Rundbrief - Michaeli 2016, Nr. 58 - Pädagogische Sektion am Goetheanum
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b a c k t h e Pädagogische Sektion o n am Goetheanum v e r s i o n E n g l i s h Rundbrief M i c h a e l i 2 0 1 6 , N r. 5 8
Impressum Der Rundbrief der Pädagogischen Sektion Herausgeber: Pädagogische Sektion am Goetheanum Postfach, CH 4143 Dornach 1 Telefon: 0041 61 706 43 15 Telefon: 0041 61 706 43 73 Telefax: 0041 61 706 44 74 E-Mail: paed.sektion@goetheanum.ch Homepage: www.goetheanum-paedagogik.ch Redaktion: Florian Osswald, Dorothee Prange, Claus-Peter Röh Lektorat: Angela Wesser Photo: Charlotte Fischer, aus dem Unterricht einer 11. Klasse Spenden und Beiträge zu Gunsten des Rundbriefes Richtsatz pro Jahr CHF 30 / EUR 30 Innerhalb Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft der Schweiz Goetheanum, CH-4143 Dornach Raiffeisenbank Dornach Konto-Nr.: 10060.71 Clearing Nr.: 80939 Postscheckkonto: 40-9606-4 Vermerk: 1060 Internationale Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft Überweisungen Postfach, CH-4143 Dornach USD-Konto IBAN: CH48 8093 9000 0010 0604 9 Raiffeisenbank Dornach, CH–4143 Dornach BIC: RAIFCH22 Vermerk: 1060 Euro Anthroposophische Gesellschaft Dornach Überweisungen GLS Gemeinschaftsbank Bochum Konto-Nr.: 988 100 BLZ: 430 609 67 IBAN: DE 53 4306 0967 0000 9881 00 BIC: GENODEM1GLS Vermerk: 1060 Aus Deutschland Freunde der Erziehungskunst e.V. Postbank Stuttgart Konto-Nr.: 398 007 04 BLZ: 600 100 70 Vermerk: Pädagogische Sektion, Rundbrief Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 3 Zu dieser Ausgabe Dorothee Prange 5 Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Christof Wiechert 12 Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Michael Grimley 19 Bericht der Internationalen Konferenz – Treffen in Arles Philipp Reubke 23 Wesentliche Merkmale der Waldorfpädagogik Internationale Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung 30 Angesichts der Nacht – Teil I Florian Osswald 33 Hochschularbeit im Rahmen der Pädagogischen Sektion Claus-Peter Röh 35 Aufwärts – Eine Reise zur Authentizität Michal BenShalom 44 Aus dem Schulalltag im Klassenzimmer Neuer Spruch für die Oberstufe (in deutscher und holländischer Sprache) Werner Govaerts 47 Agenda Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 1
Einleitung Einleitung Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Michaelizeit entsteht dieser Rundbrief. len erfüllt werden, der Angebote zur Be- Die Kräfte Michaels werden spürbar. Wenn schäftigung sind viele, Entscheidungen müs- wir in der heutigen Zeit den Kampf Michaels sen getroffen werden und das ist schon von mit dem Drachen überall in der Welt erleben, klein auf spürbar. Wir brauchen Ruhe, Zeit so können wir in diesen Wochen spüren, wie zur Entwicklung, Zeit zur Gesundung, aber Unstimmigkeiten stärker erlebt oder Ausei- besonders benötigen wir Freude, Freude am nandersetzungen kräftiger ausgetragen wer- Tun, Freude am Leben und Freude am Schö- den. Wir nehmen heute immer mehr wahr, nen. Gelingen uns solche Momente, ist das wie schwierig es ist, sich gegenseitig zu ver- kraftbringend und per se gesundend. stehen, den anderen in seiner Andersartig- keit, in seiner Eigenart anzuerkennen, zu Einige Artikel in dieser Rundbriefausgabe achten. mögen hier Anregung zur Auseinanderset- zung damit geben. Thematisch sind es Gedan- Wir können hier auf weltpolitische Themen ken zur Hygiene der Stundenplan- und Tages- schauen, die Auswahl ist gross. Wir finden je- gestaltung ausgeführt von Christof Wiechert, doch auch viele Beispiele im Kleinen. zum künstlerischen Empfinden in der Erzie- hungskunst dargestellt von Michael Grimley Wie erleben wir unsere Waldorfpädagogische sowie eine erste von drei Betrachtungen zur Bewegung von Krippe bis in die Oberstufe Bedeutung der Nacht im Lernprozess von Flo- der Waldorfschulen und in die Ausbildung rian Osswald. Die Internationale Konferenz hinein? Haben wir unsere festen Vorstellun- der Waldorfpädagogischen Bewegung (Haa- gen von der Pädagogik oder gelingt uns die ger Kreis) hat sich in ihrem letzten Treffen in Brücke zu schlagen von dem gegebenen Hin- Arles/Frankreich, worüber ein Bericht in die- tergrund, der Anthroposophie, dem Lehrplan ser Ausgabe zu lesen ist, nochmals mit den bis in die heutige Zeit? Nehmen wir junge Merkmalen der Waldorfpädagogik beschäf- unerfahrene Kollegen ernst, helfen wir ihnen tigt. Diese sind hier abgedruckt und inzwi- genug, in ihren Beruf, ihre Aufgaben hinein- schen an alle Schulen geschickt worden, mit zuwachsen oder engen wir sie mit unseren der Bitte sich damit auseinanderzusetzen, Erfahrungen ein? Nehmen wir uns Zeit für diese zu ergänzen, Rückmeldung an die Inter- ein Gespräch? Kommen wir in ein echtes Ge- nationale Konferenz zu geben. spräch, hören wir wirklich den anderen? Wie oft ertappe ich mich dabei, nicht ganz offen Die deutsche Übersetzung des Vortrags von zuzuhören und schon ein Bild zu haben? Wie der Welt-Lehrer- und Erziehertagung von oft gelingt es mir, im Unterricht offen zu Michal Ben Shalom finden Sie hier abge- sein, die Schüler ganz neu zu sehen und auch druckt wie den Nachruf von Lothar Stein- ganz neu mich in meine Aufgabe zu stellen? mann in englischer Sprache. Erleben die Schüler mich als fragenden Men- schen, als Zeitgenossen? Die Zeit verlangt Der Beitrag von Claus-Peter Röh über die von uns und den Kindern, den Jugendlichen Verbindung von Pädagogik und Freier Hoch- viel ab. Erwartungen sind da, Wünsche wol- schule für Geisteswissenschaft erscheint im Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 3
Einleitung Weihnachtsrundbrief in englischer Überset- zu lesen sein. Interessant wie sich manche zung. Gedanken in der Auseinandersetzung mit den Schülern entwickeln … Wir freuen uns Eine neue Rubrik 'Aus dem Schulalltag im über weitere Beiträge aus dem Schulalltag. Klassenzimmer' beginnen wir mit einem Bei- trag aus Holland in deutscher und holländi- Mit guten Wünschen für die Michaelizeit scher Sprache von Werner Govaerts. Die eng- lische Fassung wird im nächsten Rundbrief Ihre Pädagogische Sektion 4 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Zu Fragen der Stundenplanhygiene Christof Wiechert Einleitung die halt Lösungen darstellen, die aber das pä- Grosse Schulen kämpfen des Öfteren mit Pro- dagogisch Wünschenswerte ausser acht las- blemen der Stundenplangestaltung. Es gibt zu sen, aber keiner sagt was, denn man ist froh, wenig Räume, zu wenige Säle, die geteilten dass ein Plan da ist und will nicht stören …. Klassen brauchen mehr Räume, der Werkraum hat nur soviel Plätze an den Schraubstöcken, Kleine Schulen haben diese Probleme in gerin- der Computerraum nur zwanzig Plätze und gerem Umfang, denn alles ist übersichtlicher. die (vielen) Fachstunden müssen irgendwie Aber kleine Schulen haben die Tendenz zu unter Dach und Fach gebracht werden. Die wachsen und dann entstehen die Fragen wie Stundenplanverantwortlichen haben jedes von selbst. Dazu kommen Budgetfragen, man Jahr einen ziemlichen Stress, den Plan hinzu- kann nicht beliebig viele Kollegen einstellen. bekommen. Auch gibt es noch individuelle Wünsche der Kollegen in Teilzeit ('Bitte nicht Kurz, am Stundenplan werden jedes Jahr freitags und montags …', 'bitte nur nach drei- Schlachten geschlagen, um es (wieder) hin- zehn Uhr ….') Je grösser die Schülerzahl, soviel zubekommen, dass die Schule mit Schuljah- komplizierter die Aufgaben, die auch von resbeginn wieder beginnen kann. avancierten Computerprogrammen nur man- gelhaft bewältigt werden. Und der ganze Plan Der Begriff Stundenplanhygiene soll auch 'schulhygienischen Massstäben' ge- Als Steiner mit den Lehrern an die Ausgestal- nügen ( 'Ein Tag Hauptunterricht muss dran tung der Waldorfschule ging, hatte er zwar glauben, sonst geht es nicht …'). schon vor Beginn der Schule im August in Dornach auf die Gefahr des alles kaputtma- Und da ist noch die Ganztagsschule ('Müssen chenden Stundenplans1 hingewiesen, die die Lehrer den ganzen Tag in der Schule sein? erste Schule in Stuttgart war aber, stunden- Was macht man denn mit all den Stunden?) planmässig, ein Drama. Es gab von Anfang an So entstehen verwaltungsmässige Lösungen, viele Schüler (256)2 in acht Klassen und 1 Die Erziehungsfrage als Soziale Frage (GA 296), 2. Vortrag vom 10. August 1919 Dornach: 'So haben wir nötig, dass, ohne dass der Bogen überspannt wird, nicht durch Anstrengung, sondern durch Ökonomie der Erziehung, Konzentration bei den Kindern erreicht werden soll. Dies können wir in der Weise, wie es der heutige Mensch braucht, nur erreichen, wenn wir etwas abschaffen, was heute noch sehr beliebt ist: wenn wir den verfluchten Stundenplan in den Schulen abschaffen, dieses Mordmittel (Hervorhebung durch den Autor) für eine wirkliche Entwicklung der menschlichen Kräfte.' Nicht nur die Wortwahl ist aus- sergewöhnlich, sondern diese Stelle zeigt auch, wie durch eine Lupe Steiners Radikalität, Steiner hatte noch ganz andere Ideen als durch die erste Schule verwirklicht wurden. 2 Konferenzen (GA 300a) Konferenz vom 24. Juli 1920: … dass wir aber nicht in der Lage sind, die Anmeldungen zu berücksichtigen, wenn uns die Welt nicht unterstützt. Wir müssen irgendein radikal ernstes Wort sagen …. Die Neuanmeldungen konnten wegen Raum- und Geldsorgen eigentlich nicht berücksichtigt werden. Steiner drohte mit einem Aufnahmestopp neuer Schüler, wenn nicht Mittel zur Verfügung gestellt werden würden. Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 5
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung kaum Räume, im zweiten Jahr verschlim- chenturnus. Alles musste erst gefunden und merte sich das noch; rund hundert Schüler erfahren werden3. wurden weiter aufgenommen, es gab aber (noch) kein Geld für extra Räume. Es war Ein anderes Beispiel schulhygienischer Natur mehr als behelfsmässig, nach heutigen Vor- war Steiners Wunsch, die Turn- und Euryth- stellungen eigentlich unmöglich. Es war ein miestunden sollten nacheinander unterrich- Kampf und ein Krampf zugleich. tet werden. Unter Schulhygiene verstand Steiner Mass- Die wesentliche Anregung aber kommt aus nahmen, die einerseits pädagogischer Art dem schon eher genannten Zyklus, wo Stei- waren, andererseits Gestaltungscharakter ner apodiktisch meinte, das Neue was gelernt hatten. Zu der ersten Gruppe gehören Vorge- werden sollte, die gedankliche Hinwendung hensweisen in der pädagogischen Handhabe, im Hauptunterricht solle in den Morgenstun- z. B. im Umgang durch die Lehrer mit der den stattfinden, die übungsmässigen Fächer Dreigliederung des Menschen im Unterricht um den Vormittag herum und der Nachmit- sowie die Anwendung der Temperamente. tag für alles Künstlerische und Bewegungs- Zur zweiten Gruppe gehören Einrichtungs- mässige sein.4 fragen wie zum Beispiel der Zusammenhang von Hauptunterricht (später Epochenunter- Diese Aussage ist ebenso klar wie hermetisch. richt, auch 'Klassenunterricht' genannt) und Die Praxis an Waldorfschulen aber weicht er- Fachstunden. heblich von dieser Aussage ab. Diese Praxis meint, die Schüler am Morgen erst 'wecken' Die Schule begann (entgegen der fälschli- zu müssen und den 'Willen anzuregen' gerade chen Darstellung des ehemaligen Waldorf- durch nicht lernende Aktivitäten. Der soge- lehrers, der in 'Info 3' suggeriert, Steiner nannte 'rhythmische Teil' entspricht diesem hätte die Idee des Epochenunterrichtes aus- schulhygienischen Wunsch Steiners nicht. gerechnet von der Odenwaldschule (!) ab- geguckt.) tatsächlich mit einem 'Hauptun- Wird man vom Bewegen und Stampfen, wird terricht' in den ersten sechs Klassen. Im man von einer ritualisierten Routine mit Anschluss an die zwei Stunden folgten die einer festen Abfolge der Abläufe wirklich 'Fachstunden'. wach? In der siebten und achten Klasse mussten Um diese Fragen zu beantworten, wenden zwei Kollegen sich diese Aufgabe am Morgen wir uns dem Phänomen des Morgens zu. Was teilen, denn der eine war für die Naturwis- bedeutet der Morgen für den Menschen, für senschaften zuständig, der andere für die das Kind? Humaniora. Man war aber unerfahren und wechselte täglich die Klassen. Das ging fast Grosse und kleine Rhythmen ein Jahr bis bemerkt wurde, dass das nicht Betrachten wir einige Lebensrhythmen. Der fruchtbar war. Man wechselte auf einen Wo- Grosse: Geburt, Leben und Tod. Der Kleine: 3 Man darf annehmen, dass die Krise der 10. Klasse hiermit zusammenhängt. Siehe erste Konferenz des drit- ten Schuljahres, GA300b, 20. Juni 1922 4 Aber auch in der ersten Konferenz, wo Steiner den Stundenplan (!) gibt, folgt er wie urbildhaft dieser Ein- teilung (GA300a) Konferenz, 8. September, 1919 6 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Tag und Nacht. Der noch Kleinere: der Mor- sind im Felde der Intuition. Im Leben aber sind gen, der Mittag und der Abend. diese zwei Welten, Vorstellung (Denken) und Wille, gemischt im Fühlen. Werfen wir einen Blick auf den grossen Rhythmus. Daher muss der Mensch am Lebensanfang ler- nen, damit das Leben gemeistert werden kann. Bei der Geburt tritt der Mensch aus der vor- geburtlichen Welt in das Dasein hier auf In der Lebensmitte findet die Auseinander- Erden ein. Diese Seite der Existenz verband setzung mit dem Selbst und der Welt statt, Steiner immer mit dem Kopf. Der sei als vom am Lebensende verbindet sich die Lebens- Kosmos 'ausgeatmet'. Das Vorstellungsleben, ernte mit diesen Kräften des Willens, jetzt das Denken, die Erinnerungsfähigkeit, das aber verinnerlicht, als Potenz, als, wie Steiner Nervensinnesleben, sie kommen alle aus die- es nennt, 'Keim'.5 sen Welten. Die Kopfgestalt ist sozusagen das wahre Bild dieser Wirklichkeit. Das alles macht den grossen Rhythmus aus. Der übrige Leib muss sich nach der Geburt erst Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes, so behaupten lernen gegenüber dem relativ ferti- sagt der Volksmund. Ist der Tag dann auch gen Kopf. Im Rumpf, im rhythmischen System, der kleine Bruder des Lebens? in den Gliedern, ist alles noch Werden und Wachsen. Und erst wenn das Kind so um das Ist der Tagesablauf nicht eine Miniatur des zehnte, elfte Lebensjahr in der Schule ist, sieht Lebens? man eine Art 'Gleichberechtigung' zwischen dem Kopf und der übrigen Gestalt, zwischen, Beginnt der Tag nicht mit der Empfindung so man will, oberem und unterem Menschen. der Erwartung, der Verheissung, was wird der Es ist auch die Zeit, wo das Kind am meisten Tag bringen? Ist da nicht eine besondere (und schönsten) Schulkind ist. Nun entsteht Stimmung, eine Empfänglichkeit, die charak- ein Kräftespiel zwischen den Kopfkräften und terisiert wird mit dem Ausdruck, 'Morgen- den Leibeskräften, zwischen Denken und Wol- stund hat Gold im Mund'? So oft Steiner von len. Dieses 'Spiel' bestimmt wie der werdende der Rückschau spricht, so selten von der Vor- Mensch als Erwachsener seinen Lebensweg ge- schau. Aber an einer Stelle sagt er, wer sich stalten wird. Gegen das Lebensende zu werden am Morgen kurz vor die Seele stellt, was der diese Kräfte des Willens, die die Brücke zum Tag bringen könnte, der bezieht sein höheres Nachtodlichen schlagen, verinnerlicht. Sie Ich ein in das Tagesgeschehen. werden Keim für die nachtodliche Entwick- lung. Diese aber sind unsichtbar, haben kein Bringt der Morgen Verheissung, so ist der Vor- Bild, sondern bestehen nur aus Kräften. Wir abend erfüllt von der Stimmung der Erfüllung. 5 Man kann in diesem Zusammenhang nicht nachdrücklich genug auf zwei Vorträge schauen die diesen ganzen Komplex besonders eindrucksvoll darstellen: Allgemeine Menschenkunde (GA 293) 2. Vortrag (Stuttgart 22. August 1919) und der 2. Vortrag aus der Meditativ erarbeiteten Menschenkunde (GA 302a). (Stuttgart 16. September 1920) Weniger bekannt ist, dass Steiner in einem öffentlichen Vortrag diese The- matik noch vertieft und erweitert. Eine tiefenpsychologische Dimension kommt hinzu, die Polarität Vor- stellung – Wille darstellend in ihren Wirkungen im täglichen Leben: Vorstellung kann Angst oder Kraft werden; Wille, Aggression oder Güte. (Erziehung zum Leben, GA 297a, Stuttgart 17. Januar, 1922) Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 7
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Hat sich der Tag gelohnt, war er der Mühe Es ist eine wenig beachtete Tatsache im Un- wert? Oder war er einer wie alle anderen? terricht: der Morgenmensch ist ein anderer als der Nachmittagsmensch. Bei anderer Gelegenheit schildert Steiner wie der Prozess des Erwachens eigentlich vor sich Schon in den elementaren Ergebnissen der geht. Durch die Füsse zieht der Astralleib am Chronobiologie findet man dieses bestätigt, Morgen ein und braucht den ganzen Tag, um z. B. in der Tatsache, dass die optimale Zeit den Menschen zu durchdringen. Im Kopf an- des Lernens ganz offensichtlich am Morgen gekommen, neigt sich der Mensch dem Schlafe liegt, die optimale Zeit um Sport zu treiben zu. am Nachmittag. Schon aus dieser Imagination ersieht man: Das folgende Diagramm zeigt den Ablauf der Morgen hat eine Qualität die verschieden eines Arbeitstages aus chronobiologischer ist von den Qualitäten des Mittags und des Sicht (nach Zulley und Knab, 2000) Nachmittags. Tageszeit Empfohlene Tätigkeit 7 – 8 Uhr Der Körper liefert Energie für die Tagesarbeit; Weckzeit 10 – 11 Uhr Kreativität, Konzentration und Kurzzeitgedächtnis sind optimal 11 – 12 Uhr Energiehöhepunkt, Sehen und Rechnen sind optimal 12 – 13 Uhr Die Leistungsfähigkeit sinkt; Zeit für das Mittagessen 13 – 14 Uhr Tagestief: erhöhte Schlafbereitschaft des Körpers 14 – 15 Uhr Ideale Zeit für die Siesta 15 – 16 Uhr Tageshöhepunkt; das Langzeitgedächtnis ist wach 17 – 18 Uhr Ideale Zeit für Sport; Organismus ist gut durchblutet 18 – 19 Uhr Tagesrückblick-, Entspannung für die Nacht Dieses Faktum stimmt überein mit Steiners geben müssen; eine fast unmögliche Auf- Angabe, der Morgen sei zum Lernen da, der gabe.6 Mittag zu allem Übenden und der Nachmit- tag grundsätzlich für das Künstlerische und Wie schon angedeutet, brauchte es einige Bewegende. So einfach wie dieses klingt, so Jahre bis Steiner mit den Lehrern der ersten fundamental richtig ist es. Diese Wahrheit Schule in Stuttgart etwas von einer Lehrplan- kennen die Fremdsprachen- oder die Fach- hygiene in den Griff bekam. So kamen die Leh- lehrer der Mathematik, die nach dem Turnen rer zusammen mit Steiner in einer Konferenz oder Sport am Nachmittag 'aus der Not', zum Schluss, dass Handarbeit sehr gut einmal weil es sonst im Stundenplan nicht geht, die Woche zu machen sei, etwas Kunstgewerb- noch eine Stunde oder zwei in der Woche liches dagegen bräuchte längere Zeitstrecken 6 Siehe auch Albert Schmelzer: 'Rhythmen lassen leichter lernen' , Erziehungskunst, 9/2007 8 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung hintereinander, aber der morgendliche 'Klas- Und eine passende Rezitation oder ein Lied senunterricht' dürfe nicht tangiert werden.7 schliesst sich an, bevor kurze Zeit später der Morgenspruch erklingt und die Arbeit beginnt. Es ist bewegend, diese Gespräche nachzulesen, weil darum gerungen wird, der Zersplitterung Können wir im Unterricht, bevor die Schüler entgegenzuwirken und da wo es angebracht nach Hause gehen, irgendwie eine Stimmung ist, konzentrierend zu wirken und immer ist der Ernte heraufbeschwören? Was haben wir dann im Gespräch: Morgen oder Nachmittag. heute alles gelernt und erlebt? Ein kurzes Be- So kommen die Kollegen zu einer Einsicht, was sinnen auf das, was dieser Schultag gebracht richtig ist um 'zersplittert' zu unterrichten und hat, bevor alle herausstürmen. was nicht. Hier erlebt man Steiner, es sei nur nebenbei bemerkt, als Lehrer unter Lehrern. Er Wer sich eine gewisse Empfindlichkeit der weiss es auch nicht, zusammen wird um die Wahrnehmung angeeignet hat und es ist gar richtigen Formen gerungen. nicht so schwer sich die anzueignen, wird er- leben, dass es zwei Arten des Herausstürmens Fragen wir uns, was dieser ganze Komplex der Schüler nach der Schule gibt. Die erste bedeuten könne für die Praxis des Unterrich- Art hat diesen Charakter: schnell weg hier, tens. jetzt beginnt das Leben! Können wir den Morgen so gestalten, dass er Die zweite Art hat den Charakter der geball- 'neu und taufrisch' ist? Dass der Morgen was ten Lebenskraft und Freude, es stürmt ins bringt, was überraschend ist? Eine von den Freie, denn es ist gelernt worden, die Schüler Schülern oder Lehrern mitgebrachte Wahr- sind beladen und geladen. nehmung an der Natur? Jeder ist ja zur Schule am Morgen unterwegs! Kann die Es ist klar, es kann nur angedeutet werden. Natur uns anleiten, einen kurzen, ganz neuen Wer es aber verstehen will, wird es verstehen: Gedanken zu haben? Z.B. 'Schaut Kinder, wie jeder Tag ist ein Geschenk, das nie leer aus- dieses Blatt, dieses schöne starke Ahornblatt gehen darf. (Steiner charakterisiert einen sich zu verfärben beginnt ins Rötlich Gelbli- Unterricht der nichts bringt, keine Bedeu- che. In wenigen Wochen ist es ganz trocken tung hat, als Löcher für die Biographie als für und fällt ab. Unter den Bäumen einen bunten das Leben 'ausgestrichene Zeiten'8 farbigen Teppich ausbreitend, der raschelt, wenn wir dadurch 'waten'. Es ist wie der Und zwischen Morgen und Abend wogt und Abend, wenn auch der Himmel sich farbig webt der Stundenplan auf und ab. Es ist wie gibt vor und nach dem Sonnenuntergang. Ebbe und Flut; der Schwall kommt, er zieht Jetzt aber ist es der Abend des Jahres, der sich zurück. Und die einzelnen Stunden sind langsam fällt.' Und dann am nächsten Mor- wie die Wellen an der Meeresoberfläche. Sie gen wieder ein anderes Thema, aber bildhaft bäumen sich, flachen sich wieder ab, Atmung bedeutungsvoll. und Puls, ein und aus.9 7 Konferenzen, (GA300b) vom 16. November 1921 8 Methodisch-Didaktisches, (GA 294) Stuttgart, 1. September 1919: Wenn man den Kindern etwas vorliest und sie die Bücher vor sich haben und mitlesen, so ist das nichts als aus dem Kinderleben ausgestrichene Zeit (Hervorhebung durch den Autor). Das ist das Allerschlimmste was man tun kann. 9 Dieses Eingehen auf den Rhythmus des Lebens ist für alle Erziehung und allen Unterricht von ganz beson- derer Wichtigkeit …. (Steiner am 27. August 1919) Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 9
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Wie kann das denn praktiziert werden? hat oder ob er an den Seilen und Pfosten der Routine die Stunde 'bewältigen' wird. Man Wenn wir ernst machen mit den Begriff Er- kann das wahrnehmen, man kann aber auch ziehungsKUNST, dann müssen wir Lehrer im sehen, die Schüler verhalten sich anders im Vollzug des Unterrichtens ja Künstler sein. ersten Fall, anders im zweiten. Zum Beispiel ZEITkünstler oder wie es im Amerikanischen so schön klingt 'Master of (Intermezzo. Ein Schüler aus dem elften Time'. Wie wird man ein Meister der Zeit? Schuljahr wurde gebeten bei einer Veranstal- Dadurch, dass man lernt die Zeit zu nutzen. tung für neue Eltern, die gerade ihre Erst- Nicht nur im biologischen Sinne, denn diese klässler eingeschult hatten, über seine Erfah- Zeit ist starr und unerbittlich, es ist die Zeit rungen zu sprechen. Er willigte ein, sagte der Uhr und der Sekunden, die eigentlich nur aber im Voraus zu seinen Lehrern, vielleicht meine Lebenszeit mir ab- und bemisst, daher werden sie es unangenehm finden was ich die Abbildung des Todes, der nicht nur mit sagen werde. Die Lehrer fragten, ja was der Sense dasteht sondern auch mit einem denn? Da sagte der Schüler, um so höher ich Zeitmesser, dem Sandläufer. Diese Zeit brau- in den Klassenstufen steige, umso langweili- chen wir im Unterricht wenig. ger werden die Stunden. Die Lehrer haben kein Lampenfieber mehr für das, was sie tun.) Wir brauchen eine Zeit, die musikalischer Natur ist, eine Zeit wo man die Zeit vergisst Eine Grundbedingung ist, der Lehrer muss weil man in ihr ist, eine Zeit, die Langeweile sich den Stoff zu eigen machen und ihn inte- kurz macht, wodurch die Zeit sich dehnt ressant machen wollen. Das gilt für Gramma- (was, die Stunde ist schon vorbei?), eine Dy- tik und Rechnen, Formenzeichnen und namik der Zeit. Sie entsteht, wenn der Lehrer Rechtschreibung, wie auch für die erhabens- einen inneren Plan hat von dem, was er ma- ten Themen aus Geschichte und Literatur chen will. Einen nicht ganz fertigen Plan der, und den Naturwissenschaften. Alles was in- da er nicht ganz fertig ist, eine innere Un- teressant ist, hebt 'die Zeit aus den Angeln'.10 ruhe verursacht: Wird es mir gelingen? Es ist wie ein Lampenfieber. Der vor kurzem verstorbene Dirigent Niko- laus Harnoncourt wurde einmal gefragt ob es Ist dieses pädagogische Lampenfieber vorhan- ihm nicht schwer fallen würde, zum so und den, dann empfindet man auch wie man wann so vielten Male eine berühmte Mozartsinfo- was bringt. Die Schüler spüren, er hat was vor nie aufzuführen. Seine Antwort: Im Moment und sind gespannt auf das, was da kommen wo das Konzert beginne, wisse er nicht mehr, will. So entsteht ein Pulsieren zwischen Lehrer ob er diese Sinfonie jemals gespielt habe; und Schüler, die auch dann selber die Zeit ver- alles wäre neu, wie zum ersten Male. gessen und 'in' dem sind was geboten wird. Das ist Zeit als Kunst. Es ist meines Erachtens Auch hier gilt, wer seine Wahrnehmungen genau dieselbe Kunst, die wir als Lehrer im ein wenig sensibel macht, sieht und fühlt ob Unterricht anwenden: im Moment wo es be- ein Lehrer am Anfang der Stunde einen Plan ginnt, ist alles neu, noch nie da gewesen! 10 Dieser Vorgang wird intellektuell brisant dargestellt in dem Aufsatz von Harald Schaetzer, 'Wie es ist ein Ich zu sein. Intellektueller Existentialismus' (in Persönlichkeit und Beziehung, Jochen Kraus und Jost Schie- ren (Hrsg.) Beltz 2013) 10 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Anregungen zur Tages- und Stundenplangestaltung Mit diesen Darstellungen schrammt man turkreisen eine Art Lebensstil eingerissen ist, immer nur so ein wenig an der pädagogi- der kleine und grössere Zusammenhänge in schen Wirklichkeit vorbei. Denn die ganz ihrer Interdependenz nicht oder kaum zur grosse Kunst, die erst teilweise gekannt und Kenntnis nimmt. Sie sind aber da und wenn beherrscht wird, ist die Kunst des Erfassens, ein Faktor in diesem Konzert der Zusammen- Verstehens und Anwenden dessen, was Erzie- hänge gestört wird, zeigen die Folgen sich hungskunst eigentlich ist. Sie wird selten irgndwo anders. Wenn der Orientierungssinn oder nie zur Perfektion gelangen, aber sich nicht mehr gebraucht wird, da er vom GPS auf den Weg machen sollte möglich sein, bei übernommen ist, ändert sich das Gehirn. denjenigen, denen es auf diese neue Erzie- Wenn ein Kind unter länger andauernden hung ankommt. Die Erziehungskunst ver- Schlafstörungen leidet, die nicht behoben trägt das Altern nicht, genau so wenig wie es werden, zeigt sich nach einiger Zeit der Scha- das Bürgerliche verträgt. den im Gehirn. Wer nur Abstraktes lernt, wird eine Unregelmässigkeit im Verhältnis vom Wer diesen Beruf wählt, weiss, es wird nie Selbst zum Leib davontragen mit möglicher- fertig sein, nie abgeschlossen. Darauf muss weise sozial schwierigen Folgen. man sich schon einlassen. Vielleicht hilft Peter Handke, er schrieb: Die schärfste Kritik Man kann den Menschen zwar vollständig an etwas von mir Geschriebenem war jener losgelöst denken aus Natur und kosmischen Leser-Satz: “… strahlt die Ruhe des Ange- Zusammenhängen. Tatsache ist aber, dass er kommen-Seins aus ….“11 in diesen Zusammenhängen lebt. Und alle diese Zusammenhänge, ob es nun schlafen, In der Betrachtung sind wir von grossen As- atmen, lernen, verdauen, wachsen, produzie- pekten, den Stundenplänen der Schule, zum ren oder regenerieren ist, alles findet in klei- kleinsten Gesichtspunkt einer individuellen nen, mittleren und grossen Rhythmen statt. Schulstunde gekommen. So wie betrachtet worden ist das ganze Leben mit seinen drei Das Respektieren dieser mächtigen Pulsatio- Stufen Jugend, Reife und Alter und dem klei- nen macht die Stundenplanhygiene aus, nen Kreis Morgen, Mittag und Abend. macht den pädagogischen Puls aus, der in jeder Stunde schlagen sollte. Es ist ein Akt des Bewusstseins sich klar zu ma- chen, dass alle diese Rhythmen miteinander Es wird einen Teil der Erziehungskunst aus- zusammenhängen. Dieser Akt des Bewusst- machen, der nachgestrebt wird, dieses zu be- seins ist um so notwendiger als in unseren Kul- denken und zu realisieren. 11 Peter Handke, Die Tage gingen wirklich ins Land. Reclam 1995, Seite 67 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 11
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Michael Grimley übersetzt von Ulrike Creyaufmüller ‘Die Pädagogik darf nicht eine Wissenschaft Zehn Jahre später, bei der Eröffnung der ers- sein, sie muß eine Kunst sein. Und wo gibt es ten Waldorfschule, konnte er ausdrücken eine Kunst, die man lernen kann, ohne daß und zeigen wie die neue Kunstform zu ver- man fortwährend in Gefühlen lebt? Die Ge- wirklichen wäre und er erweiterte diese Dar- fühle aber, in denen man leben muß, um jene stellung bis zum Ende seines aktiven Lebens große Lebenskunst auszuüben, die Pädago- 1924. Während jener Zeit verwendete er den gik ist, diese Gefühle, die man haben muß Ausdruck ‚Erziehungskunst’ in einer Vielfalt zur Pädagogik, die feuern sich nur an an der verschiedener Zusammenhänge – bei Zusam- Betrachtung des großen Weltalls und seines menkünften von Lehrern, Kommentaren Zusammenhanges mit dem Menschen.’1 nach Unterrichtsbesuchen, öffentlichen Vor- trägen, Artikeln – und in Bezug auf eine Eine Frage der Identität Menge verschiedener Themen. Ist die Waldorfschulbewegung heute in Ge- fahr, wenn wir weiterhin das Paradigma einer die Erziehungskunst als eigenständige Kunst- Waldorfschule als das Werk eines Künstlers form ansehen, der schon lange verstorben ist: ein unfertiges Werk, versiegelt, gerahmt, an die Ziele der Erziehungskunst einer Galeriewand hängend, als Kalenderko- pien weltweit verbreitet. Oder können wir sie die Erziehungskunst im Gegensatz zu wissen- als noch in der Werkstatt befindlich sehen als schaftlichem Intellektualismus noch zu vollendendes Werkstück wie ein sich entwickelndes menschliches Wesen, mit der Lehrer als Künstler einer Identität, die sich immer noch im Pro- zess des Sich- Entfaltens befindet, sowohl Künstlerisches Erleben in der Erziehungs- von der Zukunft als auch von der Vergangen- kunst heit her bestimmt. Die spirituelle wissenschaftliche Grundlage 1909 hat Rudolf Steiner bereits die wesentli- der Erziehungskunst chen Bestandteile der ‚Erziehungskunst’2, wie er sie damals zum ersten mal bezeichnete, Die Rolle der Künste in der Erziehungskunst skizziert. Er betonte, dass die Erziehungs- kunst ernsthaft als eine echte, eigenständige Die Rolle der Künste in der Ausbildung der Kunstform betrachtet werden und nicht auf Erziehungskunst allgemeinen Slogans gegründet sein sollte, sondern auf dem wahrhaftigen, kenntnisrei- Soziale Herausforderungen in der Erzie- chen Wissen über das menschliche Wesen. hungskunst 1 GA 293, 10. Vortrag, S. 159 2 GA 34, S. 20 12 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Die umfassende Weise, in der obige Themen beim Unterrichten. Ohne diese Grundlage konsequent im Zusammenhang mit der Un- wäre der Lehrer nicht länger ein Ausübender, terrichtspraxis behandelt wurden, untermau- der durch neue Gedanken motiviert wird, son- ert die zugrundeliegende Prämisse, dass Erzie- dern ein blosser Techniker, der durch die For- hung im Wesentlichen ein künstlerisches derungen vorgegebener Normen und Inhalte Unternehmen ist. Wie bei allen Kunstformen, getrieben wird. Pädagogische Fertigkeiten so erfordert auch die Erziehungskunst Grund- würden dann nur nach vorbestimmten, stan- kenntnisse in Fertigkeiten, die notwendig sind dardisierten Zielen und Ergebnissen angewen- für die Entwicklung einer verfeinerten Sinnes- det werden ohne jegliche Betrachtung für die wahrnehmung, die sodann im Dienste eines unmittelbare Wirklichkeit der jeweiligen Si- schöpferischen Denkens eingesetzt werden tuation, genauer der Individualität des jungen kann. Und wie bei jedem authentischen Menschen, mit dem es der Lehrer zu tun hat. Künstler, so ist auch der Erzieher zutiefst und innig mit seinem Medium verbunden, in die- Das künstlerische Empfinden in der Unter- sem Fall sogar noch mehr, da sowohl das Sub- richtstätigkeit markiert die wesentliche Unter- jekt als auch das Objekt seiner Tätigkeit das scheidung zwischen dem Unterrichten als sich entwickelnde menschliche Wesen ist. blosse Technik, als eine angewandte Form der Verhaltensforschung, als einer Form von sozia- Die oben angeführte Themenliste kann in der ler und psychologischer Manipulation und Aussage des Zitats am Anfang des Artikels un- Unterrichten als Kunst. Genau in diesem Zu- tergebracht werden. Im Wesentlichen drückt sammenhang hat Rudolf Steiner auf die Qua- es drei Forderungen aus, denen die Themen litäten des Fühlens als Vorbedingung für die zugeordnet werden können. Erstens, Erzie- Praxis der ‘grossen Lebenskunst’ verwiesen und hung sollte nicht als Wissenschaft sondern als gleichzeitig wiederholt die negativen Auswir- Kunst betrachtet werden, zweitens, als eine kungen einer wissenschaftlich orientierten Kunst beruht sie auf dem Gefühlsleben (stets Unterrichtspraxis im Klassenraum aufgezeigt. gegenwärtigem Fühlen), und drittens, dass diese Gefühlsqualitäten nur durch Beobach- Immer wieder verwies er auf diese Infrage- tung und innere Betrachtung des menschli- stellung, indem er den verfrühten und ein- chen Wesens in Bezug auf den Kosmos oder seitigen intellektuellen Fokus wiederholt be- die Welt im weiteren Sinne zum Leben er- tonte. Bei vielen Gelegenheiten verwendete weckt werden kann. er bestimmte Beispiele aus der Unterrichts- praxis, indem er den künstlerischen mit der Erziehung darf keine Wissenschaft, weit verbreiteten übertriebenen wissen- sie muss eine Kunst sein schaftlich-intellektuellen Herangehensweise Warum sollten wir Erziehung als eine Kunst- verglich und betonte die schädigenden Wir- form und nicht als eine Wissenschaft anse- kungen der letzteren Methode auf die physi- hen? In Rudolf Steiners Darlegung ist die zen- sche, emotionale und spirituelle Gesundheit trale Stellung des Fühlens bedeutsam. Das der Kinder.3 Bei anderen Gelegenheiten Fühlen bildet einerseits die Brücke zwischen stellte er die Gefahren ohne Umschweife dar. dem schöpferischen Streben des Lehrers und Eine besonders starke Aussage dazu führt in andererseits den Fertigkeiten und Methoden die vier Vorträge4 ein. Seine kompromisslose 3 GA 34, 302a (Nr. 17), GA 307 (2, 4 und 7) 4 GA 302a, Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, Meditativ erarbeitete Menschenkunde, GA 302a Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 13
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Haltung und sein eindringlicher Ton ist ein Eine erste Aufgabe in der Erziehungskunst ist markanter Appell, den zarten Anfang eines daher, auf diese Zukunft vorzubereiten. Es ist neuen Unterrichtsimpulses sowohl äusserlich die Forderung, das wissenschaftliche zu als auch innerlich zu schützen. einem künstlerischen Erfassen des menschli- chen Wesens in der Unterrichtspraxis der ge- Solch eine Reaktion zu der Herausforderung genwärtigen Situation an den Schulen zu einer wissenschaftlichen Anschauung von führen. ‘Um das zu verstehen, muß unsere Unterricht sollte jedoch nicht als reaktionär Auffassung von dem Bau des Menschen, von betrachtet werden. Keinesfalls sollte Rudolf der inneren Gestaltung des Menschen eine Steiner als Befürworter einer rückwärtsge- künstlerische sein. Und der Lehrer muß im- wandten, instinktiven Unterrichtspraxis ge- stande sein, das Kind künstlerisch, als Artist sehen werden. In einem Artikel, der auf zu erleben. Ihm muß alles im Kinde innerlich einen 1922 gehaltenen Vortrag zurückgeht5, beweglich sein. bestätigt er voll und ganz die Rolle von wis- senschaftlichem Intellektualismus in der Da wird die Philosophie kommen und wird menschlichen Entwicklung, doch betont er sagen: Ja, aber wenn man etwas erkennen will, die Notwendigkeit, mit einer künstlerisch dann muß eben die Sache logisch sein. Ganz durchdrungenen Wissenschaft der Seele und richtig, aber so, wie das Kunstwerk logisch des Geistes, die neue Erziehungskunst zu be- sein muß, wenn wir die Welt vor uns haben, fördern und zu erneuern. Und in einem wei- und die Welt kann durch künstlerisches Erfas- teren, eindringlichen Abschnitt fordert er sen repräsentiert werden im Inneren.’7 die Lehrer heraus, anzuerkennen, dass die Aufgabe der Erziehungskunst der Zukunft Damit eine solche Erziehungskunst entwi- darin besteht, die Wissenschaft zu einem ckelt und in der Praxis verwirklicht werden künstlerischen Erfassen der Welt umzuge- kann, muss sie ständig als Kunstform, ange- stalten: passt an unsere gegenwärtigen Erfordernisse, geltend gemacht werden und nicht als eine Man sollte das Gefühl haben: Insofern du angewandte Wissenschaft. Sie wird ständig bloß Wissenschafter bist, bist du ein Mond- mit der extremen Tendenz in Richtung stan- kalb! Erst wenn du umgestaltest deinen see- dardisierter Unterrichtspraxis zu kämpfen lisch-geistig körperlichen Organismus, wenn haben, die aus einer übertriebenen intellek- dein Wissen künstlerische körperliche Form tuellen und materialistischen Wissenschafts- annimmt, wirst du zum Menschen. Im We- anschauung resultiert. Dementsprechend sentlichen wird die zukünftige Entwickelung wird sie auch ständig vor einer zunehmend führen – dazu hat der Pädagoge mitzuwir- fehlgeleiteten Antipathie der wissenschaft- ken- von der Wissenschaft zum künstleri- lich orientierten Entscheidungsträger, Ge- schen Erfassen der Welt, von der Mißgeburt setzgeber und Unterrichtenden weltweit ge- zum Vollmenschen.6 schützt werden müssen. 5 Ein Vortrag über Pädagogik während des Französischen Kurses am Goetheanum. 16. September 1922. Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze aus der Wochen- schrift, 1921–1925 – Seite 285 (GA 36) 6 GA 302a, S. 40 7 GA 305, S. 115/116 14 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Wo befindet sich die Kunst, die es zu gungskunst und besonders aus der Kunst des erlernen gilt, ohne dass man ständig Gleichgewichthaltens anwendbar auf das im Bereich des Fühlens lebt? Unterrichten aller Fächer.11 Das umfassende Mehrfach verwendete Rudolf Steiner den Aus- Spektrum all dieser Empfindungen können druck „künstlerisches Erleben“ z.B.8 im Zusam- als das künstlerische Werkzeug des Lehrers menhang mit der Erziehungskunst; an anderer angesehen werden, als eine Palette von See- Stelle gebrauchte er verschiedene Wörter, die lenqualitäten für die Unterrichtspraxis. das Gleiche passend zum jeweiligen Kontext bezeichnen, doch beim Hervorrufen einer be- Doch was ist dann der qualitative Unter- stimmten religiösen Stimmung und bei der Be- schied zwischen dem normalen Ausdruck von schreibung der Beziehung zwischen sinnlicher Gefühlen im täglichen Leben und ihre Ver- Wahrnehmung und Erkenntnis. Jedoch können wendung als Werkzeug in der Unterrichts- all diese Nuancen von Gefühlen einbezogen praxis, und wie gelingt ihre Verwandlung? werden zu denen, „in denen man leben muß, um jene große Lebenskunst auszuüben“.9 Auf Als ein Beispiel hierfür können wir vielleicht diese Weise wird in Rudolf Steiners Aussage die etwas nehmen, das Rudolf Steiner im Zusam- Betonung auf Gefühle deutlich. Doch welcher menhang mit dem Gebrauch der dramati- Art sind diese Gefühle und inwieweit lassen sie schen Stimmungen im Unterricht erwähnte. sich auf das Thema des künstlerischen Erlebens In diesem Zusammenhang betonte er die in der Unterrichtspraxis beziehen? grundlegende Forderung, dass Lehrer fähig sein müssten, sich von ihren persönlichen In seinen vier Vorträgen mit dem Titel „Medi- Stimmungen und Gefühlen zu distanzieren; tativ erarbeitete Menschenkunde“,10 verei- und dass sie auch die Fähigkeit beherrschen nigte Rudolf Steiner auf eine umfassende müssten, diese dramatischen Stimmungen Weise die ganze Bandbreite dieser Gefühls- frei in sich zu erzeugen, so wie sie bei einem nuancen. Beispielsweise empfiehlt er den entsprechenden Unterrichtsinhalt gefordert Lehrern, empfindungsreiche Stimmungen sind und in Übereinstimmung mit der ent- aus dem Bereich des Theaters zu nehmen, wie sprechenden Präsentationsphase. zum Beispiel das Tragische, Pathos und Humor, oder andere wie Ehrfurcht, Enthusi- Als Lehrer müssen wir uns dazu erziehen, asmus und schützendes Mitgefühl. Doch solche Stimmungen abzulegen und nur aus bezog er sich vor allem auch auf Gefühle als dem Inhalt des Darzustellenden heraus zu Fähigkeiten, die das erhöhte Wahrneh- reden, so daß wir wirklich in der Lage sind, mungs- und Erkenntnisvermögen des Lehrers indem wir den einen Gegenstand darstellen, entwickeln. Bei der Beschreibung des letzte- aus dem Gegenstand heraus tragisch zu ren verwendete er Ausdrücke aus dem Be- sprechen und übergehen können zu einer reich anderer Kunstformen, vor allem aus humorvollen Stimmung, indem wir in unse- dem Bereich der Musik, der bildenden Kunst, rer Darstellung fortfahren, wobei wir uns der Bildhauerei, Sprachgestaltung, Bewe- ganz dem Gegenstande überlassen.12 8 z.B. in GA 305, S. 115 9 Ebenda, siehe 19 10 GA 302a 11 Ebenda, siehe 21 12 GA 302a, S. 22/23) Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 15
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Die Distanzierung von persönlichen Gefühlen Neuntklässlerinnen wahrnimmt, die einen und eine hohe Flexibilität in dem absichts- neuen schwachen und empfindsamen Neu- vollen Gebrauch bestimmter Stimmungen zu ankömmling ärgern? Die Frage ist nicht län- einem gegebenen Anlass, sind zwei Qualitä- ger, ob er berechtigt ist seinem Gefühl der ten, die alltägliche Gefühle von diesen ver- Entrüstung freien Lauf zu lassen, sondern wie wandelten und in den künstlerischen Bereich er mit diesem Gefühl umgeht. Unterdrückt er gehobenen Gefühlen unterscheiden. es oder verwandelt er es und verwendet es, um eine entsprechende pädagogische Ant- Bezogen auf den Distanzierungsprozess ist wort zu dieser spezifischen vorgegebenen Si- der einleitende Satz bedeutsam: „Als Lehrer tuation zu finden? müssen wir uns dazu erziehen, solche Stim- mungen abzulegen und nur aus dem Inhalt Eine ähnliche Herausforderung entsteht, des Darzustellenden heraus zu reden“. Ge- wenn ein Lehrer mit einem Sinn für Humor rade so wie die kompetente Schauspielerin ausgestattet ist. Freude und Lachen in geeig- ihre eigenen persönlichen Stimmungen bei- neten Unterrichtsmomenten zu erzeugen ist seite legen muss, wenn sie als Julia die ein wichtiges Mittel in der pädagogischen Bühne betritt, um ihren Romeo zu treffen, Kunst. Doch kann dieses Talent auch zu Miss- so ist ein ähnlicher Abstand vom Lehrer ge- brauch führen, wenn der Lehrer unfähig ist, fordert, wenn er oder sie das Klassenzimmer unterschwellige Haltungen und Gefühle vor betritt. dem Klassenzimmer zu lassen. Ansonsten kann Humor ein zweischneidiges Schwert Doch gibt es einen zentralen Unterschied sein. Wenn beispielsweise ein Lehrer zulässt, zwischen dem Lehrer und der Schauspielerin dass persönliche Frustrationen den gesunden oder, sagen wir, dem Zirkusclown. Der Gebrauch von Ironie in beißenden Sarkasmus Clown mag Gelächter hervorrufen, doch verwandelt. Oder wenn ein Lehrer mit wenig hinter seinem aufgemalten Lächeln mag er Selbstbewusstsein, das Klassenzimmer als weinen. Im Fall des Lehrers ist solch eine Arena für unterhaltsame und komische Dar- Aufspaltung zwischen innerer Empfindung stellungen benutzt, um Bewunderung und und äußerer Darstellung hoch problema- Beliebtheit hervorzurufen. tisch. In einer Klasse junger Kinder wird es einem Lehrer zweifellos misslingen, eine In Rudolf Steiners Darstellung ist nicht nur Stimmung der Ehrfurcht zu erzeugen, wenn die Aufforderung an den Lehrer, persönliche er nicht selbst überzeugend eine wahrhaf- Gefühle abzulegen, sondern auch zu bestim- tige Ehrfurchtsstimmung in sich trägt. In men, wann und wie geeignete Stimmungs- einer älteren Klasse mag der Lehrer seine qualitäten in jeglicher Unterrichtsphase ein- Stimme tadelnd erheben, wenn sich Jungs zubauen sind. In diesem Sinne ist der Lehrer in der hinteren Reihe daneben benehmen, aufgefordert, künstlerisches Empfinden als wenn er jedoch einen anderen vorne zu sei- schöpferische Urteilskraft einzusetzen, um nem Nachbarn flüstern hört „Oh, er tut nur den unmittelbaren Notwendigkeiten des ent- so ärgerlich“, weiß der Lehrer, dass er verlo- sprechenden Moments gerecht zu werden. ren hat. Und in diesem Zusammenhang entsteht die Frage bezüglich des Unterschieds zwischen Doch, was passiert, wenn der Lehrer wirkli- dem Charakter künstlerischen Empfindens in chen Ärger in sich aufsteigen spürt, wenn er der schöpferischen Praxis und dem, was wir die Ungerechtigkeit einer Gruppe von im Allgemeinen Gefühl nennen. 16 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Künstlerisches Empfinden als gleichzeitig subjektiv und objektiv sein? Erkenntnisorgan Wenn Erziehende die Unterrichtspraxis und Was es auch immer bedeuten mag – und es die Wahrnehmungsschulung auf der Grund- gibt viele Bedeutungsnuancen – der Aus- lage des künstlerischen Empfindens mit druck „ästhetisches Empfinden“ beinhaltet Überzeugungskraft durchführen, dann soll- klar das künstlerische Wahrnehmungs- und ten sie unvermeidlich mit der Herausforde- Urteilsvermögen. Er meint eine bestimmte rung, eine zufriedenstellende Erklärung für Art erhöhter Achtsamkeit, abgestimmt auf dieses Dilemma selbst zu finden, konfrontiert eine bestimmte Kunstform durch die Schu- werden. lung der Wahrnehmung. Der Musiker hört Töne und Klänge, der Maler sieht Farben und In dem Bereich der künstlerischen Kreativität Formen – in geschärfter, gesteigerter Weise erfordert die Aneignung solch einer Über- qualitativ anders als der ungeschulte Hörer zeugung mehr als die transparente Logik, die oder Betrachter. normalerweise für den Erwerb solch einer Si- cherheit in einem wissenschaftlichen Kon- Obwohl das vorrangige Sinnesorgan in dem text gefordert wird. Worin besteht nun dieses Prozess tätig sein mag, ist die vollkommene „Mehr“? Eine Annäherung an eine Antwort Beteiligung des Denkens, Fühlens und Wol- ist, genauer zu untersuchen, inwieweit jegli- lens des Künstlers eingeschlossen. Das ganze cher wahrhaftiger Erkenntnisakt als rein ob- Wesen des Künstlers ist beteiligt, Qualitäten jektiv angesehen werden kann. In diesem Zu- von Aufmerksamkeit sind im Spiel, die be- sammenhang beleuchten Rudolf Steiners wusst geschult wurden, um die Wahrneh- Kommentare zu Brentanos und Sigwarts mungs- und Erkenntnisorgane zu schärfen. Auseinandersetzung die Rolle, die Gefühle Dies trifft insbesondere auf das ästhetische bei der Urteilsfindung spielen. Nach Rudolf Empfinden in Bezug auf die ‚große Lebens- Steiner muss das Wechselspiel der Gefühle13 kunst’ zu, bei welcher nicht erwartet werden – in dem ganzen Akt der Urteilsfindung – kann, dass ein Sinn dominiert; tatsächlich notwendigerweise betrachtet werden, jedoch sind alle Sinne – die des Körpers, der Seele als eigenständiges Element, durch welches und der übersinnlichen Bereiche umfassend die „Richtigkeit“ des Ergebnisses bestätigt beteiligt. wird, auch wenn die Objektivität eines sol- chen Urteils seinen Wert innerhalb des Denk- Was ist jedoch die objektive Grundlage, auf prozesses beibehält. der der künstlerische Lehrer die Beteiligung dieser besonderen Gefühlsqualitäten recht- Ein künstlerisches Vorgehen vereint nun so- fertigen kann? Eine objektive Sorgfalt und wohl kognitive als auch schöpferische Aktivi- Exaktheit ist eine grundlegende, wissen- täten gleichzeitig in dem schöpferischen Akt. schaftliche Voraussetzung für eine erkennt- Auf diese Weise entspricht er genau der Ur- nismäßige Beurteilung. Ein charakteristisches teilsfindung wie zuvor beschrieben. Dies wird Merkmal solch eines Prozesses ist die syste- besonders offenbar in den darstellenden matische Ausschaltung des Subjektiven bei Künsten, in der Arbeit eines kompetenten der Nachforschung. Doch Gefühle sind sub- Schauspielers, Tänzers, Sängers oder Musi- jektiv. Wie kann dann die Geistesverfassung, kers. Kreativität vereint einen Willensakt mit die in der pädagogischen Kunst beteiligt ist, einem Denkvorgang. (Kreativität verbindet 13 Das Ineinanderfliessen der Seelentätigkeiten’, GA 293, S. 85 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 17
Künstlerisches Empfinden in der Erziehungskunst Willen und Denken.) Sie vereint den bewuss- Künstlers) zusammenwirkt und wiederum ten Willen mit lebendigem Denken im Zu- durch das verfeinerte ästhetische Empfinden sammenspiel mit dem bejahenden Charakter geprägt ist. des „richtigen Urteils“, das auf dem Fühlen basiert. Dieses besondere Vermögen für In einer wahrhaft künstlerischen Betätigung künstlerisches Empfinden durchdringt den kann das ästhetische Empfinden nur durch gesamten schöpferischen Prozess vom An- die Entwicklung eines bewussten Urteilsver- fang bis zur Durchführung / Aufführung. mögens zusammen mit der Strenge einer Selbst der Zuschauer kann nicht als distan- konsequenten, praktisch orientierten Wil- zierter Betrachter gesehen werden. In vieler lens- und Sinnesschulung erweckt, gestärkt Hinsicht engagiert der schöpferische Wille und entwickelt werden. Die Forderung ist, des Ausführenden das Publikum als Mitwir- sowohl die subjektiven als auch die objekti- kende, bemüht, ihren Willen mit dem künst- ven Bereiche gleichermaßen zu schulen, inei- lerischen Prozess zu halten und zu verbinden. nanderwirkend ohne Grenzziehung. Solche Jedoch ist die ästhetische Distanz in einem Qualitäten von ästhetischem Empfinden gewissen Grad noch ausreichend bewahrt, können nicht durch Nachdenken und theore- um dem Kunst- oder Musikliebhaber die Frei- tische Abhandlungen allein gestärkt und heit zu geben, sein (oder ihr) kritisches Ur- entwickelt werden, sondern durch eine ge- teilsvermögen auszuüben: ein Urteilsvermö- stufte, dauernde, praktische Beschäftigung gen, das gleichzeitig mit seiner oder ihrer mit dem betreffenden künstlerischen Me- subjektiven Beteiligung an dem schöpferi- dium – in dem Fall des pädagogischen Künst- schen Willen des Durchführenden (des lers, mit den Kindern. 18 Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58
Bericht der Internationalen Konferenz – Treffen in Arles „Im Gebiet des Möglichen“ – Frühjahrstreffen der Internationalen Konferenz in Arles Philipp Reubke Arles „Domaine du possible – une collection pour Anfang Mai ist es in den schattigen Gässchen agir“ (Der Gebiet des Möglichen – die Buch- der Altstadt in Arles angenehm warm. Trotz reihe um tätig zu werden) hat einigen Erfolg. ihrer Attraktivität seit über 2000 Jahren wirkt die charmante südfranzösische Stadt, Le domaine du possible weltbekannt durch die römische Arena und Jean Paul Capitani ist als Sohn eines Landwir- durch Van Gogh, schlicht und authentisch. tes aus der Camargue jemand, der es nicht nur Aber warum sind die Mitglieder der „Interna- bei Worten belässt: er hat einen ehemaligen tionalen Konferenz“ (Haager Kreis) hier in Waldorflehrer aus Avignon und Mitglied der einer seit der französischen Revolution für Internationalen Konferenz, Henri Dahan, ge- weltliche Zwecke umgebauten Barockkirche beten, auf seiner Domäne, auf der früher Reis am Rhone Ufer zu ihrer Frühjahreskonferenz angebaut wurde, eine Schule aufzubauen: zusammen gekommen? eine Schule, die vom Kindergarten an den Kin- dern Gelegenheit geben soll, mit der Natur Das moderne Arles ist geprägt durch zwei eine intensive Beziehung zu pflegen (Gärten starke Impulse: Einer geht aus von Maja Hof- und Felder gehören ebenso zur Schule wie mann, der Miterbin des Basler Pharmazeutik eine Bäckerei und eine Käserei, die noch ge- Konzerns Roche, die ihr Vermögen großzügig baut werden sollen, in der 9.Klasse sollen alle zur Förderung aller Künste in Arles einsetzt: Schüler zusätzlich zum Unterricht eine land- Auf einem 6 Hektar großen ehemaligen wirtschaftliche Lehre absolvieren) und deren Werksgelände der französischen Staatsbahn Unterrichtspraxis durch die Anregungen des entsteht ein Zentrum mit Bühnen, Museen, Waldorflehrplans und das Studium der Men- Begegnungszentren und einem 56 Meter schenkunde Steiners geprägt sein sollen. Aber hohen Turm, durch das Arles nicht nur mit nicht nur dadurch: ein großer Freiraum soll Basel, sondern auch mit Paris und New York auch den spontan entwickelten Ideen des Leh- rivalisieren soll. – Der zweite Impuls wird ge- rerkollegiums gelassen werden. Die Schule tragen von der Verlegerin Françoise Nyssen heißt denn auch nicht Waldorf- oder Steiner und ihrem Partner Jean Paul Capitani. Zusam- Schule sondern so wie die Buchreihe: Le do- men haben sie geschafft, was bisher noch maine du possible. Was natürlich den Mitglie- niemandem gelungen war: einen bedeuten- dern der Internationalen Konferenz wie der den Verlag in der Provinz aufzubauen, der mit französischen Waldorfschulbewegung einigen den größten Pariser Verlagen rivalisieren Gesprächsstoff bietet: Ist dieses pädagogische kann. „Actes Sud“ hat drei Preisträger des Konzept, das auch in der Buchreihe bei Actes wichtigsten französischen Literaturpreises Sud veröffentlicht wurde und das sich explizit „Goncourt“ unter seinen Autoren und zwei auf Steiner bezieht, nicht genau das was Stei- Nobelpreisträger (Svetlana Alexiewitch und ner selbst immer wieder betont hat? Wollte er Imre Kertesz). Auch die vor einigen Jahren nicht gerade diesen „Raum des Möglichen“ lancierte Reihe über alternative Lebensweise besonders weit aufmachen? Studium des wer- Pädagogische Sektion, Rundbrief Nr. 58 19
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