Gesundheitsberichterstattung des Bundes - Heft 53 Rückenschmerzen ROBERT KOCH INSTITUT

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ROBERT KOCH INSTITUT
                  Statistisches Bundesamt

      Heft 53
      Rückenschmerzen

Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Heft 53

Rückenschmerzen

Autor: Heiner Raspe

Herausgeber: Robert Koch-Institut, Berlin 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53   3

Gesundheitsberichterstattung des Bundes

Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes              zu­sammengehörende Themen können gebün-
(GBE) liefert daten- und indikatorengestützte            delt und gemeinsam heraus­gegeben wer­den.
Beschreibungen und Analysen zu allen Bereichen           Die fortlaufende Erscheinungsweise gewähr-
des Gesundheitswesens.                                   leistet Aktualität. Die Autorinnen und Auto-
                                                         ren sind ausgewiesene Expertinnen und
                                                         Experten aus dem jeweiligen Bereich.
              Rahmenbedingungen                          www.rki.de
             des Gesundheitswesens
                                                    ▶▶ Informationssystem der Gesundheitsbericht­
                                                      erstattung des Bundes
              Gesundheitliche Lage                    ▶▶ Das Informationssystem der Gesundheits­
                                                         berichterstattung des Bundes liefert als
                                                         Online-Datenbank schnell, kompakt und
                                                         transparent gesundheitsrelevante Informa­
        Gesundheits-        Gesundheits-
        verhalten und        probleme,                   tionen zu allen Themenfeldern der Gesund-
       -gefährdungen        Krankheiten                  heitsberichterstattung. Die Informationen
                                                         werden in Form von individuell gestaltbaren
                                                         Tabellen, übersichtlichen Grafiken, verständ-
                                                         lichen Texten und präzisen Definitionen
        Leistungen und Inanspruchnahme                   bereitgestellt und können heruntergeladen
                                                         werden. Das System wird ständig ausgebaut.
                                                         Derzeit sind aktuelle Informationen aus
                                                         über 100 Datenquellen abrufbar. Zusätzlich
       Ressourcen der        Ausgaben,                   können über dieses System die GBE-The-
        Gesundheits-         Kosten und                  menhefte sowie weitere GBE-Publikationen
         versorgung         Finanzierung                 abgerufen werden.
                                                         www.gbe-bund.de

Als dynamisches und in ständiger Aktualisierung     ▶▶ GBE kompakt
begriffenes System bietet die Gesundheitsbericht­      ▶▶ Die Online-Publikationsreihe GBE kompakt
erstattung des Bundes die Informationen zu den           präsentiert in knapper Form Daten und Fak-
Themenfeldern in Form sich ergänzender und auf-          ten zu aktuellen gesundheitlichen Themen
einander beziehender Produkte an:                        und Fragestellungen. Die vierteljährliche
                                                         Veröffentlichung erfolgt ausschließlich in
▶▶ Themenhefte der Gesundheitsberichterstattung          elektronischer Form.
  des Bundes                                             www.rki.de/gbe-kompakt
  ▶▶ In den Themenheften werden spezifische
     Informationen zum Gesundheitszustand der       Die Aussagen der Gesundheitsberichterstattung
     Bevölkerung und zum Gesundheitssystem          des Bundes beziehen sich auf die nationale, bundes-
     handlungsorientiert und übersichtlich prä-     weite Ebene und haben eine Referenzfunktion für
     sentiert. Jedes Themenheft lässt sich einem    die Gesundheitsberichterstattung der Länder. Auf
     der GBE-Themenfelder zuordnen; der inne­re     diese Weise stellt die GBE des Bundes eine fachli-
     Aufbau folgt ebenfalls der Struktur der The-   che Grundlage für politische Entscheidungen bereit
     menfelder. Somit bieten die Themenfelder       und bietet allen Interessierten eine datengestützte
     der GBE sowohl den Rahmen als auch die         Informations­grund­lage. Darüber hinaus dient sie
     Gliederung für die Einzelhefte. Inhaltlich     der Erfolgskon­trolle durchgeführter Maßnahmen
4    Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

    und trägt zur Entwicklung und Evaluierung von          Zielgruppe gehören auch Bürgerinnen und Bür-
    Gesundheitszielen bei.                                 ger, Patientinnen und Patienten, Verbrauche­rinnen
         Der Leser- und Nutzerkreis der GBE-Produkte       und Verbraucher und ihre jeweiligen Verbände.
    ist breit gefächert: Angesprochen sind Gesund-              Das vorliegende Heft 53 der Gesundheits­
    heitspolitikerinnen und -politiker, Expertinnen        berichterstattung des Bundes »Rückenschmerzen«
    und Experten in wissenschaftlichen Forschungs-         lässt sich folgendermaßen in das Gesamtspektrum
    einrichtungen und die Fachöffentlichkeit. Zur          der Themenfelder einordnen:

                 Rahmenbedingungen
                des Gesundheitswesens

                 Gesundheitliche Lage

           Gesundheits-          Gesundheits-            Krankheiten des Muskel-
           verhalten und          probleme,                  Skelett-Systems              Rückenschmerzen
          -gefährdungen          Krankheiten              und des Bindegewebes

           Leistungen und Inanspruchnahme

         Ressourcen der           Ausgaben,
          Gesundheits-            Kosten und
           versorgung            Finanzierung
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53                 5

Inhaltsverzeichnis

           1 Einleitung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 7

           2 Krankheitsbilder  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 7

           3 Diagnostik .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 8

           4 Risikofaktoren .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 10

           5 Verlauf  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 12

           6 Verbreitung  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 12

           7 Komorbidität .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 15

           8 Folgen  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 15

           9 Therapie  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .   17
           9.1 Nicht-medikamentöse Therapie  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .                       18
           9.2 Medikamentöse Therapie  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .                    18
           9.3 Operative und andere eingreifende Verfahren  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .                             18

           10 Versorgung .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 19

           11 Prävention .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 22

           12 Ausblick  . .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 23

           13 Literatur  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 25

           14 Glossar .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 29
6   Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53           7

Rückenschmerzen

1 Einleitung
Rückenschmerzen sind eine subjektive Erfahrung,       tief­­­­­sitzenden Rückenschmerzen (synonym Kreuz-
zu der andere nur indirekt Zugang haben. Epide-       schmerzen) bei Erwachsenen. Rückenschmerzen
miologie und medizinische Praxis sind daher auf       in der Arbeitswelt werden im Rahmen dieses The-
spontane oder durch Fragen ausgelöste Berichte der    menheftes nur am Rande behandelt.
Betroffenen angewiesen. Es gibt keinen Labortest
und keine technisch unterstützte Untersuchung,
die im Zweifelsfall Rückenschmerzen sicher bele-      2 Krankheitsbilder
gen oder ausschließen könnten.
   Weder in der medizinischen noch in der             Rückenschmerzen (hier im Sinne von Kreuz-
schönen Literatur des späten 19. und frühen           schmerzen) sind Schmerzen in der Region unter-
20. Jahrhunderts spielten Rückenschmerzen oder        halb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäß-
andere Rückenbeschwerden eine besonders wich-         falte. Die fünf Lendenwirbel und ihre gelenkigen
tige Rolle. Heutzutage sind Rückenschmerzen und       Verbindungen, das Kreuzbein, das Steißbein und
Krankheiten der Wirbelsäule (sogenannte Dor­          die Bandscheiben sind umgeben von zahlreichen
sopathien; synonym: Rückenleiden) in Deutschland      Bändern, Sehnen und Muskeln. Die rückwärtigen
und vergleichbaren Ländern eine Gesundheits­          Fortsätze der Lendenwirbelkörper bilden einen
störung von herausragender epidemiologischer,         Kanal; er schließt den unteren Anteil des Rücken-
medizinischer und gesundheitsökonomischer             marks ein. Jede dieser Strukturen kann die Quelle
Bedeutung. So sind Rückenleiden ein besonders         von Schmerzen sein.
häufiger Grund für die Inanspruchnahme des                Aufgrund der verschiedenen Ursachen, der
medizinischen Versorgungssystems, Arbeitsun­          Dauer, des Schweregrades (Schmerzstärke und
fähigkeit und Renten wegen teilweiser oder voller     Funktionsbeeinträchtigung) und des Chronifizie-
Erwerbsminderung.                                     rungsstadiums lassen sich Rückenschmerzen klas-
   Aber wo ist »der Rücken« und was sind              sifizieren [1]. Eine weitere Unterscheidung ist hin-
»Schmerzen«? Die zweite Frage ist kaum zu beant-      sichtlich der Ursachen vorzunehmen: Von nicht-
worten, da das Schmerzverständnis variiert; von       spezifischen Rückenschmerzen spricht man, wenn
Person zu Person; und je nach sozialer oder ethni-    mit einfachen klinischen Mitteln keine Ursache
scher Gruppe existieren unterschiedliche Schmerz-     gefunden werden kann, welche die vorliegenden
vorstellungen und Schmerzschwellen. Dies wirkt        Beschwerden überzeugend erklären kann (siehe
sich vor allem bei Berichten zu geringgradigen        Abschnitt Risikofaktoren).
Schmerzen aus. Hier ist die Abgrenzung gegen              Angesichts der Häufigkeit von Rückenschmer-
Noch-Nicht-Schmerz, Steifigkeitsgefühle oder          zen und angesichts des Verhältnisses von spezi-
andere Unbehaglichkeiten in der Rückenregion          fischen zu nicht-spezifischen Rückenschmerzen
besonders schwierig. Die Frage nach der exakten       (1: > 4) ist nicht hinter jedem Rückenschmerz eine
Loka­lisation des »Rückens« ist einfacher zu beant-   mehr oder weniger schwere Krankheit zu vermu-
worten. Anatomisch gesehen reicht er vom Hinter-      ten. Nur bei atypischen, anhaltenden oder zuneh-
haupt bis zur Gesäßfalte. Alltagssprachlich wird      menden Schmerzen, oder bei bestimmten Risiko-
in der Regel zwischen Nacken (Hinterhaupt bis         konstellationen sollte man sie für ein Krankheits-
zum letzten fühlbar vorstehenden Halswirbel) und      zeichen (Symptom) halten, das u. a. verweisen kann
Rücken unterschieden. In den deutschsprachigen        auf:
Ländern fehlt ein einheitliches »Rücken«-Konzept,
wie es die englischsprachige Welt im »low back«       ▶ Krankheiten der Wirbelsäule (z. B. Bechterew’sche
(unterer Rücken) hat.                                   Erkrankung),
   Das vorliegende Themenheft befasst sich            ▶ Krankheiten an inneren Organen (z. B. Nieren-
schwerpunktmäßig mit (nicht-spezifischen)               beckenentzündung),

                                                                                         Robert Koch-Institut 2012
8      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

    ▶ spezifische krankhafte Prozesse (z. B. Wirbel-                    Andere Krankheiten des Rückens bzw. der Wir-
      körperzusammenbruch bei Osteoporose oder                       belsäule finden sich in weiteren Kapiteln der ICD-
      nach Unfall, Entzündung, bösartiger Tumor),                    10-GM, z. B. der Wirbelkörperzusammenbruch bei
    ▶ bestimmte Entstehungsorte (z. B. Muskulatur,                   Osteoporose (ICD-10-GM: M80).
      Bandscheibe, Nervenwurzel).

        Die internationale Klassifikation der Krankhei-              3 Diagnostik
    ten (ICD-10-GM Version 2013) verweist im Kapitel
    XIII Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und                  Die medizinische Diagnostik dient dem Aufdecken
    des Bindegewebes (ICD-10-GM: M00 – M99) auf                      der Ursachen von Rückenschmerzen, der Bestim-
    verschiedene Erkrankungen der Wirbelsäule und                    mung ihrer Schwere sowie (bei akuten Fällen) dem
    des Rückens (ICD-10-GM: M40 – M54). Dazu zählen                  Auffinden von Faktoren, die eine Chronifizierung
    u. a. die sogenannten Spondylopathien (ICD-10-GM:                begünstigen können. Am Anfang steht immer
    M45 – M49), also die Wirbel- bzw. Wirbelsäulen-                  eine gründliche Anamnese; sie erfasst verschie-
    erkrankung mit nachweisbaren Strukturstörungen                   dene Schmerzcharakteristika [1]:
    sowie sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des
    Rückens (ICD-10-GM: M50 – M54) (siehe Tabelle 1).                ▶▶ Lokalisation
                                                                     ▶▶ Ausstrahlung (Seite, bis oberhalb bzw. unterhalb
    Tabelle 1                                                          des Knies)
    Klassifikation von Rückenleiden (Dorsopathien) gemäß             ▶▶ Dauer der aktuellen Episode
    ICD-10-GM
                                                                     ▶▶ Frühere Episoden, bisheriger Verlauf
    Quelle: DIMDI [2]
                                                                     ▶▶ Auslöser, erleichternde bzw. verschlimmernde
     ICD-Code        Krankheit oder Störung (Beispiel)                 Faktoren
                                                                     ▶▶ Bisherige Behandlungen, Erfolge, Nebenwir-
     M45 – M49 Spondylopathien
                                                                       kungen
       M45           Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew)
                                                                     ▶▶ (Tages-)zeitlicher Verlauf
       M46           Sonstige entzündliche Spondylopathien           ▶▶ Erste Einschätzung psychosozialer Risikofakto-
                     (u. a. eitrige Bandscheibenentzündung)
                                                                       ren
       M47           Spondylose                                      ▶▶ Stärke der Schmerzen und Beeinträch­tigung bei
       M48           Sonstige Spondylopathien (u. a. Verengung         täg­lichen Verrichtungen
                     des Wirbelkanals, Ermüdungsbruch)               ▶▶ Vorstellungen und Einstellungen zum Rücken-
       M49           Spondylopathien bei anderenorts klassifizier-     schmerz, Schmerzverhalten
                     ten Krankheiten                                 ▶▶ Begleitbeschwerden und -krankheiten
                     (u. a. Tuberkulose der Wirbelsäule)
     M50 – M54       Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und            Zur Abklärung der Schmerzcharakteristika
                     des Rückens
                                                                     kann ein standardisierter Schmerzfragebogen wie
       M50           Zervikale Bandscheibenschäden im Bereich        der der Deutschen Gesellschaft zum Studium des
                     der Halswirbelsäule, mit oder ohne
                        ­­­­
                     Einengung  von Nervenwurzeln oder               Schmerzes eingesetzt werden [3, 4].
                     Rückenmark                                          Bei der Diagnostik und Therapieplanung kann
       M51           Sonstige Bandscheibenschäden im Bereich         bei Rückenschmerzen weiterhin ein sogenanntes
                     der Brust- und Lendenwirbelsäule mit oder       Flaggenmodell hilfreich sein [3, 5, 6]. Als rote Flag-
                     ohne Einengung von Nervenwurzeln oder           gen werden Begleitsymptome und Vorerkrankun-
                     Rückenmark
                                                                     gen bezeichnet, die auf eine spezifische Ursache
       M53           Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und        mit dringlichem Behandlungsbedarf hinweisen
                     des Rückens, anderenorts nicht klassifiziert
                     (u. a. Lockerung des Gefüges der Wirbel-
                                                                     (siehe Tabelle 2) [1]. Diese Warnhinweise ermög­
                     körper)                                         lichen in ihrer Gesamtheit eine Einschätzung des
       M54           Rückenschmerzen                                 Risikos; einzeln ist ihre Sensitivität und Spezifität
                      M54.5 Kreuzschmerz,                            eher gering.
                      M54.9 Rückenschmerzen,                             Gelbe Flaggen lenken die Aufmerksamkeit auf
                            nicht näher bezeichnet                   psychosoziale Risikofaktoren, die den Übergang

    Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53              9

von akuten zu chronischen Verläufen wahrschein-                    Schließlich kommt auch das medizinische Sys-
licher machen. Zu den psychosozialen Risikofak-                 tem als Chronifizierungsfaktor infrage. Hier ist
toren zählen beispielsweise Konflikte am Arbeits-               zum einen die Überdiagnostik mit dem Risiko der
platz, unbefriedigende Arbeit oder die Neigung                  »somatischen Fixierung« anzuführen. Darunter
zu Depressionen. In jüngerer Zeit sind folgende,                versteht man die Vertiefung der verbreiteten Vor-
bisher weniger beachtete Risikofaktoren fokussiert              stellung, dass hinter den Schmerzen doch eine
worden: die aktuellen Vorstellungen der Patientin-              körperliche Krankheit steckt, die nur noch nicht
nen und Patienten zur Ursache, zum Verlauf und                  gefunden wurde – was zu weiteren Untersuchun-
zur Behandlung ihrer Schmerzen (»back beliefs«,                 gen führen kann. Als weitere Risiken können die
»Rückenschmerzmythen«) [7, 8] und das Bestehen                  Überbewertung weit verbreiteter Röntgen-/MRT-
weiterer Schmerzen und körperlicher wie seeli-                  Befunde, unnötig lange Krankschreibungen, der
scher Beschwerden. Chronische Rückenschmer-                     Einsatz ungeprüfter invasiver Verfahren und die
zen sind fast immer »mehr als Schmerzen im                      Betonung passiver Behandlungsverfahren (wie
Rücken« [9].                                                    Bettruhe, Packungen, Massagen) genannt werden.
    Es ist darauf hinzuweisen, dass bei akuten                     Im Falle von spezifischen Rückenschmerzen
Rückenschmerzen eine über rote Flaggen und                      findet nach einer körperlichen Untersuchung und
Basisdiagnostik hinausgehende Untersuchung                      Laboruntersuchungen (z. B. Blutbild, Urinstatus,
verzichtbar ist, v. a. aufgrund der hohen Spontan-              Erbmerkmale wie das sog. HLA B27) meist eine
heilungsrate akuter Beschwerden.                                radiologische Untersuchung (einfache Röntgen-
    Risiken entstehen aber nicht nur aus der Per-               aufnahmen, Computertomografie/CT, Magnet­
sönlichkeit der Betroffenen. In vielen Fällen sind              resonanztomografie/MRT) statt. Sonst ist bei der
Einflüsse des Berufs und der Arbeit wichtig(er).                Erstabklärung akuter und gleichförmiger chroni-
Dies betrifft nicht nur mechanische Einflüsse (z. B.            scher Rückenschmerzen bewusst darauf zu ver-
einseitige Haltungen), sondern auch psychosoziale               zichten [10, 11].
(z. B. geringe Anerkennung trotz hohen Einsatzes)                  Bleibt es – vorerst und auf Widerruf – bei der
(siehe Abschnitt Risikofaktoren).                               diagnostischen Einordnung »nicht-spezifische

Tabelle 2
Warnhinweise (Flaggenmodell)
Quelle: nach Bundesärztekammer [1], eigene Darstellung

Rote Flaggen                                                     Gelbe Flaggen
 Tumor:                                                          Depressivität
   ▶ höheres Alter
   ▶ Tumorleiden in der Vorgeschichte                            »Stress«-Empfinden (v. a. berufs-/arbeitsbezogen)
   ▶ allgemeine Symptome wie Gewichtsverlust, rasche
     Ermüdbarkeit
            ­                                                    Schmerzvermeidungsverhalten
   ▶ starker nächtlicher Schmerz
                                                                 Hilf- und Hoffnungslosigkeit, »Katastrophisieren«
 Infektion:
     ▶ allgemeine Symptome wie kürzlich aufgetretenes Fieber,    Passives Schmerzverhalten
       Schüttelfrost                                             (ausgeprägte Schon- und Vermeidungshaltung)
     ▶ bekannte bakterielle Infektion
                                                                 Weitere körperliche Beschwerden ohne erkennbare Krank-
 Fraktur:                                                        heitsursache (»Somatisierungstendenz«)
    ▶ Unfall
    ▶ Bagatelltrauma                                             Negative Krankheitsvorstellungen

 Radikulopathien/Neuropathien:
    ▶ straßenförmig in ein oder beide Beine ausstrahlende
      Schmerzen; ggf. verbunden mit Taubheitsgefühlen
    ▶ zunehmende Lähmung, Sensibilitätsstörung
      der unteren Extremitäten
    ▶ Kaudasyndrom

                                                                                                      Robert Koch-Institut 2012
10      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

     Rückenschmerzen«, tritt die Suche nach einer ver-      4 Risikofaktoren
     borgenen Krankheit zurück. Die Rückenschmer-
     zen werden als vorübergehende Beschwerden oder         Bei der Mehrzahl aller Rückenschmerz-Patientin-
     bei chronischen Rückenschmerzen als eigenständi-       nen und -Patienten lässt sich weder eine umschrie-
     ges, meist komplexes Krankheitsbild wahrgenom-         bene Krankheit, noch ein krankhafter Prozess
     men. Dieses ist genauer zu beschreiben: Zu erfas-      (zentraler Pathomechanismus), noch eine sichere
     sen sind vorrangig der Schweregrad der Rücken-         anatomische Quelle als Ursache für den Schmerz
     schmerzen, ihr bisheriger Verlauf und das Stadium      finden; man spricht dann von nicht-spezifischen
     ihrer Entwicklung. Diese Informationen erlau-          Rückenschmerzen. Ihr Anteil wird auf wenigstens
     ben auch eine Abschätzung zum weiteren Verlauf         80 % geschätzt [14, 15]. Allerdings ist die entspre-
     (Prognose) und zum Behandlungsbedarf.                  chende Literatur veraltet. Eine neue Untersuchung
         Um den Schweregrad von akuten Rücken-              zur Häufigkeit nicht-spezifischer Rückenschmer-
     schmerzen zu erfassen, wird zum einen das Aus-         zen, unter Nutzung der modernen diagnostischen
     maß der aktuellen Stärke des Schmerzes erfragt,        Techniken, wäre sinnvoll.
     z. B. auf einer numerischen Skala von 0 = kein            Obwohl Rückenschmerzen in westlichen
     Schmerz bis 10 = stärkster vorstellbarer (unerträg-    Gesellschaften eine der häufigsten Gesundheits-
     licher) Schmerz. Zum anderen wird die Behinde-         störungen überhaupt sind und sich weltweit zahl-
     rung bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B.       reiche Studien mit ihren Risiko- und Prognosefak-
     durch einen Funktionsfragebogen [12]) ermittelt.       toren beschäftigt haben, sind wesentliche Fragen
         Der Schweregrad bei chronischen Rücken-            weiter ungeklärt. Zu unterscheiden ist zwischen
     schmerzen wird über die Graduierung chroni-            Risikofaktoren, die Rückenschmerz begünstigen
     scher Schmerzen nach von Korff et al. [13] abge-       und solchen, die die Aufrechterhaltung und die
     schätzt. Auch hierbei wird nach dem Ausmaß der         Chronifizierung des Schmerzes fördern.
     Schmerz­intensität und der Behinderung bei Akti-          Hinweise auf bedeutsame genetische Risiko-
     vitäten des täglichen Lebens gefragt. Es ergibt sich   faktoren finden sich nur für wenige, seltene Ursa-
     folgende Abstufung:                                    chen spezifischer Rückenerkrankungen, z. B. für
                                                            die Ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechte-
     ▶▶ Grad 0 	Keine Schmerzen                            rew; HLA B27) (siehe Heft 49 der Gesundheits-
                       (in den vergangenen sechs Monaten)   berichterstattung »Entzündlich-rheumatische
     ▶▶ Grad I	Schmerzen mit niedriger schmerz­            Erkrankungen«).
                  bedingter Funktionseinschränkung             Arbeitsbezogene Faktoren stehen mit dem
                  und niedriger Intensität                  Risiko von Rückenschmerzen in Zusammen-
     ▶▶ Grad II	Schmerzen mit niedriger schmerz­           hang [16, 17]. Wichtig sind zum einen die biome-
                  bedingter Funktionseinschränkung          chanischen Arbeitsbedingungen wie Tragen und
                  und höherer Intensität                    Heben schwerer Lasten, Vibrationen und Arbei-
     ▶▶ Grad III	mittlere schmerzbedingte Funktions-       ten in ungünstigen Körperhaltungen. Langjährige
                  einschränkung                             und sehr schwere körperliche Arbeit ist als Risi-
     ▶▶ Grad IV	hohe schmerzbedingte Funktionsein-         kofaktor gesetzlich anerkannt. Dies spiegelt sich
                  schränkung                                in der Aufnahme einiger Rückenerkrankungen
                                                            in die Liste der Berufserkrankungen wieder [18]:

                                                            ▶ bandscheibenbedingte Erkrankungen der Len-
                                                              denwirbelsäule durch langjähriges Heben oder
                                                              Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige
                                                              Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung (BK-
                                                              Nr. 2108; Bundesarbeitsblatt 10-2006);
                                                            ▶ bandscheibenbedingte Erkrankungen der Len-
                                                              denwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend
                                                              vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwin-
                                                              gungen im Sitzen (BK-Nr. 2110; Bundesarbeits-

     Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53           11

  blatt 7-2005; die Ziffer 2109 bezieht sich auf      Verhaltensweisen, familiäre und sozialrechtliche
  Erkrankungen der Halswirbelsäule).                  Umstände (s. o. »gelbe Flaggen«) eine besondere
                                                      Rolle [21]. Die entsprechenden Faktoren sollten
    Aufgrund der sehr strengen Kriterien wer-         möglichst früh im Behandlungsverlauf erfasst
den jährlich nur wenige der angezeigten Fälle als     und bei der Therapieplanung berücksichtigt wer-
Berufskrankheiten anerkannt: Im Jahr 2010 wur-        den.
den 392 (7,7 %) Fälle von den insgesamt 5.114 Ver-        Mittlerweile stehen ausreichend wissenschaft-
dachts-Fällen zur BK-Nummer 2108 als Berufs-          liche Belege zugunsten einer Fortführung der
krankheit anerkannt [18]. 2008 waren es 4,9 %         gewohnten körperlichen Aktivitäten bei nicht-spe-
gewesen.                                              zifischen Rückenschmerzen [22], eventuell unter
    Weiterhin sind die arbeitsbezogenen psycho-       dem Schutz frei verkäuflicher Schmerzmittel (z. B.
sozialen Bedingungen als Risikofaktoren zu nen-       Paracetamol oder Ibuprofen), zur Verfügung. Ärzt-
nen: Niedrige Arbeitsplatzzufriedenheit, monotone     liche Empfehlungen und Maßnahmen, die in Rich-
Arbeiten sowie soziale Konflikte am Arbeitsplatz      tung Verordnung von Bettruhe oder aufwändiger
einschließlich sogenannter Gratifikationskrisen       Diagnostik zielen, sind daher problematisch bzw.
[3]. Darunter ist ein seelischer und körperlicher     nicht sachgemäß.
Stresszustand zu verstehen, der durch hohen Ein-          Grundsätzlich besteht in der Fachwelt aber Kon-
satz des Arbeitenden ohne adäquate Belohnungen        sens, dass bei den meisten Patientinnen und Pati-
(in Form sozialer Anerkennung, besserer Entloh-       enten mit nicht-spezifischen Rückenschmerzen
nung, rascherer Aufstiegschance etc.) gekennzeich-    eine komplexe Problematik mit Risiken aus sehr
net ist. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil   unterschiedlichen Quellen besteht [23]:
scheint eine überwiegend sitzende Tätigkeit kein
nennenswertes Risiko für Rückenschmerzen zu           ▶ physiologisch-organisch: durch Verlust der
beinhalten [19].                                        Beweglichkeit (Mobilitätsverlust), Funktionsein-
    Auch der Sozialstatus steht in Zusammen-            schränkungen und (bei erzwungener, gewählter
hang mit dem Risiko für Rückenschmerz: Perso-           oder verordneter Schonung) eine Abnahme der
nen mit niedrigem Sozialstatus (gemessen an Bil-        körperlichen Fitness (allgemeine Dekonditio-
dung, Beruf, Einkommen) berichten im Vergleich          nierung),
zu Personen mit hohem Status sehr viel häufiger       ▶ kognitiv und emotional: durch eine erhöhte Emp-
von Rückenschmerzen allgemein und schweren              findlichkeit gegenüber körpereigenen Signalen,
Rückenschmerzen insbesondere. Das Risiko (Odds          durch Stimmungsschwankungen sowie katas-
Ratio) für schwere Rückenschmerzen bei Personen         trophisierende Vorstellungen (z. B. »ich bin ein
mit Hauptschulabschluss ist etwa dreimal so hoch        hoffnungsloser Fall; wenn es so weitergeht, werde
im Vergleich zu Personen mit Abitur [20]. Dieser        ich im Rollstuhl landen; mir ist nicht zu helfen«),
Effekt bleibt auch bestehen, wenn statistisch der     ▶ im Verhalten: durch unangemessenes schmerz-
Faktor »selbst berichtete ungünstige Arbeitsbedin-      bezogenes Verhalten (Passivität, Schonung,
gungen« kontrolliert wird. In den Daten erweist         Überaktivität, »Durchhalten«),
sich die Schulbildung als guter Prädiktor für das     ▶ sozial: durch Störung der sozialen Beziehungen
Rückenschmerzrisiko. Über welche (anderen)              und Probleme am Arbeitsplatz und im Beruf.
Mechanismen Schulbildung mit Rückenschmer-              Am Rande spielen auch die Situation am
zen verbunden ist, ist weitgehend unklar.               Arbeitsmarkt und sozialrechtliche Regelungen
    Der wichtigste Risikoindikator für (nicht-spe-      des Zugangs zu Arbeitsunfähigkeit, Rehabilita-
zifische) Rückenschmerzen ist deren eigene Vor-         tionsleistungen und Erwerbsminderungsrenten
geschichte. Je mehr Schmerzphasen, je länger die        eine Rolle.
gesamte Krankengeschichte und die Dauer der
aktuellen Episode, umso eher ist mit einem weiter        Anders verhält es sich bei Rückenschmerzen
ungünstigen Verlauf zu rechnen. Auch hier spielen     infolge bestimmter Erkrankungen. Ihr Verlauf ist
psychische Faktoren wie ungünstige Vorstellun-        stärker durch die Grundkrankheit (z. B. Morbus
gen und Einstellungen, unrealistische Befürch-        Bechterew, schwere Osteoporose, Tumorleiden)
tungen, Depressivität, passive oder hyperaktive       geprägt.

                                                                                         Robert Koch-Institut 2012
12      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

     5 Verlauf                                              12 Monate wieder (seltener »weiterhin«), unter die-
                                                            sen Schmerzen zu leiden [28].
     Als akut werden Rückenschmerzen bezeichnet,               Diese Befunde werfen die Frage auf, ob Maß-
     wenn sie erstmals oder nach mindestens sechs           nahmen ergriffen werden können und wenn ja,
     schmerzfreien Monaten und über einen Zeitraum          welche, um Betroffene mit einem hohen Chro-
     von höchstens sechs Wochen auftreten [1]. Als sub-     nifizierungsrisiko (s. o. gelbe Flaggen) frühzeitig
     akut gelten sie, wenn sie länger als sechs Wochen      vor einer ungünstigen Entwicklung zu schützen.
     fortbestehen. Als chronisch bzw. chronisch rezi-          Bei der Analyse langfristiger Verläufe Chro-
     divierend werden Rückenschmerzen bezeichnet,           nifizierter zeigen sich weitere Rückfälle und
     die länger als drei Monate anhalten. Die Intensi-      schließlich langfristig anhaltende (persistierende)
     tät des Schmerzes kann in diesem Zeitraum vari-        Beschwerden. Im Gesundheitssurvey Ost von
     ieren. Chronisch rezidivierend bedeutet, dass die      1991/92 berichteten 95 % aller Frauen und Männer
     Schmerzen nach einer kürzeren oder längeren            mit Rückenschmerzen »heute« auch über Rücken-
     beschwerdefreien Phase wieder auftreten.               schmerzen im Verlauf der letzten 12 Monate [29].
         Aufgrund der Unschärfe des zeitlichen Kriteri-     Vergleichbare Ergebnisse fanden sich im Bundes-
     ums sind zur Abschätzung des Chronifizierungs-         Gesundheitssurvey von 1998 [30]. Innerhalb der
     stadiums von Rückenschmerzen (Übergang vom             ersten Lübecker Rückenschmerzstudie (1990 bis
     vorübergehenden zum dauerhaften Symptom)               1993) wurde eine längerfristige Erhebung (pro­
     andere Konzepte vorgeschlagen worden.                  spektive Untersuchung) durchgeführt. 800 zufällig
         Eines zielt auf den Grad der Ausweitung            ausgewählte Probandinnen und Probanden wur-
     (»Am­plifikation«) der Problematik unter dem           den nach 12 Monaten erneut befragt. Zum ersten
     Stichwort »Staging« (Stadieneinteilung): Beste-        Befragungszeitpunkt berichteten 39 % von ihnen
     hen die Schmerzen auch nachts und in Ruhe; tre-        über Rückenschmerzen. Fast alle, die zum ersten
     ten sie mit anderen Schmerzen und körperlichen         Befragungszeitpunkt Rückenschmerzen angege-
     Beschwerden zusammen auf; gehen sie gleichzei-         ben hatten, berichteten ein Jahr später von Schmer-
     tig mit negativen Gedanken und Gefühlen (»ent-         zen innerhalb der letzten 12 Monate (ein Drittel)
     mutigt«, »traurig« etc.) einher; kommt es zu häu-      oder am Tag der zweiten posta­lischen Befragung
     figen Arztbesuchen und/oder einem hohen Medi-          (zwei Drittel). Von denen, die am Anfang keine
     kamentenverbrauch? Je mehr dieser Fragen bejaht        Rückenschmerzen angegeben hatten, berichteten
     werden, umso stärker gelten die Rückenschmer-          74 % von solchen Beschwerden innerhalb und/
     zen als chronifiziert, mit Konsequenzen für den        oder am Ende des Befragungszeitraumes. Ver-
     Behandlungs- und Rehabilitationsaufwand [24].          gleichbare Befunde wurden aus ausländischen
         Akute Rückenschmerzen haben generell eine          Studien mitgeteilt [31]. Die mittel- bis langfristige
     gute Prognose: Innerhalb weniger Wochen verbes-        Prognose von Rückenschmerzen ist – bezogen auf
     sern sich die Schmerzen bei der großen Mehrzahl        das Schmerzerleben – ungünstig [25].
     der Betroffenen (75 % – 90 %) [25, 26]. Arbeitsun-        Längsschnittdaten zu Wahrscheinlichkeiten,
     fähige Personen kehren häufig innerhalb eines          von einem Grad oder Stadium oder einer Verlaufs-
     Monats wieder an den Arbeitsplatz zurück [27].         form von Rückenschmerzen in ein/e/n andere/n/s
     Diese günstige Einschätzung ist einzuschränken         überzugehen, liegen für Deutschland bisher nicht
     auf den Ausgang der einzelnen akuten Rücken-           vor.
     schmerzepisode, die hausärztlich oder physio­
     therapeutisch diagnostiziert wird und nicht durch
     ausstrahlende Schmerzen, eine lange Vorgeschichte      6 Verbreitung
     oder die o. g. »gelbe Flaggen« kompliziert ist.
         Der Großteil der von Rückenschmerzen betrof-       Zur Verbreitung von Rückenschmerzen in
     fenen Personen erlebt einen von wiederkehren-          Deutschland stehen Ergebnisse aus mehreren
     den Schmerzen geprägten Krankheitsverlauf. Wie         regionalen und nationalen Untersuchungen
     in einer Übersichtsarbeit gezeigt wurde, berich-       zur Verfügung. Diese weisen übereinstimmend
     ten im Durchschnitt 62 % der Personen mit aku-         eine hohe Prävalenz von Rückschmerzen in der
     ten Rückenschmerzen am Ende der folgenden              Bevölkerung aus. Ergebnisse aus der Deutschen

     Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53             13

Rückenschmerzstudie 2003/2006 [32] zeigen,                      eine annähernd lineare Zunahme der Häufigkeit
dass die Stichtagprävalenz von Rückenschmer-                    chronischer Rückenschmerzen mit dem Alter.
zen »heute« (ohne Angaben zum Schweregrad                          Berücksichtigt man dagegen alle Arten von
der Beschwerden) in verschiedenen Regionen                      »Rückenschmerzen heute« (akut und chronisch),
zwischen 32 % und 49 % liegt. Die Angaben zur                   dann nimmt deren Häufigkeit im höheren Alter
Lebenszeitprävalenz (mindestens einmal im                       wieder ab [36]. Warum Ältere weniger leichte
Leben Rückschmerzen) liegen zwischen 74 %                       Rückenschmerzen als jüngere berichten, ist nicht
und 85 %. Das heißt, nur rund 20 % der Stu-                     geklärt. Es gibt hierzu eine Reihe von Hypothesen,
dienteilnehmerinnen und -teilnehmer hatten                      die teils biomechanische Entlastungen unterstel-
nach eigenen Angaben noch nie Rückenschmer-                     len, teils stabilisierende Selbstheilungsvorgänge an
zen erlebt. Möglicherweise wird die Prävalenz                   der Wirbelsäule oder auch veränderte Bewertungen
der Beschwerden noch unterschätzt, da ein Teil                  solcher Rückenschmerzen vor dem Hintergrund
der Patientinnen und Patienten länger zurücklie-                ernsterer Gesundheitsstörungen annehmen [37].
gende Rückenschmerzepisoden schlicht verges-                       In Deutschland existieren weitere Untersu-
sen oder »wegerklärt« hat (z. B. Rückenschmerzen                chungen zur Häufigkeit von Rückenschmer-
im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft).                     zen: In einem Interviewsurvey unter Erwachse-
Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern                    nen im Alter über 60 Jahre stehen »Kreuz- oder
sind in allen diesen Studien gering und nicht                   Rückenschmerzen« ebenfalls an erster Stelle
immer signifikant [31, 33]. Mit den Ergebnissen                 einer Beschwerdenliste; 23 % fühlen sich durch
der Deutschen Rückenschmerzstudie kann auch                     sie »erheblich« oder »stark belästigt«; wesentliche
belegt werden, dass von den befragten Personen                  Einflüsse von Alter und Geschlecht lassen sich
7 % von schweren und 9 % von erheblich behin-                   nicht nachweisen [38]. In der Studie »Gesundheit
dernden Rückenschmerzen berichteten.                            in Deutschland aktuell« des Robert Koch-Instituts
    Die vom Robert Koch-Institut durchgeführten                 aus dem Jahr 2009 gaben 20,7 % der Befragten
telefonischen Gesundheitssurveys 2003 und 2009                  an, im letzten Jahr unter mindestens drei Monate
[34, 35] erlauben eine Darstellung der Prävalenz von            oder länger anhaltenden Rückenschmerzen (fast
Rückenschmerzen für die deutsche Bevölkerung                    täglich) gelitten zu haben.
(siehe Abbildung 1). Frauen geben zu allen drei                    In Lübeck wurde die Häufigkeit von Rücken-
Zeitpunkten häufiger als Männer an, unter min-                  schmerzen (»aktuell«) 1993 und 2003 mit annä-
destens drei Monate anhaltenden Rückenschmer-                   hernd gleicher Methodik (postalischer Fragebogen
zen (fast täglich) gelitten zu haben. Bei beiden                mit bis zu zwei Erinnerungen, identische Fragen)
Geschlechtern variiert die Häufigkeit von Rücken-               erhoben. Die nach Alter, Geschlecht und Schulbil-
beschwerden deutlich mit dem Alter: Es zeigt sich               dung standardisierten Raten betragen 39 % (1993)

Abbildung 1
Rückenschmerzen (mind drei Monate, fast täglich) in der deutschen Bevölkerung in den Jahren 2003 und 2009
Datenquelle: Gesundheitssurvey des RKI 2003, 2009
     Prozent                                                         Prozent
50                                                              50
                      Frauen                                                          Männer
40                                                              40

30                                                              30

20                                                              20
                                                         2003                                                             2003
10                                                              10
                                                         2009                                                             2009

     18–29 30–39 40–49 50–59 60–69            70+                    18–29 30–39 40–49 50–59 60–69            70+
                                Altersgruppe in Jahren                                          Altersgruppe in Jahren

                                                                                                       Robert Koch-Institut 2012
14      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

     und 38 % (2003), bei allerdings unterschiedlichen                   In der HBSC-Studie der Weltgesundheits-
     Antwortraten (81 % und 59 %). Wenn sich über-                   organisation wurde nach Rücken-/Kreuzschmer-
     haupt eine wesentliche Veränderung ergeben                      zen wenigstens »fast jede Woche« gefragt. Für
     hat, dann sind Rückenschmerzen hier eher sel-                   Deutschland werden Häufigkeiten von 24 % für
     tener geworden [39]. Konstante Häufigkeiten des                 Mädchen und 19 % für Jungen im Alter von 11 bis
     Rückenschmerzes in einer Bevölkerung beinhal-                   17 Jahren berichtet [42].
     ten jedoch nicht notwendig auch konstante Häu-                      Ähnliche Ergebnisse lieferte z. B. eine Studie
     figkeiten von Folgen dieser Beschwerden, etwa der               an 735 Schulkindern im Alter von 10 bis 18 Jahren
     Arbeitsunfähigkeit.                                             aus der Region Lübeck [43]. Die Häufigkeit von
         Im internationalen Vergleich weist die deutsche             Rückenschmerzen wird insgesamt von der Häu-
     Bevölkerung eine eher hohe Prävalenz von Rücken-                figkeit von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und
     schmerzen auf. Die Daten der Europäischen Ver-                  Schmerzen in den Gliedmaßen übertroffen. Mit
     tebralen Osteoporose Studie (EVOS) [40], die zwi-               zunehmendem Alter wird ihre Bedeutung jedoch
     schen 1990 und 1993 mit gleicher Methodik nach                  größer und wird nur noch von Kopfschmerzen
     aktuell bestehenden Rückenschmerzen in je vier                  übertroffen. Diese Daten stehen im Einklang mit
     ost- und westdeutschen und in fünf britischen Regi-             Berichten aus anderen europäischen Staaten, z. B.
     onen fragte, belegen eine deutlich niedrigere Häu-              aus den Niederlanden [44] und Finnland [45]. In
     figkeit von Rückenschmerzen in Großbritannien.                  Finnland wurde bei Jugendlichen eine Zunahme
         Rückenschmerzen zählen auch bei Kindern und                 tiefsitzender Rückenschmerzen seit 1985 beobach-
     Jugendlichen zu den häufigen Beschwerden. Dies                  tet (eine Übersicht [46]).
     zeigen u. a. Ergebnisse des Kinder- und Jugendge-                   Es gibt wenige Untersuchungen, die die Häu-
     sundheitssurveys (KiGGS) des RKI [41]. In KiGGS                 figkeit spezifischer Rückenschmerzen in Bevölke-
     wurden die Eltern bzw. die Kinder und Jugend-                   rungsgruppen untersucht haben. Ende der 1970er-
     lichen (11 bis 17 Jahre) nach Schmerzen in den letz-            Jahre wurde in Holland die Zoetermeer-Studie
     ten drei Monaten gefragt, u. a. auch nach Rücken-               durchgeführt; ein kombinierter Befragungs- und
     schmerzen. Rückenschmerzen traten demnach bei                   Untersuchungssurvey mit mehr als 6.500 Erwach-
     3 % der 3- bis 6-Jährigen, 7 % der 7- bis 10-Jähri-             senen einer kleinstädtisch-ländlichen Gemeinde
     gen, 18 % aller 11- bis 13-Jährigen und 44 % der 14-            [47]. Die Untersuchung schloss neurologische
     bis 17-Jährigen auf; Mädchen geben häufiger als                 Tests und Röntgenaufnahmen (bei über 45-Jäh-
     Jungen an, betroffen zu sein (siehe Abbildung 2).               rigen) ein. Die Häufigkeit von Rückenschmerzen
                                                                     zum Erhebungszeitpunkt erreichte hier 22 % bei
     Abbildung 2                                                     Männern und 30 % bei Frauen. Bei weniger als
     Häufigkeit von Rückenschmerzen bei Kindern und                  einem Zehntel der Betroffenen konnte klinisch
     Jugendlichen (2003 – 2006)                                      ein Bandscheibenvorfall mit Druck auf eine Ner-
     Quelle: KiGGS [41]                                              venwurzel diagnostiziert werden. Bei insgesamt
          Prozent                                                    weniger als 7,5 % konnte überhaupt eine Schädi-
     60
                                                                     gung im Sinne eines abnormen lokalen Befundes
                                                                     festgestellt bzw. eine Krankheitsdiagnose gestellt
     50
                                                                     werden. Dies stimmt gut mit etwas jüngeren Anga-
     40
                                                                     ben aus Finnland überein [48]. Über 20 % aller in
                                                                     Holland untersuchten Frauen und Männer zeigten
     30                                                              allerdings im Röntgenbild Hinweise auf erheb-
                                                                     liche degenerative Veränderungen (»Verschleiß«)
     20                                                              an den Bandscheiben, ohne dass sich eine enge
                                                                     Beziehung zwischen Röntgen- und Beschwerde-
                                                           Mädchen
     10                                                              bild sichern ließ.
                                                           Jungen        Höhere Häufigkeiten für neurologische Auffäl-
                                                                     ligkeiten fanden sich in einer deutschen Studie an
              3–6         7–10   11–13       14–17                   noch berufstätigen Versicherten einer Landesver-
                                  Altersgruppe in Jahren             sicherungsanstalt mit schweren Rückenschmerzen

     Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – 2012 – Heft 53              15

und einem eingeschränkten allgemeinen Gesund-              Rückenschmerzen angegeben [53], weitere 13 Krank-
heitszustand [49]. Hier konnte bei 23 % von 335            heitsgruppen wurden häufiger von Rücken-
Untersuchten ein radikuläres Syndrom, d. h. eine           schmerzkranken berichtet: je höher deren Chro-
Reizung einer aus dem Rückenmark austretenden              nifizierungsstadium war, umso häufiger war
Nervenwurzel, vermutet werden. Deutlich selte-             dies der Fall.
ner findet sich ein M0rbus Bechterew (Spondy-
litis ankylosans), dessen Häufigkeit in der Gesamt-
bevölkerung auf 0,2 % bis 0,8 % geschätzt wird.            8 Folgen
    Die Bedeutung der Osteoporose der Wirbel
oder Wirbelsäule (vertebrale Osteoporose) wird             Zu den Folgen von Rückenschmerzen zählt neben
eher überschätzt, wie sich anhand von Studien-             einer eingeschränkten subjektiven Gesundheit
ergebnissen zeigen lässt. Die Europäische Verte-           auch eine verminderte Leistungsfähigkeit in All-
brale Osteoporosestudie fand in Deutschland unter          tag, Beruf und Freizeit. Dies führt bei Beschäftig-
Frauen und Männern im Alter von 50 bis 79 Jah-             ten zu Arbeitsausfall und einer damit verbunden
ren Wirbelkörperverformungen in einer Häufig-              geringeren Arbeitsproduktivität. In der Rangliste
keit von rund 10 %. Die Häufigkeit von aktuellen           der zehn Erkrankungen mit den längsten Arbeits-
Rückenschmerzen erreichte in dieser Gruppe 51 %            unfähigkeitszeiten liegen die Rückenschmerzen
bei Frauen und 33 % bei Männern. Bei Personen              (ICD-10-GM: M54) im Jahr 2010 unter den AOK-
ohne Abweichungen der Wirbelkörperform (Defor-             Pflichtmitgliedern (ohne Rentner) mit 14,5 Millio-
mitäten) lag sie um 6,3 % niedriger (Frauen) bzw.          nen Arbeitsunfähigkeitstagen (AU-Tage) auf dem
um 0,6 % höher (Männer). Solche (meist keilförmi-          ersten Rang [54]; dies entspricht einem Anteil von
gen) Verformungen scheinen mit keinem wesent-              7,0 %. Pro Fall ergeben sich 11,7 AU-Tage (Frauen
lich erhöhten Risiko für Rückenschmerzen einher-           12,2 AU-Tage, Männer 11,4 AU-Tage) (siehe Ta­­­
zugehen (multivariat adjustierte Odds Ratios bis           belle 3). Auch bei der Barmer GEK liegen die
1,38 [50]). In der ersten Lübecker Rückenschmerz-          Rückenschmerzen 2009 auf dem ersten Rang
studie Anfang der 1990er-Jahre zeigten sich keine          der AU-Statistiken (mit rund 6,5 % aller AU-Tage)
Hinweise auf eine wesentlich erhöhte Häufigkeit            [55]. Gleiches gilt für die Deutsche Angestellten
von bestimmten chronischen Schmerzerkrankun-               Krankenkasse: Rückenschmerzen haben hier mit
gen (Fibromyalgiesyndrom) unter Personen mit               einem Anteil von 7,1 % bei den AU-Tagen den ers-
aktuellen Rückenschmerzen [51].                            ten Rang [56].

                                                           Tabelle 3
7 Komorbidität                                             Arbeitsunfähigkeitstage bei AOK-Pflichtmitgliedern (ohne
                                                           Rentner) aufgrund von Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M54)
                                                           im Jahr 2010
Rückenschmerzen (chronisch oder persistierend)             Quelle: WIdO [57]
sind so gut wie immer »mehr als Schmerzen im
Rücken«. Dies gilt nach neueren Untersuchun-                        Arbeitsunfähig- Arbeitsunfähig- Arbeitsunfähig-
gen auch im Hinblick auf die sog. Komorbidität.                            keitsfälle     keitstage keitstage je Fall
Damit sind weitere Krankheiten gemeint, die bei            Frauen          447.735        5.460.098                 12,2
Personen mit chronischen Rückenschmerzen                   Männer          791.569        9.002.416                 11,4
festgestellt werden können [52]. Als Komorbidi-            Gesamt        1.239.304       14.462.514                 11,7
täten bei Rückenschmerzen treten am häufigsten
degenerative und entzündliche Gelenkerkrankun-
gen, Osteoporose, Schlaganfall, Herzinsuffizienz,             Allerdings nehmen Rückenschmerzen bei allen
Depression, Substanzmissbrauch, Adipositas und             drei Kassenarten in ihrer Bedeutung innerhalb der
chronische Bronchitis auf [1]. Dies ist bei der Diag­      AU-Statistik tendenziell ab, während die Bedeu-
nostik und der Behandlung zu berücksichtigen.              tung der psychischen Störungen annähernd linear
   In einer Untersuchung wurden nur Krebs-                 zunimmt.
erkrankungen und Diabetes mellitus in glei-                   Unter den Krankenhausdiagnosen rangieren
cher Häufigkeit von Personen mit oder ohne                 die »sonstigen Krankheiten der Wirbelsäule und

                                                                                                  Robert Koch-Institut 2012
16      Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

     des Rückens« (ICD-10-GM: M50 – M54) in der Sta-                      Nach der Statistik der stationären medizini-
     tistik der Betriebskrankenkassen auf Platz 6 (4,1                schen Rehabilitationsleistungen des Jahres 2010
     KH-Fälle mit je 8,5 Tagen pro 1.000 Versicherte                  der Gesetzlichen Rentenversicherung [60] entfie-
     ohne Rentner 2009) [58].                                         len 24 % aller knapp 960.000 Rehabilitationen auf
         Auf die nicht-spezifischen Rückenschmerzen                   Rückenleiden (ICD-10-GM: M40 – M54; im Jahr
     (ICD-10-GM: M54) entfallen innerhalb der Gruppe                  2009 waren es ebenso viele). Unter diesen wur-
     aller Rückenleiden (Dorsopathien) – leistungsspe-                den 38 % den nicht-spezifischen Rückenschmerzen
     zifisch – unterschiedliche Anteile. Die Krankheits-              (ICD-10-GM: M54) zugeschrieben.
     artenstatistik 2008 des AOK Bundesverbandes                          Die Krankheitskosten für Rückenleiden (ICD-
     führt 78 % aller den Rückenleiden (ICD-10-GM:                    10-GM: M45 – M54) beliefen sich im Jahr 2008
     M40 – M54) zugeschriebenen AU-Fälle (69 % aller                  in Deutschland geschätzt auf 9 Milliarden Euro
     AU-Tage) auf nicht-spezifische Rückenschmerzen                   (Frauen 5,1 Milliarden Euro, Männer 4,0 Milliar-
     zurück. Unter allen Krankenhausfällen entfielen                  den Euro), für nicht-spezifische Rückenschmer-
     auf nicht-spezifische Rückenschmerzen rund 45 %                  zen (ICD-10-GM: M54) betrugen sie 3,6 Milliarden
     aller entsprechenden Krankenhausfälle bzw. -tage.                Euro (2,1 Milliarden Euro Frauen, 1,5 Milliarden
         Bei Frühberentungen (Renten wegen vermin-                    Euro Männer) [61]. Bei Rückenschmerzpatientin-
     derter Erwerbsfähigkeit) stehen Krankheiten des                  nen und -patienten überwiegen die indirekten Kos-
     Muskel-Skelett-Systems im Jahr 2010 an zweiter                   ten [1]. Die Kosten ergeben sich vor allem bei chro-
     Stelle nach den Psychischen und Verhaltensstö-                   nischen Rückenschmerzen. In einer Studie [62]
     rungen [59]. Knapp 26.500 Rentenzugänge wur-                     wurden für Rückenschmerzen (gesamt) durch-
     den aufgrund von Krankheiten des Muskel-Skelett-                 schnittliche Kosten von 1.322 Euro pro Patientin
     Systems vermerkt (siehe Tabelle 4).                              bzw. Patient und Jahr in Deutschland errechnet.
         Im Jahr 2010 betrug der Anteil der auf Rücken-                   Um die indirekten Kosten einer Krankheit zu
     leiden entfallenden Neuzugänge in der Statistik der              ermitteln, wird häufig die Anzahl der verlorenen
     Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähig-                   Erwerbstätigkeitsjahre herangezogen, die sich
     keit 8 % (von insgesamt 181.000 Neuzugängen).                    über die Ausfälle durch Arbeitsunfähigkeit, Inva-
     Unter diesen dominierten wieder die nicht-spezifi-               lidität und/oder vorzeitigen Tod der erwerbstätigen
     schen Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M50 – M54)                     15- bis 65-jährigen Bevölkerung errechnet. Die ver-
     mit einem Anteil von 38 %. Sowohl den Statistiken                lorenen Erwerbstätigkeitsjahre aufgrund von nicht-
     zu Arbeitsunfähigkeitstagen als auch zu Frühbe-                  spezifischen Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M54)
     rentungen ist zu entnehmen, dass die auf Rücken-                 beliefen sich im Jahr 2008 auf insgesamt 135.000
     leiden entfallenden Zahlen stetig sinken.                        Jahre (Frauen 52.000, Männer 83.000; Tabelle 5).

     Tabelle 4
     Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in der Gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 2010
     Quelle: DRV [59]

      Diagnosen/Behandlungsanlässe                                    Frauen   Männer     Gesamt
      Gesamt                                                          85.989    94.763   180.752
      M00 – M99        Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und     12.290    14.204     26.494
                       des Bindegewebes
      M45 – M49        
                       Spondylopathien                                   898     1.392      2.290
      M50 – M54        Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und        4.401     6.070     10.471
                       des Rückens
      M50              Zervikale Bandscheibenschäden                     388       481       869
      M51              Sonstige Bandscheibenschäden                    1.111     1.744      2.855
      M53              Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und          663       716      1.379
                       des Rückens, anderenorts nicht klassifiziert
      M54              Rückenschmerzen                                 2.239     3.129      5.368

     Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53           17

Tabelle 5
Verlorene Erwerbstätigkeitsjahre in 1 000 Jahren für Deutschland 2008
Quelle: Statistisches Bundesamt [63]

Diagnosen                                                      Frauen       Männer   Gesamt
 A00 – T98    Alle Krankheiten und Folgen äußerer Ursachen      1.481        2.746    4.227
 M00 – M99 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems                  208         298      506
           und des Bindegewebes
 M45 – M54    Dorsopathien                                          95         152      247
 M47          Spondylose                                                4        7       12
 M54          Rückenschmerzen                                       52          83      135

    Alle diese Angaben sind, soweit sie auf Routi-            ausdrücklich an die Patientinnen und Patienten
nedaten der verschiedenen Sozialversicherungs-                (www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinie.de).
träger beruhen, mit Vorsicht zu betrachten, da                   Die Behandlung umfasst nicht-medikamentöse
die ICD-Codes weder trennscharf sind, noch in                 und medikamentöse Maßnahmen. Folgende Eck-
den verschiedenen Jahren Versorgungssektoren                  punkte sollten grundsätzlich berücksichtigt wer-
und Einrichtungen gleich gehandhabt wurden                    den:
und werden.
    Dass Rückenschmerzen auch die subjektive                  ▶▶ Motivierung der Betroffenen zur aktiven Mit-
Gesundheit und Lebensqualität erheblich beein-                     wirkung an der Behandlung und zur Über-
trächtigen, zeigen Daten aus der Eingangsuntersu-                  nahme von Behandlungsverantwortung;
chung der Deutschen Rückenschmerzstudie [29]:                 ▶▶   Langfristige multi- und interdisziplinäre
Von den über 9.000 Befragten schätzten 11,8 %                      Behandlungspläne (nur) bei chronisch-behin-
ihren Gesundheitszustand als »sehr gut« ein. Von                   dernden Verläufen;
den Personen mit Rückenschmerzen am Befra-                    ▶▶   Gemeinsame Entscheidungsfindung in der
gungstag berichteten 2,4 % einen »sehr guten«                      Erarbeitung von Behandlungszielen und
Gesundheitszustand, gegenüber 16,7 % der Per-                      Behandlungsplänen;
sonen ohne Rückenschmerzen. Für einen subjek-                 ▶▶   Medikamentöse Therapie zur Unterstützung
tiv »schlechten« Gesundheitszustand fanden sich                    nicht-medikamentöser Maßnahmen in der aku-
umgekehrte Verhältnisse (5,8 % vs. 0,5 %). Ähn­                    ten Phase, um alltägliche Aktivitäten wieder
liche Unterschiede zeigten sich für die Merkmale                   aufnehmen zu können;
subjektive Behinderung, Depressivität, Erschöp-               ▶▶   Vermeidung von längerer Bettruhe, körperlicher
fung und weitere körperliche Beschwerden. Dies                     Inaktivität und Schonung; es gilt weiterzuma-
lässt sich zum kleineren Teil auf weitere Unter-                   chen, soweit es Schmerz und Behinderung
schiede (Geschlecht, Alter, Sozialstatus) zwischen                 erlauben;
beiden Gruppen zurückführen. Im Wesentlichen                  ▶▶   Mit alltäglichen Rückenschmerzen kann man
spiegeln sie den ungünstigen Einfluss des chroni-                  sich als »bedingt gesund« sehen: die Gesundheit
schen Schmerzsyndroms wider.                                       ist eingeschränkt, aber nicht so, dass man nicht
                                                                   mit eigener und fremder Hilfe den Alltag, die
                                                                   Freizeit und die Arbeit fortführen könnte.
9 Therapie                                                         »Katas­trophisieren« ist fast immer unange-
                                                                   bracht.
Finden sich keine Hinweise auf spezifische Ursa-
chen der Rückenschmerzen, sollte zuerst eine                     Wissenschaftliche Befunde deuten darauf hin,
symp­tombezogene Behandlung unter Berück-                     dass Patientinnen und Patienten, die in ganz unter-
sichtigung der »gelben Flaggen« (siehe Diagnos-               schiedliche Behandlungsstudien eingeschlossen
tik) eingeleitet werden. Eine Orientierung bietet             werden, überraschend ähnliche Besserungsver-
die 2011 erschienene Nationale VersorgungsLeit-               läufe nehmen [64]. Ausmaß und Verlauf der Bes-
linie Kreuzschmerz [1]. Eine Version richtet sich             serung fallen ähnlich aus und sind oft nicht zu

                                                                                                   Robert Koch-Institut 2012
18        Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53

     unterscheiden von dem, was auch ohne spezifische         ▶▶ Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): bei Vorlie-
     Behandlung zu beobachten gewesen wäre [65].                   gen psychosozialer Risikofaktoren bei subaku-
     Daher sind Studien erforderlich, die die Effekte              ten/chronischen nicht-spezifischen Rücken-
     neuer Verfahren mit dem spontanen Verlauf von                 schmerzen.
     Rückenschmerzen unter Verzicht auf jede spe-
     zifische Behandlung vergleichen. Daraus ergäbe              Weitere Hinweise, besonders zu den generell
     sich die Möglichkeit, den Nutzen der Verfahren           nicht oder kaum wirksamen Therapieformen, fin-
     für Betroffene von (nicht-spezifischen) Rücken-          den sich in der Patientenversion der Nationalen
     schmerzen einzuschätzen.                                 VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz [66].

     9 1 Nicht-medikamentöse Therapie                         9 2 Medikamentöse Therapie

     Die nicht-medikamentöse Therapie ist wichtiger           Die medikamentöse Therapie des nicht-spezifi-
     Bestandteil der Behandlung von nicht-spezifischen        schen Rückenschmerzes ist symptomatisch und
     Rückenschmerzen. Als förderliche Therapien gel-          dient der Unterstützung der nicht-medikamen-
     ten:                                                     tösen Therapie [1, 3]. Auf diese Weise soll es den
                                                              Betroffenen ermöglicht werden, ihre schmerz­
     ▶▶ Patienteninformation und Beratungsgespräche:          bedingt gemiedenen alltäglichen Aktivitäten wie-
          Sie sind Basis jeder Behandlung und haben die       der aufzunehmen. Zur Anwendung empfohlen
          Lebenswirklichkeit und psychologische Situa-        werden generell folgende Medikamentengruppen:
          tion der Patientinnen und Patienten im häus­
          lichen Bereich wie in der Arbeitswelt und Frei-     ▶▶   Analgetika
          zeitgestaltung zu berücksichtigen;                  ▶▶   Opioid-Analgetika
     ▶▶   Bewegungs- und Sporttherapie: primär bei sub-       ▶▶   Muskelrelaxanzien
          akuten/chronischen nicht-spezifischen Rücken-       ▶▶   Antidepressiva: nichtselektive Monoamin-Rück-
          schmerzen; nicht bei akuten Rückenschmer-                aufnahme-Inhibitoren (NSMRI), vor allem bei
          zen;                                                     chronischen nicht-spezifischen Rückenschmer-
     ▶▶   Entspannungsverfahren (Progressive Muskel­               zen.
          relaxation, Autogenes Training): können bei
          erhöhtem Chronifizierungsrisiko von akuten/            Der Einsatz von Medikamenten sollte mit einer
          subakuten Rückenschmerzen angewandt wer-            Ärztin bzw. einem Arzt oder mit einer Apotheke-
          den, bei chronischen nicht-spezifischen Rücken-     rin bzw. einem Apotheker, im Bereich der sog. ein-
          schmerzen sind sie empfohlen;                       fachen rezeptfreien Schmerzmittel (Paracetamol,
     ▶▶   Ergotherapie: bei chronischen nicht-spezifi-        Ibuprofen, Acetylsalicylsäure), besprochen werden.
          schen Rückenschmerzen im Rahmen multi­                 Hinsichtlich pflanzlicher Wirkstoffe, der soge-
          modaler Behandlungsprogramme;                       nannten Phytotherapeutika, ergeben sich Hinweise
     ▶▶   Manuelle Therapie: Manipulation/(Chirothera-        darauf, dass Extrakte von Weidenrinde und Teu-
          pie)/Mobilisation in Kombination mit Bewe-          felskralle schmerzlindern wirken. Es gibt jedoch
          gungstherapie;                                      keine Empfehlung bei akuten oder chronischen
     ▶▶   Massage: insbesondere in Kombination mit            nicht-spezifischen Rückenschmerzen [1, 3].
          Bewegungstherapie;
     ▶▶   Rückenschule: nur bedingt zu empfehlen, Vor-
          aussetzung ist ein biopsychosozialer Ansatz;        9 3 Operative und andere eingreifende Verfahren
          geeignet für über sechs Wochen anhaltende/
          rezidivierende nicht-spezifische Rückenschmer-      Bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen können
          zen, insbesondere bei chronischen nicht-spezi-      invasive Therapien, perkutane Verfahren (Injek­
          fischen Rückenschmerzen;                            tionen) sowie operative Verfahren laut Nationaler
     ▶▶   Wärmetherapie: kann bei akuten nicht-spezifi-       VersorgungsLeitlinie nach derzeitigem Erkenntnis-
          schen Rückenschmerzen eingesetzt werden;            stand nicht empfohlen werden [1]. Operative Verfah-

     Robert Koch-Institut 2012
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