Gesundheitsberichterstattung des Bundes - Heft 53 Rückenschmerzen ROBERT KOCH INSTITUT
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ROBERT KOCH INSTITUT Statistisches Bundesamt Heft 53 Rückenschmerzen Gesundheitsberichterstattung des Bundes
Gesundheitsberichterstattung des Bundes Heft 53 Rückenschmerzen Autor: Heiner Raspe Herausgeber: Robert Koch-Institut, Berlin 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 3 Gesundheitsberichterstattung des Bundes Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes zusammengehörende Themen können gebün- (GBE) liefert daten- und indikatorengestützte delt und gemeinsam herausgegeben werden. Beschreibungen und Analysen zu allen Bereichen Die fortlaufende Erscheinungsweise gewähr- des Gesundheitswesens. leistet Aktualität. Die Autorinnen und Auto- ren sind ausgewiesene Expertinnen und Experten aus dem jeweiligen Bereich. Rahmenbedingungen www.rki.de des Gesundheitswesens ▶▶ Informationssystem der Gesundheitsbericht erstattung des Bundes Gesundheitliche Lage ▶▶ Das Informationssystem der Gesundheits berichterstattung des Bundes liefert als Online-Datenbank schnell, kompakt und transparent gesundheitsrelevante Informa Gesundheits- Gesundheits- verhalten und probleme, tionen zu allen Themenfeldern der Gesund- -gefährdungen Krankheiten heitsberichterstattung. Die Informationen werden in Form von individuell gestaltbaren Tabellen, übersichtlichen Grafiken, verständ- lichen Texten und präzisen Definitionen Leistungen und Inanspruchnahme bereitgestellt und können heruntergeladen werden. Das System wird ständig ausgebaut. Derzeit sind aktuelle Informationen aus über 100 Datenquellen abrufbar. Zusätzlich Ressourcen der Ausgaben, können über dieses System die GBE-The- Gesundheits- Kosten und menhefte sowie weitere GBE-Publikationen versorgung Finanzierung abgerufen werden. www.gbe-bund.de Als dynamisches und in ständiger Aktualisierung ▶▶ GBE kompakt begriffenes System bietet die Gesundheitsbericht ▶▶ Die Online-Publikationsreihe GBE kompakt erstattung des Bundes die Informationen zu den präsentiert in knapper Form Daten und Fak- Themenfeldern in Form sich ergänzender und auf- ten zu aktuellen gesundheitlichen Themen einander beziehender Produkte an: und Fragestellungen. Die vierteljährliche Veröffentlichung erfolgt ausschließlich in ▶▶ Themenhefte der Gesundheitsberichterstattung elektronischer Form. des Bundes www.rki.de/gbe-kompakt ▶▶ In den Themenheften werden spezifische Informationen zum Gesundheitszustand der Die Aussagen der Gesundheitsberichterstattung Bevölkerung und zum Gesundheitssystem des Bundes beziehen sich auf die nationale, bundes- handlungsorientiert und übersichtlich prä- weite Ebene und haben eine Referenzfunktion für sentiert. Jedes Themenheft lässt sich einem die Gesundheitsberichterstattung der Länder. Auf der GBE-Themenfelder zuordnen; der innere diese Weise stellt die GBE des Bundes eine fachli- Aufbau folgt ebenfalls der Struktur der The- che Grundlage für politische Entscheidungen bereit menfelder. Somit bieten die Themenfelder und bietet allen Interessierten eine datengestützte der GBE sowohl den Rahmen als auch die Informationsgrundlage. Darüber hinaus dient sie Gliederung für die Einzelhefte. Inhaltlich der Erfolgskontrolle durchgeführter Maßnahmen
4 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 und trägt zur Entwicklung und Evaluierung von Zielgruppe gehören auch Bürgerinnen und Bür- Gesundheitszielen bei. ger, Patientinnen und Patienten, Verbraucherinnen Der Leser- und Nutzerkreis der GBE-Produkte und Verbraucher und ihre jeweiligen Verbände. ist breit gefächert: Angesprochen sind Gesund- Das vorliegende Heft 53 der Gesundheits heitspolitikerinnen und -politiker, Expertinnen berichterstattung des Bundes »Rückenschmerzen« und Experten in wissenschaftlichen Forschungs- lässt sich folgendermaßen in das Gesamtspektrum einrichtungen und die Fachöffentlichkeit. Zur der Themenfelder einordnen: Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens Gesundheitliche Lage Gesundheits- Gesundheits- Krankheiten des Muskel- verhalten und probleme, Skelett-Systems Rückenschmerzen -gefährdungen Krankheiten und des Bindegewebes Leistungen und Inanspruchnahme Ressourcen der Ausgaben, Gesundheits- Kosten und versorgung Finanzierung
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 5 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2 Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 4 Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 5 Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 6 Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 7 Komorbidität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 8 Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 9 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 9.1 Nicht-medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 9.2 Medikamentöse Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 9.3 Operative und andere eingreifende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 10 Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 11 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 12 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 13 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 14 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
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Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 7 Rückenschmerzen 1 Einleitung Rückenschmerzen sind eine subjektive Erfahrung, tiefsitzenden Rückenschmerzen (synonym Kreuz- zu der andere nur indirekt Zugang haben. Epide- schmerzen) bei Erwachsenen. Rückenschmerzen miologie und medizinische Praxis sind daher auf in der Arbeitswelt werden im Rahmen dieses The- spontane oder durch Fragen ausgelöste Berichte der menheftes nur am Rande behandelt. Betroffenen angewiesen. Es gibt keinen Labortest und keine technisch unterstützte Untersuchung, die im Zweifelsfall Rückenschmerzen sicher bele- 2 Krankheitsbilder gen oder ausschließen könnten. Weder in der medizinischen noch in der Rückenschmerzen (hier im Sinne von Kreuz- schönen Literatur des späten 19. und frühen schmerzen) sind Schmerzen in der Region unter- 20. Jahrhunderts spielten Rückenschmerzen oder halb des Rippenbogens und oberhalb der Gesäß- andere Rückenbeschwerden eine besonders wich- falte. Die fünf Lendenwirbel und ihre gelenkigen tige Rolle. Heutzutage sind Rückenschmerzen und Verbindungen, das Kreuzbein, das Steißbein und Krankheiten der Wirbelsäule (sogenannte Dor die Bandscheiben sind umgeben von zahlreichen sopathien; synonym: Rückenleiden) in Deutschland Bändern, Sehnen und Muskeln. Die rückwärtigen und vergleichbaren Ländern eine Gesundheits Fortsätze der Lendenwirbelkörper bilden einen störung von herausragender epidemiologischer, Kanal; er schließt den unteren Anteil des Rücken- medizinischer und gesundheitsökonomischer marks ein. Jede dieser Strukturen kann die Quelle Bedeutung. So sind Rückenleiden ein besonders von Schmerzen sein. häufiger Grund für die Inanspruchnahme des Aufgrund der verschiedenen Ursachen, der medizinischen Versorgungssystems, Arbeitsun Dauer, des Schweregrades (Schmerzstärke und fähigkeit und Renten wegen teilweiser oder voller Funktionsbeeinträchtigung) und des Chronifizie- Erwerbsminderung. rungsstadiums lassen sich Rückenschmerzen klas- Aber wo ist »der Rücken« und was sind sifizieren [1]. Eine weitere Unterscheidung ist hin- »Schmerzen«? Die zweite Frage ist kaum zu beant- sichtlich der Ursachen vorzunehmen: Von nicht- worten, da das Schmerzverständnis variiert; von spezifischen Rückenschmerzen spricht man, wenn Person zu Person; und je nach sozialer oder ethni- mit einfachen klinischen Mitteln keine Ursache scher Gruppe existieren unterschiedliche Schmerz- gefunden werden kann, welche die vorliegenden vorstellungen und Schmerzschwellen. Dies wirkt Beschwerden überzeugend erklären kann (siehe sich vor allem bei Berichten zu geringgradigen Abschnitt Risikofaktoren). Schmerzen aus. Hier ist die Abgrenzung gegen Angesichts der Häufigkeit von Rückenschmer- Noch-Nicht-Schmerz, Steifigkeitsgefühle oder zen und angesichts des Verhältnisses von spezi- andere Unbehaglichkeiten in der Rückenregion fischen zu nicht-spezifischen Rückenschmerzen besonders schwierig. Die Frage nach der exakten (1: > 4) ist nicht hinter jedem Rückenschmerz eine Lokalisation des »Rückens« ist einfacher zu beant- mehr oder weniger schwere Krankheit zu vermu- worten. Anatomisch gesehen reicht er vom Hinter- ten. Nur bei atypischen, anhaltenden oder zuneh- haupt bis zur Gesäßfalte. Alltagssprachlich wird menden Schmerzen, oder bei bestimmten Risiko- in der Regel zwischen Nacken (Hinterhaupt bis konstellationen sollte man sie für ein Krankheits- zum letzten fühlbar vorstehenden Halswirbel) und zeichen (Symptom) halten, das u. a. verweisen kann Rücken unterschieden. In den deutschsprachigen auf: Ländern fehlt ein einheitliches »Rücken«-Konzept, wie es die englischsprachige Welt im »low back« ▶ Krankheiten der Wirbelsäule (z. B. Bechterew’sche (unterer Rücken) hat. Erkrankung), Das vorliegende Themenheft befasst sich ▶ Krankheiten an inneren Organen (z. B. Nieren- schwerpunktmäßig mit (nicht-spezifischen) beckenentzündung), Robert Koch-Institut 2012
8 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 ▶ spezifische krankhafte Prozesse (z. B. Wirbel- Andere Krankheiten des Rückens bzw. der Wir- körperzusammenbruch bei Osteoporose oder belsäule finden sich in weiteren Kapiteln der ICD- nach Unfall, Entzündung, bösartiger Tumor), 10-GM, z. B. der Wirbelkörperzusammenbruch bei ▶ bestimmte Entstehungsorte (z. B. Muskulatur, Osteoporose (ICD-10-GM: M80). Bandscheibe, Nervenwurzel). Die internationale Klassifikation der Krankhei- 3 Diagnostik ten (ICD-10-GM Version 2013) verweist im Kapitel XIII Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und Die medizinische Diagnostik dient dem Aufdecken des Bindegewebes (ICD-10-GM: M00 – M99) auf der Ursachen von Rückenschmerzen, der Bestim- verschiedene Erkrankungen der Wirbelsäule und mung ihrer Schwere sowie (bei akuten Fällen) dem des Rückens (ICD-10-GM: M40 – M54). Dazu zählen Auffinden von Faktoren, die eine Chronifizierung u. a. die sogenannten Spondylopathien (ICD-10-GM: begünstigen können. Am Anfang steht immer M45 – M49), also die Wirbel- bzw. Wirbelsäulen- eine gründliche Anamnese; sie erfasst verschie- erkrankung mit nachweisbaren Strukturstörungen dene Schmerzcharakteristika [1]: sowie sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und des Rückens (ICD-10-GM: M50 – M54) (siehe Tabelle 1). ▶▶ Lokalisation ▶▶ Ausstrahlung (Seite, bis oberhalb bzw. unterhalb Tabelle 1 des Knies) Klassifikation von Rückenleiden (Dorsopathien) gemäß ▶▶ Dauer der aktuellen Episode ICD-10-GM ▶▶ Frühere Episoden, bisheriger Verlauf Quelle: DIMDI [2] ▶▶ Auslöser, erleichternde bzw. verschlimmernde ICD-Code Krankheit oder Störung (Beispiel) Faktoren ▶▶ Bisherige Behandlungen, Erfolge, Nebenwir- M45 – M49 Spondylopathien kungen M45 Spondylitis ankylosans (Morbus Bechterew) ▶▶ (Tages-)zeitlicher Verlauf M46 Sonstige entzündliche Spondylopathien ▶▶ Erste Einschätzung psychosozialer Risikofakto- (u. a. eitrige Bandscheibenentzündung) ren M47 Spondylose ▶▶ Stärke der Schmerzen und Beeinträchtigung bei M48 Sonstige Spondylopathien (u. a. Verengung täglichen Verrichtungen des Wirbelkanals, Ermüdungsbruch) ▶▶ Vorstellungen und Einstellungen zum Rücken- M49 Spondylopathien bei anderenorts klassifizier- schmerz, Schmerzverhalten ten Krankheiten ▶▶ Begleitbeschwerden und -krankheiten (u. a. Tuberkulose der Wirbelsäule) M50 – M54 Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und Zur Abklärung der Schmerzcharakteristika des Rückens kann ein standardisierter Schmerzfragebogen wie M50 Zervikale Bandscheibenschäden im Bereich der der Deutschen Gesellschaft zum Studium des der Halswirbelsäule, mit oder ohne Einengung von Nervenwurzeln oder Schmerzes eingesetzt werden [3, 4]. Rückenmark Bei der Diagnostik und Therapieplanung kann M51 Sonstige Bandscheibenschäden im Bereich bei Rückenschmerzen weiterhin ein sogenanntes der Brust- und Lendenwirbelsäule mit oder Flaggenmodell hilfreich sein [3, 5, 6]. Als rote Flag- ohne Einengung von Nervenwurzeln oder gen werden Begleitsymptome und Vorerkrankun- Rückenmark gen bezeichnet, die auf eine spezifische Ursache M53 Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und mit dringlichem Behandlungsbedarf hinweisen des Rückens, anderenorts nicht klassifiziert (u. a. Lockerung des Gefüges der Wirbel- (siehe Tabelle 2) [1]. Diese Warnhinweise ermög körper) lichen in ihrer Gesamtheit eine Einschätzung des M54 Rückenschmerzen Risikos; einzeln ist ihre Sensitivität und Spezifität M54.5 Kreuzschmerz, eher gering. M54.9 Rückenschmerzen, Gelbe Flaggen lenken die Aufmerksamkeit auf nicht näher bezeichnet psychosoziale Risikofaktoren, die den Übergang Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 9 von akuten zu chronischen Verläufen wahrschein- Schließlich kommt auch das medizinische Sys- licher machen. Zu den psychosozialen Risikofak- tem als Chronifizierungsfaktor infrage. Hier ist toren zählen beispielsweise Konflikte am Arbeits- zum einen die Überdiagnostik mit dem Risiko der platz, unbefriedigende Arbeit oder die Neigung »somatischen Fixierung« anzuführen. Darunter zu Depressionen. In jüngerer Zeit sind folgende, versteht man die Vertiefung der verbreiteten Vor- bisher weniger beachtete Risikofaktoren fokussiert stellung, dass hinter den Schmerzen doch eine worden: die aktuellen Vorstellungen der Patientin- körperliche Krankheit steckt, die nur noch nicht nen und Patienten zur Ursache, zum Verlauf und gefunden wurde – was zu weiteren Untersuchun- zur Behandlung ihrer Schmerzen (»back beliefs«, gen führen kann. Als weitere Risiken können die »Rückenschmerzmythen«) [7, 8] und das Bestehen Überbewertung weit verbreiteter Röntgen-/MRT- weiterer Schmerzen und körperlicher wie seeli- Befunde, unnötig lange Krankschreibungen, der scher Beschwerden. Chronische Rückenschmer- Einsatz ungeprüfter invasiver Verfahren und die zen sind fast immer »mehr als Schmerzen im Betonung passiver Behandlungsverfahren (wie Rücken« [9]. Bettruhe, Packungen, Massagen) genannt werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass bei akuten Im Falle von spezifischen Rückenschmerzen Rückenschmerzen eine über rote Flaggen und findet nach einer körperlichen Untersuchung und Basisdiagnostik hinausgehende Untersuchung Laboruntersuchungen (z. B. Blutbild, Urinstatus, verzichtbar ist, v. a. aufgrund der hohen Spontan- Erbmerkmale wie das sog. HLA B27) meist eine heilungsrate akuter Beschwerden. radiologische Untersuchung (einfache Röntgen- Risiken entstehen aber nicht nur aus der Per- aufnahmen, Computertomografie/CT, Magnet sönlichkeit der Betroffenen. In vielen Fällen sind resonanztomografie/MRT) statt. Sonst ist bei der Einflüsse des Berufs und der Arbeit wichtig(er). Erstabklärung akuter und gleichförmiger chroni- Dies betrifft nicht nur mechanische Einflüsse (z. B. scher Rückenschmerzen bewusst darauf zu ver- einseitige Haltungen), sondern auch psychosoziale zichten [10, 11]. (z. B. geringe Anerkennung trotz hohen Einsatzes) Bleibt es – vorerst und auf Widerruf – bei der (siehe Abschnitt Risikofaktoren). diagnostischen Einordnung »nicht-spezifische Tabelle 2 Warnhinweise (Flaggenmodell) Quelle: nach Bundesärztekammer [1], eigene Darstellung Rote Flaggen Gelbe Flaggen Tumor: Depressivität ▶ höheres Alter ▶ Tumorleiden in der Vorgeschichte »Stress«-Empfinden (v. a. berufs-/arbeitsbezogen) ▶ allgemeine Symptome wie Gewichtsverlust, rasche Ermüdbarkeit Schmerzvermeidungsverhalten ▶ starker nächtlicher Schmerz Hilf- und Hoffnungslosigkeit, »Katastrophisieren« Infektion: ▶ allgemeine Symptome wie kürzlich aufgetretenes Fieber, Passives Schmerzverhalten Schüttelfrost (ausgeprägte Schon- und Vermeidungshaltung) ▶ bekannte bakterielle Infektion Weitere körperliche Beschwerden ohne erkennbare Krank- Fraktur: heitsursache (»Somatisierungstendenz«) ▶ Unfall ▶ Bagatelltrauma Negative Krankheitsvorstellungen Radikulopathien/Neuropathien: ▶ straßenförmig in ein oder beide Beine ausstrahlende Schmerzen; ggf. verbunden mit Taubheitsgefühlen ▶ zunehmende Lähmung, Sensibilitätsstörung der unteren Extremitäten ▶ Kaudasyndrom Robert Koch-Institut 2012
10 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 Rückenschmerzen«, tritt die Suche nach einer ver- 4 Risikofaktoren borgenen Krankheit zurück. Die Rückenschmer- zen werden als vorübergehende Beschwerden oder Bei der Mehrzahl aller Rückenschmerz-Patientin- bei chronischen Rückenschmerzen als eigenständi- nen und -Patienten lässt sich weder eine umschrie- ges, meist komplexes Krankheitsbild wahrgenom- bene Krankheit, noch ein krankhafter Prozess men. Dieses ist genauer zu beschreiben: Zu erfas- (zentraler Pathomechanismus), noch eine sichere sen sind vorrangig der Schweregrad der Rücken- anatomische Quelle als Ursache für den Schmerz schmerzen, ihr bisheriger Verlauf und das Stadium finden; man spricht dann von nicht-spezifischen ihrer Entwicklung. Diese Informationen erlau- Rückenschmerzen. Ihr Anteil wird auf wenigstens ben auch eine Abschätzung zum weiteren Verlauf 80 % geschätzt [14, 15]. Allerdings ist die entspre- (Prognose) und zum Behandlungsbedarf. chende Literatur veraltet. Eine neue Untersuchung Um den Schweregrad von akuten Rücken- zur Häufigkeit nicht-spezifischer Rückenschmer- schmerzen zu erfassen, wird zum einen das Aus- zen, unter Nutzung der modernen diagnostischen maß der aktuellen Stärke des Schmerzes erfragt, Techniken, wäre sinnvoll. z. B. auf einer numerischen Skala von 0 = kein Obwohl Rückenschmerzen in westlichen Schmerz bis 10 = stärkster vorstellbarer (unerträg- Gesellschaften eine der häufigsten Gesundheits- licher) Schmerz. Zum anderen wird die Behinde- störungen überhaupt sind und sich weltweit zahl- rung bei Aktivitäten des täglichen Lebens (z. B. reiche Studien mit ihren Risiko- und Prognosefak- durch einen Funktionsfragebogen [12]) ermittelt. toren beschäftigt haben, sind wesentliche Fragen Der Schweregrad bei chronischen Rücken- weiter ungeklärt. Zu unterscheiden ist zwischen schmerzen wird über die Graduierung chroni- Risikofaktoren, die Rückenschmerz begünstigen scher Schmerzen nach von Korff et al. [13] abge- und solchen, die die Aufrechterhaltung und die schätzt. Auch hierbei wird nach dem Ausmaß der Chronifizierung des Schmerzes fördern. Schmerzintensität und der Behinderung bei Akti- Hinweise auf bedeutsame genetische Risiko- vitäten des täglichen Lebens gefragt. Es ergibt sich faktoren finden sich nur für wenige, seltene Ursa- folgende Abstufung: chen spezifischer Rückenerkrankungen, z. B. für die Ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechte- ▶▶ Grad 0 Keine Schmerzen rew; HLA B27) (siehe Heft 49 der Gesundheits- (in den vergangenen sechs Monaten) berichterstattung »Entzündlich-rheumatische ▶▶ Grad I Schmerzen mit niedriger schmerz Erkrankungen«). bedingter Funktionseinschränkung Arbeitsbezogene Faktoren stehen mit dem und niedriger Intensität Risiko von Rückenschmerzen in Zusammen- ▶▶ Grad II Schmerzen mit niedriger schmerz hang [16, 17]. Wichtig sind zum einen die biome- bedingter Funktionseinschränkung chanischen Arbeitsbedingungen wie Tragen und und höherer Intensität Heben schwerer Lasten, Vibrationen und Arbei- ▶▶ Grad III mittlere schmerzbedingte Funktions- ten in ungünstigen Körperhaltungen. Langjährige einschränkung und sehr schwere körperliche Arbeit ist als Risi- ▶▶ Grad IV hohe schmerzbedingte Funktionsein- kofaktor gesetzlich anerkannt. Dies spiegelt sich schränkung in der Aufnahme einiger Rückenerkrankungen in die Liste der Berufserkrankungen wieder [18]: ▶ bandscheibenbedingte Erkrankungen der Len- denwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung (BK- Nr. 2108; Bundesarbeitsblatt 10-2006); ▶ bandscheibenbedingte Erkrankungen der Len- denwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwin- gungen im Sitzen (BK-Nr. 2110; Bundesarbeits- Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 11 blatt 7-2005; die Ziffer 2109 bezieht sich auf Verhaltensweisen, familiäre und sozialrechtliche Erkrankungen der Halswirbelsäule). Umstände (s. o. »gelbe Flaggen«) eine besondere Rolle [21]. Die entsprechenden Faktoren sollten Aufgrund der sehr strengen Kriterien wer- möglichst früh im Behandlungsverlauf erfasst den jährlich nur wenige der angezeigten Fälle als und bei der Therapieplanung berücksichtigt wer- Berufskrankheiten anerkannt: Im Jahr 2010 wur- den. den 392 (7,7 %) Fälle von den insgesamt 5.114 Ver- Mittlerweile stehen ausreichend wissenschaft- dachts-Fällen zur BK-Nummer 2108 als Berufs- liche Belege zugunsten einer Fortführung der krankheit anerkannt [18]. 2008 waren es 4,9 % gewohnten körperlichen Aktivitäten bei nicht-spe- gewesen. zifischen Rückenschmerzen [22], eventuell unter Weiterhin sind die arbeitsbezogenen psycho- dem Schutz frei verkäuflicher Schmerzmittel (z. B. sozialen Bedingungen als Risikofaktoren zu nen- Paracetamol oder Ibuprofen), zur Verfügung. Ärzt- nen: Niedrige Arbeitsplatzzufriedenheit, monotone liche Empfehlungen und Maßnahmen, die in Rich- Arbeiten sowie soziale Konflikte am Arbeitsplatz tung Verordnung von Bettruhe oder aufwändiger einschließlich sogenannter Gratifikationskrisen Diagnostik zielen, sind daher problematisch bzw. [3]. Darunter ist ein seelischer und körperlicher nicht sachgemäß. Stresszustand zu verstehen, der durch hohen Ein- Grundsätzlich besteht in der Fachwelt aber Kon- satz des Arbeitenden ohne adäquate Belohnungen sens, dass bei den meisten Patientinnen und Pati- (in Form sozialer Anerkennung, besserer Entloh- enten mit nicht-spezifischen Rückenschmerzen nung, rascherer Aufstiegschance etc.) gekennzeich- eine komplexe Problematik mit Risiken aus sehr net ist. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil unterschiedlichen Quellen besteht [23]: scheint eine überwiegend sitzende Tätigkeit kein nennenswertes Risiko für Rückenschmerzen zu ▶ physiologisch-organisch: durch Verlust der beinhalten [19]. Beweglichkeit (Mobilitätsverlust), Funktionsein- Auch der Sozialstatus steht in Zusammen- schränkungen und (bei erzwungener, gewählter hang mit dem Risiko für Rückenschmerz: Perso- oder verordneter Schonung) eine Abnahme der nen mit niedrigem Sozialstatus (gemessen an Bil- körperlichen Fitness (allgemeine Dekonditio- dung, Beruf, Einkommen) berichten im Vergleich nierung), zu Personen mit hohem Status sehr viel häufiger ▶ kognitiv und emotional: durch eine erhöhte Emp- von Rückenschmerzen allgemein und schweren findlichkeit gegenüber körpereigenen Signalen, Rückenschmerzen insbesondere. Das Risiko (Odds durch Stimmungsschwankungen sowie katas- Ratio) für schwere Rückenschmerzen bei Personen trophisierende Vorstellungen (z. B. »ich bin ein mit Hauptschulabschluss ist etwa dreimal so hoch hoffnungsloser Fall; wenn es so weitergeht, werde im Vergleich zu Personen mit Abitur [20]. Dieser ich im Rollstuhl landen; mir ist nicht zu helfen«), Effekt bleibt auch bestehen, wenn statistisch der ▶ im Verhalten: durch unangemessenes schmerz- Faktor »selbst berichtete ungünstige Arbeitsbedin- bezogenes Verhalten (Passivität, Schonung, gungen« kontrolliert wird. In den Daten erweist Überaktivität, »Durchhalten«), sich die Schulbildung als guter Prädiktor für das ▶ sozial: durch Störung der sozialen Beziehungen Rückenschmerzrisiko. Über welche (anderen) und Probleme am Arbeitsplatz und im Beruf. Mechanismen Schulbildung mit Rückenschmer- Am Rande spielen auch die Situation am zen verbunden ist, ist weitgehend unklar. Arbeitsmarkt und sozialrechtliche Regelungen Der wichtigste Risikoindikator für (nicht-spe- des Zugangs zu Arbeitsunfähigkeit, Rehabilita- zifische) Rückenschmerzen ist deren eigene Vor- tionsleistungen und Erwerbsminderungsrenten geschichte. Je mehr Schmerzphasen, je länger die eine Rolle. gesamte Krankengeschichte und die Dauer der aktuellen Episode, umso eher ist mit einem weiter Anders verhält es sich bei Rückenschmerzen ungünstigen Verlauf zu rechnen. Auch hier spielen infolge bestimmter Erkrankungen. Ihr Verlauf ist psychische Faktoren wie ungünstige Vorstellun- stärker durch die Grundkrankheit (z. B. Morbus gen und Einstellungen, unrealistische Befürch- Bechterew, schwere Osteoporose, Tumorleiden) tungen, Depressivität, passive oder hyperaktive geprägt. Robert Koch-Institut 2012
12 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 5 Verlauf 12 Monate wieder (seltener »weiterhin«), unter die- sen Schmerzen zu leiden [28]. Als akut werden Rückenschmerzen bezeichnet, Diese Befunde werfen die Frage auf, ob Maß- wenn sie erstmals oder nach mindestens sechs nahmen ergriffen werden können und wenn ja, schmerzfreien Monaten und über einen Zeitraum welche, um Betroffene mit einem hohen Chro- von höchstens sechs Wochen auftreten [1]. Als sub- nifizierungsrisiko (s. o. gelbe Flaggen) frühzeitig akut gelten sie, wenn sie länger als sechs Wochen vor einer ungünstigen Entwicklung zu schützen. fortbestehen. Als chronisch bzw. chronisch rezi- Bei der Analyse langfristiger Verläufe Chro- divierend werden Rückenschmerzen bezeichnet, nifizierter zeigen sich weitere Rückfälle und die länger als drei Monate anhalten. Die Intensi- schließlich langfristig anhaltende (persistierende) tät des Schmerzes kann in diesem Zeitraum vari- Beschwerden. Im Gesundheitssurvey Ost von ieren. Chronisch rezidivierend bedeutet, dass die 1991/92 berichteten 95 % aller Frauen und Männer Schmerzen nach einer kürzeren oder längeren mit Rückenschmerzen »heute« auch über Rücken- beschwerdefreien Phase wieder auftreten. schmerzen im Verlauf der letzten 12 Monate [29]. Aufgrund der Unschärfe des zeitlichen Kriteri- Vergleichbare Ergebnisse fanden sich im Bundes- ums sind zur Abschätzung des Chronifizierungs- Gesundheitssurvey von 1998 [30]. Innerhalb der stadiums von Rückenschmerzen (Übergang vom ersten Lübecker Rückenschmerzstudie (1990 bis vorübergehenden zum dauerhaften Symptom) 1993) wurde eine längerfristige Erhebung (pro andere Konzepte vorgeschlagen worden. spektive Untersuchung) durchgeführt. 800 zufällig Eines zielt auf den Grad der Ausweitung ausgewählte Probandinnen und Probanden wur- (»Amplifikation«) der Problematik unter dem den nach 12 Monaten erneut befragt. Zum ersten Stichwort »Staging« (Stadieneinteilung): Beste- Befragungszeitpunkt berichteten 39 % von ihnen hen die Schmerzen auch nachts und in Ruhe; tre- über Rückenschmerzen. Fast alle, die zum ersten ten sie mit anderen Schmerzen und körperlichen Befragungszeitpunkt Rückenschmerzen angege- Beschwerden zusammen auf; gehen sie gleichzei- ben hatten, berichteten ein Jahr später von Schmer- tig mit negativen Gedanken und Gefühlen (»ent- zen innerhalb der letzten 12 Monate (ein Drittel) mutigt«, »traurig« etc.) einher; kommt es zu häu- oder am Tag der zweiten postalischen Befragung figen Arztbesuchen und/oder einem hohen Medi- (zwei Drittel). Von denen, die am Anfang keine kamentenverbrauch? Je mehr dieser Fragen bejaht Rückenschmerzen angegeben hatten, berichteten werden, umso stärker gelten die Rückenschmer- 74 % von solchen Beschwerden innerhalb und/ zen als chronifiziert, mit Konsequenzen für den oder am Ende des Befragungszeitraumes. Ver- Behandlungs- und Rehabilitationsaufwand [24]. gleichbare Befunde wurden aus ausländischen Akute Rückenschmerzen haben generell eine Studien mitgeteilt [31]. Die mittel- bis langfristige gute Prognose: Innerhalb weniger Wochen verbes- Prognose von Rückenschmerzen ist – bezogen auf sern sich die Schmerzen bei der großen Mehrzahl das Schmerzerleben – ungünstig [25]. der Betroffenen (75 % – 90 %) [25, 26]. Arbeitsun- Längsschnittdaten zu Wahrscheinlichkeiten, fähige Personen kehren häufig innerhalb eines von einem Grad oder Stadium oder einer Verlaufs- Monats wieder an den Arbeitsplatz zurück [27]. form von Rückenschmerzen in ein/e/n andere/n/s Diese günstige Einschätzung ist einzuschränken überzugehen, liegen für Deutschland bisher nicht auf den Ausgang der einzelnen akuten Rücken- vor. schmerzepisode, die hausärztlich oder physio therapeutisch diagnostiziert wird und nicht durch ausstrahlende Schmerzen, eine lange Vorgeschichte 6 Verbreitung oder die o. g. »gelbe Flaggen« kompliziert ist. Der Großteil der von Rückenschmerzen betrof- Zur Verbreitung von Rückenschmerzen in fenen Personen erlebt einen von wiederkehren- Deutschland stehen Ergebnisse aus mehreren den Schmerzen geprägten Krankheitsverlauf. Wie regionalen und nationalen Untersuchungen in einer Übersichtsarbeit gezeigt wurde, berich- zur Verfügung. Diese weisen übereinstimmend ten im Durchschnitt 62 % der Personen mit aku- eine hohe Prävalenz von Rückschmerzen in der ten Rückenschmerzen am Ende der folgenden Bevölkerung aus. Ergebnisse aus der Deutschen Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 13 Rückenschmerzstudie 2003/2006 [32] zeigen, eine annähernd lineare Zunahme der Häufigkeit dass die Stichtagprävalenz von Rückenschmer- chronischer Rückenschmerzen mit dem Alter. zen »heute« (ohne Angaben zum Schweregrad Berücksichtigt man dagegen alle Arten von der Beschwerden) in verschiedenen Regionen »Rückenschmerzen heute« (akut und chronisch), zwischen 32 % und 49 % liegt. Die Angaben zur dann nimmt deren Häufigkeit im höheren Alter Lebenszeitprävalenz (mindestens einmal im wieder ab [36]. Warum Ältere weniger leichte Leben Rückschmerzen) liegen zwischen 74 % Rückenschmerzen als jüngere berichten, ist nicht und 85 %. Das heißt, nur rund 20 % der Stu- geklärt. Es gibt hierzu eine Reihe von Hypothesen, dienteilnehmerinnen und -teilnehmer hatten die teils biomechanische Entlastungen unterstel- nach eigenen Angaben noch nie Rückenschmer- len, teils stabilisierende Selbstheilungsvorgänge an zen erlebt. Möglicherweise wird die Prävalenz der Wirbelsäule oder auch veränderte Bewertungen der Beschwerden noch unterschätzt, da ein Teil solcher Rückenschmerzen vor dem Hintergrund der Patientinnen und Patienten länger zurücklie- ernsterer Gesundheitsstörungen annehmen [37]. gende Rückenschmerzepisoden schlicht verges- In Deutschland existieren weitere Untersu- sen oder »wegerklärt« hat (z. B. Rückenschmerzen chungen zur Häufigkeit von Rückenschmer- im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft). zen: In einem Interviewsurvey unter Erwachse- Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern nen im Alter über 60 Jahre stehen »Kreuz- oder sind in allen diesen Studien gering und nicht Rückenschmerzen« ebenfalls an erster Stelle immer signifikant [31, 33]. Mit den Ergebnissen einer Beschwerdenliste; 23 % fühlen sich durch der Deutschen Rückenschmerzstudie kann auch sie »erheblich« oder »stark belästigt«; wesentliche belegt werden, dass von den befragten Personen Einflüsse von Alter und Geschlecht lassen sich 7 % von schweren und 9 % von erheblich behin- nicht nachweisen [38]. In der Studie »Gesundheit dernden Rückenschmerzen berichteten. in Deutschland aktuell« des Robert Koch-Instituts Die vom Robert Koch-Institut durchgeführten aus dem Jahr 2009 gaben 20,7 % der Befragten telefonischen Gesundheitssurveys 2003 und 2009 an, im letzten Jahr unter mindestens drei Monate [34, 35] erlauben eine Darstellung der Prävalenz von oder länger anhaltenden Rückenschmerzen (fast Rückenschmerzen für die deutsche Bevölkerung täglich) gelitten zu haben. (siehe Abbildung 1). Frauen geben zu allen drei In Lübeck wurde die Häufigkeit von Rücken- Zeitpunkten häufiger als Männer an, unter min- schmerzen (»aktuell«) 1993 und 2003 mit annä- destens drei Monate anhaltenden Rückenschmer- hernd gleicher Methodik (postalischer Fragebogen zen (fast täglich) gelitten zu haben. Bei beiden mit bis zu zwei Erinnerungen, identische Fragen) Geschlechtern variiert die Häufigkeit von Rücken- erhoben. Die nach Alter, Geschlecht und Schulbil- beschwerden deutlich mit dem Alter: Es zeigt sich dung standardisierten Raten betragen 39 % (1993) Abbildung 1 Rückenschmerzen (mind drei Monate, fast täglich) in der deutschen Bevölkerung in den Jahren 2003 und 2009 Datenquelle: Gesundheitssurvey des RKI 2003, 2009 Prozent Prozent 50 50 Frauen Männer 40 40 30 30 20 20 2003 2003 10 10 2009 2009 18–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70+ 18–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70+ Altersgruppe in Jahren Altersgruppe in Jahren Robert Koch-Institut 2012
14 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 und 38 % (2003), bei allerdings unterschiedlichen In der HBSC-Studie der Weltgesundheits- Antwortraten (81 % und 59 %). Wenn sich über- organisation wurde nach Rücken-/Kreuzschmer- haupt eine wesentliche Veränderung ergeben zen wenigstens »fast jede Woche« gefragt. Für hat, dann sind Rückenschmerzen hier eher sel- Deutschland werden Häufigkeiten von 24 % für tener geworden [39]. Konstante Häufigkeiten des Mädchen und 19 % für Jungen im Alter von 11 bis Rückenschmerzes in einer Bevölkerung beinhal- 17 Jahren berichtet [42]. ten jedoch nicht notwendig auch konstante Häu- Ähnliche Ergebnisse lieferte z. B. eine Studie figkeiten von Folgen dieser Beschwerden, etwa der an 735 Schulkindern im Alter von 10 bis 18 Jahren Arbeitsunfähigkeit. aus der Region Lübeck [43]. Die Häufigkeit von Im internationalen Vergleich weist die deutsche Rückenschmerzen wird insgesamt von der Häu- Bevölkerung eine eher hohe Prävalenz von Rücken- figkeit von Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und schmerzen auf. Die Daten der Europäischen Ver- Schmerzen in den Gliedmaßen übertroffen. Mit tebralen Osteoporose Studie (EVOS) [40], die zwi- zunehmendem Alter wird ihre Bedeutung jedoch schen 1990 und 1993 mit gleicher Methodik nach größer und wird nur noch von Kopfschmerzen aktuell bestehenden Rückenschmerzen in je vier übertroffen. Diese Daten stehen im Einklang mit ost- und westdeutschen und in fünf britischen Regi- Berichten aus anderen europäischen Staaten, z. B. onen fragte, belegen eine deutlich niedrigere Häu- aus den Niederlanden [44] und Finnland [45]. In figkeit von Rückenschmerzen in Großbritannien. Finnland wurde bei Jugendlichen eine Zunahme Rückenschmerzen zählen auch bei Kindern und tiefsitzender Rückenschmerzen seit 1985 beobach- Jugendlichen zu den häufigen Beschwerden. Dies tet (eine Übersicht [46]). zeigen u. a. Ergebnisse des Kinder- und Jugendge- Es gibt wenige Untersuchungen, die die Häu- sundheitssurveys (KiGGS) des RKI [41]. In KiGGS figkeit spezifischer Rückenschmerzen in Bevölke- wurden die Eltern bzw. die Kinder und Jugend- rungsgruppen untersucht haben. Ende der 1970er- lichen (11 bis 17 Jahre) nach Schmerzen in den letz- Jahre wurde in Holland die Zoetermeer-Studie ten drei Monaten gefragt, u. a. auch nach Rücken- durchgeführt; ein kombinierter Befragungs- und schmerzen. Rückenschmerzen traten demnach bei Untersuchungssurvey mit mehr als 6.500 Erwach- 3 % der 3- bis 6-Jährigen, 7 % der 7- bis 10-Jähri- senen einer kleinstädtisch-ländlichen Gemeinde gen, 18 % aller 11- bis 13-Jährigen und 44 % der 14- [47]. Die Untersuchung schloss neurologische bis 17-Jährigen auf; Mädchen geben häufiger als Tests und Röntgenaufnahmen (bei über 45-Jäh- Jungen an, betroffen zu sein (siehe Abbildung 2). rigen) ein. Die Häufigkeit von Rückenschmerzen zum Erhebungszeitpunkt erreichte hier 22 % bei Abbildung 2 Männern und 30 % bei Frauen. Bei weniger als Häufigkeit von Rückenschmerzen bei Kindern und einem Zehntel der Betroffenen konnte klinisch Jugendlichen (2003 – 2006) ein Bandscheibenvorfall mit Druck auf eine Ner- Quelle: KiGGS [41] venwurzel diagnostiziert werden. Bei insgesamt Prozent weniger als 7,5 % konnte überhaupt eine Schädi- 60 gung im Sinne eines abnormen lokalen Befundes festgestellt bzw. eine Krankheitsdiagnose gestellt 50 werden. Dies stimmt gut mit etwas jüngeren Anga- 40 ben aus Finnland überein [48]. Über 20 % aller in Holland untersuchten Frauen und Männer zeigten 30 allerdings im Röntgenbild Hinweise auf erheb- liche degenerative Veränderungen (»Verschleiß«) 20 an den Bandscheiben, ohne dass sich eine enge Beziehung zwischen Röntgen- und Beschwerde- Mädchen 10 bild sichern ließ. Jungen Höhere Häufigkeiten für neurologische Auffäl- ligkeiten fanden sich in einer deutschen Studie an 3–6 7–10 11–13 14–17 noch berufstätigen Versicherten einer Landesver- Altersgruppe in Jahren sicherungsanstalt mit schweren Rückenschmerzen Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – 2012 – Heft 53 15 und einem eingeschränkten allgemeinen Gesund- Rückenschmerzen angegeben [53], weitere 13 Krank- heitszustand [49]. Hier konnte bei 23 % von 335 heitsgruppen wurden häufiger von Rücken- Untersuchten ein radikuläres Syndrom, d. h. eine schmerzkranken berichtet: je höher deren Chro- Reizung einer aus dem Rückenmark austretenden nifizierungsstadium war, umso häufiger war Nervenwurzel, vermutet werden. Deutlich selte- dies der Fall. ner findet sich ein M0rbus Bechterew (Spondy- litis ankylosans), dessen Häufigkeit in der Gesamt- bevölkerung auf 0,2 % bis 0,8 % geschätzt wird. 8 Folgen Die Bedeutung der Osteoporose der Wirbel oder Wirbelsäule (vertebrale Osteoporose) wird Zu den Folgen von Rückenschmerzen zählt neben eher überschätzt, wie sich anhand von Studien- einer eingeschränkten subjektiven Gesundheit ergebnissen zeigen lässt. Die Europäische Verte- auch eine verminderte Leistungsfähigkeit in All- brale Osteoporosestudie fand in Deutschland unter tag, Beruf und Freizeit. Dies führt bei Beschäftig- Frauen und Männern im Alter von 50 bis 79 Jah- ten zu Arbeitsausfall und einer damit verbunden ren Wirbelkörperverformungen in einer Häufig- geringeren Arbeitsproduktivität. In der Rangliste keit von rund 10 %. Die Häufigkeit von aktuellen der zehn Erkrankungen mit den längsten Arbeits- Rückenschmerzen erreichte in dieser Gruppe 51 % unfähigkeitszeiten liegen die Rückenschmerzen bei Frauen und 33 % bei Männern. Bei Personen (ICD-10-GM: M54) im Jahr 2010 unter den AOK- ohne Abweichungen der Wirbelkörperform (Defor- Pflichtmitgliedern (ohne Rentner) mit 14,5 Millio- mitäten) lag sie um 6,3 % niedriger (Frauen) bzw. nen Arbeitsunfähigkeitstagen (AU-Tage) auf dem um 0,6 % höher (Männer). Solche (meist keilförmi- ersten Rang [54]; dies entspricht einem Anteil von gen) Verformungen scheinen mit keinem wesent- 7,0 %. Pro Fall ergeben sich 11,7 AU-Tage (Frauen lich erhöhten Risiko für Rückenschmerzen einher- 12,2 AU-Tage, Männer 11,4 AU-Tage) (siehe Ta zugehen (multivariat adjustierte Odds Ratios bis belle 3). Auch bei der Barmer GEK liegen die 1,38 [50]). In der ersten Lübecker Rückenschmerz- Rückenschmerzen 2009 auf dem ersten Rang studie Anfang der 1990er-Jahre zeigten sich keine der AU-Statistiken (mit rund 6,5 % aller AU-Tage) Hinweise auf eine wesentlich erhöhte Häufigkeit [55]. Gleiches gilt für die Deutsche Angestellten von bestimmten chronischen Schmerzerkrankun- Krankenkasse: Rückenschmerzen haben hier mit gen (Fibromyalgiesyndrom) unter Personen mit einem Anteil von 7,1 % bei den AU-Tagen den ers- aktuellen Rückenschmerzen [51]. ten Rang [56]. Tabelle 3 7 Komorbidität Arbeitsunfähigkeitstage bei AOK-Pflichtmitgliedern (ohne Rentner) aufgrund von Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M54) im Jahr 2010 Rückenschmerzen (chronisch oder persistierend) Quelle: WIdO [57] sind so gut wie immer »mehr als Schmerzen im Rücken«. Dies gilt nach neueren Untersuchun- Arbeitsunfähig- Arbeitsunfähig- Arbeitsunfähig- gen auch im Hinblick auf die sog. Komorbidität. keitsfälle keitstage keitstage je Fall Damit sind weitere Krankheiten gemeint, die bei Frauen 447.735 5.460.098 12,2 Personen mit chronischen Rückenschmerzen Männer 791.569 9.002.416 11,4 festgestellt werden können [52]. Als Komorbidi- Gesamt 1.239.304 14.462.514 11,7 täten bei Rückenschmerzen treten am häufigsten degenerative und entzündliche Gelenkerkrankun- gen, Osteoporose, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Allerdings nehmen Rückenschmerzen bei allen Depression, Substanzmissbrauch, Adipositas und drei Kassenarten in ihrer Bedeutung innerhalb der chronische Bronchitis auf [1]. Dies ist bei der Diag AU-Statistik tendenziell ab, während die Bedeu- nostik und der Behandlung zu berücksichtigen. tung der psychischen Störungen annähernd linear In einer Untersuchung wurden nur Krebs- zunimmt. erkrankungen und Diabetes mellitus in glei- Unter den Krankenhausdiagnosen rangieren cher Häufigkeit von Personen mit oder ohne die »sonstigen Krankheiten der Wirbelsäule und Robert Koch-Institut 2012
16 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 des Rückens« (ICD-10-GM: M50 – M54) in der Sta- Nach der Statistik der stationären medizini- tistik der Betriebskrankenkassen auf Platz 6 (4,1 schen Rehabilitationsleistungen des Jahres 2010 KH-Fälle mit je 8,5 Tagen pro 1.000 Versicherte der Gesetzlichen Rentenversicherung [60] entfie- ohne Rentner 2009) [58]. len 24 % aller knapp 960.000 Rehabilitationen auf Auf die nicht-spezifischen Rückenschmerzen Rückenleiden (ICD-10-GM: M40 – M54; im Jahr (ICD-10-GM: M54) entfallen innerhalb der Gruppe 2009 waren es ebenso viele). Unter diesen wur- aller Rückenleiden (Dorsopathien) – leistungsspe- den 38 % den nicht-spezifischen Rückenschmerzen zifisch – unterschiedliche Anteile. Die Krankheits- (ICD-10-GM: M54) zugeschrieben. artenstatistik 2008 des AOK Bundesverbandes Die Krankheitskosten für Rückenleiden (ICD- führt 78 % aller den Rückenleiden (ICD-10-GM: 10-GM: M45 – M54) beliefen sich im Jahr 2008 M40 – M54) zugeschriebenen AU-Fälle (69 % aller in Deutschland geschätzt auf 9 Milliarden Euro AU-Tage) auf nicht-spezifische Rückenschmerzen (Frauen 5,1 Milliarden Euro, Männer 4,0 Milliar- zurück. Unter allen Krankenhausfällen entfielen den Euro), für nicht-spezifische Rückenschmer- auf nicht-spezifische Rückenschmerzen rund 45 % zen (ICD-10-GM: M54) betrugen sie 3,6 Milliarden aller entsprechenden Krankenhausfälle bzw. -tage. Euro (2,1 Milliarden Euro Frauen, 1,5 Milliarden Bei Frühberentungen (Renten wegen vermin- Euro Männer) [61]. Bei Rückenschmerzpatientin- derter Erwerbsfähigkeit) stehen Krankheiten des nen und -patienten überwiegen die indirekten Kos- Muskel-Skelett-Systems im Jahr 2010 an zweiter ten [1]. Die Kosten ergeben sich vor allem bei chro- Stelle nach den Psychischen und Verhaltensstö- nischen Rückenschmerzen. In einer Studie [62] rungen [59]. Knapp 26.500 Rentenzugänge wur- wurden für Rückenschmerzen (gesamt) durch- den aufgrund von Krankheiten des Muskel-Skelett- schnittliche Kosten von 1.322 Euro pro Patientin Systems vermerkt (siehe Tabelle 4). bzw. Patient und Jahr in Deutschland errechnet. Im Jahr 2010 betrug der Anteil der auf Rücken- Um die indirekten Kosten einer Krankheit zu leiden entfallenden Neuzugänge in der Statistik der ermitteln, wird häufig die Anzahl der verlorenen Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähig- Erwerbstätigkeitsjahre herangezogen, die sich keit 8 % (von insgesamt 181.000 Neuzugängen). über die Ausfälle durch Arbeitsunfähigkeit, Inva- Unter diesen dominierten wieder die nicht-spezifi- lidität und/oder vorzeitigen Tod der erwerbstätigen schen Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M50 – M54) 15- bis 65-jährigen Bevölkerung errechnet. Die ver- mit einem Anteil von 38 %. Sowohl den Statistiken lorenen Erwerbstätigkeitsjahre aufgrund von nicht- zu Arbeitsunfähigkeitstagen als auch zu Frühbe- spezifischen Rückenschmerzen (ICD-10-GM: M54) rentungen ist zu entnehmen, dass die auf Rücken- beliefen sich im Jahr 2008 auf insgesamt 135.000 leiden entfallenden Zahlen stetig sinken. Jahre (Frauen 52.000, Männer 83.000; Tabelle 5). Tabelle 4 Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in der Gesetzlichen Rentenversicherung im Jahr 2010 Quelle: DRV [59] Diagnosen/Behandlungsanlässe Frauen Männer Gesamt Gesamt 85.989 94.763 180.752 M00 – M99 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und 12.290 14.204 26.494 des Bindegewebes M45 – M49 Spondylopathien 898 1.392 2.290 M50 – M54 Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und 4.401 6.070 10.471 des Rückens M50 Zervikale Bandscheibenschäden 388 481 869 M51 Sonstige Bandscheibenschäden 1.111 1.744 2.855 M53 Sonstige Krankheiten der Wirbelsäule und 663 716 1.379 des Rückens, anderenorts nicht klassifiziert M54 Rückenschmerzen 2.239 3.129 5.368 Robert Koch-Institut 2012
Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 17 Tabelle 5 Verlorene Erwerbstätigkeitsjahre in 1 000 Jahren für Deutschland 2008 Quelle: Statistisches Bundesamt [63] Diagnosen Frauen Männer Gesamt A00 – T98 Alle Krankheiten und Folgen äußerer Ursachen 1.481 2.746 4.227 M00 – M99 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems 208 298 506 und des Bindegewebes M45 – M54 Dorsopathien 95 152 247 M47 Spondylose 4 7 12 M54 Rückenschmerzen 52 83 135 Alle diese Angaben sind, soweit sie auf Routi- ausdrücklich an die Patientinnen und Patienten nedaten der verschiedenen Sozialversicherungs- (www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinie.de). träger beruhen, mit Vorsicht zu betrachten, da Die Behandlung umfasst nicht-medikamentöse die ICD-Codes weder trennscharf sind, noch in und medikamentöse Maßnahmen. Folgende Eck- den verschiedenen Jahren Versorgungssektoren punkte sollten grundsätzlich berücksichtigt wer- und Einrichtungen gleich gehandhabt wurden den: und werden. Dass Rückenschmerzen auch die subjektive ▶▶ Motivierung der Betroffenen zur aktiven Mit- Gesundheit und Lebensqualität erheblich beein- wirkung an der Behandlung und zur Über- trächtigen, zeigen Daten aus der Eingangsuntersu- nahme von Behandlungsverantwortung; chung der Deutschen Rückenschmerzstudie [29]: ▶▶ Langfristige multi- und interdisziplinäre Von den über 9.000 Befragten schätzten 11,8 % Behandlungspläne (nur) bei chronisch-behin- ihren Gesundheitszustand als »sehr gut« ein. Von dernden Verläufen; den Personen mit Rückenschmerzen am Befra- ▶▶ Gemeinsame Entscheidungsfindung in der gungstag berichteten 2,4 % einen »sehr guten« Erarbeitung von Behandlungszielen und Gesundheitszustand, gegenüber 16,7 % der Per- Behandlungsplänen; sonen ohne Rückenschmerzen. Für einen subjek- ▶▶ Medikamentöse Therapie zur Unterstützung tiv »schlechten« Gesundheitszustand fanden sich nicht-medikamentöser Maßnahmen in der aku- umgekehrte Verhältnisse (5,8 % vs. 0,5 %). Ähn ten Phase, um alltägliche Aktivitäten wieder liche Unterschiede zeigten sich für die Merkmale aufnehmen zu können; subjektive Behinderung, Depressivität, Erschöp- ▶▶ Vermeidung von längerer Bettruhe, körperlicher fung und weitere körperliche Beschwerden. Dies Inaktivität und Schonung; es gilt weiterzuma- lässt sich zum kleineren Teil auf weitere Unter- chen, soweit es Schmerz und Behinderung schiede (Geschlecht, Alter, Sozialstatus) zwischen erlauben; beiden Gruppen zurückführen. Im Wesentlichen ▶▶ Mit alltäglichen Rückenschmerzen kann man spiegeln sie den ungünstigen Einfluss des chroni- sich als »bedingt gesund« sehen: die Gesundheit schen Schmerzsyndroms wider. ist eingeschränkt, aber nicht so, dass man nicht mit eigener und fremder Hilfe den Alltag, die Freizeit und die Arbeit fortführen könnte. 9 Therapie »Katastrophisieren« ist fast immer unange- bracht. Finden sich keine Hinweise auf spezifische Ursa- chen der Rückenschmerzen, sollte zuerst eine Wissenschaftliche Befunde deuten darauf hin, symptombezogene Behandlung unter Berück- dass Patientinnen und Patienten, die in ganz unter- sichtigung der »gelben Flaggen« (siehe Diagnos- schiedliche Behandlungsstudien eingeschlossen tik) eingeleitet werden. Eine Orientierung bietet werden, überraschend ähnliche Besserungsver- die 2011 erschienene Nationale VersorgungsLeit- läufe nehmen [64]. Ausmaß und Verlauf der Bes- linie Kreuzschmerz [1]. Eine Version richtet sich serung fallen ähnlich aus und sind oft nicht zu Robert Koch-Institut 2012
18 Gesundheitsberichterstattung des Bundes – Heft 53 unterscheiden von dem, was auch ohne spezifische ▶▶ Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): bei Vorlie- Behandlung zu beobachten gewesen wäre [65]. gen psychosozialer Risikofaktoren bei subaku- Daher sind Studien erforderlich, die die Effekte ten/chronischen nicht-spezifischen Rücken- neuer Verfahren mit dem spontanen Verlauf von schmerzen. Rückenschmerzen unter Verzicht auf jede spe- zifische Behandlung vergleichen. Daraus ergäbe Weitere Hinweise, besonders zu den generell sich die Möglichkeit, den Nutzen der Verfahren nicht oder kaum wirksamen Therapieformen, fin- für Betroffene von (nicht-spezifischen) Rücken- den sich in der Patientenversion der Nationalen schmerzen einzuschätzen. VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz [66]. 9 1 Nicht-medikamentöse Therapie 9 2 Medikamentöse Therapie Die nicht-medikamentöse Therapie ist wichtiger Die medikamentöse Therapie des nicht-spezifi- Bestandteil der Behandlung von nicht-spezifischen schen Rückenschmerzes ist symptomatisch und Rückenschmerzen. Als förderliche Therapien gel- dient der Unterstützung der nicht-medikamen- ten: tösen Therapie [1, 3]. Auf diese Weise soll es den Betroffenen ermöglicht werden, ihre schmerz ▶▶ Patienteninformation und Beratungsgespräche: bedingt gemiedenen alltäglichen Aktivitäten wie- Sie sind Basis jeder Behandlung und haben die der aufzunehmen. Zur Anwendung empfohlen Lebenswirklichkeit und psychologische Situa- werden generell folgende Medikamentengruppen: tion der Patientinnen und Patienten im häus lichen Bereich wie in der Arbeitswelt und Frei- ▶▶ Analgetika zeitgestaltung zu berücksichtigen; ▶▶ Opioid-Analgetika ▶▶ Bewegungs- und Sporttherapie: primär bei sub- ▶▶ Muskelrelaxanzien akuten/chronischen nicht-spezifischen Rücken- ▶▶ Antidepressiva: nichtselektive Monoamin-Rück- schmerzen; nicht bei akuten Rückenschmer- aufnahme-Inhibitoren (NSMRI), vor allem bei zen; chronischen nicht-spezifischen Rückenschmer- ▶▶ Entspannungsverfahren (Progressive Muskel zen. relaxation, Autogenes Training): können bei erhöhtem Chronifizierungsrisiko von akuten/ Der Einsatz von Medikamenten sollte mit einer subakuten Rückenschmerzen angewandt wer- Ärztin bzw. einem Arzt oder mit einer Apotheke- den, bei chronischen nicht-spezifischen Rücken- rin bzw. einem Apotheker, im Bereich der sog. ein- schmerzen sind sie empfohlen; fachen rezeptfreien Schmerzmittel (Paracetamol, ▶▶ Ergotherapie: bei chronischen nicht-spezifi- Ibuprofen, Acetylsalicylsäure), besprochen werden. schen Rückenschmerzen im Rahmen multi Hinsichtlich pflanzlicher Wirkstoffe, der soge- modaler Behandlungsprogramme; nannten Phytotherapeutika, ergeben sich Hinweise ▶▶ Manuelle Therapie: Manipulation/(Chirothera- darauf, dass Extrakte von Weidenrinde und Teu- pie)/Mobilisation in Kombination mit Bewe- felskralle schmerzlindern wirken. Es gibt jedoch gungstherapie; keine Empfehlung bei akuten oder chronischen ▶▶ Massage: insbesondere in Kombination mit nicht-spezifischen Rückenschmerzen [1, 3]. Bewegungstherapie; ▶▶ Rückenschule: nur bedingt zu empfehlen, Vor- aussetzung ist ein biopsychosozialer Ansatz; 9 3 Operative und andere eingreifende Verfahren geeignet für über sechs Wochen anhaltende/ rezidivierende nicht-spezifische Rückenschmer- Bei nicht-spezifischen Rückenschmerzen können zen, insbesondere bei chronischen nicht-spezi- invasive Therapien, perkutane Verfahren (Injek fischen Rückenschmerzen; tionen) sowie operative Verfahren laut Nationaler ▶▶ Wärmetherapie: kann bei akuten nicht-spezifi- VersorgungsLeitlinie nach derzeitigem Erkenntnis- schen Rückenschmerzen eingesetzt werden; stand nicht empfohlen werden [1]. Operative Verfah- Robert Koch-Institut 2012
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