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Schriftenreihe der Unfallkasse Hessen 3 Band 3 Sicherheit Mehr Sicherheit durch Bewegung Mehr Sicherheit durch Bewegung Bewegung Unfallkasse Hessen Opernplatz 14 60313 Frankfurt am Main Regionalbüro Nordhessen Unfallkasse Hessen Obere Königsstraße 8 Partner für Sicherheit ISBN 3–934729–02–9 34117 Kassel
Schriftenreihe der Unfallkasse Hessen Band 3 MEHR SICHERHEIT DURCH BEWEGUNG Psychomotorik in Kindergarten und Grundschule Unfallkasse Hessen Partner für Sicherheit
Herausgeber: © Unfallkasse Hessen Opernplatz 14, 60313 Frankfurt am Main Telefon: 0 69/2 99 72– 0, Telefax: 0 69/2 99 72–2 07 Internet: www.unfallkasse-hessen.de E-Mail: ukh@ukh.de Regionalbüro Nordhessen Obere Königsstraße 8, 34117 Kassel Telefon: 05 61 / 729 47– 0, Telefax: 05 61 / 729 47– 11 Autor: Manfred Stich Redaktionelle Bearbeitung: Pia Ungerer Ortrun Rickes, Christina Goedecke: Unfallkasse Hessen Grafische Gestaltung und Satz: Gabel Typographie, Oppenheim Zeichnungen: Georg Stenzel Herstellung: Corinna Gabrisch, Universum Verlagsanstalt Verlag und Druck: Universum Verlagsanstalt, 65175 Wiesbaden Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Recyclingpapier Verantwortlich für den Inhalt ist der Autor © für diesen Band: Unfallkasse Hessen Mai 2000 ISBN 3–934729–02–9
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 I. Sicherheit und Bewegung – Aspekte einer kindgerechten Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Kindsein heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Kinder müsen sich bewegen dürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Bewegung als Fundament der kindlichen Entwicklung . . . . . . . . . . . 14 2.1 Zur Bedeutung und Situation der Bewegungsentwicklung . . . . . . 14 III. Wahrnehmung als Baustein der kindlichen Entwicklung . . . . . . . . . . 17 3.1 Fühlen – Taktile Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.2 Der Gleichgewichtssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.3 Der Bewegungssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.4 Der Geruchssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.5 Der Geschmackssinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.6 Der optische Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.7 Der akustische Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 IV. Psychomotorik – Persönlichkeitsentwicklung über Bewegung und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4.1 Intentionen der Psychomotorik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4.2 Mögliche Inhalte der Psychomotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.2.1 Körpererfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.2.2 Wahrnehmungserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.2.3 Sozial-emotionale Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 4.2.4 Materialerfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 4.3 Methodische Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 5
4.3.1 Zur Person der/des Erziehenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4.3.2 Zur Bedeutsamkeit der Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.3.3 Zur Frage der Auswahl psychomotorischer Spielgeräte . . . . . . . . 28 V. Psychomotorik in Kindergarten und Grundschule . . . . . . . . . . . . . . 29 5.1 Kennzeichen der allgemeinen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 29 5.2 Erziehungsziele des Kindergartens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 5.3 Zur aktuellen Entwicklung der Bewegungserziehung . . . . . . . . . 33 5.4 Zur Notwendigkeit psychomotorischer Erziehung . . . . . . . . . . . 34 VI. Psychomotorik – Beispiele aus der Praxis für die Praxis . . . . . . . . . . 36 6.1 Seinen Körper und sich vielfältig wahrnehmen . . . . . . . . . . . . 36 6.2 Das psychomotorische Alltagsmaterial „Korken“ . . . . . . . . . . . 40 6.3 Psychomotorische Ausdrucks- und Kooperationsspiele . . . . . . . . 44 6.4 Bewegungsspiele sind wichtig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 VII. Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 VIII. Förderdiagnostische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 8.1 Warum ist die Beobachtung von Kindern ein wichtiges pädagogisches Anliegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 8.2 Sind Testverfahren ein geeignetes Mittel, um Informationen über den Fähigkeitsstand eines Kindes zu gewinnen? . . . . . . . . 55 IX. Wie kann die Bauplanung Bewegungsangebote unterstützen oder: Was können wir mit einfachen Mitteln in unserer Einrichtung verändern? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 X. Tipps, Anregungen, Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 10.1 Fort- und Weiterbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 6
10.2 Zur Zusammenarbeit von Kindergarten, Schule und Verein . . . . . . 60 10.2.1 Welche Voraussetzungen müssen bei einer Zusammenarbeit von Kindergarten und Verein berücksichtigt werden? . . . . . . . . . 60 10.2.2 Formen der Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 10.3 Der Aufbau psychomotorischer Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . 61 10.3.1 Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 10.3.2 Materialbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 10.3.3 Was muss ich alles arrangieren, bevor die erste Bewegungs- stunde stattfinden kann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 10.4 Buchtipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 10.5 Bücherliste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 10.6 Zeitschriftenbezugsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 10.7 Broschüren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 10.8 Bezugsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 10.9 Video-Filme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 10.10 Elternarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 7
Einleitung Mehr Sicherheit durch Bewegung – im Alter von 3 bis 6 Jahren wesentliche Psychomotorik in Kindergarten und Entwicklungsimpulse vermittelt, er- Grundschule kannt und in zunehmendem Maße in den Alltag des Kindergartens integriert. Als vor vier Jahren die erste Auflage der • Immer mehr pädagogische Fachkräfte Broschüre „Mehr Sicherheit durch Bewe- und Lehrkräfte entwickeln das Be- gung – Psychomotorik im Kindergarten“ wusstsein, dass Psychomotorik ein erschien, war das Bestreben der Unfall- kindgemäßer und entwicklungsorien- kasse Hessen (damals noch getrennt in: tierter Ansatz ist, der die individuellen Hessischer Gemeindeunfallversicherungs- Fähigkeiten und Fertigkeiten des Kin- verband und Eigenunfallversicherung der des in den Mittelpunkt seiner Bemü- Stadt Frankfurt) und des Autors, einen hungen stellt. möglichst breiten Adressatenkreis hessi- • In den vorschulischen und schulischen scher Kindergärten, -horten und -tages- Einrichtungen finden wir immer mehr stätten zu erreichen, um auf die Idee wie Kinder, die ein „Problem“ haben oder die Notwendigkeit psychomotorischer Er- als „schwierig“ bezeichnet werden. ziehung in vorschulischen Einrichtungen Dieses „Problem“ kann sich in einer aufmerksam zu machen und sie weiter zu abweichenden und/oder verzögern- verbreiten. Wie die kontinuierlich steigen- den Entwicklung in den Bereichen Mo- de Nachfrage nach dieser Broschüre und torik, Wahrnehmung, Sprache, Sozial- die gestiegene Bereitschaft von pädago- verhalten, Aufmerksamkeit/Konzen- gischen Fachkräften und Lehrkräften nach tration sowie Lernen zeigen und mani- psychomotorischen Fortbildungsangebo- festieren. Psychomotorik kann hier ten zeigt, haben wir dieses Ziel, wenn wichtige Denk- und Handlungsimpulse auch nicht flächendeckend, erreicht. vermitteln, die gerade diesen schwieri- „Psychomotorik“ ist im Begriff, in vielen gen Kindern zugute kommen. Kindergarten- und Grundschuleinrich- • In zunehmendem Maße lassen auch tungen ein wichtiges Thema zu werden, Eltern ein Informations- und Fortbil- das immer mehr an Aktualität und Be- dungsbedürfnis nach psychomotori- deutung gewinnt und gewinnen muss. schen Angeboten erkennen. Zahlreiche Elternabende, die ich in den letzten Wir führen dies auf mehrere Entwicklun- Jahren in Kindergärten durchgeführt gen zurück: habe, lassen entsprechende Entwick- lungen erkennen. • Der Ansatz der Psychomotorik wurde als ganzheitlich persönlichkeitsför- Viele pädagogische Fachkräfte, Übungs- dernder Aspekt, der gerade für Kinder leiter und Eltern, die in den letzten Jahren 8
Einleitung an meinen Fortbildungsseminaren der • dass die aktuelle Entwicklung der Be- Unfallkasse Hessen und des Bildungs- wegungserziehung/Psychomotorik in werkes des Landessportbundes Hessen Kindergarten, Grundschule und Verein teilgenommen haben, ließen immer wie- als Anlass zur Veränderung zur Kennt- der ein verstärktes Bedürfnis nach grund- nis genommen wird (Kapitel 5), legenden Informationen und praktischer • dass die Wichtigkeit, Bedeutung und Umsetzbarkeit hinsichtlich der Bewe- die Praxis des Spielens und des Spiels gungs- und Wahrnehmungsentwicklung aus psychomotorischer Sicht verdeut- bzw. -förderung erkennen. Auch förder- licht wird (Kapitel 6), diagnostische Fragestellungen (z. B.: • dass pädagogische Fachkräfte, „Wie kann ich denn erkennen, ob ein Kind Übungsleiter und Eltern einen groben eine Wahrnehmungs- oder Bewegungs- Überblick möglicher Bewegungs- und beeinträchtigung hat?“) standen immer Wahrnehmungsbeeinträchtigungen/ wieder im Blickpunkt der psychomotori- -störungen vermittelt bekommen schen Fortbildungen. (Kapitel 7), • dass pädagogische Fachkräfte, Im Rahmen dieser Broschüre ist es nicht Übungsleiter und Eltern für den Um- möglich, eine befriedigende Antwort auf gang mit förderdiagnostischen Frage- all diese Bedürfnisse und Fragestellun- stellungen Hinweise erhalten gen zu geben. Dennoch wollen wir mit (Kapitel 8), einer in Teilen stark veränderten Konzep- • dass pädagogsche Fachkräfte, tion der nun vorliegenden zweiten Auf- Übungsleiter und Eltern Grundinfor- lage der Broschüre „Mehr Sicherheit mationen hinsichtlich bauplanerischer durch Bewegung – Psychomotorik in Kin- Überlegungen, die von kurz- bis zu dergarten und Grundschule“ erreichen, langfristigen Maßnahmen führen können, erhalten (Kapitel 9), • dass sich bei pädagogischen Fach- • dass pädagogische Fachkräfte, kräften, Übungsleitern und Eltern das Übungsleiter und Eltern den Mut Bewusstsein und die Einsicht in die haben, psychomotorische Gruppen in Notwendigkeit von Bewegung als ele- der eigenen Einrichtung oder in Turn- mentarem Baustein einer ganzheitlich- und Sportvereinen ins Leben zu rufen. kindlichen Entwicklung weiterhin Dazu sind Tips, Ratschläge und Anre- schärft (Kapitel 1 und 2), gungen aufgeführt (Kapitel 10). • dass sich durch ein Mehr an Wissen um die einzelnen Wahrnehmungsbereiche Eigene Erfahrungen aus einer nunmehr eine effektivere Wahrnehmungs- und 10-Jährigen psychomotorischen Praxis mit Bewegungsförderung ermöglichen Kindergarten- und Grundschulkindern lässt (Kapitel 3), belegen, dass sich diese Kinder, sofern • dass Erzieherinnen, Lehrkräfte, wir als Erwachsene ihnen die Chance zum Übungsleiter und Eltern die grundsätz- Sammeln vielfältiger Körper-, Material- liche Bedeutung der Psychomotorik für und Sozialerfahrungen einräumen, zu die kindliche Persönlichkeitsentwick- handlungsfähigen, selbstbewussten und lung erkennen (Kapitel 4), selbstsicheren Menschen entwickeln 9
Einleitung können. Es genügt nicht, nur die äußeren sichtlich effektiver Maßnahmen etwas Sicherheitsregeln und -bestimmungen Grundsätzliches ändert. Die Unfallkasse (DIN-Anleitungen, Sicherheit von Geräten Hessen hat als eine der ersten Institutio- etc.) zu berücksichtigen: Die Kinder müs- nen die Zeichen der Zeit erkannt und bie- sen vielmehr so gestärkt werden, dass tet seit Jahren regelmäßige Fortbildungen sie sich mit aufrechtem Gang, innerer und zum Thema Bewegungserziehung/Psy- äußerer Haltung, physisch und psychisch, chomotorik an. Bedingt durch die Initia- das heißt sicher in ihrer Welt bewegen tiven Einzelner wurden in den letzten Jah- können. ren Psychomotorikvereine (vor allem in größeren Städten) gegründet. Ein flächen- Sicherheit, Bewegung und Wahrnehmung deckendes Angebot psychomotorischer sind somit als verhaltensstabilisierende Erziehung und Förderung ist jedoch bei und verhaltensfördernde menschliche weitem noch nicht in Sicht. Hier sind Bedürfnisse einzustufen. Je mehr Kinder Trägervereine der Kindergärten, Schul- ihre Umwelt wahrnehmen, je mehr sie aufsichtsbehörden und Landessport- sich in dieser Umwelt bewegen können bünde gemeinsam gefragt. Die Hessische und dürfen, um so größer wird sich das Sportjugend versucht, durch eine jüngst Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten und ins Leben gerufene Aktion, neue flächen- das Selbstbewusstsein im sozialen Kon- deckende Wege und Konzepte zu be- text entwickeln können. Sicherheit ist schreiten. nicht länger nur eine Frage zu schaffen- der Rahmenbedingungen, sondern zielt Darüber hinaus gilt es, weitere Konzepte auf die Entwicklung eines individuell- zu erarbeiten, in denen das gemeinsame sicheren Verhaltens in allen Alltags- und Bestreben aller Beteiligten (vor allem Lebenssituationen ab. Psychomotorik auch unter Einbezug von Eltern und kann hier ein wichtiger Wegweiser sein. Familien) wirksam wird. Aus-, Fort- und Es liegt an uns als Erwachsene, dies zu Weiterbildungsmaßnahmen (z.B. pro erkennen und den Kindern zu ermög- Einrichtung ein/eine als Multiplikator fun- lichen. gierender/e Fachmann/Fachfrau für Psychomotorik) müssen hier eine erhebli- Zurückliegende wie gegenwärtige Erfah- che Aufgewichtung erfahren. Wie gelun- rungen belegen aber auch, dass psycho- gene Beispiele aus der Praxis immer wie- motorischen Angeboten, Denk- und Hand- der zeigen, kann die wichtige Frage nach lungsweisen im vorschulischen wie schu- den sächlichen und räumlichen Rahmen- lischen Kontext immer noch viel zu wenig bedingungen durchaus kostengünstig, Platz eingeräumt wird. Dies ist um so manchmal auch kostenneutral (z.B. durch verwunderlicher als seit Jahren Kranken- "Sponsoring") geklärt werden. Wichtig kassen und Verbände auf das Problem und unerlässlich ist es, dass wir als Er- der stetig wachsenden Zahl bewegungs-, wachsene ein stärkeres Bewusstsein für wahrnehmungs-, sprach-, verhaltens- so- die psychomotorische Entwicklung der wie koordinationsbeeinträchtigter oder Kinder gewinnen und die praktische -gestörter Kinder und Jugendliche auf- Umsetzung, die mit Sicherheit Einsatz merksam machen, ohne dass sich hin- und Energie erfordert, nicht scheuen. 10
I Sicherheit und Bewegung – Aspekte einer kindgerechten Erziehung 1.1 Kindsein heute Viele Bewegungen und Aktivitäten wer- den nicht beachtet. So ist das kindliche Erziehung gestaltet sich heute schwieri- Verhalten weniger geprägt von selbst- ger denn je. Die Belastbarkeit von Erwach- ständigen Verhaltensweisen und Fähig- senen und Kindern wird zunehmend ge- keiten, sondern liefert Antworten auf ringer. Es fällt Kindern schwer zu warten, Tätigkeiten oder Worte der Erwachsenen. zu verzichten oder zu geben. Rücksichts- Mit anderen Worten: Das Kind wird in losigkeit, Isolation, innere Unruhe, Ano- immer stärkerem Maße in eine passive nymität und Orientierungslosigkeit sind Rolle, in eine Konsumentenhaltung Ausdruck vielfältiger Verunsicherungen, gedrängt. Tagtäglich ist es einem Umfeld die sich in der Familie (steigende Schei- mit vielfältigen Einflüssen, Eindrücken, dungsraten; vaterlose Erziehung; allein Prägungen und Normen ausgesetzt, Erziehende; Kleinstfamilien), im beruf- muss eine wahre Informationsflut über lichen Leben (Arbeitslosigkeit) und im sich ergehen lassen und wird so vor zwischenmenschlichen Bereich (Gefühl unlösbare Bewältigungsmöglichkeiten für Gemeinschaft; Verständnis für den gestellt. anderen) zeigen. Hinsichtlich der Erzie- hung unserer Kinder müssen wir uns die Die kritiklose Verwendung vieler Medien Frage gefallen lassen, ob wir ihnen tat- (Video, Fernsehen, Gameboy, PC etc.) sächlich noch die Zeit und damit das begünstigt einen Entfremdungsprozess, Vertrauen und die Sicherheit vermitteln, in dem autonome, selbstbewusste, die sie für eine gesunde Entwicklung in selbstsichere und verantwortungsbewus- unserer Gesellschaft brauchen. ste Menschen nicht gefragt sind. So scheint letztlich alles machbar und alle In zunehmendem Maße sind wir um die Störungen des Lebens leicht behebbar. mangelnde Eigeninitative von Kindern besorgt. Viele ziehen es vor, nachzuah- 1.2 Kinder müssen sich bewegen dürfen men und zu reproduzieren anstatt selbst zu erfinden und eigene Ideen zu realisie- Sich seiner sicher werden, sich seiner ren. Darüber sollten wir jedoch nicht ver- sicher sein oder Sicherheit entwickeln wundert sein: Seit ihrer frühesten Kind- wird nach dem hier vorliegenden Ver- heit wird ihnen die Eigeninitiative von ständnis im wesentlichen von unseren Kindern regelrecht unterdrückt, wird die Fähigkeiten der Auseinandersetzung mit Lust am Ausprobieren eigener Aktivitäten anderen Menschen und den sachlichen und Möglichkeiten genommen. So machen Begebenheiten unserer Umwelt sowie der Kontrollmethoden einen erheblichen Teil Fähigkeit, soziale und emotionale Bezie- des täglichen Lebens aus. hungen einzugehen, bestimmt. 11
Kapitel I • Welche Konsequenzen hat dies für das • Wenn sich Kinder nicht mehr so bewe- Handeln der Erwachsenen? Wie können gen können wie dies für eine gesunde wir eine derart verstandene Sicherheit Entwicklung notwendig ist, bleibt ihnen vermitteln? vieles verschlossen und wir dürfen uns • Was ist zu tun, damit wir die natürli- nicht wundern, wenn sich diese Kinder chen und emotionalen Grundlagen einer auch uns gegenüber zunehmend kindgerechten Entwicklung nicht gänzlich verschließen. zerstören? • Sind wir uns eigentlich im Klaren, dass, Kinder erleben und erfahren sich und ihre je mehr wir den kindlichen Lebensraum Umwelt auf diese Weise. Wenn Kindern beschneiden, je mehr wir Aktivitäten und die Freiräume, in denen sie sich bewegen Bewegung nur noch an genormten können, erhalten und (wieder) ermöglicht Geräten, in genormten Räumen mit werden, werden sich diese Kinder mit genormten Verhaltensweisen zulassen, Sicherheit sicherer entwickeln. wir die Kinder ihrer, für die gesamte Entwicklung notwendige Bewegungswelt Die motorischen und sensorischen Fähig- berauben und sie in ihrem Verhalten und keiten von Kindern gelten häufig als in ihrem Bedürfnis nach Orientierung Bereiche, die sich – im Gegensatz zur eher verunsichern als die notwendige Kognition – scheinbar "von selbst" ent- Sicherheit vermitteln? wickeln und somit in pädagogischen 12
Sicherheit und Bewegung – Aspekte einer kindgerechten Erziehung Einrichtungen nicht gezielt gefördert wer- in der Nachbarschaft auf, die man für die den müssen. Dabei wird übersehen, dass meisten Bewegungsaktivitäten bräuchte. heute viele Kinder in einer Umgebung Das Angebot an bewegungsarmen aufwachsen, in der die normale Spielen sowie Medien nimmt im Bewegungsentwicklung stark einge- Gegenzug permanent zu und wird von schränkt ist: Wohnungsnahe den Kindern auch genutzt: So sind tägli- Bewegungsräume, die von den Kindern che Fernseh- und Videozeiten von mehre- spontan und ohne Begleitung genutzt ren Stunden bereits bei Vorschulkindern werden können, stehen dort nicht zur keine Seltenheit. Es verwundert daher Verfügung. So kann in Höfen und nicht, dass die Zeiten, in denen sich Hausfluren meist nicht gespielt werden Kinder täglich bewegen, seit Jahren und der Weg zum nächsten Spielplatz ist zurückgehen. Bewegte sich ein normales durch den Straßenverkehr so gefährlich, Grundschulkind vor 20 Jahren noch rund dass die Kinder den Platz nur in 35 Stunden in der Woche, so hat sich Begleitung Erwachsener oder älterer heute die wöchentliche Bewegungszeit Geschwister aufsuchen dürfen. Weiterhin etwa halbiert. wachsen viele Kinder ohne Gleichaltrige 13
II Bewegung als Fundament der kindlichen Entwicklung Die Welt der Kinder ist eine Welt des gewohnheiten haben Folgen: Kinder wei- Spiels und der Bewegung. Kinder müssen sen heute mehr körperliche Auffälligkei- sich bewegen können, um sich in unserer ten auf als noch vor 20 Jahren. So wurden Welt zurechtzufinden und sicher zu füh- in Einschulungsuntersuchungen bei ca. len. Nur eine Welt, die Kindern diese 60% der Kinder Haltungsprobleme, bei Bewegungsmöglichkeiten zugesteht und etwa 30% Übergewicht und bei rund realisiert, ist eine kindgerechte Welt. 40% Schwächen im Bereich der koordi- nativen Fähigkeiten festgestellt. Parallel 2.1 Zur Bedeutung und Situation der dazu verschlechterten sich auch die Bewegungsentwicklung körperlichen Fähigkeiten: Eine 1992 durchgeführte Untersuchung an Frank- Bereits im Mutterleib entwickelt das Kind furter Grundschulen stellte alarmierende Bewegungsfähigkeiten, die es über die Rückgänge der Fähigkeiten Ausdauer und Geburt hinaus immer mehr ausbaut. So Körperkoordination fest. Diese hängen sind die ersten Lebensjahre für die ge- eindeutig mit der mangelnden Möglich- samte kindliche Entwicklung von aus- keit zu motorischen Handlungen zusam- schlaggebender Bedeutung. Kinder wer- men. In einer weiteren Untersuchung den größer und selbstständiger, lernen zeigte sich, dass z. B. alle Erstklässler aus täglich dazu, machen Fortschritte bezüg- ländlichen Gebieten (die gefahrloser und lich ihrer Körpergröße, der Kontrolle ihrer somit häufig mit dem Fahrrad fahren kön- Bewegungen und Wahrnehmungen. Sie nen) das einhändige Fahren mit gleich- gehen, laufen, rennen, hüpfen, springen, zeitigem Zeichengeben (mit der anderen klettern, balancieren, schaukeln und vie- Hand) beherrschten; in Städten waren les andere mehr. Ihre Kraft, Schnelligkeit, hier nur 25% der Kinder dazu in der Lage. Ausdauer, Koordinations- und Orientie- rungsfähigkeit bildet sich qualitativ und Die beschriebenen Probleme stellen zum quantitativ immer stärker aus. einen die langfristige Sicherung der Ge- sundheit in Frage: Herz-Kreislauf-Erkran- Je optimaler äußere, umweltbedingte Vor- kungen sowie Wirbelsäulenbeschwerden aussetzungen gegeben sind und gestaltet hängen deutlich mit einem Mangel an werden, umso besser wird sich das Kind Bewegung zusammen. Zum anderen wird entwickeln. Oftmals ist es aber gerade aber auch die normale körperliche Ent- diese Umwelt und die Erwachsenen als wicklung beeinträchtigt: Eine Verbesse- (übermächtige) Repräsentanten dieser rung motorischer Fähigkeiten kann nur Umwelt, die kindliche Entwicklungen eher durch die Belastung des entsprechenden bremsen oder gar verhindern. Zivilisa- Bereichs erfolgen. So verbessert sich tionsbedingte Veränderungen der Lebens- etwa Kraft nur durch die Belastung der 14
Bewegung als Fundament der kindlichen Entwicklung Muskulatur, Ausdauer durch eine Belas- Das gewichtigste Argument für eine frühe tung des Herz-Kreislauf-Apparates. Die Bewegungsförderung stellen aber sicher Übungsabhängigkeit gilt insbesondere die zahlreichen positiven Wechselwirkun- für die koordinativen Fähigkeiten Körper- gen zwischen der motorischen bzw. sen- koordination und Gleichgewicht. Letzte- sorischen Entwicklung und den Bereichen res stellt einen komplexen Regelkreis dar, der Kognition, des Sozialverhaltens und in dem neben dem eigentlichen Gleich- des Selbstwertgefühls dar. gewichtsorgan (Vestibularorgan im Innen- ohr) auch der Körpersinn und die visuelle Einen direkten Zusammenhang zwischen Wahrnehmung eine Rolle spielen und Motorik und Intelligenz gibt es bei sehr miteinander koordiniert werden müssen. jungen Kindern (sensumotorische Phase), Situationen, in denen der Körper aus bei denen laut Piaget diese psychischen seiner stabilen Lage in eine labile gerät Bereiche noch nicht getrennt sind. Da und zu stürzen droht, müssen sehr schnell sprachliche und schriftliche Informatio- erkannt und durch Ausgleichsbewegun- nen noch nicht zur Verfügung stehen, gen korrigiert werden. erfolgt jegliche Erkenntnis durch Hand- lung (= Bewegung). Ein Verständnis von Die mangelnde Ausbildung vieler körper- Entfernung kann z. B. nur dann gewonnen licher Fähigkeiten belastet nicht nur die werden, wenn Strecken unterschiedlicher Gesundheit, sie fördert auch das Risiko, Längen vom Kind selbst zurückgelegt einen Unfall zu erleiden: Viele Zusam- werden. Gleiches gilt analog für den Er- menstöße sind zurückzuführen auf gerin- werb des Verständnisses von Geschwin- ge Reaktionsfähigkeit und die Unfähig- digkeit. Auch die Erkenntnis, dass Ober- keit, seine eigene Bewegung mit Anderen flächen unterschiedlich beschaffen sein abzustimmen. Bei Stürzen fangen sich können (rauh, glatt, weich), ist nur durch Kinder oft auf Grund zu geringer Kraft, eigenes Betasten möglich: „Greifen“ Reaktionsfähigkeit und Körperkoordina- und „Begreifen“ hängen eben nicht nur tion nicht mit den Händen ab, sondern sprachlich zusammen. Auch das Ent- prallen mit dem Kopf auf. Insbesondere wickeln des für das Rechnen unverzicht- im Straßenverkehr spielen auch eine baren (abstrakten) Zahlbegriffes ist nur schwache Auge-Körper-Koordination und durch das Hantieren mit unterschied- eine schlechte akustische Orientierung lichen (konkreten) Mengen möglich. Zu- bei der Entstehung von Unfällen eine dem ermöglichen motorische Fähigkeiten Rolle. dem Kind, sich in Situationen zu bege- ben, die zu einer Förderung der kogniti- In einer Untersuchung in Frankfurter Kin- ven Fähigkeiten beitragen. Ein Kind, das dergärten konnte hier nachgewiesen klettern kann, erlebt z. B. seine Umge- werden, dass ein zusätzlich angeleitetes bung aus einer anderen Sicht als ein Bewegungsangebot in den Einrichtungen Kind, das nicht über diese Fähigkeit ver- (und die damit verbundene Verbesserung fügt. Obgleich der Zusammenhang zwi- der motorischen Kompetenz) das Unfall- schen Kognition und Motorik mit zuneh- risiko nicht erhöht, sondern deutlich mendem Alter schwächer wird, ist er im senkt. Kindergartenalter noch deutlich vorhan- 15
Kapitel II den und oft sichtbar. In wissenschaftli- die ihnen dauerhaft Misserfolg bringen, chen Untersuchungen wurde mehrfach mittel- und langfristig eher meiden und belegt, dass Kinder, die an einem reinen somit von späteren Bewegungsangebo- Bewegungsförderungsprogramm teilnah- ten weniger profitieren. men, auch in Intelligenztests besser ab- schnitten als solche ohne motorische Weiterhin sind motorisch geschickte Kin- Förderung. der in der Regel weniger ängstlich sowie selbstständiger und selbstbewusster als Zwischen der Motorik und der Ausbildung motorisch schwache. Motorisch geschick- sozialer Fähigkeiten bestehen ebenfalls tere Kinder trauen sich vielfältige (auch Wechselwirkungen. So existiert zwischen unbekannte und neue) Bewegungen zu der Stellung in der Gruppe und den auszuprobieren und verbessern dadurch motorischen Möglichkeiten der Kinder ihre motorischen und sensorischen Fähig- eine indirekte Beziehung: Kinder mit einer keiten. Motorisch schwächere Kinder schwachen Motorik nehmen innerhalb meiden hingegen Bewegungsaktivitäten, von Kindergruppen häufig Außenseiter- wodurch sich im Laufe der Zeit der Unter- positionen ein, da sie an vielen Gruppen- schied zwischen den Fähigkeiten der aktivitäten nicht teilnehmen können bzw. Gruppen noch weiter vergrößert. ihre Mannschaft in Wettbewerbssituatio- nen um den Sieg bringen. Hier ist zu be- Von motorischer Förderung profitieren denken, dass die Motorik gerade im Kin- aber nicht nur die Kinder selbst, sondern dergarten- und frühen Schulalter einen auch die sie begleitenden PädagogInnen: wichtigen Bereich darstellt, in dem sich Zahlreiche Untersuchungen belegen auch Kinder mit anderen vergleichen. Kinder, hier, dass durch Bewegungsförderung in die hier (z. B. beim Wettlaufen oder Rin- der Gruppe die Kommunikations- und gen) permanent anderen Kindern unter- Kooperationsfähigkeit sowie die Konzen- liegen, erleben zusätzliche Kränkungen trationsfähigkeit steigt. Diese Fähigkei- ihres ohnehin schwachen Selbstwert- ten sind wichtig zur Erreichung weiterrei- gefühles. Sie werden diese Bereiche, chender pädagogischer Ziele. 16
Wahrnehmung als Baustein der kindlichen III Entwicklung Um sich in seiner Umwelt zurechtfinden ckeln können und seine Bewegungsmög- zu können, benötigt ein Kind neben den lichkeiten werden verkümmern. Dies be- entsprechenden personellen, sachlichen deutet, dass sich kindliche Bewegungs- und räumlichen Rahmenbedingungen möglichkeiten nur dann entwickeln kön- auch funktionsfähige Sinne. nen, wenn das Kind auf die Reize einer Umgebung aufmerksam wird, sie entspre- Ein Kind muss sehen, hören, riechen, chend der bisher gemachten Erfahrungen tasten, schmecken, seinen Körper viel- einordnen und vergleichen kann, ihnen fältig erfahren und im Gleichgewicht also eine Bedeutung verleiht und sich so befindlich erleben können. Nur so kann auf diese konzentrieren kann. es sich ein immer umfassenderes Bild von seiner Umgebung machen. Sinnes- Der Begriff „Wahrnehmung“ wird oft fähigkeiten können sich nur in der stän- missverständlich nur auf das Sehen und/ digen Auseinandersetzung, im Erproben oder Hören bezogen. Wir nehmen unsere und Erkunden mit den Gegebenheiten Umwelt und die Empfindungen über der Umwelt entwickeln. Kinder brauchen unseren Körper jedoch über viel mehr in ihren frühen Entwicklungsphasen Anre- Sinnessysteme wahr. gungen und Reize vielfältiger Art. In den ersten sechs Lebensjahren, aber auch in Es werden 7 Sinne unterschieden: den ersten Grundschuljahren lernen sie insbesondere über das motorische und • Haut- oder Tastsinn sensorische System besonders effektiv • Stellungs- oder und schnell. Bewegungssinn/Tiefensensibilität • Gleichgewichtssinn Erst durch aufmerksames Spielen erfährt • Geruchssinn ein Kind wie „das Auge sieht, das Ohr • Geschmackssinn hört, die Nase riecht, die Haut fühlt, die • Gehörsinn Finger tasten, der Fuß versteht, die Hand • Gesichtssinn begreift, das Gehirn denkt, das Blut pulst, der Körper schwingt“ (Kükelhaus). In der Entwicklung der menschlichen Wahrnehmung spielen der Tastsinn, die Wahrnehmen schließt immer sensori- Tiefensensibilität und der Gleichge- sche, motorische, soziale, emotionale wichtssinn eine zentrale und elementare und kognitive Prozesse mit ein und wird Rolle. Sie sind die Grundlage für alle wei- somit zu einer Grundfunktionn kindlichen teren Wahrnehmungsprozesse. Je besser Lernens. Ohne die Fähigkeiten der Wahr- diese Basissinne ausgebildet sind und nehmung wird sich ein Kind nicht entwi- miteinander kooperieren, um so unkom- 17
Kapitel III plizierter verläuft auch die Entwicklung ermöglichen dadurch Anpassungsreaktio- eines Kindes. Eine gute Integration dieser nen an alle Gleichgewichtsveränderungen. Sinne wirkt sich also fördernd auf die Sämtliche Bewegungsformen (Gehen, gesamte Entwicklung des Kindes aus. Laufen, Hüpfen, Springen, Schaukeln etc.) reizen diese Gleichgewichtsrezeptoren. 3.1 Fühlen – Taktile Wahrnehmung Ohne Gleichgewichtssinn ist keine Bewegung möglich! Unsere Haut ist bereits von Geburt an das größte, schwerste und wichtigste Sinnes- 3.3 Der Bewegungssinn organ. Da sich das Nervensystem und die Haut aus der gleichen Gewebeschicht Dieser Sinn hat vielerlei Namen und wird bestehen, spielen Berührungsreize eine auch Spannungssinn, Tiefensensibilität, Schlüsselrolle in der Organisation des Eigenwahrnehmung, kinästhetische Gehirns. Körperliche Berührungen wie Wahrnehmung oder Propriozeption ge- Berührungserfahrungen, Zärtlichkeiten, nannt. Er ist bereits im Mutterleib funk- Hautkontakte, Geborgensein, Gehalten- tionsfähig und vermittelt dem Gehirn über werden, das Urvertrauen entwickeln, sind die Rezeptoren im Gewebe, in den Mus- die Basis für alle Schritte in die Welt. keln, Sehnen, Bändern und Knochen in Dabei sind zweierlei Reize zu unterschei- jedem Augenblick der Bewegung die Stel- den: Bei Reizen, die durch die Kleidung lung der Körperteile zueinander. Ohne oder warmes Wasser entstehen, erhält diese Eigenwahrnehmung wären alle das Gehirn keine direkten Informationen, Bewegungen langsamer, ungeschickter, von welcher Stelle auf der Haut dieser anstrengender oder eingeschränkt. Berührungsreiz stammt. Tastreize aus In Zusammenarbeit vor allem mit dem dem Mund-, Hand- und Fingerbereich optischen Sinn verhilft uns der Bewe- sind jedoch äußerst sensibel und werden gungssinn zu Anpassungen an die jewei- zu den höchsten Gehirnregionen weiter- lige Umwelt. geleitet und dort entsprechend verarbei- Ohne Bewegungssinn keine Körper- tet und in Bewegungsreaktionen umge- orientierung! setzt. Ohne Haut kann niemand leben! 3.4 Der Geruchssinn 3.2 Der Gleichgewichtssinn Wenn wir von Wahrnehmungsförderung sprechen, vergessen wir oft Angebote Das Gleichgewichtssystem arbeitet mit auch im Bereich unseres Geruchsorgans allen anderen Sinnessystemen zusam- zu machen. Offensichtlich ist uns nicht men. Das Gleichgewichtsorgan befindet mehr bewusst, welche Funktion und sich in den Bogengängen des Innenohrs. Qualität der Geruchssinn für unser Wohl- Bei jeder Bewegung verändert sich der befinden und damit auch für unsere Flüssigkeitsstand in den Bogengängen, Entwicklung hat. Gelegentlich taucht die wodurch winzige Härchen im Innenohr Bedeutung in Redewendungen wieder berührt werden. Rezeptoren leiten die auf („Stunk machen“/„ich kann dich Informationen an das Gehirn weiter und nicht mehr riechen“/„von einer Sache 18
Wa h r n e h m u n g a l s B au s t e i n d e r k i n d l i c h e n E n t w i c k lu n g Wind bekommen“). Gerüche, die wir in Schärfegrade von Speisen fühlen bzw. frühen Jahren erfahren haben, können schmecken. Auch hier zeugen Redewen- sich erst Jahrzehnte später wieder aktu- dungen („erbittert sein“/„süß-saures alisieren. Lächeln“/„in den sauren Apfel beißen“) Ohne Geruchssinn würden wir viele von der elementaren Sinnhaftigkeit Genüsse im Leben vermissen! dieses Sinnes. Ohne Geschmackssinn kommen wir nicht 3.5 Der Geschmackssinn auf den Geschmack! Auch dieser Sinnesfunktion wird im All- 3.6 Der optische Sinn gemeinen weniger Aufmerksamkeit ge- schenkt. Uns allen sind jedoch Schlecke- Der Sehsinn hat in unserer hochtechni- reien in der Küche und zu bestimmten sierten Welt offensichtlich die Führungs- Jahreszeiten sehr wohl bekannt und in rolle eingenommen. Ständig werden wir angenehmer Erinnerung. Bei Kindern von optischen Reizen aus Werbung, Fern- spielen „Mundgefühle“ von Geburt an sehen und Umwelt geradezu bombar- eine große Rolle. Sie können neben diert. Dabei ist uns nicht bewusst, dass Wärme, Kälte, Feuchte, Trockenheit, der Sehsinn von allen Sinnessystemen Härtegrad, Schlüpfrigkeit, Öligkeit auch bei der Geburt der am wenigsten ausge- Sinnesorgan Sinnestätigkeit Wahrnehmungsleistung Begriff Augen Gesichtssinn Sehen optische oder • hell/dunkel visuelle • Farben und Formen Wahrnehmung Ohren Hörsinn Hören akustische Wahrnehmung Haut Hautsinn Berührung taktile Druck Wahrnehmung Schmerz Temperatur Oberflächenstrukturen Mund Geschmackssinn süß/sauer gustatorische Gaumen bitter/salzig Wahrnehmung Nase Geruchssinn angenehm/unangenehm olfaktorische bekannt/unbekannt Wahrnehmung Innenohr Gleichgewichtssinn Lage des Körpers im Raum vestibuläre Lagesinn Wahrnehmung Bänder, Sehnen, Tiefensensibilität Lage und Stellung der kinästhetische oder Muskeln, Gelenke Gliedmaßen zueinander propriozeptive Wahrnehmung 19
Kapitel III bildete ist, im Laufe der ersten Wochen auch ein stets individueller und selekti- und Monate aber eine rasante Entwick- ver Prozess. lung durchläuft. Ohne genügend Anreize zum optischen Jean Ayres hat in ihrem Buch „Bausteine Wahrnehmen verkümmert der Sehsinn! der kindlichen Entwicklung“ sehr an- schaulich und verständlich dargelegt, 3.7 Der akustische Sinn dass die taktile, vestibuläre und proprio- zeptive Wahrnehmung die grundlegenden Bereits im Mutterleib kann das unge- menschlichen Wahrnehmungsleistungen borene Kind Töne und Geräusche unter- sind, auf deren Basis alle anderen Sinnes- scheiden und darauf reagieren. Eine und Wahrnehmungsleistungen sich erst ungestörte Hörfähigkeit ist die Voraus- entwickeln können. Leider sind diese setzung zum Sprechenlernen und gerade Zusammenhänge und die sich daraus für in unserer stets Lärm produzierenden die Entwicklungsförderung von Kindern Umwelt (ständige Musikberieselung, abzuleitenden Maßnahmen noch sehr Verkehrslärm, Lärm in Kindergruppen) wenig bekannt. Viele gutgemeinte nicht selbstverständlich. Damit sich das Förderansätze sind deshalb unwirksam Hören in der frühen Kindheit adäquat und bringen Kinder in deren Entwicklung entwickeln kann, muss das Kind eine Viel- nur kurzfristig, aber nicht dauerhaft falt von lauten/leisen Geräuschen, Wor- voran. Zudem werden Kinder bereits in ten, Klängen, Rhythmen erfahren. frühem Lebensalter zu sehr auf audiovi- Ohne Hörsinn ist das Leben langweilig! suelle Wahrnehmungsleistungen fixiert. Hören und Sehen stehen so sehr im Analog zur Bedeutung der Bewegung für Vordergrund, dass es notwendig und reiz- die kindliche Entwicklung ist auch die voll ist, andere Sinne verstärkt zu aktivie- Entwicklung der Wahrnehmung als ganz- ren. Wenn der andere nicht nur sehend heitlicher Prozess zu verstehen. Auch hier oder hörend, sondern auch fühlend oder sind die permanenten Wechselwirkungen riechend erkannt wird, entstehen neue, zwischen der eigentlichen Sinnesleis- vielgerichtete und (ent-) spannende tung, den momentanen emotionalen Be- Wahrnehmungen. Diese schaffen gerade findlichkeiten, der sozialen Umgebung bei entwicklungsverzögerten Kindern die (Personen und Räume), der Motivation Voraussetzungen, um die sozial-emotio- und der Aufmerksamkeitsspanne zu be- nale und kognitive Entwicklung zu för- rücksichtigen. Insofern ist Wahrnehmung dern. 20
IV Psychomotorik – Persönlichkeitsentwicklung über Bewegung und Wahrnehmung Individualität, Einmaligkeit und Einzig- nicht in einen motorischen, sozialen, artigkeit sind Begriffe, mit denen die emotionalen, kognitiven, sprachlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten eines jeden oder senso-motorischen Menschen auf- Menschen beschrieben werden können. teilen, sondern müssen ihn in seiner Wenn wir in dieser Broschüre von „Mehr ganzheitlichen Erscheinungs- und Hand- Sicherheit durch Bewegung“ sprechen, lungsweise verstehen. dann müssen wir stets das Individuelle des einzelnen Menschen in den Blick- Das unten stehende Schaubild soll diese punkt unserer Überlegungen stellen. Ganzheitlichkeit des Menschen verdeut- Diesen Menschen können und dürfen wir lichen. Hier werden auf der Basis von äh ig k e ite n n gsf de d lu s WAHRNEHMEN n M Ha en „ICH und meine sc he LERNEN und s ozia l e MATERIALE UMWELT“ DENKEN n i n Ra ICH und MEIN MEINE PSYCHOMOTORIK KÖRPER SPRACHE nd FÜHLEN und „ICH und ANDERE” u ERLEBEN SOZIALES ERLEBEN u le m e l BEWEGEN un u d d ivi In d Zeit 21
Kapitel IV „Bewegung und Wahrnehmung“ alle Per- Was bedeutet das nun im Detail? sönlichkeits- und Verhaltensanteile des Menschen theoretisch zwar als „eigene“ • Welche weiteren Ziele verfolgt die Bereiche gesehen, die in der Realität Psychomotorik? jedoch stets untereinander und mitein- • Welche inhaltlichen Möglichkeiten ander zu einem „großen Ganzen“ verbun- eröffnet die Psychomotorik? den sind. • Welche didaktisch-methodische Frage- stellungen wirft die Psychomotorik Zwei einfache Beispiele sollen dies ver- auf? deutlichen: • Welche pädagogische Haltung, welches Menschenbild steckt in bzw. hinter der Unsere Bewegungsaktivitäten haben Psychomotorik? immer etwas mit dem „Sozialen Erleben“ einer Gruppe/der Mitspieler, mit unseren 4.1 Intentionen der Psychomotorik Einstellungen/Gefühlen zu Anderen, mit der Wahrnehmung der Anderen, mit der Psychomotorik meint mehr als in den aktuellen Situation, in der ich Anderen beiden Wortstämmen Psyche/Gefühl und begegne, mit der Intensität, mit der ich Motorik/Bewegung zunächst zum Aus- mich mit Anderen verständige, zu tun. druck kommt. Sie versteht sich als ein an Meine sprachlichen Aktivitäten haben der Persönlichkeit des Menschen orien- immer etwas mit meiner Wahrnehmungs- tierter Prozess, in welchem die Anteile fähigkeit, meinen fein- und grobmotori- des Sich-Bewegens und Bewegt-Werdens, schen Bewegungen (Sprache ist die des Wahrnehmens, des Fühlens, des höchst komplizierteste und umfassend- Denkens, des aktiven Tuns, des Sprechens ste feinmotorische Handlung), meiner und Denkens in sozialen Bezügen auf direkten sozialen Umgebung, meiner Auf- das Engste miteinander verflochten sind. merksamkeitsfähigkeit, meiner Selbst- Wie die Entwicklung der Psychomotorik sicherheit und damit mit meinem Gefühls- der letzten 20 Jahre in der BRD jedoch zustand zu tun (vgl. Kapitel 2.1). zeigt, besteht hinsichlich eines klaren und einheitlichen Verständnisses von Eigene langjährige Erfahrungen in der Psychomotorik keine Übereinstimmung. pädagogischen Arbeit mit behinderten/ nichtbehinderten Kindern, schulischen, Hinsichtlich der hier diskutierten Thema- vor- und außerschulischen Gruppen, tik lässt sich festhalten, dass die kon- bestärken mich in der Annahme, dass die kreten, beobachtbaren Tätigkeiten und Psychomotorik als der Ansatz zu begrei- Aktivitäten der Kinder den Ausgangs- fen ist, der über vielfältige Bewegungs- punkt dieses Lernprozesses bilden. Die und Wahrnehmungsförderung den gan- aktive Auseinandersetzung und der han- zen Menschen mit all seinen Fähigkeiten delnde Umgang mit seinem Körper, mit und Fertigkeiten erreichen will und kann. sich selbst, mit Personen und Materialien Dabei geht es in erster Linie um die der Umgebung schafft Erfahrungs- und Weiterentwicklung der individuellen Handlungsspielräume. Die kindliche Persönlichkeit. Wahrnehmung spielt hierbei eine zentrale 22
P s yc h om oto r i k Rolle. Das Kind entnimmt und erfährt erproben und weiterentwickeln wird (vgl. über seine Sinne Informationen aus der Zimmer, 1987). Außenwelt, strukturiert und integriert diese in sein Tun. Durch diese tätige Aus- 4.2 Mögliche Inhalte der Psychomotorik einandersetzung mit der Umwelt macht sich das Kind seine Welt zu eigen. Dem Entsprechend dieser Zielvorstellung von hier vorgestellten Verständnis von Psy- Psychomotorik können nun Inhalte und chomotorik liegt also das Ziel der Verbes- Themenstellungen entwickelt werden, die serung der kindlichen Handlungsfähig- eine Eigendynamik beinhalten, das heißt keit zugrunde. Dies beinhaltet eine Erzie- stets veränderbar und ergänzbar sind. hung zur: Der Übersicht halber und zum besseren strukturellen Verständnis werden im • weitestmöglichen Selbstständigkeit Folgenden vier Basisbereiche näher • Lebenstüchtigkeit erläutert, wie sie in der Psychomotorik • Hinführung zum eigenen Ich über den immer wieder in gegenseitiger Verknüp- Körper fung und Überlappung zu Tage treten: • Mitbestimmung im Sinne von gemeinsamer Planung • Körpererfahrungen • Eigeninitiative • Wahrnehmungserfahrungen • Spontaneität • Sozial-emotionale Erfahrungen • Kreativität • Materialerfahrungen Je mehr das Kind demnach in die Lage 4.2.1 Körpererfahrung versetzt wird, sich spielerisch-bewegend mit sich selbst und seiner direkten Um- • Seinen Körper taktil, optisch, akustisch, gebung auseinander zusetzen, diese im Gleichgewicht befindlich erleben. erlebnismäßig zu erfahren und zu erfas- • An- und Entspannung erleben. sen, eigenständig experimentieren und • Körperhaltungen erspüren und nach- ausprobieren kann und individuelle vollziehen. Lösungsmöglichkeiten entwickelt, umso • Körperteile benennen und zeigen selbstständiger und aktiver wird es sich können, Körperpositionen nachlegen. als Person entwickeln können. • Sich in Rollenspielen pantomimisch, gestisch-mimisch ausdrücken können. Anregungsreiche, vielfältige Bewegungs-, • Grundmuster der Fortbewegung Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Erfah- kennenlernen. rungsmöglichkeiten begünstigen und • Grundmuster der Handgeschicklichkeit steuern die Ausbildung der Handlungs- erfahren und erlernen. fähigkeit. Bezogen auf entsprechende An- gebote in Kindergarten und Grundschule 4.2.2 Wahrnehmungserfahrung bedeutet dies, dass dem Kind breit ange- legte Bewegungs- und Wahrnehmungs- • Sich intensiv auf isolierte Sinnesreize muster angeboten werden müssen, die (optisch, akustisch, taktil, kinästhe- es in immer wieder neuen Situationen tisch etc.) konzentrieren können. 23
Kapitel IV • Motorisch schnell und situationsange- • Mit anderen kooperieren und kommu- messen auf Reize reagieren können. nizieren können. • Personen und Materialien vielfältig • Mit anderen wetteifern können. wahrnehmen können. • Tänzerische Bewegungsformen. • Sich mit allen Sinnen am eigenen • Kreative Bewegungsformen. Körper und im Raum orientieren • Feste und Feiern. können. • Die natürliche Umgebung mit allen 4.2.4 Materialerfahrung Sinnen erleben und erfahren können. • Geräte und Materialien mit allen 4.2.3 Sozial-emotionale Erfahrung Sinnen wahrnehmen und erfahren können. • Sich selbst in seinen Gefühlen und • Kleingeräte experimentierend kennen- Ausdrucksmöglichkeiten kennenlernen lernen. (Spiele, Geschichten. etc.). • Großgeräte in neuen Situationszusam- • Kontakte zu Gruppenmitgliedern knüp- menhängen kennenlernen. (Wie kön- fen, Beziehungen eingehen und auf- nen Kinder Turngeräte, Turnbänke, bauen können Barren, Reck, Sprossenwand als attrak- • Auf andere Rücksicht nehmen, mit- tive Geräte erfahren?) fühlen können. • Alltagsmaterialien und Gebrauchs- • Mit anderen spielen, Spiele entwickeln. gegenstände als Anlass zu Bewegung 24
P s yc h om oto r i k und Wahrnehmung kennenlernen und licher Entwicklung schaffen und deren erfahren. Verhalten im Sinne eines Vorbildcharak- • Neue Geräte kennen lernen (Rollbrett, ters für das Kind sichtbar und transparent Pedalo, Trampolin, Therapiekreisel sind. Sie sind es, die die Grundlage für etc.). kindliche Entwicklung bilden: • Natürliche Räume (Wald, Wiese, Sand etc.) und Naturmaterialien kennen • durch Beispiel gebendes Verhalten lernen. (Einstellungen, Verhaltensgewohn- • Sich im Wasser orientieren lernen. heiten, Beobachtungs- und Nachah- • Bewegungslandschaften, Bewegungs- mungslernen); baustellen errichten. • durch die Verbindung von Zuneigung und Festigkeit/Konsequenz; 4.3 Methodische Fragestellungen • durch das Eintreten für den eigenen Standpunkt; 4.3.1 Zur Person der/des Erziehenden • durch Übertragen von Aufgaben an das Kind und Ermutigung zum Handeln; Wenn hier die Rolle der pädagogischen • durch Respekt, Verständnis und Fachkräfte im erzieherischen Prozess Achtung der kindlichen Persönlichkeit; angesprochen wird, dann geht es nicht • durch Rat und Tat; um konkrete, didaktisch-methodische • durch das Gefühl der Zusammen- Anweisungen oder gar um eine Rezepto- gehörigkeit. logie. Wichtig erscheint die Frage, wie pädagogische Fachkräfte Förderangebote Pädagogische Fachkräfte müssen wissen, und Entwicklungsreize für Kinder erleb- dass Kinder gerne in die Verantwortung nisreich und motivations-fördernd initiie- für ihr eigenes Tun genommen werden ren können. Dabei wird die eigene Rolle, wollen. Kinder müssen selbstständig Ent- das eigene Verhalten zum Gegenstand scheidungen treffen dürfen. Sie spüren pädagogischer Überlegungen und Refle- Befriedigung, die aus ihrer Anstrengung xionen. Wenn wir Kinder zu handlungs- für den Anderen entsteht und gewinnen fähigen Personen erziehen wollen, gilt es Vertrauen in das eigene Können. Situationen zu schaffen, die zur Entwick- lung von Selbstständigkeit, Eigenaktivi- Nur auf dieser Basis ist es möglich, Kin- tät und Neugierverhalten beitragen. Zu dern das Gefühl des Angenommenseins strenge und direktive Verhaltensweisen, und der Selbstsicherheit zu vermitteln. zu fest strukturierte Bewegungseinhei- Dementsprechend müssen Kinder die ten, die der individuellen Entwicklung Möglichkeit haben, sich entsprechend keinen bzw. zu wenig Raum lassen, soll- ihres Bewegungsentwicklungsniveaus ten – so sinnvoll sie im Einzelfall auch selbstständig und aktiv zu betätigen und sein mögen – vermieden werden. ihnen dafür ausreichend Zeit zur Verfü- gung zu stellen. Dann werden sie auch Psychomotorisch-handelnde Menschen nicht ungeschickt und ihre Bewegungen verstehen sich als Weichensteller, die die unsicher. Bedingungen und Voraussetzungen kind- 25
Kapitel IV • Wir müssen die Bedingungen schaffen, Bewegungs-, Wahrnehmungs- und Ver- den Rest machen die Kinder (fast) haltensbereich fördernd entgegenwir- alleine. ken. • Wir müssen uns die Zeit nehmen und Kindern Zeit lassen. Schauen wir den In dem Maße, in dem wir als Erwachsene Kindern in ihren Bewegungen und und Erziehende dem Kind Helfer werden, Tätigkeiten doch einmal aufmerksam Ratschläge erteilen und Interesse an sei- zu. nem Gesamtverhalten zeigen, Mitspieler • Beobachten wir doch einmal, mit wel- werden, Initiator und Beobachter sind, chen Bewegungsaktivitäten die Kinder werden wir gleichsam zum „Motor“ der ihre Zeit verbringen, welche Bewe- kindlichen Entwicklung. Dem Kind wird so gungsformen sie ausführen und welche die eigene Auseinandersetzung mit Be- Körperhaltungen sie einnehmen, wie wegungssituationen, Personen und Gerä- lange sie sich darin/damit aufhalten, ten ermöglicht. Gleichzeitig erfährt es welche Bewegungskontakte sie ein- aber auch Grenzen und wird an das Ein- gehen! halten von Regeln im zwischenmensch- • Unsere Aufgabe ist es, den Wert und lichen Bereich herangeführt. die Bedeutung dieser Bewegungen zu erkennen. Darauf aufbauend können Erzieherischen Möglichkeiten und Ein- wir motorische Fähigkeiten erst ent- flussnahmen sind immer Grenzen ge- wickeln und Fehlentwicklungen im setzt. Selbst dann, wenn die individuelle 26
P s yc h om oto r i k Kindheitsentwicklung „harmonisch“ ver- Arbeitstempo ermöglichen. Lasst den läuft, ist dies noch keine Gewähr für spä- Kindern Zeit, ihre Welt zu erkunden! teres Lebensglück. • Selbständiges Lernen muss möglich sein. Es erhöht allerdings die Wahrscheinlich- • Soziales Lernen mit- und voneinander keit, auch unter schwierigen Zeit- und in verschieden großen Gruppen muss Lebensumständen zu selbstsicheren und möglich sein. selbstbewussten Menschen heranzu- • Neugierde am Geschehen und an der wachsen. Sache wecken (lustige Geschichten, Erlebnisse, farbenfrohe Materialien 4.3.2 Zur Bedeutsamkeit der Motivation etc.). • Inhalte vermitteln, die an lebens- „Wahrnehmen heißt Bewegen – bedeutsame Erfahrungen erinnern, Bewegen heißt Wahrnehmen – anknüpfen oder aber in absehbarer Bewegen heißt Tun – Zeit bedeutungsvoll werden können Tun heißt Lernen – (Ferien, Urlaub, Geburtstag etc.). Lernen heißt Bewegen“. • Einen persönlichen Bezug über Gespräche zum Thema fördern oder Je besser und vielfältiger sich Kinder also durch Veränderungen von Geräten/ bewegen können, je besser sie sich da- Anordnungen ermöglichen (Fotos, durch in ihrem persönlichen Umfeld zu- Arbeitsaufträge etc.). rechtfinden, desto motivierter und enga- • Der spielerische Umgang mit Objekten gierter wird Lernen stattfinden. oder in gemeinsamen Aktionen (z. B. Rollenspielen) kann Kinder emotional Je mehr Kinder in vorhandenen Angebo- einstimmen und einen direkten Bezug ten einen persönlichen Sinn entdecken zur eigenen Befindlichkeit (sich wohl- und eine individuelle Ansprache erfahren, fühlen/nicht wohlfühlen) herstellen. umso eher werden sie diese Angebote • Um Materialien/Geräte vielfältig über für sich entdecken und eine zunehmend die Sinne und aktives Tun erfahrbar zu aktive Rolle übernehmen. machen, können zunächst einzelne und isolierte, später miteinander gekoppel- Was und wie können wir Kinder also zu te Wahrnehmungsübungen angeboten mehr Bewegung motivieren? werden. • Das Kind muss an persönlich bedeut- Kinder lernen vornehmlich auf der Ebene samen Aufgaben lernen können des konkreten Tuns. Kinder können (aktuelle, persönliche Begebenheiten; nichts mit Inhalten anfangen, die sie also Phantasien; Geschichten und Erzählun- nicht selbst erfahren und erlebt haben. gen; Erlebnisse). Deshalb ist das Spiel, die Bewegung im • Aktives Bewegen und handelndes Spiel, das Wahrnehmen vielfältiger Dinge Lernen müssen möglichst viele Sinne und Personen zentraler Inhalt des kind- miteinbeziehen. lichen Handelns und pädagogischer För- • Bewegen und Lernen muss ein eigenes derung. 27
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