Gesundheitsforschung März 2023

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Gesundheitsforschung März 2023
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Aktuelle Ergebnisse der

Gesundheitsforschung

                                                                            März
                                                                            2023

                          Aus dem Inhalt

                          Erforschung der „Seltenen“ –
                          ein Gewinn für alle ..................................... 2
                          Leishmaniose: Ein kleiner Stich birgt
                          große Gefahren ........................................... 7
                          Subsahara-Afrika: Gezielte Diagnostik
                          bringt erste Erfolge .................................... 9
                          Nasenhöhlenkrebs: KI ermöglicht
                          Durchbruch in der Diagnostik ............... 13
                          In Sicht: Eine therapeutische
                          Impfung gegen Hepatitis B ................... 16
Gesundheitsforschung März 2023
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Inhaltsverzeichnis

Aktuelle Themen                                                                                                                                                                                        2
Erforschung der „Seltenen“ – ein Gewinn für alle ........................................................................................................................................................ 2
Wichtig für die Wissenschaft: Die Erfahrung von Betroffenen ......................................................................................................................... 5
Leishmaniose: Ein kleiner Stich birgt große Gefahren .............................................................................................................................................. 7
Subsahara-Afrika: Gezielte Diagnostik bringt erste Erfolge ................................................................................................................................ 9
Neuer Wirkstoff soll Therapie von Alkoholsucht deutlich verbessern ................................................................................................... 11

Neues aus den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung                                                                                                                                            13
Nasenhöhlenkrebs: KI ermöglicht Durchbruch in der Diagnostik .............................................................................................................. 13
In Sicht: Eine therapeutische Impfung gegen Hepatitis B .................................................................................................................................. 16
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Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                           2

Aktuelle Themen

Erforschung der „Seltenen“ – ein Gewinn für alle
Der GAIN-Verbund widmet sich der Erforschung und Behandlung seltener Autoimmunerkrankungen. Die Arbeit der
Forschenden ermöglicht eine genaue Diagnosestellung und bedeutet für viele Patientinnen und Patienten so Hilfe
nach einer oft jahrelangen Odyssee.

Angeborene Störungen des Immunsystems sind
tückisch: Arbeitet das Abwehrsystem des mensch­             Seltene Erkrankungen
lichen Körpers fehlerhaft, kann es zu überschießen­
den Immunreaktionen kommen, die einzelne Organe
                                                            Eine Erkrankung gilt dann als selten, wenn nicht
oder gar den gesamten Körper angreifen. Ursache
                                                            mehr als fünf von 10.000 Menschen davon betrof-
dafür können seltene genetische Mutationen sein,
                                                            fen sind; „selten“ sind diese Erkrankungen in ihrer
die dazu führen, dass das eigene Immunsystem sich
                                                            Gesamtheit jedoch nicht. Mehr als 6.000 Seltene
nicht gegen fremde Erreger, sondern gegen körper­
                                                            Erkrankungen sind bekannt, allein in Deutschland
eigene Strukturen richtet. Für die Betroffenen kann
                                                            leiden mehr als vier Millionen Menschen an einer
dies lebensbedrohlich werden. Viele dieser angebore­
                                                            davon. Das Bundesministerium für Bildung und
nen Autoimmunerkrankungen werden oft erst spät
                                                            Forschung (BMBF) unterstützt die Erforschung der
diagnostiziert, weil sich die auftretenden Symptome
                                                            Seltenen Erkrankungen seit 2003 mit erheblichen
und die Art der Beschwerden individuell stark unter­
                                                            Anstrengungen: So wurden 144 Millionen Euro
scheiden können.
                                                            in nationale Forschungsverbünde investiert, die
                                                            sich sowohl der Grundlagenforschung als auch
Derartige genetisch bedingte Autoimmunerkran­
                                                            der klinischen Forschung widmen. Eine aktuelle
kungen werden im Forschungsverbund GAIN
                                                            Förderrichtlinie hat bereits bestehenden Verbün-
(German multi­organ Auto­Immunity Network)
                                                            den die Möglichkeit eröffnet, für weitere drei Jahre
untersucht. Ärztinnen und Ärzte sowie Wissen­
                                                            Fördergelder zu erhalten. Hier werden neun Ver-
schaftlerinnen und Wissenschaftler aus Freiburg,
                                                            bünde von 2022 bis 2026 mit rund 21,5 Millionen
München, Hannover und Dresden wollen den Ursa­
                                                            Euro gefördert.
chen dieser oft komplexen Autoimmunerkrankun­
                                                            Zur Stärkung der internationalen Zusammen-
gen in zehn Teilprojekten auf die Spur kommen. Das
                                                            arbeit beteiligen sich das BMBF und die Deutsche
Bundesministerium für Bildung und Forschung
                                                            Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 2019 an dem
(BMBF) förderte den Verbund seit 2019 mit 3,8 Millio­
                                                            von der EU geförderten und bis 2024 laufen-
nen Euro; im Januar 2023 erfolgte eine Förderzusage
                                                            den European Joint Programme on Rare Diseases
über weitere 2,5 Millionen Euro.
                                                            (EJP RD). Mit EJP RD ergänzen die daran beteilig-
                                                            ten 31 Forschungsförderer aus 23 Ländern das mit
CTLA4: Schon ein defektes Gen kann ein
                                                            E-Rare gestartete internationale Engagement zur
komplexes Krankheitsbild auslösen
                                                            Erforschung Seltener Erkrankungen.
Multi­Organ­Autoimmunerkrankungen können
                                                            Weitere Informationen: www.research4rare.de/
durch Mutationen in nur einem Gen verursacht wer­
                                                            und www.ejprarediseases.org/
den: Das ist zum Beispiel bei der CTLA4­Defizienz
der Fall. CTLA4 ist ein Oberflächenmolekül, das die
Gesundheitsforschung März 2023
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                                                             3

Um bei einer Seltenen Erkrankung die richtige Diagnose stellen und eine individuelle Therapieentscheidung treffen zu können, bedarf es einer sorg­
fältigen Anamnese und ausführlicher Gespräche.

T­Zellen des Immunsystems hemmt. Ist das Gen                                 „Nicht alle Trägerinnen und Träger dieser Mutationen
für CTLA4 mutiert, kommt es zu einem Defekt des                              werden krank, und wenn sie krank werden, sind nicht
CTLA4­Moleküls und die Hemmung des Immun­                                    immer die gleichen Organe betroffen. Diese Zusam­
systems funktioniert nicht. Eine solche Mutation                             menhänge zu beleuchten, ist unser Ziel in GAIN“,
tritt bei weniger als einer von 250.000 Geburten auf                         erklärt Professor Dr. Bodo Grimbacher, Leiter des
und zählt damit zu den Seltenen Erkrankungen.                                Forschungsverbundes am Centrum für Chronische
Menschen mit diesem Gendefekt weisen oft ein                                 Immundefizienz (CCI) des Universitätsklinikums
komplexes Krankheitsbild auf: Sie können unter                               Freiburg. „Für uns Ärzte ist die Untersuchung solcher
Entzündungen der Lunge, des Darms, des zentralen                             seltenen Störungen, die auf ein einzelnes Gen zurück­
Nervensystems, der Niere oder der Leber leiden so­                           zuführen sind, zudem sehr lehrreich. Sie bietet uns die
wie an häufigen Atemwegsinfektionen. Oft mani­                               Chance, auch häufigere Autoimmunkrankheiten zu
festiert sich die CTLA4­Defizienz schon im Kindes­                           entschlüsseln, bei denen mehrere Gene mutiert sind“,
alter, bei manchen Betroffenen zeigen sich aber auch                         so Grimbacher.
erst im Erwachsenenalter erste Symptome.
                                                                             GAIN-Verbund: Biodatenbank und Patienten­
Sowohl die auftretenden Symptome als auch ihre                               register ermöglichen Begleitstudien
Schwere können sich von Patient zu Patient stark                             Seit 2019 wurde im GAIN­Verbund eine deutsch­
unterscheiden; um eine sichere Diagnose stellen zu                           landweite Biomaterialbank aufgebaut, in der inzwi­
können, muss in spezialisierten Zentren ein geneti­                          schen bereits etwa 4.000 (Blut­ und Stuhl­)Proben
scher Test durchgeführt werden. Da der Defekt nur                            von 270 Patientinnen und Patienten enthalten sind.
sehr selten vorkommt, wird ein genetischer Test nur                          Die Sammlung solcher Bioproben ist für die Erfor­
dann empfohlen, wenn die behandelnden Ärztinnen                              schung Seltener Erkrankungen besonders relevant,
oder Ärzte bereits einen angeborenen Immundefekt                             da die standardisierte Sammlung von vergleich­
vermuten.                                                                    baren Proben und Daten aufgrund der geringen
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Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                          4

                                                           gewonnen werden, bei der die Sicherheit und Wirk­
                                                           samkeit des in der Rheumabehandlung eingesetzten
                                                           Medikaments Abatacept untersucht wird. „Abatacept
                                                           hemmt überaktivierte T­Zellen und hilft dabei, das
                                                           Immunsystem zu regulieren. Erste Ergebnisse der
                                                           Studie zeigen, dass alle Patienten das Medikament
                                                           gut vertragen haben und es bei einigen Patienten zur
                                                           kompletten Remission der Erkrankung führte“, sagt
                                                           Grimbacher. Diese Studie mit dem Kürzel ABACHAI
                                                           wird im April 2023 abgeschlossen. Eine weitere, im
                                                           Januar 2023 gestartete epidemiologische Studie mit
                                                           dem Namen Qualy­GAIN soll helfen, das Krankheits­
                                                           management und die Lebensqualität von Menschen
                                                           mit Multi­Organ­Autoimmunerkrankungen zu
                                                           verbessern. „Wir haben diese neue Studie initiiert,
                                                           weil wir auf das Feedback unserer Patienten ange­
                                                           wiesen sind, um unsere Behandlungsstrategien zu
                                                           optimieren“, erklärt Grimbacher.
Prof. Dr. Bodo Grimbacher

Zahl von Betroffenen schwierig und zeitaufwen­             Ansprechpartner:
dig ist. Das GAIN­Patientenregister dokumentiert           Prof. Dr. Bodo Grimbacher
für inzwischen mehr als 400 Patientinnen und               Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI)
Patienten genetische, klinische und Labor­Daten            Universitätsklinikum Freiburg
sowie Daten zur Therapie und Lebensqualität bei            Breisacher Straße 115
Multi­Organ­Autoimmunerkrankungen.                         79106 Freiburg
                                                           Tel.: 0761 270­77731
Dank dieser Informationen konnten genügend Teil­           www.g-a-i-n.de
nehmende für eine begleitende klinische Studie
Gesundheitsforschung März 2023
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                            5

Wichtig für die Wissenschaft:
Die Erfahrung von Betroffenen
Schon kleine Fortschritte können viel bewirken: Für Menschen mit einer Seltenen Erkrankung ist die Vernetzung von
Forschung und Versorgung besonders wichtig. Benjamin Köhler, selbst von CTLA4-Defizienz betroffen, berichtet
über seine Erfahrungen.

Ihre CTLA4-Defizienz, ein vererbbarer Gen­
defekt, blieb lange unerkannt. Wie hat sich
diese sehr seltene Erkrankung auf Ihr Leben
ausgewirkt?

Schon als Kind war ich oft krank, ohne dass
mir jemand helfen konnte. Ich bekam Diabetes
und mir musste die Milz entfernt werden, ich
hatte immer wieder Infektionen und musste
zweimal ins künstliche Koma versetzt werden.
Trotzdem habe ich Sportwissenschaften stu­
diert und auch selbst intensiv Sport betrieben.
Natürlich habe ich einen großen Teil meiner
Energie und Kraft für die Bewältigung der
Krankheit aufbringen müssen, hatte dabei
aber auch immer ganz große Unterstützung
von meiner Familie und meinen Freunden.

Sie wurden an das Centrum für Chronische
Immundefizienz (CCI) in Freiburg überwiesen –
wie hat man dort die Ursache für Ihre Erkran­
kung gefunden?

Ich hatte einen ausgezeichneten Lungenfach­
arzt, der trotz all seiner Erfahrung letztlich
keine Ursache für meine Erkrankungen fin­
den konnte und deshalb weitere Spezialisten
                                                  Trotz Erkrankung: Benjamin Köhler schaut positiv aufs Leben.
hinzuziehen wollte. In Freiburg wurde ich
Ende 2016 zum ersten Mal vorstellig. Zunächst
ging es um eine gründliche Anamnese, die Dokumen­             War die Therapie erfolgreich?
tation meiner Krankheitsgeschichte.
                                                              Leider musste die Gabe dieses Medikaments schon
In der Spezialambulanz wurde eine Genanalyse                  nach kurzer Zeit wieder abgebrochen werden, nach­
vorgenommen, und ich erhielt endlich – mit                    dem bei mir ein bösartiger Tumor im Halsbereich
fast 40 Jahren – eine Diagnose. Bei mir wurde eine            diagnostiziert worden war. Eine Chemotherapie blieb
CTLA4­Defizienz entdeckt, ein seltener Gendefekt,             erfolglos, ich brauchte eine Stammzelltransplanta­
für den zum damaligen Zeitpunkt international                 tion. Dadurch wurde mein eigenes Immunsystem
etwa 150 Fälle bekannt waren. Fast alle der bekannten         quasi ausgeschaltet und durch die gespendeten
Symptome einer CTLA4­Defizienz trafen auf mich                Stammzellen ersetzt. Dieser „Reset“ hat bewirkt,
zu. Relativ schnell habe ich dann ein Medikament aus          dass mein Immunsystem keine defekten Gene mehr
der Rheumatherapie bekommen, dessen Wirksam­                  aufweist. Gut drei Jahre nach der Transplantation
keit aktuell in einer klinischen Studie des GAIN­             ist mein Immunsystem jetzt das eines gesunden
Verbundes überprüft wird.                                     Mittzwanzigers.
Gesundheitsforschung März 2023
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                             6

                                                            Bei sehr seltenen Erkrankungen werden Betroffene zu
   Centrum für Chronische Immundefizienz                    wichtigen Partnern der Wissenschaft, denn Forschende
   (CCI)                                                    und Behandelnde müssen regelrechte Detektivarbeit
                                                            leisten – haben Sie sich und Ihre Erfahrungen einbrin­
                                                            gen können?
   Das Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI)
   des Universitätsklinikums Freiburg widmet sich
                                                            Für mich persönlich ist es wichtig, möglichst viel
   der Diagnose und Behandlung von Immundefek­
                                                            über meine Erkrankung zu wissen, um aktiv damit
   ten sowie der Erforschung des Immunsystems.
                                                            umgehen zu können. Ich bin jemand, der Fragen stellt,
   Hier arbeiten Expertinnen und Experten aus den
                                                            ich will ein mündiger Patient sein. In Freiburg bin ich
   Bereichen Immunologie, Infektionsimmunolo­
                                                            damit auf offene Ohren gestoßen. Professor Grim­
   gie, Immunbiologie, Rheumatologie, Hämatologie,
                                                            bacher hat mich nach der Transplantation sogar in der
   Zell- und Gentherapie unter einem Dach. In zwei
                                                            Reha besucht, um aus erster Hand zu erfahren, wie
   spezialisierten Ambulanzen werden Patientinnen
                                                            es mir geht. Neu war für mich, dass ich als Patienten­
   und Patienten aller Altersstufen behandelt, die an
                                                            vertreter auch an Gutachtersitzungen zur möglichen
   angeborenen oder erworbenen Immundefekten,
                                                            Anschlussfinanzierung des GAIN­Verbundes teil­
   häufigen oder ungewöhnlichen Infektionen, unkla­
                                                            nehmen durfte.
   ren Entzündungen, Autoimmunerkrankungen oder
   den Folgen einer HIV-Infektion leiden.
                                                            Über Krankheiten sprechen die meisten Menschen
                                                            allenfalls im privaten Bereich – was motiviert Sie, an
                                                            die Öffentlichkeit zu gehen?
Zum Zeitpunkt der Diagnose hatten Sie bereits Familie –
medizinische Hilfe ist damit nicht nur für Sie persönlich   Viele Patientinnen und Patienten wissen gar nicht so
wichtig. Werden auch Ihre Kinder am CCI behandelt?          genau, was auf sie zukommt – und dabei geht es nicht
                                                            nur um das Medizinische. Braucht nicht jeder mit
Als ich die Diagnose erhielt, hatten wir bereits zwei       einer solchen Erkrankung Hilfe, um die veränderte
Kinder und meine Frau war schwanger mit Zwillingen.         Lebenssituation bewältigen zu können? Mir ist es
Drei meiner Kinder tragen ebenfalls den Gendefekt,          wichtig, informiert zu sein, um mitreden zu können,
aber die frühe Diagnose erspart ihnen eine lange Odys­      wenn es um meinen eigenen Körper und mein Leben
see. Auch bei den Kindern macht sich die Krankheit          geht. Genauso wichtig ist für mich die Frage, was ich
bemerkbar, aber die Ärzte können jetzt schnell reagie­      selbst tun kann, wie es mir gelingen kann, trotz aller
ren, und ihre Symptome werden weniger, weil die             Belastung auch die schönen Dinge zu sehen – das
medikamentöse Behandlung anschlägt. Darüber hin­            kann für den Heilungsverlauf entscheidend sein. Ich
aus wurden sie in ein vom GAIN­Verbund aufgebautes          möchte eben nicht nur darauf schauen, was mich
Patientenregister aufgenommen. Dadurch können sie           krank macht, sondern auch darauf, dass ich trotzdem
an einer im Januar 2023 gestarteten Studie teilnehmen,      wieder eine Treppe hochkomme, mit meiner Familie
in der es darum geht, das Krankheitsmanagement und          aufs Trampolin oder zum Eisessen gehen kann. Diesen
die Lebensqualität von Menschen mit Multi­Organ­            Blickwinkel möchte ich weitergeben: Dass man selbst
Autoimmunerkrankungen zu verbessern.                        in schweren Zeiten aus allem das Beste machen kann.
Gesundheitsforschung März 2023
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                                       7

Leishmaniose: Ein kleiner Stich birgt
große Gefahren
Die Forschenden der durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten
Nachwuchsgruppe MultiPath suchen nach neuen Therapieoptionen für Leishmaniose. Ihre Erkenntnisse
könnten insbesondere Menschen in ärmeren Regionen der Welt helfen.

Sie ist nur wenige Millimeter groß und
dennoch gefährlich: Durch einen Stich
der blutsaugenden Sand­ oder Schmetter­
lingsmücke können Parasiten der Gattung
Leishmania übertragen werden. Diese lösen
die Infektionskrankheit Leishmaniose aus,
deren Symptomatik – abhängig von der
jeweiligen Erregerspezies – von Hautläsio­
nen und Geschwüren (Kutane Leishma­
niose) bis hin zu lebensbedrohlichen Ver­
änderungen der inneren Organe (Viszerale
Leishmaniose) reicht. Weltweit erkranken
jedes Jahr bis zu eine Million Menschen an
Leishmaniose, die meisten von ihnen in
tropischen und subtropischen Regionen,
wo die Mücke heimisch ist.

„Leishmaniose wird zumeist mit spezifi­
schen Medikamenten behandelt, die in den
Stoffwechsel des Parasiten eingreifen und    Durch einen Stich überträgt die Sandmücke Parasiten, die die Erkrankung Leishmaniose
                                             auslösen können.
ihn so unschädlich machen. Allerdings
sind diese Medikamente insbesondere
in den Regionen mit vielen Erkrankungsfällen                  Wirkung verlieren“, erläutert Dr. Zaynab Hammoud.
oft nur eingeschränkt verfügbar – auch aufgrund               Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl
ihrer hohen Kosten. Hinzu kommt, dass immer                   „IT­Infrastrukturen für die Translationale Medizi­
mehr Leishmania­Stämme Resistenzen gegen die                  nische Forschung“ der Universität Augsburg und hat
eingesetzten Substanzen entwickeln, wodurch                   ihre Doktorarbeit im Rahmen der Nachwuchsgruppe
die vorhandenen Medikamente zunehmend ihre                    MultiPath abgeschlossen. Die Nachwuchsgruppe hat
                                                              sich zum Ziel gesetzt, neue Wirkstoffe für die Therapie
                                                              der Kutanen Leishmaniose zu finden.

   Drug-Repurposing
                                                                   Durch bioinformatorische Auswertungen und
                                                                   molekularbiologische Untersuchungen konnten die
   Der auch in diesem Forschungsprojekt genutzte                   Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fünf Gene
   Ansatz wird in der Fachwelt als Repurposing                     identifizieren, die mit der Erkrankung in Verbindung
   bezeichnet. Er beschreibt die Suche nach neuen                  stehen. Darauf aufbauend fanden sie durch Analy­
   Indikationsbereichen für bereits vorhandene Wirk­               sen in entsprechenden Wirkstoffdatenbanken drei
   stoffe. Ist die Suche erfolgreich, so erspart das               vielversprechende Substanzen, mit denen die Kutane
   den Forschenden enorme Kosten und viele Jahre                   Leishmaniose möglicherweise erfolgreich behandelt
   Forschungsarbeit. Denn für diese Medikamente                    werden kann. Alle drei Substanzen sind zugelassene
   wurden wichtige Nachweise – insbesondere zur                    Arzneimittel und werden weltweit bereits eingesetzt,
   Sicherheit – bereits erbracht.                                  etwa zur Therapie von Hautproblemen wie Akne. Sie
                                                                   könnten auch wegen ihres günstigen Preises dazu
Gesundheitsforschung März 2023
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                          8

beitragen, die Gesundheitsversorgung in ärmeren
Regionen der Welt zu verbessern.

Internationale und interdisziplinäre Kooperation
als Schlüssel zum Erfolg
Um diesem Ziel näher zu kommen, kooperierten
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Chile,
Brasilien und Deutschland. Forschende aus unter­
schiedlichen Fachbereichen konnten so ihre Exper­
tise an den jeweils geeigneten Orten einbringen. Das
Projekt bestand aus drei aufeinander aufbauenden
Arbeitsschritten: Zunächst wurden in Santiago de
Chile die genomischen Analysen durchgeführt, durch
die die entsprechenden Gene identifiziert wurden.
In Augsburg entwickelten die Forschenden die bei­
den Softwaretools „mully“ und „Multipath“. Damit
konnten die relevanten Proteine und biologischen
Signalwege entschlüsselt werden, an denen die zuvor
identifizierten Gene beteiligt sind. Darauf aufbauend
wurden computergestützte Modelle erstellt, um die
Wirkstoffe zu identifizieren, die mit diesen Proteinen
                                                           Dr. Zaynab Hammoud und Prof. Dr. Frank Kramer
interagieren beziehungsweise in diese Signalwege ein­
greifen. In Brasilien wurden die Ergebnisse anschlie­
ßend in Laborexperimenten validiert.                       „Das Projekt MultiPath zielt darauf ab, das in den
                                                           vergangenen 20 Jahren generierte Vorwissen über
                                                           molekulare Interaktionen stärker zu berücksichti­
                                                           gen. In unserer Analyse konnten wir unser Set an
   Systemmedizin
                                                           Werkzeugen nutzen, um potenzielle Ziele für ein
                                                           Drug­Repurposing zu finden. Beide Tools können
   Bereits seit 2012 fördert das BMBF die System­          aber auch für ähnliche Analysen in anderen Krank­
   medizin in Deutschland. Bestandteil des Förder­         heitsbereichen genutzt werden, sie sind daher ohne
   konzeptes „e:Med – Maßnahmen zur Etablierung            Nutzungsbeschränkung via Open Source online ver­
   der Systemmedizin in Deutschland“, für das ins­         fügbar“, ergänzt Professor Dr. Frank Kramer, Inhaber
   gesamt rund 237 Millionen Euro zur Verfügung            des Augsburger Lehrstuhls für IT­Infrastrukturen
   stehen, ist auch das Modul „Nachwuchsgruppen            für Translationale Medizinische Forschung.
   in der Systemmedizin“. Das Forschungsprojekt
   MultiPath ist eine der insgesamt acht geförderten
   Nachwuchsgruppen.
                                                           Ansprechpartner:
                                                           Prof. Dr. Frank Kramer
                                                           Dr. Zaynab Hammoud
„Durch unsere Modelle ergab sich zunächst eine erste       Universität Augsburg
Liste mit 21 möglichen Zielmolekülen. Über eine            Medizinische Fakultät, Fakultät für
systematische Literaturrecherche konnten wir diese         Angewandte Informatik
Liste auf fünf Gene reduzieren, an die elf Wirkstoffe      IT­Infrastrukturen für die Translationale
ansetzten. Davon wurden wiederum drei durch                Medizinische Forschung
die weiterführenden Laborexperimente als vielver­          Alter Postweg 101
sprechend eingestuft“, so Hammoud. „Die klinischen         86159 Augsburg
Studien, mit denen die Wirksamkeit der identifi­           E­Mail: frank.kramer@uni-a.de
zierten Wirkstoffe überprüft werden soll, sind bereits     zaynab.hammoud@informatik.uni-augsburg.de
in Planung.“
Gesundheitsforschung März 2023
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                                    9

Subsahara­Afrika: Gezielte Diagnostik
bringt erste Erfolge
Um die häufigsten lebensbedrohlichen Erkrankungen in Subsahara-Afrika zu bekämpfen, bedarf es umfassender
Diagnostik. Die vom deutsch-afrikanischen Netzwerk ANDEMIA erarbeiteten Erkenntnisse haben sich in der SARS­
CoV-2-Pandemie bereits bewährt.

Infektionen der Atemwege oder des Verdauungstrak­
tes sowie akutes Fieber unbekannter Herkunft – es
sind die ganz gewöhnlichen Infektionserkrankungen,
an denen die Menschen in Afrika südlich der Sahara
(Subsahara­Afrika) häufig erkranken und sterben.
Insbesondere bei Kindern zählen sie zu den Hauptur­
sachen von Krankheit und Tod. Allein 400.000 Kinder
unter neun Jahren sterben in Subsahara­Afrika jedes
Jahr an Durchfallerkrankungen. Die Erkrankungen
sind auch deswegen so weit verbreitet, weil die medi­
zinische Versorgung oft begrenzt ist. So sind häufig
die Kapazitäten zur Diagnostik der Erreger nur einge­
schränkt verfügbar, und es fehlt an gut ausgebildetem
Personal. In internationalen Förderprogrammen wer­
den ausgerechnet diese gewöhnlichen, aber besonders
relevanten Erkrankungen häufig vernachlässigt, und         Das ANDEMIA-Projekt hat gezeigt: Eine gezielte Diagnostik und die
                                                           Aus- und Fortbildung von medizinischem Personal spielen eine ent­
auch die lokalen Gesundheitsbehörden widmen sich
                                                           scheidende Rolle, um weitverbreitete lebensbedrohliche Erkrankungen
bislang nicht genügend den Ursachen und Verbrei­           in Afrika südlich der Sahara zu bekämpfen.
tungswegen der Erreger.
                                                           biologische Proben betroffener Patientinnen und
Länderübergreifend Strategien erarbeiten                   Patienten mit modernen molekularbiologischen
„Wir wollen Strategien entwickeln, mit deren Hilfe         Verfahren auf ein breites Spektrum möglicher Krank­
genau diese gewöhnlichen, aber eben sehr bedrohli­         heitserreger. Dabei ging es nicht nur darum, die
chen und weitverbreiteten Erkrankungen wirksamer           jeweils verantwortlichen Infektionserreger zu iden­
bekämpft werden können“, beschreibt Projektleite­          tifizieren, sondern auch Risikofaktoren wie Alter,
rin Dr. Grit Schubert die Aufgabe des vom Bundes­          Beruf oder Verfügbarkeit sauberen Trinkwassers zu
ministerium für Bildung und Forschung (BMBF)               erfassen. Falls Tiere als Wirte der Erreger infrage
geförderten deutsch­afrikanischen Gesundheits­             kamen, wurden auch sie in die Untersuchungen ein­
forschungsnetzwerks ANDEMIA und erklärt: „Das              bezogen. „Wir sind bewusst nach dem One­Health­
gelingt am besten, indem wir die jeweiligen Kom­           Ansatz vorgegangen, also dem Zusammenspiel zwi­
petenzen, Erfahrungen und Institutionen länder­            schen Mensch, Tier und Umwelt“, erläutert Schubert.
übergreifend miteinander verknüpfen.“ Schubert ist
Nachfolgerin von Professor Dr. Fabian Leendertz,           Umfangreiche Datenerhebungen liefern
der das Netzwerk in der Aufbauphase leitete.               Grundlage für zielgerichtete Therapien
                                                           Inzwischen haben die Forschungsteams aus den
One-Health-Ansatz im Mittelpunkt                           beteiligten afrikanischen Ländern 20.000 Betroffene
Basis einer solchen Strategie ist eine umfassende          untersucht bzw. 50.000 Proben ausgewertet und
Kenntnis darüber, welche Erreger am häufigsten             dabei in den meisten Fällen die auslösenden Faktoren
auftreten und welche Erkrankungen sie auslösen.            der jeweiligen Krankheitsbilder aufklären können.
Zu diesem Zweck haben sich zwölf Krankenhäuser             41 wissenschaftliche Veröffentlichungen haben die
aus den ANDEMIA­Partnerländern Elfenbeinküste,             beteiligten Forschungsgruppen schon geschrieben,
Burkina Faso, Demokratische Republik Kongo und             viele weitere Daten liegen vor und werden noch
Südafrika zusammengeschlossen. Sie untersuchten            ausgewertet.
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                           10

Die Ergebnisse kamen unmittelbar den beteilig­
ten Patientinnen und Patienten zugute, denn diese
konnten nun gezielt behandelt werden. Langfristig
entscheidend aber ist, dass die Erkenntnisse aus den
Daten nun in der gesamten Subsahara­Region genutzt
werden und so eine große Zahl erkrankter Menschen
davon profitieren können. Zu diesem Zweck wurden
Workshops zu Prävention und Kontrolle von Infektio­
nen in Krankenhäusern veranstaltet und darauf auf­
bauend Train­the­Trainer­Schulungen durchgeführt.

   ANDEMIA

   ANDEMIA, das Afrikanische Netzwerk für verbes­
   serte Diagnostik, Epidemiologie und Management
   häufig vorkommender Infektionskrankheiten,              Dr. Grit Schubert
   widmet sich der Bekämpfung von Krankheiten
   der Atemwege, des Verdauungstraktes, akutem
                                                           Langfristig Nutzen und Kooperation gesichert
   Fieber unbekannten Ursprungs sowie der Ausbrei­
                                                           Die Kooperation zwischen Forschenden aus Deutsch­
   tung multiresistenter Keime in Subsahara-Afrika.
                                                           land und Ländern Subsahara­Afrikas hört damit
   Dazu kooperieren Forschende des deutschen
                                                           nicht auf. So wird beispielsweise in Bouaké, einer
   Robert Koch-Instituts (RKI) mit Forschungsteams
                                                           Stadt in der Republik Elfenbeinküste, ein modernes
   aus Elfenbeinküste, Burkina Faso, DR Kongo
                                                           molekularbiologisches Labor aufgebaut. Dort soll
   und Südafrika. Profitieren werden zum einen die
                                                           unter anderem untersucht werden, welche Rolle Tiere
   betroffenen Patientinnen und Patienten in Subsa­
                                                           als Krankheitswirt und ­überträger spielen. Dies
   hara-Afrika. Zum anderen werden die erhobenen
                                                           geschieht in enger Zusammenarbeit mit dem jüngst
   Daten Auskunft geben über die Rolle dieser Region
                                                           gegründeten Helmholtz­Institut für One Health
   bei Übertragung und weltweiter Verbreitung von
                                                           (HIOH) in Greifswald. Dessen Leitung hat Professor
   Erregern. Das Bundesministerium für Bildung und
                                                           Dr. Fabian Leendertz übernommen, sodass die opti­
   Forschung (BMBF) fördert ANDEMIA seit 2017
                                                           male Nutzung und Weiterentwicklung der Erkennt­
   mit insgesamt 1,8 Millionen Euro. Es ist Teil der
                                                           nisse aus dem ANDEMIA­Projekt gesichert sind.
   Fördermaßnahme „Forschungsnetzwerke für
   Gesundheitsinnovationen in Subsahara-Afrika“.
                                                           Originalpublikation
                                                           Schubert, G., Achi, V., Ahuka, S. et al. (2021). The Afri­
                                                           can Network for Improved Diagnostics, Epidemiology
Erste konkrete Erfolge bei Krankheitsausbrüchen            and Management of common infectious Agents. BMC
von Ebola und SARS-CoV-2                                   Infect Dis 21, 539. DOI: 10.1186/s12879-021-06238-w
Die Kombination aus Datenerhebung, Forschung und
Ausbildung hat ganz unmittelbare Erfolge erbracht.
„Damit konnten wir zum einen schnell akute Krank­          Ansprechpartnerin:
heitsausbrüche erkennen und entsprechend reagie­           Dr. Grit Schubert
ren – das waren konkret Ebola in der Demokratischen        Zentrum für Internationalen Gesundheitsschutz:
Republik Kongo sowie COVID­19. Aufgrund der ge­            Public Health­Laborunterstützung
leisteten Aus­ und Fortbildung von wissenschaftli­         Robert Koch­Institut (RKI)
chem und technischem Personal vor Ort stand zum            Nordufer 20
anderen kompetentes Personal für die Diagnostik und        13353 Berlin
Aufklärung der Krankheitsausbrüche zur Verfügung           Tel.: 030 18754­4491
und war somit im Fall von COVID­19 unmittelbar an          E­Mail: schubertG@rki.de
der Pandemiereaktion beteiligt“, berichtet Schubert.
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                                                         11

Neuer Wirkstoff soll Therapie von Alkoholsucht
deutlich verbessern
Rückfälle zu verhindern ist ein Ziel der Therapie von Alkoholsucht. Dabei können auch Medikamente helfen. Doch
bisher schlagen diese nur bei wenigen Betroffenen an. Ein Forschungsteam will das ändern – und hat schon neue
Wirkstoffkandidaten im Blick.

Alkoholsucht ist ein weitverbreitetes Problem. In                           zur Einsicht gelangen, dass sie Hilfe brauchen, und
Europa sind schätzungsweise 23 Millionen Menschen                           anschließend ihre Scham überwinden, um diese auch
alkoholabhängig. Die Folgen für die Lebensqualität                          in Anspruch zu nehmen. Doch wenn der erste Schritt
und Gesundheit der Betroffenen sind verheerend.                             getan ist, gibt es noch zahlreiche weitere Herausforde­
Es leidet nicht nur die Leber; wissenschaftliche                            rungen. „Spezielle Therapieeinrichtungen sind häufig
Studien zeigen, dass viele Krankheiten bei Alkohol­                         überfüllt. Wir gehen von einer riesigen Behand­
sucht gehäuft auftreten. Dazu zählen unter anderem                          lungslücke aus. Nur rund 20 Prozent der Betroffenen
Diabetes und verschiedene Krebserkrankungen.                                werden erreicht“, sagt Professor Dr. Rainer Spanagel
Allein in Deutschland sterben jeden Tag mehr als                            vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in
200 Menschen an den Folgen von übermäßigem                                  Mannheim. Der Suchtforscher und sein Team suchen
Alkoholkonsum.                                                              daher nach einem Wirkstoff, mit dem Alkoholabhän­
                                                                            gigkeit auch außerhalb einer Spezialklinik, bei Bedarf
Die erste Hürde auf dem Weg zur erfolgreichen                               noch begleitet durch eine ambulante Psychotherapie,
Therapie einer Alkoholsucht sind häufig die Patien­                         erfolgreich und vor allem nachhaltig behandelt wer­
tinnen und Patienten selbst. Sie müssen zunächst                            den kann. Das Bundesministerium für Bildung und

Mit dem Trinken endgültig aufzuhören, ist für viele Suchtkranke ein langer Weg. Ein Forschungsteam hat einen neuen Wirkstoff entdeckt, der die
Rückfallquote deutlich senken könnte.
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                       12

Forschung (BMBF) unterstützt das Projekt im Rahmen         Allerdings führen die Wissenschaftlerinnen und
des Forschungs­ und Förderkonzeptes „e:Med: Maß­           Wissenschaftler den durchschlagenden Erfolg dieses
nahmen zur Etablierung der Systemmedizin“ mit              neuen Präparats nicht in erster Linie auf dessen Bin­
rund 1,5 Millionen Euro.                                   dung an den Oxytocin­Rezeptor zurück. „Wir haben
                                                           vielmehr herausgefunden, dass die Substanz zusätz­
Rückfall-Modell für individuelle Prognosen                 lich sehr stark auf einen anderen Rezeptor im Gehirn
Das Hauptziel der Therapie ist es, Rückfälle zu vermei­    wirkt, der in Bezug auf Suchterkrankungen bisher
den. Auf dem deutschen Markt stehen hierfür bereits        noch nie in der Diskussion war“, sagt Spanagel. Dieser
drei Medikamente zur Verfügung. „Diese sind jedoch         Rezeptor sei an der Regulation des Wasserhaushalts
oft nur begrenzt wirksam und unterscheiden sich je         im Körper beteiligt. „Sie können als Suchtkranker
nach Patient stark in ihrer Wirkung“, erklärt Spanagel.    zwei Liter Wasser trinken, um das Verlangen nach
So würden die bisherigen Wirkstoffe lediglich bei ein      Alkohol kurzzeitig zu unterdrücken“, erklärt Spanagel.
bis zwei von insgesamt zehn Betroffenen anschlagen.        „Diesen Effekt könnten wir medikamentös hervor­
„Es ist daher dringend notwendig, möglichst schnell        rufen, und das auch noch mit tagelanger Wirkung.“
neue und bessere Medikamente zur Behandlung von
Alkoholabhängigen zu finden“, betont Spanagel.             Verkürzte Zulassung dank erprobter Wirkstoffe
                                                           Der neue Ansatzpunkt der Forschenden hat für Spa­
Ein Grund für die geringe Wirksamkeit der bishe­           nagel zwei Vorteile: „Wir gehen davon aus, dass wir
rigen Medikamente ist die große Heterogenität der          eine wesentlich höhere Erfolgsquote erzielen werden,
Patientinnen und Patienten. Nicht nur die genetische       da dieser Rezeptor physiologische Prozesse im Kör­
Ausstattung jedes Betroffenen sei unterschiedlich,         per steuert. Hier ist die individuelle Vielfalt längst
sondern auch die individuellen Lebensumstände, die         nicht so groß wie bei neurobiologischen Prozessen“,
die Genaktivität beeinflussen könnten, so Spanagel.        so der Wissenschaftler. Zudem gibt es bereits auf dem
Die Wissenschaft spricht in diesem Zusammenhang            Markt eine Reihe von lang erprobten Medikamenten,
von epigenetischen Faktoren, die entscheidend für          die auf genau diesen Rezeptor wirken. Derzeit ist das
den Erfolg einer Therapie sein können. Im Rahmen           Team dabei, diese Substanzen im computergestützten
des Projekts entwickeln die Forschenden daher ein          Rückfall­Modell auf den Prüfstand zu stellen. Sobald
computergestütztes Rückfall­Modell. Auf Basis der          sich der Erfolg hier wiederholen lässt, könnten die
Daten aus den aktuellen und aus früheren Studien           Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die klini­
soll dieses Tool künftig im klinischen Alltag die indi­    schen Studien anstoßen. „Mit einem bereits erprobten
viduelle Rückfallwahrscheinlichkeit jedes einzelnen        Wirkstoff nehmen wir bei der Zulassung eine Abkür­
Alkoholabhängigen bestimmen und vorhersagen                zung, indem wir uns etwa die toxikologische Prü­
können, ob eine medikamentöse Therapie bei ihr oder        fung sparen können“, so Spanagel. „Das Medikament
ihm anschlägt.                                             könnte schon in fünf Jahren bei der Behandlung von
                                                           Alkoholkranken zum Einsatz kommen.“
Völlig neuer Ansatzpunkt
Als aussichtsreichen Wirkstoffkandidaten für die
Behandlung von Alkoholsucht hatten Spanagel und
sein Team zunächst Oxytocin im Blick, ein körper­
eigenes Hormon, das bislang vor allem als wehen­
förderndes Medikament in der Geburtsmedizin zum
Einsatz kommt. Das sogenannte Bindungshormon
wirkt direkt auf das Belohnungssystem im Gehirn            Ansprechpartner:
und hilft unter anderem dabei, Stress und Angst abzu­      Prof. Dr. Rainer Spanagel
bauen − Eigenschaften, die viele Menschen auch dem         ZI – Institut für Psychopharmakologie
Alkohol zuschreiben. In präklinischen Studien konnte       Hans­Meerwein­Straße 6
das Forschungsteam jedoch bei der Anwendung von            68159 Mannheim
Oxytocin­Sprays zunächst nur einen geringen Effekt         Tel.: 0621 1703­6251
beobachten. Erst ein neu hergestelltes Präparat mit        E­Mail: rainer.spanagel@zi-mannheim.de
einer Oxytocin­ähnlichen Substanz brachte den              www.zi-mannheim.de
Durchbruch.
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                         13

Neues aus den Deutschen Zentren
der Gesundheitsforschung

Nasenhöhlenkrebs: KI ermöglicht Durchbruch
in der Diagnostik
                                Forschende des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK)
Deutsches Konsortium für        haben eine Methode entwickelt, um mithilfe von Künstlicher Intelligenz schwer
Translationale Krebsforschung
Kernzentrum Heidelberg
                                diagnostizierbare Nasenhöhlentumore zu klassifizieren.

Tumore in der Nasenhöhle und der Nasenneben­                 „Darauf basierend haben wir nun die DNA­Methy­
höhle beschränken sich zwar auf einen kleinen Raum,          lierungsmuster von fast 400 Tumoren in Nasen­ und
umfassen aber ein sehr breites Spektrum mit vielen           Nasennebenhöhle erfasst“, berichtet Capper. Dank
Tumorarten. Diese sind schwer zu diagnostizieren, da         einer umfangreichen internationalen Kooperation
sie oft kein spezifisches Muster oder Erscheinungs­          gelang es den Forschenden, eine so große Probenzahl
bild aufweisen. Besonders gilt dies für die sogenann­        zusammenzutragen, obwohl diese Tumore selten sind
ten sinunasalen undifferenzierten Karzinome oder             und insgesamt nur etwa vier Prozent aller bösartigen
kurz SNUCs.                                                  Tumoren im Kopf­Hals­Bereich ausmachen.

Nun ist es einem Team um Dr. Philipp Jurmeister und          Neuer Algorithmus und Anomalieerkennung
Professor Dr. Frederick Klauschen vom Pathologi­             für präzisere Ergebnisse
schen Institut der Ludwig­Maximilians­Universität            Für die Analyse der Methylierungsdaten entwickel­
München (LMU) sowie Professor Dr. David Capper von           ten die Forschenden in enger Kooperation mit der
der Charité – Universitätsmedizin Berlin gelungen,           Arbeitsgruppe Machine Learning von Professor
die Diagnostik entscheidend zu verbessern und diese          Dr. Klaus­Robert Müller an der Technischen Univer­
Tumore zuverlässig zu unterscheiden. Dazu arbeiten           sität Berlin und dem Berlin Institute for the Founda­
die Forschenden, die an den Partnerstandorten                tions of Learning and Data (BIFOLD) ein KI­Modell,
München und Berlin im Deutschen Konsortium für               das die Tumore verschiedenen Klassen zuordnet.
Translationale Krebsforschung (DKTK) vertreten sind,         „Methoden des maschinellen Lernens sind dabei auf­
mit einem Tool für Künstliche Intelligenz (KI), das die      grund der großen Datenmenge unerlässlich“, erklärt
Tumore auf der Basis chemischer DNA­Modifikatio­             Jurmeister. „Um tatsächlich Muster zu erkennen,
nen zuverlässig unterscheidet.                               mussten wir in unserer Studie mehrere Tausend
                                                             Methylierungspositionen auswerten.“
Chemische Modifikationen der DNA spielen bei der
Regulation der Genaktivität eine entscheidende Rolle.        Es gibt verschiedene Arten des maschinellen Lernens.
Dazu gehört auch die DNA­Methylierung, bei der DNA­          Je komplexer eine Fragestellung ist, desto größer
Bausteine mit einer zusätzlichen Methylgruppe verse­         sind die Datenmengen, die erforderlich sind, um den
hen werden. Bereits in früheren Studien konnten die          Algorithmus zu trainieren. In der aktuellen Studie
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen, dass        verwendeten die Forschenden zur Klassifikation der
das Methylierungsmuster des Erbguts für verschiedene         Nasen­ und Nasennebenhöhlentumoren anhand
Tumorarten spezifisch ist, weil es auf die Ursprungs­        der DNA­Methylierungsmuster ein sogenanntes
zelle des Tumors zurückgeführt werden kann.                  Support­Vector­Machine­Modell. Dieses kann mit den
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                                               14

Methylierungs-Array (vorn), das im Rahmen der aktuellen Studie genutzt wurde. Dahinter die bislang standardmäßig verwendete Methode:
Gewebeschnitte.

erhobenen Daten besser umgehen als Klassifikatoren,                       automatisch darauf hin, dass es sich bei der Tumor­
die einen Random Forest verwenden. Letztgenannte                          probe wahrscheinlich nicht um einen Tumor aus
gelten aktuell noch als Standard für die Analyse von                      der Nase oder Nasennebenhöhle handelt“, erläutert
Methylierungssignaturen und wurden von einem                              Jurmeister.
Team um David Capper bereits verwendet, um Hirn­
tumoren zu klassifizieren. „Der weiterentwickelte                         Vier Tumorgruppen mit unterschiedlicher
Algorithmus erkennt die komplexen Muster besser                           Prognose
und liefert dadurch robustere Ergebnisse“, berichtet                      Bei der Analyse innerhalb der Studie zeigte sich deut­
Jurmeister. „Alle Daten einer unabhängigen Vali­                          lich, dass die mit den bislang verfügbaren Methoden
dierungskohorte mit bekannter Diagnose konnten                            nicht unterscheidbaren SNUCs anhand ihres DNA­
fehlerfrei zugeordnet werden.“ Solche zuverlässigen                       Methylierungsmusters in vier Gruppen eingeteilt
Ergebnisse helfen in der Diagnostik, die Art des                          werden können. Die Forschenden konnten dies auch
Tumors möglichst eindeutig zu bestimmen.                                  anhand weiterer molekularer Eigenschaften bestäti­
                                                                          gen. Das betrifft sowohl das Proteinprofil als auch das
Eine besondere Neuerung besteht darin, dass der                           Vorkommen bestimmter Mutationen.
Algorithmus jetzt auch unbekannte Entitäten mit
abweichendem Methylierungsmuster erkennt. „Wir                            Diese Ergebnisse sind auch klinisch relevant, da die
sprechen dabei von Outlier Detection – einer Ano­                         Patientinnen und Patienten der vier unterschiedli­
malieerkennung“, sagt Jurmeister. Damit werden                            chen Gruppen verschiedene Prognosen haben. „Eine
Proben, bei denen das DNA­Methylierungsprofil von                         Gruppe beispielsweise verläuft überraschend gut,
dem der bekannten sinunasalen Tumoren abweicht,                           obwohl die Tumoren unter dem Mikroskop sehr
als „unbekannt“ detektiert. Der Vorteil daran ist, dass                   aggressiv aussehen“, sagt Klauschen. „Eine andere
die KI nicht die Signaturen Tausender verschiedener                       Gruppe dagegen hat eine schlechte Prognose.“ Auf der
Tumoren mittels riesiger Datenmengen unterscheiden                        Basis der molekularen Eigenschaften der Gruppen
lernen muss. „In der Praxis ist das wichtig, wenn zum                     könnten Forschende möglicherweise in Zukunft auch
Beispiel ein Darmtumor streut und eine Metastase im                       gezielte neue Therapieansätze entwickeln. In Mün­
Kopf­Hals­Bereich bildet. Der Algorithmus weist uns                       chen und Berlin wird der Algorithmus bereits in der
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                    15

experimentell­klinischen Diagnostik zur Klassifizie­
rung von SNUCs eingesetzt.

Um den Algorithmus weiter zu trainieren und allen
interessierten Forschungsgruppen zugänglich zu
machen, ist er als Open­Source­Software auf der
Website http://aimethylation.com/ verfügbar.

Originalpublikation:
Jurmeister, P., Glöß, S., Roller, R., et al. (2022). DNA
methylation­based classification of sinonasal tumors.
Nat Commun. 2022;13(1):7148. Published 2022 Nov 28.
DOI: 10.1038/s41467-022-34815-3

   Deutsches Konsortium für Translationale
   Krebsforschung (DKTK)

   Das Deutsche Konsortium für Translationale
                                                           Dr. med. Philipp Jurmeister
   Krebsforschung, kurz DKTK, ist eines von sechs
   Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung,
   die vom Bundesministerium für Bildung und
   Forschung (BMBF) und den Sitzländern geför­             Ansprechpartner:
   dert werden. Im DKTK bündeln Forscherinnen              Dr. med. Philipp Jurmeister
   und Forscher aus mehr als 20 universitären              Pathologisches Institut der LMU München
   und außeruniversitären Einrichtungen in ganz            Thalkirchner Straße 38
   Deutschland ihre Kräfte im Kampf gegen Krebs­           80336 München
   erkrankungen, um möglichst rasch Ergebnisse             Tel.: 089 2180­73680
   der Grundlagenforschung in neue Ansätze zur             E­Mail: Philipp.Jurmeister@med.uni-muenchen.de
   Prävention, Diagnostik und Behandlung von
   Krebserkrankungen zu übertragen. Das Deutsche           Pressekontakt:
   Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg             Dr. Nadine Ogrissek
   verbindet sich im DKTK als Kernzentrum lang­            Deutsches Konsortium für Translationale
   fristig mit onkologisch besonders ausgewiesenen         Krebsforschung (DKTK)
   universitätsmedizinischen Einrichtungen an den          Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
   sieben Partnerstandorten Berlin, Dresden, Essen/        Stiftung des öffentlichen Rechts
   Düsseldorf, Frankfurt/Mainz, Freiburg, München          Im Neuenheimer Feld 280
   und Tübingen.                                           69120 Heidelberg
   Weitere Informationen über das DKTK gibt es             Tel.: 06221 42­1646
   unter www.dktk.org.                                     E­Mail: nadine.ogrissek@dkfz.de
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                                      16

In Sicht: Eine therapeutische Impfung
gegen Hepatitis B
                            Ein therapeutischer Impfstoff zur Heilung der chronischen Hepatitis B könnte weltweit
                            die Rettung für 300 Millionen Betroffene sein. Hoffnung macht ein Impfstoff des
                            Forschungsteams um Professorin Dr. Ulrike Protzer, der 2023 klinisch getestet werden soll.

Etwa drei Prozent der Weltbevölkerung sind chro­                         Protzer, die im Deutschen Zentrum für Infektions­
nisch mit dem Hepatitis­B­Virus (HBV) infiziert,                         forschung (DZIF) den Forschungsbereich „Hepatitis“
nur jeder zehnte Mensch weiß von der Gefahr, die in                      koordiniert. Unter dem Label TherVacB erhält der
seinem Körper lauert. Denn eine HBV­Infektion kann                       Impfstoff europaweite Förderung für die klinische
Leberzirrhose und Leberkrebs auslösen und wird                           Entwicklung.
oft viel zu spät erkannt. Mit den derzeitigen Behand­
lungen wird nur selten eine Heilung der Patientinnen                     TherVacB: Der Ansatz
und Patienten erreicht. Ein Forschungsteam bei                           Bei einer chronischen HBV­Infektion kann das
Helmholtz Munich und an der Technischen Univer­                          Immunsystem der Patientinnen und Patienten das
sität München entwickelt einen therapeutischen                           Virus nicht mehr effektiv bekämpfen: Die zustän­
Impfstoff, dessen Wirkprinzip in aktuellen Studien                       digen Abwehrzellen – B­ und T­Zellen – arbeiten
bestätigt wurde. Die Forschenden fanden heraus, dass                     nicht mehr in ausreichendem Maße. „Wir glauben
in der Leber gebildete Virusproteine die körpereigene                    daher, dass eine gleichzeitige Aktivierung von B­
Abwehr hemmen und so eine effektive Kontrolle                            sowie CD4­ und CD8­T­Zellantworten notwendig
des Virus verhindern; der von ihnen entwickelte                          ist, um eine Immunkontrolle von HBV zu erreichen“,
neuartige therapeutische Impfstoff soll diese                            erklärt Protzer. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde
Hemmung überkommen und die Immunabwehr                                   TherVacB entwickelt: ein neuartiger heterologer
ankurbeln, um so eine Heilung zu ermöglichen.                            Prime­Boost­Impfstoff, der auf alle relevanten
Das Projekt wird geleitet von Professorin Dr. Ulrike                     HBV­Genotypen abzielt und dadurch das Potenzial

Cryo-elektronenmikroskopische Strukturrekonstruktion eines Hepatitis-B-Virus-Core-Capsids.
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                       17

hat, eine chronische HBV­Infektion bei mehr als
95 Prozent der Menschen weltweit zu heilen, wenn er
sich in klinischen Studien bewährt.

Zunächst erfolgt eine zweimalige Grundimmuni­
sierung, bei der HBV­Proteine gespritzt werden, um
spezifische Helfer­T­Zellen und B­Zellen zu aktivieren.
Sie beginnen daraufhin mit der Produktion von neu­
tralisierenden Antikörpern, um eine weitere Ausbrei­
tung des Virus zu verhindern. Zudem werden durch
die Grundimmunisierung Helfer­T­Zellen aktiviert
und Effektor­T­Zellen aufgeweckt (Priming). Eine
weitere Impfung, ein Boost mit dem Vektor­Impfstoff
MVA­HBVac­Vektor, erfolgt vier Wochen nach der
zweiten Grundimmunisierung und bewirkt eine
breite und multifunktionale Effektor­T­Zell­Antwort,
die schließlich das Virus eliminieren soll.

   Was Sie über Hepatitis B wissen sollten
                                                           Prof. Dr. Ulrike Protzer

   HBV wird durch Blut-Blut-Kontakt, durch sexuelle
   Kontakte oder direkt von der Mutter auf ihr             Neueste Ergebnisse
   Kind bei der Geburt übertragen. Letzteres ist           Dass man bei der Entwicklung eines effektiven Impf­
   der häufigste Übertragungsweg, der zu einer             stoffes zahlreiche Hürden überwinden muss und an
   chronischen Infektion führt, die jahrzehntelang         vielen Details scheitern kann, zeigt sich schon daran,
   unerkannt bleibt.                                       dass in den letzten zwei Jahrzehnten trotz zahlrei­
   Jugendliche und Erwachsene, die nicht geimpft           cher Versuche kein wirksamer Impfstoffkandidat
   sind, können sich bei ungeschütztem Sexual­             eine antivirale Wirksamkeit bei Hepatitis­B­Patienten
   kontakt oder durch kontaminierte Blutprodukte           und ­Patientinnen gezeigt hat. Dies unterstreicht die
   oder Instrumente anstecken, zum Beispiel beim           Notwendigkeit, die für eine erfolgreiche therapeuti­
   Tätowieren, oder durch Drogenmissbrauch mit             sche Impfung wesentlichen Faktoren zu entschlüsseln
   kontaminierten Spritzen und Zubehör.                    und sie durch ein rationales Impfstoffdesign gezielt
   Chronische HBV-Träger sind sich ihrer tödlichen         anzugehen.
   Krankheit oft lange Zeit nicht bewusst. Diejenigen,
   die Symptome entwickeln, leiden unter Müdigkeit,        Das Forschungsteam um Protzer konnte nun diese
   Appetitlosigkeit, Magenschmerzen, Übelkeit oder         entscheidenden Faktoren für TherVacB dingfest
   Gelbsucht.                                              machen. In einer aktuellen Studie fanden die For­
   Vorhandene Therapien verhindern nur die                 schenden heraus, dass der Erfolg ihrer therapeuti­
   Vermehrung des Virus, können die Infektion aber         schen Hepatitis­B­Impfung von einer effizienten
   nicht vollständig ausheilen. Solange infizierte         Aktivierung abhängt, dem Priming der HBV­spezi­
   Menschen keine schützende Immunantwort                  fischen CD4­Helfer­T­Zellen. CD4­T­Zellen sind
   bilden können, überlebt das Virus. Eine solche          eine bestimmte Gruppe von Lymphozyten, die das
   Immunantwort hoffen die Forschenden mit einer           CD4­Molekül auf ihrer Oberfläche tragen und die
   therapeutischen Impfung auslösen zu können.             Immunabwehr gegen fremde Krankheitserreger
   Generell aber gilt: Die vorbeugende Impfung             koordinieren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissen­
   gegen Hepatitis B ist noch immer der beste Schutz,      schaftler wiesen nach, dass es zu einem vollständigen
   da sie verhindert, dass überhaupt Viren in den          Verlust der durch TherVacB induzierten antiviralen
   Körper gelangen.                                        Wirksamkeit führt, wenn die CD4­T­Zellen in präkli­
                                                           nischen Mausmodellen entzogen wurden. Darüber
Aktuelle Ergebnisse der Gesundheitsforschung – März 2023                                                       18

hinaus ermöglichte die Anwendung einer optimalen           Und noch ein aktuelles Forschungsergebnis, das
Proteinimpfstoff­Formulierung während der Grund­           kürzlich veröffentlicht wurde, ist an Bedeutung nicht
immunisierung eine ordnungsgemäße Aktivierung              zu unterschätzen. Ein großes Problem besteht für
der Helfer­T­Zellen und legte den Grundstein für eine      viele Impfstoffe darin, dass der Impfstoff hitzestabil
Boost­Impfung zur Kontrolle der HBV­Infektion.             sein muss, um größere Kühlketten zu vermeiden. Für
                                                           dieses Problem hat das Team in München jüngst eine
 „Die Studie erklärt die Wirkung der einzelnen Impf­       Lösung gefunden: eine optimale Formulierung, die
stoffkomponenten und liefert den ersten direkten           alle Impfstoff­Komponenten stabilisiert und eine län­
Nachweis dafür, dass eine effiziente Aktivierung von       gerfristige Lagerung bei Raumtemperatur erlaubt.
HBV­spezifischen CD4­T­Zellen für die Einleitung der
Immunkontrolle von HBV unerlässlich ist“, erklärt          Das TherVacB­Forschungsteam ist zuversichtlich,
Dr. Anna Kosinska, DZIF­Postdoktorandin bei Helm­          dass die klinische Studie mit ihrem Vakzin Mitte 2023
holtz Munich. Sie bestimme auch, welche Komponen­          beginnen kann. Sie wird die Sicherheit und Verträg­
ten für eine erfolgreiche therapeutische Hepatitis­        lichkeit des Ansatzes bewerten und erste Wirksam­
B­Impfung erforderlich seien, und gebe wichtige            keitsdaten des therapeutischen Hepatitis­B­Impfstoff­
Einblicke in das datenbasierte und rationale Design        kandidaten bei chronischen Hepatitis­B­Patienten
von therapeutischen Impfstoffen für die dringend           und ­Patientinnen sammeln.
benötigte klinische Anwendung.

   Deutsches Zentrum für Infektions­
   forschung (DZIF)

   Im Deutschen Zentrum für Infektionsfor­
   schung (DZIF) entwickeln bundesweit mehr
   als 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
                                                           Ansprechpartner:
   aus 35 Institutionen gemeinsam neue Ansätze
                                                           Prof. Dr. med. Ulrike Protzer
   zur Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von
                                                           DZIF­Forschungsbereich „Hepatitis“
   Infektionskrankheiten. Das DZIF ist eines von
                                                           Helmholtz Munich und Technische Universität
   sechs Deutschen Zentren der Gesundheitsfor­
                                                           München
   schung (DZG), die vom Bundesministerium für
                                                           Tel.: 089 4140­6821
   Bildung und Forschung (BMBF) und den Sitz­
                                                           Fax: 089 4140­6823
   ländern zur Bekämpfung der wichtigsten Volks­
                                                           E­Mail: protzer@tum.de
   krankheiten gegründet wurden.
                                                           protzer@helmholtz-muenchen.de
   Weitere Informationen: www.dzif.de.

                                                           Pressekontakt:
                                                           Karola Neubert und Dr. Nicola Wittekindt
„Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung             Presse­ und Öffentlichkeitsarbeit
der Prime­Impfung, um das Immunsystem in die               Geschäftsstelle des DZIF e. V.
gewünschte Richtung zu lenken. Die Studie dient            Inhoffenstraße 7
somit der gezielten Verbesserung therapeutischer           38124 Braunschweig
Impfstoffe gegen die chronische Hepatitis B – und          Tel.: 0531 6181­1170 54
vielleicht auch gegen andere chronische oder bös­          E­Mail: presse@dzif.de
artige Krankheiten“, betont Protzer.
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