehrer/innenbildung

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„Gestern Schüler/in – morgen Lehrer/in?“
Psychodramatische Arbeit mit Praktikumserfahrungen in
        der 1. Phase der Lehrer/innenbildung

                         Abschlussarbeit
      Zur Erlangung der Graduierung zur Psychodramaleiterin

                        September 1999

                         vorgelegt beim

                    Institut für Psychodrama
                      Dr. Ella Mae Shearon
                      An der Rechtschule 3
                            50667 Köln

                              von

                       Jutta Heppekausen
                         Holbeinstr. 10
                         79100 Freiburg
2

Einleitung ................................................................................................................................ 3
1. Die Situation von Praktikant/innen im Lehramtsstudium und Konsequenzen für das
Seminarkonzept....................................................................................................................... 4
     1.1. Übergangsstadium Schüler/in – Lehrer/in: Ängste und Bearbeitungsansätze ............... 4
         1.1.1. Ängste von Praktikant/innen............................................................................................................. 4
         1.1.2. Rollenflexibilität versus Rollenfixierung im Kontext Schule ........................................................... 6
     1.2. Persönlichkeitsorientierte Lernsituationen in der Hochschule ......................................... 9
         1.2.1. Verwissenschaftlichung der Lehrer/innenbildung und neues Lehrer/innenleitbild ...................... 9
         1.2.3. Psychodrama an Hochschulen ........................................................................................................ 10
2.       Theoretische und methodische Grundlagen psychodramatischer Arbeit................... 14
     2.1. Das Konzept der Begegnung................................................................................................. 15
     2.2. Spontaneität, Kreativität und Aktion .................................................................................. 17
     2.3. Interaktionsfaktoren: Tele, Einfühlung, Übertragung und soziales Atom ...................... 18
     2.4 Rolle und Institution.............................................................................................................. 20
     2.5. Methoden des Psychodrama ................................................................................................. 23
         2.5.1. Klassifikationen des Psychodramas ................................................................................................ 23
         2.5.2. Instrumente des Psychodramas ....................................................................................................... 24
         2.5.3. Verlaufsphasen des Psychodramas ................................................................................................. 25
         2.5.4. Techniken des Psychodramas und Rollenlernen: Doppeln, Spiegeln und Rollentausch................. 26
3. "Gestern Schüler/in - morgen Lehrer/in?" Dokumentation und kritische Reflexion des
Seminarverlaufs .................................................................................................................... 30
     1. Sitzung ....................................................................................................................................... 31
     2. Sitzung ....................................................................................................................................... 32
     3. Sitzung ....................................................................................................................................... 36
     4. Sitzung ....................................................................................................................................... 40
     5. Sitzung ....................................................................................................................................... 43
     6. Sitzung ....................................................................................................................................... 48
     7. Sitzung ....................................................................................................................................... 50
     8. Sitzung ....................................................................................................................................... 51
4. Schluss............................................................................................................................... 53
Literaturangaben .................................................................................................................. 57
3

Einleitung

Als ich vor einigen Jahren meine Ausbildung zur Psychodramaleiterin begann, war
mein Ausgangspunkt die Erfahrung mit theaterpädagogischen Methoden im The-
menbereich Interkulturelle Kompetenzen und Alltagsrassismus. Ich erlebte, dass
diese Methoden szenischen Spiels bei den Seminarteilnehmer/innen tiefe Gefühle
auslösten, die wir in den später anschließenden Reflexionen mit gesellschaftlichen
Zusammenhängen in Beziehung setzen konnten. Ich wollte fundiertere Fähigkeiten
entwickeln, die Gefühlsprozesse, die für die Teilnehmer/innen und mich im Zentrum
der Lernprozesse standen, zu verstehen und aufzufangen.
Das Psychodrama hat mich in meiner Selbst- und Fremdwahrnehmung, dem Um-
gang mit den Prozessen in der Gruppe und der Welt der Gefühle auf allen ihren
Ebenen beruflich wie privat tatsächlich sicherer werden lassen. Ich selbst konnte
mich psychodramatisch unterstützt und begleitet auf meinen Weg „von der Schüle-
rin zur Lehrerin“ im Wort- und auch im übertragenen Sinn machen und möchte mich
an dieser Stelle bei allen meinen Ausbilderinnen und Ausbildern von ganzem Her-
zen bedanken.
Inzwischen bin ich in der Lehrer/innenbildung (1. Phase) tätig und habe Gelegen-
heit, meinen eigenen Lernprozess an Studierende weiterzugeben. Über die grund-
sätzlichen Elemente hinaus, die zur Herausbildung der eigenen Berufsrolle und
dem – wohl nie aufhörenden - Erwachsenwerden beitragen, habe ich in meiner Ar-
beit an der Hochschule besonders nach einem „roten Faden“ gesucht, mit dem ich
meine Erfahrungen als Bildungsreferentin im Bereich Interkulturelle Kompetenzen
für die Lehramtstudent/innen nutzen kann.
Bei der Aufarbeitung von Praktikumserfahrungen in der Schule konnte ich ihn her-
stellen: Wie bei interkulturellem Arbeiten geht es auch bei der Entwicklung der Be-
rufsrolle im Übergang vom Schüler/innendasein zum Lehrer/innendasein um Be-
gegnung – um die Begegnung mit „den anderen“. Bezieht sich dies im interkulturel-
len Kontext auf die Begegnung zwischen Angehörigen ethnischer Mehrheit und
Minderheiten, so handelt es sich in der Lehrer/innenbildung um die Begegnung mit
den Schüler/innen oder den Ausbilder/innen. In beiden Fällen handelt es sich dabei
um die Begegnung mit sich selbst in der Interaktion mit „den anderen“ in von
Machtverhältnissen bestimmten Strukturen. Es handelt sich also um das Herzstück
des Psychodramas: Wir begegnen den Teilen und dem Ganzen, lassen uns auf
unserem langen Weg vom eigenen Haus ins weite Land hinein von Klippen, Bie-
gungen und Sandbänken aufhalten, um „nach unserer Lage zu fragen, unsere Lage
zu prüfen, unsere Lage zu erkennen und aus unserer Lage herauszuführen“ (More-
no nach Leutz, 1986, 67, vergl. S. 15 f. dieser Arbeit).
4

1. Die Situation von Praktikant/innen1 im Lehramtsstudium und Konsequenzen für
   das Seminarkonzept

1.1.   Übergangsstadium Schüler/in – Lehrer/in: Ängste und Bearbeitungs-
       ansätze

Studierende an der Pädagogischen Hochschule kommen fast ausschließlich direkt
von der Schule. Nur eine Minderheit hat außerschulische Lebenserfahrungen ge-
sammelt bei Auslandsaufenthalten, im Zivildienst, im Berufspraktischen Jahr oder in
einer anderen Berufsausbildung. Demzufolge sind die Studierenden überwiegend
im Alter zwischen 19 und 24 Jahren. 73 % davon sind Frauen (lt. Auskunft des Stu-
dierendensekretariats im Sommersemester 1999 an der PH Freiburg).
Kurz nachdem diese Studierenden die Schulbank als Schüler/innen verlassen ha-
ben, stehen sie als Praktikant/innen „auf der anderen Seite der Schulbank“ wieder
in der Schulklasse. Bereits im ersten oder zweiten Semester absolvieren sie ein
Tagespraktikum, d.h. sie sind wöchentlich einen Tag in der Schule, machen Unter-
richtsbeobachtungen und erste eigene Unterrichtsversuche in der Klasse in Ge-
genwart einer Mentorin oder eines Mentors. Dabei werden sie begleitet von einer/m
Hochschuldozent/in. In den weiteren Semestern folgt ein Wechsel von Blockprakti-
ka (vier Wochen ohne direkte Hochschulbegleitung) und fachdidaktisch orientierten
Tagespraktika (mit Gutachten von Seiten der/s Hochschuldozent/in) kontinuierlich
bis zum Ende des – mindestens- dreijährigen Studiums.

1.1.1. Ängste von Praktikant/innen

In den von einer Kollegin und mir gemeinsam seit zwei Jahren durchgeführten Se-
minaren „Gestern Schüler/in – morgen Lehrer/in?“ haben Studierende die Möglich-
keit, für sie schwierige oder unbefriedigende Praktikumssituationen aufzuarbeiten.
In diesen Seminaren standen bisher immer wieder folgende Themen im Vorder-
grund:

•   Angst vor desinteressierten Schüler/innen
•   Probleme mit Mentor/innen und/oder den begleitenden Hochschuldozent/innen.

Ein beide Bereiche durchziehender Aspekt, der v.a. dann thematisiert wurde, wenn
es sich bei den Seminargruppen um reine Frauengruppen handelte, waren die Ge-

1
 Ich bemühe mich um eine geschlechtergerechte Schreibweise, da meiner Meinung Sprache nicht
Wirklichkeit widerspiegelt, sonder auch schafft. Konkret für diese Arbeit heißt das:
- wenn sich die Bezeichnung auf weibliche und männliche Personen bezieht, die etwas umständ-
    lich Endung „/innen“,
- die weibliche Form bezieht sich tatsächlich nur auf Frauen oder Mädchen, was im Kontext von
    Pädagogischer Hochschule häufig der Fall ist,
- bei Zitaten oder Bezugnahme auf andere Autor/innen behalte ich deren jeweilige Schreibweise
    bei
5

schlechterverhältnisse im Klassenraum, v.a. Spannungen zwischen Praktikantinnen
und Schülern.

Diese Themen stimmen mit den Problembenennungen aus empirischen Untersu-
chungen überein: Auch bei ausgebildeten Lehrer/innen steht die Belastung durch
Schwierigkeiten mit Schüler/innen an erster Stelle (u.a. Barth, 1992, 114). Für den
bisher kaum erforschten Bereich der Belastungen und Ängste bei Praktikantinnen
stellt Schlageter (1995) in einer gründlichen empirischen Analyse eine große Über-
einstimmung mit Lehrerängsten fest. Er untergliedert seine Untersuchung nach
Weidenmann in die Bereiche Qualifikation, Integration und Kontakte (Weidenmann
1978) und kommt für die spezifische Situation von Praktikant/innen zu folgenden
Ergebnissen:

-   Im Bereich Qualifikationen betont er neben der mit wachsender Praktikumser-
    fahrung zunehmenden Angst, fachlichen Anforderungen nicht zu genügen, „dass
    die Beziehung zu den SchülerInnen sowohl was den Aspekt der Motivation als
    auch ein mögliches Desinteresse der SchülerInnen am Unterricht anbelangt, bei
    den PraktikantInnen starke Ängste auslöst. In diesem Zusammenhang ist au-
    ßerdem auf eine ausgeprägte bis starke Neigung der Studierenden hinzuweisen,
    auftretendes Desinteresse der SchülerInnen an ihrem Unterricht persönlich zu
    nehmen.“
-   Im Bereich Integration stehen Probleme der Durchsetzung als Lehrer/in im Vor-
    dergrund,
-   und bezogen auf Kontakte dominiert Angst vor der Kritik von Mentor/innen bzw.
    Hochschuldozent/innen, direkt gefolgt von der Angst, daß die Schüler/innen kein
    Gefallen am Unterricht finden könnten (Schlageter, 1995, 74 ff).

Bei der Themenformulierung durch die Studierenden wird der Begriff „Angst“ wenig
benutzt. Wer gibt schon in dem durch Konkurrenz-, Zeit- und Prüfungsdruck ge-
prägten Setting einer Hochschule gern zu, ängstlich zu sein? Dennoch scheint er
mir ein zentraler Begriff zur Erfassung einer Vielzahl der thematisierten schwierigen
Praktikumssituationen zu sein (und wurde mit wachsender Gruppenatmosphäre
während der Seminare auch von den Studierenden angenommen).2 Der Übergang
von dem Schüler/innendasein zur Lehrer/innenwelt ist ohne Angst schlechterdings
nicht denkbar: „Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden,
denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere
und äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt
haben.“ (Riemann,1984,9).
Die Literatur zum Thema „Angst in Lehrsituationen“ lässt sich grob in zwei Haupt-
strömungen untergliedern:

-   Angst als in der gewachsenen Persönlichkeit angesiedelt und in ihr zu bearbei-
    ten (u.a. Brück 1978, Bernfeld 1967, Flaake 1989),
-   Angst als Widerspiegelung struktureller Bedingungen in der Schule (u.a. Wei-
    denmann 1978, Holzkamp 1997).
2
 Aus der Vielzahl von Definitionen des Begriffes Angst hier nur der Hinweis auf seine lateinische
Wurzel „angustus“(d.h. eng, beengend, die freie Bewegung hindernd). Umfassendere Definition sind
nachzulesen u.a. bei Rost/Haferkamp, 1979, 3.
6

Ich sehe in diesen verschiedenen Ansätzen keinen unvereinbaren Widerspruch,
sondern suche nach Verbindungsmöglichkeiten, ausgehend davon, dass wir als
handelnde Subjekte die Bedingungen, die unser Handeln prägen, ständig auch
selbst mit herstellen. Insofern gilt es, sowohl die strukturellen, gesellschaftlichen
Bedingungen analytisch in den Blick zu nehmen, als auch die subjektiven Voraus-
setzungen der sie gestaltenden Persönlichkeiten zu betrachten.

1.1.2. Rollenflexibilität versus Rollenfixierung im Kontext Schule

Bezogen auf Probleme der Übergangssituation Schüler/in-Lehrer/in, wie sie von
Studierenden bisher in unsere Seminare eingebracht wurden, konnte ich folgende
Gedanken nutzen:
Bei der Angst von Praktikantinnen vor unmotivierten Schüler/innen handelt es sich
häufig um eine Angst, die noch in der Schülerinnenrolle "hängengeblieben" ist. Die-
se Fixierung auf die Schüler/innnenrolle schränkt ihre Handlungsfähigkeit als Er-
wachsene ein. Unverarbeitete Angst, Enttäuschung und Wut der - ehemaligen -
Schülerinnen bedrohen die zukünftige Lehrerin: sie fürchtet, daß die Schüler/innen
ihr antun, was sie selbst als Schülerinnen ihren ehemaligen Lehrer/innen in ähnli-
chen Situationen angetan haben oder gerne angetan hätten.
Bei bereits praktizierenden Lehrerinnen finden wir zwei Verhaltenspole:

-   die "positive Rache" (Flaake 1989, 57 ff.)), d.h. das unreflektierte Gewähren aller
    Schüler/innen-Bedürfnisse, die in der eigenen Schulzeit unterdrückt wurden,
    was notwendigerweise zu Abgrenzungsproblemen und Desillusionierung führt,
-   die Wiederholung von Verhaltensweisen, die Lehrerinnen als Schülerinnen
    selbst erlitten haben. Dabei werden diese eigenen Erfahrungen abgespalten
    (Angst) und in der Gestalt von aktuellen Schüler/innen "bekämpft" (Brück 1978,
    182/183, 323 ff). Nicht neu, aber immer noch gültig ist der berühmte Satz von
    Bernfeld: „So steht der Erzieher vor zwei Kindern: dem zu erziehenden vor ihm
    und dem verdrängten in ihm.“ (Bernfeld, 1967, 141)

Frage einer Teilnehmerin: "Soll ich die Schülerinnenperspektive verlieren? Vielleicht
ist sie wertvoll für die Lehrerin." Es gilt gerade in dieser Übergangsphase, den Prak-
tikant/innen den Unterschied begreifbar zu machen zwischen Identifikation mit einer
Rolle im Sinne einer Rollenfixierung (Hängenbleiben in einer Entwicklungsphase in
Angstabwehr des nächsten Schrittes) und der Fähigkeit zur Rollenflexiblität. Um
den Weg freizumachen für eine situationsgerechte Wahrnehmung der gegenwärti-
gen Realität als Praktikantin , muss Abschied genommen werden von innerpsychi-
schen Anteilen (z.B. Pubertät). Abschied braucht aber Annahme der zu verabschie-
denden Haltungen und Gefühle, eine "Versöhnung" mit ihnen aus der Gegenwarts-
perspektive heraus.

Unverarbeitete Erlebnisse aus der eigenen (Lern-)Geschichte führen erfahrungs-
gemäß zu einem stark gesteuerten, kontrollierenden Unterrichtsstil. Der bekannte
Schulpädagoge Hilbert Meyer stellt 1991 fest (neuere Untersuchungen dürften die-
ses Bild nur unwesentlich verändern), dass immer noch drei Viertel allen Unterrich-
7

tens als Frontalunterricht vonstatten geht . Er gibt als Grund unter anderem die
Angst der Lehrer/innen an, die Schüler/innen freizugeben (Meyer, H., 1991, 192).
Diese Entwicklung von – oft unreflektierten, in Fixierungen „hängengebliebenen“ –
hohen Idealen der Schüler/innennähe zu einem eher rigiden, autoritären Stil, der
sich erst mit zunehmender Sicherheit in der Lehrer/innenrolle wieder weiterentwi-
ckeln kann, ist in der berufsbiogpraphischen Forschung vielfach beschrieben (vergl.
Literaturliste). Arens faßt ihre eigene Entwicklung als Lehrerin in folgenden Schrit-
ten zusammen:

-   „Auf der Seite der SchülerInnen sein wollen!“ oder: Die Verweigerung der Leh-
    rerrolle (1975 – 77),
-   „So wie eine richtige Lehrerin“ oder: Die Anpassung an die Rollennorm (1977 –
    80),
-   „Die erziehende und die nichterziehende Lehrerin in einer Person“ oder: Die ei-
    gene Gespaltenheit zulassen (1980 – 82),
-   „Selbstverwirklichung im Lehrerberuf“ oder: Ich-Selbst trete als Person aus der
    Rolle hervor (1982-1985), (Arens, 1997, 40 ff)

Eine siebenjährige Entwicklungsgeschichte ist durch ein einsemestriges Seminar
nicht zu ersetzen und die Erfahrung der beruflichen Reifung kann den Prakti-
kant/innen nicht (vorweg-)genommen werden.
Aber wie für Lehrerinnen gilt, dass „das Angstpotential der Tätigkeit (...) in der An-
forderungsstruktur selbst angelegt (ist)“, so gilt dasselbe auch für Praktikant/innen.
„(S)ubjektiv erlebte Angst setzt voraus, daß das Subjekt das Angstpotential seiner
Tätigkeit adäquat widerspiegelt.“, (Weidenmann, 1978, 27).
In diesem Sinn spiegelt die Themennennung unserer Teilnehmer/innen das Angst-
potential ihrer Praktikant/innentätigkeit wider:

-   Die Angst vor desinteressierten Schüler/innen reflektiert nicht nur die eigene
    unverarbeitete schulische Lerngeschichte, sondern darüber hinaus Erfahrungen
    mit Lernwiderständen, die Ausdruck grundsätzlicher Widersprüche in der Institu-
    tion Schule sind.
-   Probleme mit Mentor/innen und Hochschuldozent/innen zeigen einen unter No-
    ten- und Prüfungsdruck relevanten Ausschnitt aus der Anforderungsvielfalt, in
    der sich Praktikant/innen bewegen müssen. Verschärfend wirkt häufig der - hier
    zugespitzt formulierte - Widerspruch zwischen eher reformpädagogischen Ori-
    entierungen auf Seite der Hochschuldozent/innen und routinierter pragmati-
    scher, manchmal resignativer Realitätsbewältigung auf Mentor/innenseite.

Desinteressierte, „widerspenstige“ Schüler ebenso wie resignierte Lehrer sind nach
Palmowski Ausdruck der „Schule als Double-Bind-Institution“. An Lehrer und Schü-
ler werden Erwartungshaltungen herangetragen, die sich gegenseitig ausschließen
mit dem Ergebnis, dass sich beide immer auch falsch verhalten:
Einerseits sollen Lehrer ermutigen, fördern, Hilfe anbieten, pädagogische Freiräume
schaffen und die Schüler unterstützen bei der Entwicklung ihrer Individualität – and-
rerseits sollen sie bewerten, zensieren, Lebenschancen zuordnen, den Rahmen
des Beamtenrechts wahren, „sie sollen Lernziele wie Selbstbestimmung, Autono-
mie, Selbst- und Mitverantwortung anstreben und auf Ordnung, Disziplin achten und
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ihrer Aufsichtspflicht nachkommen.“ Sie sollen sich an den Bedürfnissen ihrer Schü-
ler orientieren und gleichzeitig den Ansprüchen von Schulaufsicht, Schulleitung,
Kollegen und Eltern gerecht werden.
Entsprechend sieht es auf Schülerseite aus: Sie sollen sich „ein- und unterordnen in
für sie nicht oder kaum transparente Strukturen, inhaltliche und organisatorische
Vorgaben unhinterfragt akzeptieren und gleichzeitig möglichst selbstbewußt und
selbständig zu arbeiten und demokratisch zu handeln lernen.“
Für Palmowski spiegelt damit die Schule – als Institution dieser Gesellschaft – auch
gesamtgesellschaftlich vorfindbare Widersprüche wider.
Kennzeichnend für Double-Bind-Situationen ist darüber hinaus, dass die Regeln
nicht zur Diskussion gestellt werden dürfen (keine Metakommunikation!) und es
verboten ist, „aus dem Feld zu gehen“ (keine Freiwilligkeit“!). Auch dies trifft für die
Institution Schule zu. Palmowski schlägt vor, „den Spieß umzudrehen und aus der
Unmöglichkeit, sich richtig zu verhalten, sich die Freiheit zu nehmen, sein Verhalten
an seiner pädagogischen Verantwortung und an den Ergebnissen eines partner-
schaftlichen Diskurses mit den Schülern zu orientieren.“ (Palmowski 1998, 218 ff).

Mit Weidenmann bin ich der Meinung, dass es in der Lehrer/innenbildung nicht dar-
um gehen kann , den „angstfreien“ Lehrer bzw. „angstfreie“ Praktikantinnen zum
Ziel zu haben. „Angstfrei kann ein Lehrer nur sein, wenn er die objektiven Bedro-
hungen, Ungewissheit und Hilflosigkeit in zentralen Bereichen seiner Tätigkeit sub-
jektiv nicht adäquat wahrnimmt. Umgekehrt ist zu erwarten, dass eine realitätsbe-
zogene Lehreraus- und fortbildung subjektive Angst mobilisiert, wo heute vielleicht
naive oder als Abwehr verkrustete Sorglosigkeit zu beobachten ist.“ (Weidenmann,
1978, 13). Meiner Erfahrung nach muss Angst allerdings nicht erst mobilisiert wer-
den: Sie ist da und kann, wenn sei sich ausdrücken darf, als ein sinnvolles Signal
zur Reifung und Entwicklung genutzt werden.
Als ersten Schritt zu einem konstruktiven Umgang mit ihr halte ich wie die Psycho-
analytikerin Thea Bauriedel eine „aufklärende Erkenntnis des Ist-Zustandes“ für
sinnvoll “. Dies geht nicht durch „den Versuch, einen irgendwie gearteten Soll-
Zustand herbeizuführen. Die Veränderung selbst geschieht spontan.“ (Bauriedel,
1986, 155). Es kann nicht darum gehen, der schlechten, unbegriffenen Realität ein-
fach die Alternative einer schönen, neuen Welt entgegenzustellen – oder anzutrai-
nieren. Aus der – allerdings emotionalen wie auch kognitiven – Auseinandersetzung
mit schwierigen Situationen kann die Kraft zur befreienden Veränderung gewonnen
werden. Bauriedel ergänzt: „Die zentrale These dieser Theorie lautet, dass jeder
einzelne sich und damit einen Teil des Systems nur dann in einem emanzipatori-
schen Sinn verändern kann, wenn er seine eigene Betroffenheit und seine Beteili-
gung an dem Status quo des Systems erkennt.“ (Bauriedel, 1986, 153).
Bleibt meinerseits zu ergänzen, dass bei einer persönlichkeitsbezogenen emotio-
nal-individuellen und kognitiv-strukturellen Erkenntnisarbeit der Aspekt hierarchi-
scher Machtverhältnisse einbezogen werden muss. Bleibt es nicht bei einer mög-
lichst kritisch-realistischen Wahrnehmung des Ist-Zustandes, sondern werden da-
durch Veränderungen im individuellen Verhalten ausgelöst, so gilt es in weiteren
Arbeitsschritten herauszufinden, was diese Veränderung in dem sozialen Umfeld
(sozialen Atom, siehe weiter unten) der handelnden Person bewirken, welche Ver-
9

änderungen in ihrem „System“ ausgelöst werden. Damit ist der Aspekt von gesell-
schaftlichen Verhältnissen, d.h. von Machtverhältnissen angesprochen.

1.2.   Persönlichkeitsorientierte Lernsituationen in der Hochschule

1.2.1. Verwissenschaftlichung der Lehrer/innenbildung und neues Leh-
       rer/innenleitbild

Die Debatte um die Notwendigkeit einer wie oben ausgeführten persönlichkeitsbe-
zogenen Erkenntnisarbeit oder Selbstreflexion als zukünftige/r Lehrer/in unter Ein-
beziehung von strukturellen Aspekten der Institution Schule ist nicht neu und kann
hier nicht in der ihr gebührenden Ausführlichkeit dargestellt werden. Nur so viel: Seit
Ende der siebziger Jahre gab es eine große Zahl von Veröffentlichungen und Mo-
dellversuchen mit dem Ziel, das Studium der Pädagogik zu einer pädagogischen
Veranstaltung zu machen und die zukünftigen Lehrer zu einem professionellen Um-
gang mit blinden Flecken zu befähigen (u.a. Brück 1978). Komplexe erzieherische
und erziehungswissenschaftliche Befähigung sollte durch Selbsterfahrung in Studi-
um und Beruf erreicht werden. In einem Prozess praktischen Erkennens der eige-
nen hochschulischen Praxis sollten Zusammenhänge zwischen der eigenen Person
und dem Ausbildungsgegenstand systematisch erfaßt werden (Homfeld u.a.1983).
“Das wichtigste Curriculum des Lehrers ist seine Person“ (Hentig, 1981, 274). Sätze
wie dieser des renommierten Bildungstheoretikers und –praktikers Hartmut von
Hentig haben sowohl in der Lehrerfortbildung als auch inzwischen in der 2. Ausbil-
dungsphase, dem Referendariat, eine Entsprechung in Seminarangeboten mit per-
sönlichkeitsorientierten Lernsituationen - bis hin zur Etablierung verschiedenster
Supervisionsansätze in diesen Bereichen.
Nur in der hochschulischen Lehrer/innenbildung orientiert sich die pädagogische
Qualifizierung weiterhin in erster Linie an theoretischen erziehungswissenschaftli-
chen wie fachdidaktischen Kenntnissen. Dies ist ein Ergebnis der in den beiden
letzten Jahrzehnten vollzogenen Verwissenschaftlichung der Lehrer/innenbildung,
insbesondere der Grund- und Hauptschullehrer/innen. Damit wurden alte Probleme
überwunden und neue geschaffen. Neben der Zersplitterung des Angebotes ist die
Diskrepanz zwischen theoretischen Ansprüchen und praktischem Können, v.a. die
Vernachlässigung pädagogischer, sozialer und personaler Kompetenzentwicklung
in die Diskussion um die Professionalisierung des Lehrer/innenberufs eingegangen.

Angesichts des Wandels von Familie, Kindheit und Jugend und von immer neuen
Anforderungen, um in einer Welt unsicherer Zukunftsperspektiven und sich dyna-
misch verändernder Orientierungen klarzukommen, verändert sich auch das Leh-
rer/innenleitbild: nicht mehr die Belehrung und Instruktion soll die Aufgabe sein,
sondern zentral sind Begriffe wie Sozialerziehung, Sozialpädagogik, therapeutische
Aufgaben, Lernbegleitung, Moderation von weitgehend selbstorganisierten Lernpro-
zessen, bis hin zu Begriffen wie Wissensmanagement, Berufsprofis für den Unter-
richt. (Bessoth 1997, Reinmann-Rothmeir/Mandl 1997).
Insofern kann Professionalisierung nicht mehr mit Verwissenschaftlichung in eins
gesetzt werden, „ damit (wird) nicht einmal der Kern von Professionalität berührt
10

(...) Setzt man beides gleich, ist allenfalls ein (pseudo-technokratischer) ‚Experte‘
das Ergebnis. Professionalität, insbesondere pädagogische Professionalität hat ne-
ben kognitiven eine ebenso wichtige soziale und personale, eine intuitive und krea-
tive Dimension.“ (Terhart, 1992, 33). Ähnlich, wenn auch mit unterschiedlichen
Konsequenzen für die Struktur des Studiums, argumentiert Hofmann in Begründung
der unter seiner Leitung an der TU Berlin praktizierten Ansätzen einer persönlich-
keitsorientierten Lehrer/innenausbildung. Neben den fachspezifischen Kompeten-
zen zählt er eine Reihe pädagogischer und selbstreflexiver Komptenzen auf, die
sich Studierende aneigenen müssen und begründet so „die Notwendigkeit eines
persönlichkeitsbezogenen Anteils in der Lehrerausbildung, der insbesondere die
Ausbildung der Wahrnehmungsfähigkeit, der Selbst- und Fremdwahrnehmung von
Kommunikations- und Interaktionsmustern, der Reflexion von individuellen Lernab-
läufen und von Gruppenprozessen betrifft sowie die Reflexion der eigenen Lernge-
schichte im Kontext gesellschaftlicher Ordnungen als Voraussetzung zur Klärung
der Berufsmotivation und -eignung." (Hofmann, 1997, 88). Entsprechende Semi-
narangebote finden sich inzwischen vereinzelt an fast allen Pädagogischen Hoch-
schulen oder Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten. Sie sind jedoch nicht sys-
tematisiert oder koordiniert mit anderen Angeboten (wie Schulpraktikum oder fach-
didaktischen Veranstaltungen) und nicht prüfungsrelevant.

1.2.3. Psychodrama an Hochschulen

Zu diesen Angeboten persönlichkeitsorientierten Lernens gehören auch eine Reihe
von Versuchen, an Hochschulen mit psychodramatischen Methoden zu arbeiten.
Allerdings finden solche Seminare bisher nur entweder in Fachbereichen wie Psy-
chologie (Schönke 1975) bzw. im Rahmen einer sozialtherapeutischen Qualifizie-
rung (Schmidt, B., 1978) statt, oder führen ein in die Elemente des Psychodramas
zur Vermittlung von Sachwissen, wie an der Arbeitsstelle für Gruppenpädagogik
und Psychodramaforschung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg (Prof. Dr.
Kösel, siehe auch Wiedenbauer 1995).
Am nächsten an dem in dieser Arbeit vorgestellten Versuch einer psychodramati-
schen Aufarbeitung von Praktikumserfahrungen ist Ingeborg (Altstaedt-)Kriwet mit
ihren langjährigen Erfahrungen von Psychodrama in der Sonderschullehrerausbil-
dung (Kriwet 1990, 1997). Seit über zehn Jahren bietet sie für Studierende der
Sonderpädagogik Psychodramagruppen an. Sie will dazu beitragen, in selbstrefle-
xiven Lernprozessen die Fähigkeit zu erwerben, „sich selbst als gesellschaftlich ab-
hängiges Individuum zu verstehen, stets neu wahrzunehmen und weiterzuentwi-
ckeln.“ Mit dem Psychodrama konnte diese Fähigkeit erprobt und gelernt werden.
Vor allem zwei Aspekte der Bewußtseinsveränderung und Erfahrungserweiterung
angesichts der angestrebten Berufsrolle waren ihr dabei bedeutsam: „(1)die Zu-
nahme der Kontaktfähigkeit und (2) die Steigerung der spontanen, kreativen Hand-
lungsfähigkeit.“ (Altstaedt-Kriwet, 1990, 453, 460 ff.).

Bei persönlichkeitsorientierten Lernsituationen in der Hochschule, in denen mit psy-
chodramatischen Methoden gearbeitet wird, stellt sich die Frage nach der Abgren-
zung von Therapie und Pädagogik. Moreno, der Begründer des Psychodramas,
unterscheidet zwischen Psychotherapie und Gruppentherapie. Psychotherapie ist
11

eine zwischen Arzt und Patient vereinbarte Behandlungsform in kleinen Gruppen
mit Analytiker und Hilfstherapeuten. Ihr einziges Ziel ist die psychische Gesundheit
des Patienten. Bei der Gruppentherapie dagegen sind die therapeutischen Wirkun-
gen sekundär und stellen sich lediglich als Beiprodukt der primären Gruppentätig-
keit ein. (Moreno, 1959, 52 f.). Petzold setzt Psychodrama in der Erwachsenenbil-
dung ab von Therapie durch Zielsetzungen wie „Entwicklung der Kommunikations-
fähigkeit“ oder „Bewältigung von allgemeinen Lebensproblemen(...)“ (Petzold, 1978,
375). Kriwet interpretiert diese Abgrenzungen als notwendigerweise unklar: „So we-
nig es eindeutige Kriterien für psychische Gesundheit bzw. Krankheit gibt, so
schwer lassen sich auch in der Praxis die Ziele therapeutischer und pädagogischer
Psychodramagruppen unterscheiden.“ (Altstaedt-Kriwet, 1990, 459).
Lüffe-Leonhardt und Wertz systematisieren die verschiedenen Ebenen pädagogi-
scher Arbeit mit Erwachsenen und stellen fest, dass wir uns in der psychodramati-
schen Arbeit auf verschiedenen Ebenen bewegen: „Es geht um die Reflexion der
Berufsrolle (Ebene 2), um die Frage der Selbstreflexion (Ebene 3) und um die Fra-
ge der biographischen Triebfeder. Eine einseitige Festlegung auf die Ebene 4 (The-
rapeutische Ebene), wie sie z.T. in Phasen von Krisen oder bei einer unklaren Ziel-
definition geschieht, wird den Teilnehmern nicht gerecht. Sie verhindert zudem eine
Betrachtung der Strukturen und damit eine Entlastung auf einer systemischen Ebe-
ne. Im Unterschied zur Ebene 4, auf der es um Auflösung einer traumatischen Situ-
ation geht, ist das Thema der Ebene 3 die ständige Reflexion, die eine Auseinan-
dersetzung mit sich selbst und der aktuellen, beruflichen Alltagssituation mit Wert-
vorstellungen und Zielen, Grenzen und Handlungsräumen erfordert.“(Lüffe-
Leonhardt, 1993, 80).
Im Unterschied zu bereits praktizierenden Lehrer/innen haben Studierende noch
wenig Erfahrung mit dem pädagogischem Alltag aus der Lehrer/innenperspektive –
und zugleich eine mindestens dreizehnjährige Geschichte in diesem Bereich aus
Schüler/innenperspektive. Ihre Berufsrolle beginnen sie, eben erst zu erahnen und
in ersten Elementen herauszubilden. Sie sind noch nicht fest eingebunden in beruf-
liche Strukturen bzw. Systeme. In diesem Übergangsstadium liegen Schwierigkeit
und zugleich Chance für persönlichkeitsorientiertes, selbstreflexives Arbeiten:
Schwierig ist die Abgrenzung von beruflichen Erfahrungen als Praktikant/in in der
Schule von Erlebnissen als Schüler/in bzw. sogar von Erfahrungen aus anderen,
persönlichen Bereichen wie Familie, Freundeskreis, Wohngemeinschaft usw., die
oft schneller für eine Bearbeitung mobilisiert werden können, da sie den Seminar-
teilnehmer/innen noch näher sind. Solche Zusammenhänge müssen bei „gestande-
nen“ Lehrer/innen oft erst mit einigem Vorlauf an Erinnerungsarbeit hergestellt wer-
den. Es ist nicht leicht, berufsrelevante persönliche Erfahrungen im Seminarrah-
men auszudrücken und zu reflektieren. Eine vertrauensvolle Gruppenatmosphäre,
in der achtsam mit persönlichen Erlebnissen, die immer auch Wunden sein können,
umgegangen wird, ist die Voraussetzung für deren Bearbeitung. Gleichzeitig ist es
in der Verantwortung der Leitung, immer wieder klarzustellen, dass es in diesem
Setting um ein gemeinsames Forschen über diese Erlebnisse und ihre Relevanz für
die berufliche Perspektive geht. Aufgabe und Auftrag in diesen Seminaren ist nicht
die Heilung von Wunden – auch wenn eine Bearbeitung schwieriger Situationen für
die Teilnehmer/innen Erleichterung schaffen kann oder auch Hinweise auf eine
heilende Weiterbearbeitung an anderem Ort geben kann. In diesem Sinn ist Selbst-
erfahrung und Selbstreflexion ein wichtiger Anteil der Arbeit mit psychodramati-
12

schen Methoden an Praktikumserfahrungen, es handelt sich aber nicht um Thera-
pie. Aus dem Interesse an gemeinsamer Erforschung berufsrelevanter Erfahrungen
ergibt sich auch eine Arbeitsweise, bei der eher strukturell verallgemeinerbare Er-
lebnisse, kollektive Erfahrungen im Mittelpunkt stehen, als rein individuelle. Prota-
gonist/in ist in diesem Setting letztlich die Gruppe als Ganzes.

Ein weiterer Vorteil der Hochschulsituation - bei dem Nachteil der mangelnden Fes-
tigung beruflicher Erfahrungen - ist die Tatsache, dass die Studierenden noch nicht
in den alltäglichen Druck der Bewältigung pädagogischer Situationen eingespannt
sind. Die Schulpraxis darf nicht unter dem Anspruch geleistet werden, hier bereits
vor Beendigung des Studiums zu beweisen, dass die Studierenden sich praktisches
Verfügungswissen theoretisch fundiert angeeignet haben. Vielmehr betonte Dewey,
einer der philosophischen Väter demokratischer Erziehungskonzepte (insbesondere
der Projektmethode) schon 1904, dass „(p)raktische Studien (...) in erster Linie im
Hinblick auf die geistigen Anstöße, die sie geben, durchgeführt (werden). Sie sollen
dem Studenten ein besseres Verständnis der erzieherischen Bedeutung der Fach-
inhalte und der didaktisch-pädagogischen Grundlagen geben, mit denen er sich in
seinem Studium beschäftigt.“ Ziel der Schulpraktika sei, „nachdenklich und auf-
merksam zu machen, und nicht (...), unmittelbare Berufskompetenz zu vermitteln.
Denn unmittelbare Kompetenzen werden leicht auf Kosten des Willens erworben,
sich innerlich weiterzuentwickeln. (...) Wenn ein Lehrer nicht ein solcher Student ist,
kann er wohl seine mechanischen Fertigkeiten im Klassenmanagement verbessern,
aber er kann nicht als Lehrer, als Anreger und Lenker geistigen Lebens wachsen.“
Daraus folge auch u.a. Übelständen „der Mangel an selbständigem Denken unter
Lehrern, ihre Neigung zu geistiger Unterwerfung.“ Dewey führt aus, wie wichtig die
Einbeziehung der eigenen Lernerfahrung der Studierenden ist und betont für Unter-
richtshospitationen, dass der Student nicht darauf achten sollte, was „der gute Leh-
rer alles tut, und sich nicht bemühen (sollte), diese Lehrtechniken für seinen eige-
nen Unterricht festzuhalten. Vielmehr sollte er seine Unterrichtsbeobachtung ganz
auf die Wechselwirkung der Köpfe (interaction of mind) konzentrieren, er sollte dar-
auf achten, wie Schüler und Lehrer aufeinander reagieren (...). Was der Student in
diesem Stadium am allerersten benötigt, ist die Fähigkeit zu sehen, was in den Köp-
fen einer Gruppe von Personen vorgeht, die in geistigen Kontakt miteinander ste-
hen. Er muss lernen, psychologisch zu beobachten - etwas, was grundverschieden
davon ist zu beobachten, was ein Lehrer tun muss, um bei einem bestimmten The-
ma ‚gute Resultate‘ zu erziehen.“ . Erst dann könne der Student dazu übergehen,
mehr technische Aspekte des Unterrichts zu beobachten. (Dewey, 1904, 2,9/10,
13/14) Lange vor der Entwicklung der humanistischen Psychologie und ihrer An-
wendung auf schulisches (und hochschulisches) Lernen hat Dewey formuliert, was
gerade aufgrund der relativen Distanz zur Praxis während des Studiums an persön-
lichkeitsorientiertem Erkenntnisgewinn möglich ist.

Wenn die Schulpraxis v.a. „geistiger Anstoß“, Anlaß zu Reflexion und Selbstreflexi-
on ist, folgt für ein Schulpraktika begleitendes persönlichkeitsorientiertes Seminar-
konzept daraus, dass die Bearbeitung von subjektiven Erfahrungen immer in Rück-
bezug auf ausbíldungsrelevante Themen geschehen muss. Im Unterschied zu einer
auf Selbsterfahrung konzentrierten Gruppenarbeit – und erst Recht im Unterschied
zu einem therapeutischen Setting – ist der Anteil einer themenzentrierten Reflexi-
13

onsarbeit zur bewußtseinsmäßigen Integration des Seminargeschehens von großer
Bedeutung. Diese Integration des in szenischer Bearbeitung Erlebten sind mit dem
methodischen Instrumentarium psychodramatischer Selbsterfahrung (Sharing und,
Rollenfeedback - siehe weiter unten) noch nicht abgeschlossen. Auch eine Pro-
zessanalyse, d.h. der Bezug des szenischen Geschehens auf die Methodik des
Psychodramas und auf diagnostische Hypothesen, gehört in ein stärker selbsterfah-
rungsbezogenes Setting. Im pädagogischen Zusammenhang müssen die von den
Teilnehmer/innen eingebrachten Situationen und ihre szenische Bearbeitung – in
dem nötigen zeitlichen Abstand zum Erleben – in bezug auf ausbildungsrelevante
Themen kognitiv weiter vertieft werden. Bezüge zu strukturellen, gesellschaftlichen
und pädagogischen Fragestellungen sollten in Diskussionen, Vorträgen, Hausarbei-
ten usw. hergestellt werden. Es liegt in der Verantwortung der Seminarleitung, das
Benennen von Themen nicht allein dem spontanen Entwicklungsprozess der Grup-
pe zu überlassen. Prozessorientiertes Arbeiten heißt hier, unbenannten Gruppen-
themen methodisch gezielt zum Ausdruck zu verhelfen, thematische Verknüpfun-
gen vorzunehmen, Themenerweiterungen anzubieten – allerdings in Rückkopplung
mit den Fragen und Bedürfnissen der Teilnehmer/innen.

Zusammenfassend kann als Konsequenz aus der Situation der Praktikant/innen im
Lehramtsstudium festgehalten werden:

-   Ergänzend zur erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Ausbildung
    und Begleitung schulpraktischer Studien an Pädagogischen Hochschulen sollten
    persönlichkeitsorientierter Lernsituationen zur Erweiterung einer realitätsgerech-
    ten pädagogischen und sozialen Handlungsfähigkeit angeboten werden.
-   Ziel solcher Angebote ist eine annehmende, aufklärende Erkenntnis des Ist-
    Zustandes der Praktikant/innen in schwierigen Situationen und die Freisetzung
    von Veränderungspotentialen, v.a. bezogen auf die spezifischen Ängste von
    Praktikant/innen.
-   Methodisch sinnvoll ist ein prozess- und themenzentriertes Arbeiten unter Ein-
    beziehung von eher gruppengerichteter als individueller Selbsterfahrung, die auf
    dem Hintergrund berufsrelevanter Theorien reflektiert werden sollte.

Im nächsten Schritt soll nun ausgeführt werden, inwiefern die Methoden des Psy-
chodramas in diesem Zusammenhang ein geeignetes Instrumentarium darstellen.
14

2.      Theoretische und methodische Grundlagen psychodramatischer Arbeit

Die Grundannahmen des Psychodramas sind vielfach dargestellt, systematisiert
und interpretiert worden. Hier soll nun ein Blick zunächst auf einige theoretische
Überlegungen Morenos und anschließend auf die Methoden des Psychodramas
geworfen werden, die für die Bearbeitung von Praktikumserfahrungen im Hoch-
schulrahmen relevant sind. Für eine intensivere Beschäftigung mit Theorie und Me-
thode des Psychodramas verweise ich auf die einschlägige Literatur (siehe Litera-
turliste).
Ethymologisch geht der Begriff Psychodrama zurück auf die Begriffe „Seele“
(griech. Psyche) und „Handlung“ (griech. Drama“). Jacob Levy Moreno (1889 —
1974), der Begründer des Psychodrama, sagt dementsprechend: "Psychodrama
kann darum als diejenige Methode verstanden werden, die die Wahrheit der Seele
durch Handlung ergründet." (Moreno, 1956, 77).
Moreno selbst nennt als Ziel seiner Methoden, „die Psychotherapie dem wirklichen
Leben näher(zu)bringen“. Moreno gilt als einer der Begründer der „Gruppenpsycho-
therapie“ (Moreno, 1956, Vorwort). An anderer Stelle spricht er vom Psychodrama
als einer pädagogischen Methode (Moreno, 1956, 106 ff.). In der Rezeption wird
Morenos Werk sowohl der Psychologie als auch der Pädagogik zugeordnet (siehe
Literaturliste).
Schon zu Beginn der Entwicklung seines Ansatzes in den frühen zwanziger Jahren
stellte Moreno den „Wunsch nach Begegnung“ in den Mittelpunkt seines Denkens
und Handelns. Hier schlugen sich Einflüsse der Expressionisten und deren Antwort
auf die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen infolge der technisch-
industriellen Expansion ebenso nieder wie Elemente chassidischer „Dialogiker“ wie
Martin Buber (Buer, 1989). In Abgrenzung zum marxistischen Denken geht Moreno
in seiner Idee einer „kreativen Revolution“ und „therapeutischen Weltordnung“ aus
von der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der zwischenmenschlichen Beziehung
(Moreno, 1967, 12).
Auch wenn einige der Gedanken Morenos, selbst unter Einbeziehung ihres zeitge-
schichtlichen Hintergrundes, nach genialischer Selbstüberschätzung klingen, haben
sie eine Vielzahl von fruchtbaren praktischen und theoretischen Entwicklungen im
Bereich der Pädagogik und Therapie ausgelöst. Im Folgenden soll der Versuch ge-
macht werden, in dem Anlaß entsprechender skizzenhafter Form seinen Gedan-
kengängen zu folgen unter der Fragestellung:

-    Was kann Morenos Konzept der Begegnung und seine methodische Konkreti-
     sierung für eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit z.B. von Praktikant/innen
     bedeuten? Werden dabei individuelle und strukturelle Faktoren einbezogen und
     miteinander in Verbindung gebracht? Wo liegen die Grenzen seines Ansatzes
     für diesen Arbeitsbereich?
15

2.1. Das Konzept der Begegnung

  In seinen religiös-philisophischen anthropologischen Grundlagen geht Moreno
  aus von einem Du-Gott ,,dem „Gott als Schöpfer“, Urbild aller Kreativität, der sei-
  ne Entsprechung im Ich-Gott des Menschen hat, der seine Gottesgleichheit ver-
  stehen muss im Sinne von Annehmen der eigenen Schöpferkraft. Der Mensch ist
  bestimmt durch Kosmos, Raum, Zeit und Realität und gekennzeichnet durch
  Spontaneität, Kreativität, Aktion und Begegnung, d.h. das den Menschen Be-
  stimmende ist immer gleichzeitig eine Aufforderung zur Neugestaltung. Mensch-
  liches Sein ist immer mitmenschliches Sein, der Mensch ist eine soziale und or-
  ganische Einheit. Die kleinste soziale Einheit ist nicht das Individuum, sondern
  das „soziale Atom“, also die Gesamtheit der von einem Individuum gelebten so-
  zialen Beziehungen.
  Mensch und Kosmos, bzw. Du-Gott und Ich-Gott haben sich durch die Ausbeu-
  tung der Natur, durch Technik und Vermassung, voneinander entfremdet, das
  Selbst und der umgebende Lebensraum haben sich verdinglicht, menschliche
  schöpferische Handlungen sind zu Kulturkonserven erstarrt. Ziel einer kreativen
  Revolution und therapeutischen Welttheaters soll sein, dass die Menschen wie-
  der Verantwortung übernehmen für das ganze Universum und die Erstarrungen
  aufheben. Dies geschieht durch die Begegnung der Menschen mit sich selbst,
  miteinander, dem „Schöpfer“ und der Welt. Petzold fasst zusammen: „Nach dem
  anthropologischen Grundgedanken Morenos ist der Mensch ein dramaturgos, ein
  schöpferisch Handelnder, ein Ich-Gott (persönlichkeitstheoretischer Aspekt), der
  in der Begegnung mit dem anderen, dem Du-Gott, in den zwischenmenschlichen
  Beziehungen (gesellschaftlicher Aspekt) das ‚Theater aller mit allen‘ auf der Büh-
  ne der Welt (kosmologischer Aspekt) verwirklicht.“ (Petzold, 1978, 103).
  Im Zentrum seines Wesens hat jeder Mensch nach Moreno eine Gottesebenbild-
  lichkeit im Sinn von Spontaneität und Kreativität. In der Begegnung mit einem
  anderen macht er sich in seinem Zentrum erfassbar und kann so seine eigene
  Gottesgleichheit neu erkennen. So kommt es zur Aufhebung von Ich- und Du-
  Gott.
  In einem seiner poetischen Texte entwickelt Moreno die Vision einer Begegnung
  mit den Teilen und dem Ganzen, sowie als Teil und als Ganzes in Gestalt der
  Begegnung mit Männern, Frauen, Kindern auf einer Wanderung von der familiä-
  ren Wohnung über den Ort, die Gemeinde, den Bezirk, das Land ... Gibt es je-
  weils keine Konflikte (Riss, Bruch, Übel, Verdruss, Unschicklichkeit, Unvollkom-
  menheit), dann ist die Begegnung vollendet und die Wanderung kann weiterge-
  hen. Besteht aber ein Riss, dann ist die Begegnung nicht entstanden. Dann „hält
  mich die Begegnung auf wie ein Strom, den bald Klippen, bald Biegungen, bald
  Sandbänke am Fließen hindern“ und ich habe einen Grund, „nach unserer Lage
  zu fragen, unsere Lage zu prüfen, unsere Lage zu erkennen und aus unserer
  Lage herauszuführen“.
  Um die jeweilige Lage zu betrachten, muss der Wanderer das Thema „nicht in
  mehr, nicht in weniger als so vielen, nur durch die Betroffenen und aus ihnen
16

entstehen (..) lassen“. Je nach Thema entsteht es in einem, zwischen Zweien
oder Allen.
Die Lösung von Themen und Lagen geschieht nicht isoliert voneinander. Die Tei-
le hängen zusammen wie die Blätter und Früchte eines Baumes. Es sind „unzäh-
lige Millionen von Wesen, von welchen unsere Lage abhängt und deren Lage
von uns abhängt. So sind es unzählige Millionen Wesen, die den Knoten bilden
der uns würgt.“ Der Lösungsweg geht also über die Wohnung zum Haus, zur
Straße, zum Ort, dem Nachbarort, in das Land, über die Erde, in den grenzenlo-
sen Raum. Der Weg beginnt dort, von wo du ausgegangen bist, bei dir, und
wenn du dir entsprochen hast, bei deinen Mitbewohnern, und wenn du diesen
entsprochen hast, bei deinen Hausbewohnern ...“ usw., wobei „entsprechen“
heißt, „wenn ein Konflikt da ist, übe ich den Kampf, beharre ich im Kampf, trage
ich den Kampf aus.“.
Haben Begegnungen in diesem Sinn stattgefunden (bei Moreno immer gleichzei-
tig Begegnungen „mit dir“, dem Du-Gott), dann „kann ich zu mir sagen: ich fühle
mich, ich denke meine Gegenwart, ich sehe mich, ich höre mich, ich taste meine
Hände, meine Haut und ich nehme mich vollkommen wahr. Nichts ist mehr, was
mich hindert zu begegnen, mein Gefühl ist geheilt, der Knoten gelöst, die Begeg-
nung vollendet.“ (zitiert nach Leutz, 1986, 66 ff).
Dieser Text ist vielfältig interpretierbar. Für unseren Zusammenhang ist festzu-
halten:
-   Schwierige Situationen (Klippen, Risse, Konflikte) sind produktiv zu nutzen als
    Handlungsgrund zur Erforschung und Veränderung der eigenen Lage. Dies
    kann also auch für schwierige Praktikumssituationen und für entsprechende
    Ängste gelten.
-   Das zu bearbeitende Thema "entsteht" zwischen den Betroffenen, und Agens
    des Bearbeitungsprozesses sind diese und nur sie. Es gibt keine Direktiven
    von Seiten irgendeiner Leitung dieses Prozesses. Konflikte untereinander
    sind Teil des Bearbeitungsprozesses. Methodisch verstehe ich dies als ein
    Plädoyer für eine prozessorientierte und non-direktive Herangehensweise.
-   Das Handlungs- und Verantwortungsfeld ist nicht auf das Individuum zu be-
    grenzen, sondern ist systemisch verbunden mit der sozialer Gemeinschaft bis
    hin zu dem näher zu definierenden "Kosmos“. Erst in der Aktivierung dieser
    dialektischen Verbindung, ausgehend vom Individuum, liegt ein Heilungs-
    bzw. Lösungsansatz.
    Hier wird also der Anspruch formuliert, individuelle und strukturelle Faktoren
    im Zusammenhang zu sehen und zu bearbeiten. Dabei liegt die Betonung auf
    der aktiven Rolle des menschlichen Subjekts, das Verantwortung für die Wei-
    terentwicklung der Welt übernimmt. "Moreno hat die Vision einer Gesell-
    schaft, in der alle Individuen nicht nur durch Zustimmung, sondern als Initiato-
    ren und Mitschöpfer auch Mitglieder sind. Dieses Konzept der kreativen Funk-
    tion von Mitschöpfertum ist von Moreno als die wesentliche Essenz der psy-
    chodramatischen Gemeinschaft beschrieben worden." (Shearon, o.J., 10)
17

Wie werden nun diese grundsätzlichen Annahmen in der psychodramatischen Ar-
beit umgesetzt?
„Psychodrama ist Einladung zu einer Begegnung‚ — im Spiel. (...). Begegnung ist
bewusste, fühlende und handelnde Teilnahme am lebendigen Sein. Durch die Ein-
heit von Denken, Fühlen und Handeln in der Begegnung wird das Psychodrama als
Methode konkret.“ (Leutz, 1986, 66). Auf der Psychodramabühne findet Begegnung
statt zwischen den Gruppenmitgliedern, Protagonist/in und Leiter/in, mit sich selbst
und mit der Welt in Gestalt der in Raum und Zeit konkreten Situation. In Verbindung
mit den anderen Techniken drückt sich Begegnung vor allem in dem für das Psy-
chodrama charakteristischen Rollentausch aus.
Als Mitschöpfer/innen erleben sich die Protagonist/innen in ihrer Verantwortung für
die Entwicklungen ihres Weltausschnittes. "Dann können plötzlich auch die, die sich
in ihrem bisherigen Leben als ohnmächtig erlebt haben, ungeahnte Kräfte entwi-
ckeln. Sie spüren, auch auf sie kommt es an. Ihr Spiel hat einen Wert im Schöp-
fungsprozess, auch sie können an diesem Prozess aktiv teilnehmen." (Buer, 1991,
264).
Bevor auf die Umsetzung der theoretischen Grundannahmen in den psychodrama-
tischen Methoden eingegangen wird, sollen die hier bereits anklingenden zentralen
Begriffe der Theorie wie Kreativität, Spontaneität, Aktion und Tele in ihrem für die-
sen Kontext relevanten gedanklichen Zusammenhang nach Moreno kurz skizziert
werden.

2.2. Spontaneität, Kreativität und Aktion

Alles Lebendige ist durch Aktion gekennzeichnet, damit ist nach Moreno auch der
Mensch von Anfang an ein Handelnder, der sich im Handeln die Wirklichkeit und
auch sich selbst erschließt (Leutz, 1986, 56/57).
Jeder Handlung geht der Zustand der Spontaneität voraus und diesem wiederum
eine physische oder psychische Erwärmungsaktivität, die Handlung vorbereitet, in-
dem sie den ganzen Organismus auf ein adäquates Aktionsniveau bringt. Dabei
geht Moreno davon aus, dass der Mensch ein grundsätzliches Handlungsbedürfnis
im Sinne einer Auseinandersetzung mit Welt hat, das er "Aktionshunger" nennt.
(Leutz, 1986, 80 ff.). Menschliches Handeln ist demnach abhängig vom Grad
menschlicher Spontaneität, die wiederum abhängt vom Grad des Aktionshungers
und der vorausgegangenen Erwärmung.
Spontaneität definiert Moreno als "eine adäquate Reaktion auf neue Bedingungen
oder eine neue Reaktion auf alte Bedingungen." (Moreno, 1959, 34). Auch wenn
hier missverständlich von "Reaktion" die Rede ist, ist dieser Begriff im Kontext des
oben ausgeführten Gedanken vom Menschen als Schöpfer/Mitschöpfer weniger
reaktiv, als aktiv-gestaltend zu interpretieren. Leutz betont, dass Spontaneität allein
auch zerstörerisch sein kann "wie das spontane, undifferenzierte Zellwachstum ei-
ner Krebsgeschwulst, welches nicht auf das übergeordnete Gestaltungsprinzip des
Organismus bezogen ist". Ziel einer psychodramatischen Freisetzung von Sponta-
neität sei vielmehr, deren sinnvolle Intergration in das gesamte Lebensgefüge des
Menschen (Leutz, 1986, 56). Auf menschliche Sinn- und Seinszusammenhänge
bezogene Spontaneität bedingt Kreativität, ein kosmisches Urphänomen für More-
18

no. Ist Spontaneität ein "Erz-Katalysator", so ist Kreativität "Erzsubstanz", oder
"formende Substanz", Ursprung und Ziel menschlichen Seins (Moreno 1967, 16 und
448). Beides sind Wesensmerkmale des Menschen als Gottesebenbild, als Schöp-
fer, der erst im schöpferischen Akt seine wirkliche Bestimmung erhält.
Im Psychodrama gilt es nun, blockierte Spontaneität und Kreativität freizusetzen.
Gelingt das in der Begegnung auf der Psychodamabühne, so stärkt dies die
menschliche Verteidigungskraft gegen die entfremdete, umweltzerstörte Welt der
Hochtechnologien und kann so auch zu gesellschaftlichen Veränderungen führen.
Im Psychodrama sieht Moreno einen Mikrokosmos, in dem sich die Probleme von
Menschenmassen im Makrokosmos spiegeln (vergl. Yablonsky, 1978, 44). Die ge-
sellschaftliche Bedeutung von Spontaneität und Kreativität wird im Begriff der "Kul-
turkonserve" noch einmal deutlich. So bezeichnet Moreno die haltbar gemachten
Produkte des schöpferischen Aktes, die die Kultur kennzeichnen und ihrerseits wie-
der zu Spontaneität anregen: "Das vollendete Produkt eines kreativen geistigen
Vorgangs stellt eine Kulturkonserve dar. Die Konserve erhält die Werte einer be-
sonderen Kultur." (Moreno. 1967, 440). Im Unterschied zu Erstarrungen und Kon-
servierung, Merkmalen der Entfremdung, ist die Kulturkonserve überlebensnotwen-
dig - das Rad muss nicht immer wieder neu erfunden werden. Sie enthält selbst
keine Spontaneität mehr, regt aber zu schöpferischem Handeln an. Wird diese An-
regung nicht genutzt, entstehen tatsächlich Erstarrungen, der Mensch entfremdet
sich von sich selbst, erleidet eine neue Form des sozialen Todes, wird zum "Robo-
pathen" (verg. Yablonsky, 1978, 219 ff.).
Bezogen auf unseren Zusammenhang lässt sich zusammenfassen, dass die More-
noschen Begriffe von Aktion, Spontaneität und Kreativität von einem aktiven Men-
schenbild ausgehen, das seine kreativen Potentiale in permanent handelnder Aus-
einandersetzung mit von Menschen geschaffenen Strukturen weiterentwickelt. Die-
ser - noch sehr allgemein gefasste - theoretische Ansatz lässt sich sinnvoll auf per-
sönlichkeitsorietierte Lernsituationen an der Hochschule für Pratikant/innen anwen-
den, die ihre Persönlichkeit und Rolle in Auseinandersetzung mit aus der Schü-
ler/innenvergangenheit altbekannten, aber sich ständig weiterentwickelnden Struk-
turen und Rollenvorgaben (Kulturkonserven) nun als Lehrende aus einer neuen
Perspektive heraus entwickeln möchten.
Da Moreno davon ausgeht, dass menschliches Sein immer mitmenschliches Sein
ist, sollen im Folgenden die Begriffe umrissen werden, mit denen in der Psy-
chodramatheorie die zwischenmenschlichen Beziehungen erfasst werden.

2.3. Interaktionsfaktoren: Tele, Einfühlung, Übertragung und soziales Atom

Tele (griech.: fern, in die Ferne wirkend) ist nach Moreno die Grundlage aller zwi-
schenmenschlichen Beziehungen und “beruht auf Gefühl und Erkenntnis für die
wirkliche Situation der anderen Person“ (Moreno, 1956, 24). Es geht im Fall einer
optimalen und gesunden zwischenmenschlichen Beziehung also hier um eine ge-
genseitige realitätsgerechte Wahrnehmung, ein Innewerden der Persönlichkeit des
oder der anderen und ihrer Lebensumstände. "Tele ist nicht einseitige Einfühlung,
Tele ist Begegnung (Hervorhebung durch den Autor, J.H.)." Moreno spricht auch
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