Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat: Das Gent-System

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Gewerkschaften und Wohlfahrtsstaat:
Das Gent-System
                                                                                                                                        Salvo Leonardi

Die meisten Gewerkschaften in den Industrieländern verzeichnen sinkende Mitgliederzahlen. Von bemerkenswerter Höhe und Stabi-
lität sind nur die Organisationsquoten der Gewerkschaften in den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden, Finnland und die
der Gewerkschaften in Belgien. Wie ist eine solche Entwicklung zu erklären? Die Experten verweisen in der Regel auf das spezifische
Versicherungssystem, das in diesen vier Ländern die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Falle der Erwerbslosigkeit schützt, das
Gent-System. Es verdankt seinen Namen der flämischen Kleinstadt Gent, wo es im Jahre 1901 eingeführt wurde. Das
System beruht auf einer gewerkschaftlichen Beteiligung an der Verwaltung der Arbeitslosenversicherung, einem grundlegenden Ins-
truments des Sozialstaates, das in dieser Form – wie der folgende Beitrag zeigt – in den meisten anderen industrialisierten Ländern un-
bekannt ist.

                                                                                                                 zieht. Das Modell bietet Leistungen mittle-

1
Die nordische „Anomalie“
                                                            2
                                                            Modelle und Typologien
                                                                                                                 ren Umfangs und stellt eine gewissermaßen
                                                                                                                 ergänzende staatliche Beteilung dar. Ähn-
                                                                                                                 lich wie in Frankreich zeigt auch das belgi-
                                                                                                                 sche Wohlfahrtssystem eine starke berufs-
Während in den vergangenen zwei Jahr-                       Bevor wir das Gent-System und seine Ver-             bezogene Untergliederung, zu der weitere
zehnten der gewerkschaftliche Organisati-                   bindung zu Gewerkschaften und Sozial-                Differenzierungselemente hinzukommen,
onsgrad in der industrialisierten Welt sich                 staat vorstellen, soll ein zusammenfassen-           die sowohl durch die Zweisprachigkeit als
durch Phasen schwerer Krisen verringert                     des Profil der sozialen Sicherungssysteme            auch durch den politisch-gewerkschaftli-
hat, gab es zugleich eine kleine Gruppe von                 und industriellen Beziehungen skizziert              chen Pluralismus bedingt sind: So verfügen
Ländern, in der die Gewerkschaften eine                     werden, die diese kleine Gruppe von Län-             beispielsweise Katholiken, Sozialisten und
gegenläufige Entwicklung verzeichnen                        dern kennzeichnen und differenzieren. Es             Liberale über eigene Kranken- und Invali-
konnten. Die Rede ist von Belgien, Schwe-                   sei vorab erwähnt, dass Schweden, Däne-              ditätsversicherungen.
den, Dänemark und Finnland. Trotz leich-                    mark und Finnland zwar einige starke                     Heute wendet Belgien für Sozialausga-
ter Schwankungen hat der Organisations-                     Ähnlichkeiten im Hinblick auf das Modell             ben eine Quote des Bruttoinlandsprodukts
grad der Gewerkschaften in diesen vier                      aufweisen, Belgien aber in der Regel inner-          (BIP) auf, die dem EU-Durchschnitt ent-
Ländern seine beachtliche Höhe beibehal-                    halb anderer typologischer „Cluster“ klas-           spricht – 27,5 % im Jahr 2001 – und stellt
ten, sogar im Verlauf der letzten 20 Jahre ei-              sifiziert wird, die anderen Systemen (kon-           für Arbeitslosigkeit mit etwa 14 % eine der
nen neuen und beträchtlichen Zuwachs er-                    tinentales System) näher stehen.                     höchsten Quoten in Europa (EU-Durch-
zielt – und dies ausgerechnet in einer Zeit,                                                                     schnitt: knapp über 8 %).
in der kaum ein anderes gewerkschaftliches                  2.1 DER WOHLFAHRTSSTAAT                                  Von völlig anderer Art ist das Welfare-
Organisationsmodell vom Verfall ver-                                                                             Modell in den skandinavischen Ländern.
schont blieb. Zwischen 1980 und 1998 stieg                  Auf dem Gebiet der Sozialversicherungs-              Ursprünglich mehr nach Beveridge als nach
der Anteil der Mitglieder der schwedischen                  systeme gehört Belgien ohne Einschrän-               Bismarck ausgerichtet, zielten diese Länder
Gewerkschaften von 78 % auf 88 % und in                     kung zu dem Modell, das die Literatur zu-            darauf ab, einen universalistischen und
Finnland von 69 % auf 79 %, während der                     weilen als Bismarck‘sches, kontinentales             ausgleichenden Sozialstaat zu gründen, der
Anteil in Dänemark bei etwa 77 % unver-                     Modell (Flora/Heidenheimer 1982), als                von Beschäftigung, Familie und Markt un-
ändert blieb; stabil blieben auch die Mit-                  profitables oder als Modell des industriel-
gliederzahlen in Belgien (ca. 54 %), wo                     len Ertrags (Titmuss 1969), konservativ-
1998 bis 2003 erneut ein geringes Wachs-                    korporativ (Esping-Andersen 1990) oder
                                                                                                                 1   Über das Thema ist die Literatur unendlich; unter
tum um einige Prozent einsetzte. Demge-                     als reines Beschäftigungsmodell1 bezeich-                den vielen Beiträgen s.: Flora/Heidenheimer 1982;
genüber fielen zur gleichen Zeit in Europa                  net hat: eine nicht zufällig kontinentale,               Alber 1988; Esping-Andersen 1990; Mishra 1990;
die Mitgliederzahlen der italienischen Ge-                  zwischen den Modellen – nämlich zwi-                     Ferrera/Rhodes 1993; Zeitlin/Trubeck 2003; Kor-
werkschaften unter die 40 %-Marke und                       schen dem liberalen Modell (dem Modell                   pi 1981.

die der deutschen, englischen und hollän-                   der angelsächsischen Länder) und dem so-
dischen Gewerkschaften unter 30 %; die                      zialdemokratischen (Korpi 1981) und all-
Mitgliederzahlen der spanischen Gewerk-                     umfassenden Modell der skandinavischen               Salvo Leonardi, Dr., Wissenschaftler am IRES
schaften sanken unter 20 %, die der fran-                   Länder – stehende Konstruktion. Es stützt            (Instituto di ricerche economiche e sociali)
zösischen sogar unter 10 % (Eiro 2004; Bo-                  sich auf ein System der Beitrags- und Leis-          in Rom. Arbeitsschwerpunkte: Industrielle
eri u.a. 2002; Waddington/Hoffman 2000;                     tungserbringung, das sich auf die abhängig           Beziehungen und Gewerkschaftsrecht.
Ebbinghaus/Visser 2000; Blascke 2000).                      Beschäftigten und nicht auf alle Bürger be-          e-mail: s.leonardi@ires.it

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                                                                                                                               WSI Mitteilungen 2/2006
                                                                                                                                                                 79
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 fältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffentlichung online oder offline) sind nicht gestattet.
abhängig war und auf das Bedürfnisprin-         Tabelle 1: Anzahl der Mitglieder in den belgischen Gewerkschaften –
zip und den „Volkswohlstand“ ausgerichtet       1993/2000
war. Als „reine“ universalistische Wohl-        Belgien                        1993                      1998                      2003                  1993/2003
fahrtsstaaten haben die skandinavischen                                                                                                                   – in % –
Systeme bereits seit den 1950er Jahren die      CSC                         1.616.000                 1.480.000                 1.637.000                 + 6,2 %
                                                FGTB                        1.109.000                 1.187.000                 1.201.000                 + 8,3 %
jetzigen Merkmale nach dem Prinzip über-
                                                CGSLB                         215.000                   217.000                   223.000                 + 3,7 %
nommen, der gesamten Bevölkerung glei-          Gesamt                      2.865.000                 3.013.000                 3.061.000                 + 6,8 %
che öffentliche Leistungen zu bieten. Als                                                                                                                 Hans Böckler
Aushängeschild der skandinavischen Sozi-        Quelle: EIRO, Trade union membership, 2004.                                                               Stiftung

aldemokratien stellt sich das skandinavi-
sche System der sozialen Sicherung dar, we-     Tabelle 2: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in den
gen seiner umfassenden Abdeckung der Ri-        skandinavischen Ländern 1980/1998 – in % – 1
siken wie auch der einbezogenen Bevölke-        Land                                1980                             1990                         1998
rung, wegen seiner steuer- und nicht            Schweden2                            78                               82                           88
beitragsbezogenen Finanzierung, wegen           Dänemark2                            78                               75                           76
Leistungen mit festen Sätzen, hoher Ausga-      Finnland2                            69                               73                           79
benquote und einem hohen Niveau der an-         Norwegen3                            55                               56                           55

gebotenen Dienste – also einer Rolle des        1) Kjellberg (2002) kommt zu niedrigeren Daten:
                                                Schweden: 78 (1980); 82 (1990); 81 (1998) ; 78 (2000)
Staates, die eher stellvertretend als ergän-    Dänemark: 75 (1980); 76 (1990); 76 (1998) ; 75 (2000)
                                                Finnland: 67 (1980); 72 (1990); 80 (1998) ; 78 (2000)
zend ist.                                       Norwegen: 57 (1980); 57 (1990); 55 (1998) ; Norwegen 53 (2000)
                                                2) Mit Gent-System
    Alle skandinavischen Länder mit Aus-        3) Ohne Gent-System
                                                                                                                                                          Hans Böckler
nahme Finnlands befinden sich mit ihren         Quelle: Boeri u.a. 2002.                                                                                  Stiftung

Sozialausgaben an der Spitze der interna-
tionalen Ranglisten: Der Anteil am BIP         ge Rolle. Die Schwelle zur Wahl von Be-                           Machtpositionen bei Mitbestimmung in
schwankt zwischen 29,8 % in Dänemark           triebsräten ist relativ hoch: 100 Beschäftig-                     den Betrieben.
und 31,3 % in Schweden. Finnland liegt         te (50 im Falle von Ausschüssen für Ge-                               Die Gewerkschaften sind nach Berufen
hingegen mit einer Quote, die fast iden-       sundheitsschutz, Arbeitssicherheit und                            mit dem nunmehr charakteristischen Un-
tisch mit der italienischen Quote von          Arbeitsbedingungen). Der Staat übt ein                            terschied zwischen Gewerkschaften der
25,8 % ist, unterhalb des EU-15-Durch-         wesentliches Aufsichtsrecht über die Tarif-                       blue collars und der white collars organi-
schnitts (Eurostat 2004). Dabei schwanken      verhandlungen aus, deren allgemeinver-                            siert. Erstere – die berühmten LO – waren
die Leistungen für Arbeitslose zwischen ca.    bindliche Anwendung (erga omnes) er ver-                          lange Zeit die Stütze der Mitgliedervertre-
10 % in Schweden und 14 % in Finnland.2        waltungsmäßig gewährleistet. Dies garan-                          tung, obwohl sich ihre Stellung in der letz-
Die bekannte Großzügigkeit der skandina-       tiert ein nahezu vollständiges, in Europa                         ten Zeit zu Gunsten der Angestelltenge-
vischen Sozialsicherungssysteme beruht         absolut einmaliges Deckungsniveau von                             werkschaften und der Berufsverbände ab-
zum großen Teil auf der allgemeinen            98 % (Ebbinghaus/Visser 2000). Das tri-                           geschwächt hat, insbesondere zu Gunsten
Steuererhebung, die zu den höchsten welt-      partistische System wird unterschiedlich                          der Beschäftigten im öffentlichen Sozial-
weit gehört, und durch Sozialabgaben er-       praktiziert und hat sich im Laufe der letz-                       system. In Schweden hat heute die Gewerk-
gänzt wird, die zwischen den Arbeitneh-        ten Jahre durch Sozialpakte mit dem Zweck                         schaft des öffentlichen Sektors, Kommu-
mern und – zum größeren Teil – den Un-         manifestiert, Zielvorgaben für die Einkom-                        nal, die Gewerkschaft Metall überholt. Der
ternehmen aufgeteilt sind.                     menspolitik zu erreichen. Insgesamt wird                          Anteil der beschäftigten Frauen, die der Ge-
                                               das belgische Modell der industriellen Be-                        werkschaft (84 %) angehören, ist höher als
2.2 INDUSTRIELLE BEZIEHUNGEN                   ziehungen als durchschnittlich zentralis-                         die Zahl der männlichen Kollegen (79 %);
                                               tisch eingestuft, da es nicht zu den neo-                         im öffentlichen Sektor ist dies mit 92 %
Nicht weniger ausgeprägt sind die Unter-       korporativen Staaten, aber auch nicht zu                          ausgeprägter als im Privatsektor (80 %)3
schiede auf der Ebene der industriellen Be-    den Ländern zählt, die durch ein pluralisti-                      (Tabelle 3). Das Verhältnis zwischen öffent-
ziehungen, die Belgien von den skandina-       sches und konfliktreiches System mit einer                        lichen und privaten Beschäftigten ist hin-
vischen Ländern unterscheiden. In Belgien      marginalen Rolle des Staates regiert wer-                         sichtlich der gewerkschaftlichen Beziehun-
ist das gewerkschaftliche Spektrum durch       den.                                                              gen im Norden als durchaus kritisch zu be-
eine grundsätzliche gewerkschaftliche Bi-          Die skandinavischen Länder stellen                            zeichnen (Esping-Andersen 1992), was auf
polarität zwischen dem mehrheitlich ka-        hingegen ein typisches Beispiel für ein neo-                      eine immer ausgeprägtere geschlechtspezi-
tholischen Bund CSC und dem sozialisti-        korporatives System dar. Dies bedeutet: Al-
schen Bund FGTB gekennzeichnet, hinzu          leinvertretung der gewerkschaftlichen Mit-
kommt noch die kleine liberale Organisa-       gliederinteressen und hoher Organisati-
                                                                                                                 2   Abweichend ist hier Norwegen, das nur 5–6 % be-
tion CGSLB (Van Guys 2000; Bouquin             onsgrad, Zentralisierung der Tarifpolitik                             reitstellt, allerdings aufgrund seiner minimalen Ar-
2002).                                         (höher in Schweden, niedriger in Däne-                                beitslosenquote.
    Die Tarifverhandlungen finden in Bel-      mark), feste Bindungen zwischen Interes-                          3   Hier einige Daten über die Mitglieder in den
                                                                                                                     schwedischen Gewerkschaften. TCO: 1.276.027.
gien hauptsächlich auf sektoraler Ebene        senvertretungen und politischen Parteien,
                                                                                                                     LO: 1.918.800, davon 589.493 (Frauen: 475.059)
statt. Betriebliche Tarifverhandlungen –       Orientierung an Zusammenarbeit zwi-                                   bei Kommunal; Metall: 389.468 (Frauen: 83.178),
obwohl sie zunehmen – spielen eine gerin-      schen den Parteien, gewerkschaftliche                                 (SCB 2002).

80        WSI Mitteilungen 2/2006
Tabelle 3: Geschlechtsspezifi-                 Tabelle 4: Geschlechtsspezifi-                 haben sie in der öffentlich finanzierten ge-
 sche Zusammensetzung der                       sche Zusammensetzung der                       werkschaftlichen Verwaltung der Arbeits-
 skandinavischen Arbeiter-                      skandinavischen Angestellten                   losenversicherung eine eigentümliche Ge-
 Gewerkschaften – 2003                          Gewerkschaften – 2003                          meinsamkeit, nämlich die Überschneidung
 Gewerkschaften        Frauen     Männer        Gewerkschaften         Frauen    Männer        der beiden Bereiche Sozialstaat und indus-
 Blue Collars                                   White Collars
                                                                                               trielle Beziehungen: das Gent-System.
 LO – Schweden          46,0       54,0         TCO – Schweden          62,4       37,6
                                                                                                    Im Gegensatz zur Mehrzahl der Länder,
 LO – Dänemark          48,6       51,4         FTF – Dänemark          66,9       33,1
 SAK – Finnland         46,0       54,0         STTK – Finnland         68,0       32,0
                                                                                               bei denen die Mitgliedschaft in einer Versi-
                                Hans Böckler                                    Hans Böckler
                                                                                               cherung mit öffentlichen Trägern, oft unter
 Quelle: EIRO 2004.             Stiftung        Quelle: EIRO 2004.              Stiftung       Beteiligung der Sozialpartner, verpflich-
                                                                                               tend ist, stellt das Gent-System eine Ein-
fische Differenzierung zwischen Frauen         der Organisation unternehmenseigener            richtung auf der Basis freiwilliger Mit-
und Männern bezüglich der jeweiligen Be-       Dienstleistungen. Die betriebliche Interes-     gliedschaft dar, finanziell unterstützt vom
dürfnisse und ihrer Vertretung (Hernes         senvertretung ist monistisch, das heißt, mit    Staat und nur in geringem Maße von Mit-
1987) zurückzuführen ist.                      Delegierten aus den Gewerkschaftsorgani-        gliedsbeiträgen, das von gewerkschaftli-
     Schwerpunkt des Tarifsystems in Skan-     sationen organisiert.                           chen Fonds verwaltet wird. In der ersten
dinavien ist nach wie vor der Produktions-         Die Rolle des Staates bei den indus-        Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand überall
sektor, jedoch hat sich in diesen Jahren die   triellen Beziehungen war traditionell in        die Tendenz, nach den ersten Erfahrungen
zunehmende Dezentralisierung des Ver-          Schweden und Finnland höher als in Dä-          die sozialen Sicherungsmaßnahmen in ob-
handlungssystems zu einem wichtigen            nemark. Bereits seit den 1930er Jahren exis-    ligatorische Regelungen umzuwandeln, de-
Faktor der Veränderung entwickelt. Dies        tiert eine alte Tradition von Vereinbarun-      ren Kontrolle vom Staat und seinen spezia-
betrifft insbesondere Schweden, wo die         gen zwischen verschiedenen Verbänden,           lisierten Trägern direkt übernommen wur-
charakteristische Zentralisierung der Tarif-   auf die sich die nordischen Systeme der in-     de. Was zum Beispiel die Arbeitslosigkeit
beziehungen historisch stärker war (Ste-       dustriellen Beziehungen viele Jahrzehnte        anbelangt, wurde die Versicherungsrege-
phens 1998) – ein Trend, der den kürzlich      gestützt haben. In der zweiten Hälfte der       lung im Laufe der ersten zwei Jahrzehnte
verstorbenen Rudolf Meidner, Vater der         1970er Jahre ist dieses Modell, das – einzig-   des vorigen Jahrhunderts in Ländern wie
skandinavischen Sozialdemokratie und           artig in den westlichen Ländern – in der La-    Großbritannien, Deutschland oder Öster-
Verfasser des bekannten Projekts über die      ge war, die politische Macht der Sozialde-      reich obligatorisch. In Frankreich erfolgt
Wirtschaftsdemokratie in den 1970er Jah-       mokratie mit der sozialen Macht der Ge-         die Verwaltung nach paritätischem Muster.
ren, zu der Schlussfolgerung veranlasst hat-   werkschaften fast ein halbes Jahrhundert        In Italien gehören die Sozialpartner zum
te, dass heute in den industriellen Bezie-     meisterhaft und dauerhaft zu vereinen, in       Aufsichtsrat des Instituto Nazionale della
hungen von einem „schwedischen Modell“         die Krise geraten. Das jüngste Beispiel war     Previdenza Sociale (Inps), das als öffentli-
nicht mehr die Rede sein darf.                 im Frühling 1998, als Dänemark – unter          cher Träger auch die Arbeitslosenversiche-
     In Finnland und Norwegen ist das          sozialdemokratischer Führung – einen der        rung verwaltet. Selbstständige bilaterale
System insgesamt zentralistischer geblie-      längsten und härtesten Streiks seiner Ge-       Träger verwalten hingegen die Versiche-
ben, während man in Dänemark – wie be-         schichte erlebte. Auf der Tagung der LO im      rung im Handwerksbereich (Leonardi
reits erwähnt – eine ausgeprägte „Sektora-     Jahre 2002 wurde eine historische Tren-         2005). Am längsten beibehalten wurde das
lisierung” der Verhandlungen mit starken       nung beschlossen: Nach mehr als 100 Jah-        Gent-System einerseits in Skandinavien
Anstößen in Richtung Betriebsebene zu          ren beendete der Gewerkschaftsdachver-          und andererseits in Belgien und Holland.
verzeichnen hatte.                             band jede finanzielle Unterstützung für die     In jeder dieser beiden Ländergruppen wur-
     In Schweden und Dänemark (und Nor-        sozialdemokratische Partei und beschloss        de das Gent-System zum Teil abgeschafft,
wegen) gibt es keine staatliche Erweiterung    formell, sich als völlig autonomer Akteur       wobei sich Norwegen im Jahre 1938 und
der Tarifbindung; jedoch war der sehr ho-      auf der sozialen und politischen Bühne          Holland im Jahre 1952 gegen das Gent-
he Organisationsgrad bei den Gewerk-           durchzusetzen (Jorgensen 2003). Ähnli-          und für das Pflichtsystem entschieden. Es
schaften ausreichend genug, um die An-         ches ereignete sich zur selben Zeit zwischen    blieben mithin Belgien und vier nordische
wendung der Verträge faktisch erga omnes       einigen wichtigen englischen Gewerkschaf-       Staaten (mit Island, jedoch ohne Norwe-
durchzusetzen: Nach zuverlässigen Ein-         ten unter radikaler Führung und der New         gen).
schätzungen liegt die Tarifabdeckung bei       Labour unter Tony Blair.                             Seit 1945 hat der Staat in Belgien for-
rund 80 % der Beschäftigten. Finnland hin-                                                     mell die Aufsicht über die Arbeitslosenver-
gegen wendet formell das System der All-                                                       sicherung übernommen, wobei aber die
gemeinverbindlichkeit (erga omnes) an,
und seine Deckungsquote schnellte ent-
sprechend hoch auf bis zu 95 %. Die Ver-
                                               3
                                               Die Arbeitslosen-
                                                                                               Gewerkschaft auf der Grundlage eines im
                                                                                               Jahr zuvor unterzeichneten Sozialpaktes
                                                                                               die direkte Verwaltung dieser Dienstleis-
handlungen zwischen den Tarifparteien          versicherung                                    tung mit öffentlichen Zuschüssen behält.
auf Betriebsebene sind in Dänemark aus-                                                             In den skandinavischen Ländern sind
geprägter als in Schweden, allerdings          Obwohl sich die belgischen und skandina-        Fonds für die Verwaltung der Versicherung
genießen die Arbeitnehmervertreter in          vischen Erfahrungen sowohl auf Sozial-          zuständig. In Dänemark gilt das Gent-Sys-
beiden Fällen in den Betrieben solide Son-     staatsebene als auch auf der Ebene der in-      tem seit 1933. Es wird zurzeit durch 36 Pri-
derrechte bei der Arbeitsorganisation und      dustriellen Beziehungen unterscheiden,          vatfonds unter gewerkschaftlicher Führung

                                                                                                          WSI Mitteilungen 2/2006
                                                                                                                                       81
verwaltet und auf Branchenebene, jedoch        trolle der korrekten Verwaltung durch ein       dauer in Anspruch genommen haben, oh-
mit einheitlichen Verwaltungsregelungen,       dafür zuständiges nationales Organ, das die     ne eine Stelle gefunden zu haben. In diesen
organisiert. Durch eine eigene Generaldi-      Arbeitsmarktpolitik leitet (AMT). Die Ein-      Fällen besteht die Möglichkeit, eine öffent-
rektion übt das Arbeitsministerium die         zelbeiträge bewegen sich zwischen 6 % des       liche Grundunterstützung zu bekommen
Aufsicht über die Gesamtfunktion des Sys-      Arbeitseinkommens in Finnland und 20 %          (seit 1998 unter der Bezeichnung Grund-
tems aus. Die Fonds werden durch freiwil-      in Dänemark (Clasen u.a. 2001). Der Rest        försäkring). Diese betrifft in der Regel ent-
lige Beiträge aller Arbeitnehmer, vor allem    wird durch das allgemeine Steuersystem fi-      weder solche Arbeitnehmer, die der Auf-
aber durch staatliche Zuschüsse des allge-     nanziert. Zusätzlich zur Arbeitslosenversi-     fassung sind, ohne Versicherungen und Ge-
meinen Steueraufkommens, unterhalten.          cherung verfügen die skandinavischen Ar-        werkschaften auskommen zu können, oder
Voraussetzung für die Inanspruchnahme          beitnehmer über weitere und ergiebige, ta-      die schwierigsten Fälle von sozialer Aus-
von Unterstützungsleistungen ist die Ein-      rifvertraglich abgesicherte Leistungen im       grenzung. Ein neuer unabhängiger Versi-
tragung des Erwerbstätigen in einen Fonds      Falle von Krankheit und Alter sowie über        cherungsfonds (Alfa Fonds) wurde für die
seit mindestens 12 Monaten und eine Be-        Lebensversicherungen. In Schweden belau-        Versicherung aller Arbeitslosen vorgese-
schäftigungsdauer von mindestens 52 Wo-        fen sich diese Posten auf einen Beitrag von     hen, die in keinem der anderen 38 Fonds
chen während dreier Jahre. Darüber hinaus      3,18 % für die Zusatzrente, 0,4 % für Inva-     angemeldet sind. Er unterscheidet sich von
muss der Versicherte zum Beweis, dass er       lidität und Krankheit, 0,54 % für Lebens-       allen anderen Fonds dadurch, dass die von
sich aktiv um Arbeit bemüht, beim Arbeits-     versicherung und 0,2 % für zusätzliche Al-      ihm bereitgestellten Leistungen durch ei-
amt registriert sein. Die Höhe der Unter-      tersvorsorge.                                   nen Festbetrag und nicht nach der Höhe
stützung hängt vom zuletzt bezogenen Ar-            Wer sich für die Mitgliedschaft in einer   des vorangegangenen Einkommens des
beitseinkommen ab. Ein dänischer Arbeits-      Gewerkschaft entscheidet, wird automa-          Hilfebedürftigen gekennzeichnet sind. Die-
loser bezieht pro Tag durchschnittlich 525     tisch in einen Versicherungsfonds gegen         se Summe ist hoch genug, um dem Staat zu
Kronen (ca. 70 €) oder pro Woche 2.625         Arbeitslosigkeit eingetragen. In Schweden       ermöglichen, auch von den Unterstüt-
Kronen (knapp 400 €), wobei die Ober-          beginnt der Anspruch auf Leistungen 12          zungsempfängern während Zeiten von Ar-
grenze bei 90 % des letzten Einkommens         Monate nach Eintritt in die Gewerkschaft        beitslosigkeit weiter Einkommensteuer zu
liegt. Bis 1996 konnten in Dänemark Ar-        (24 Monate für Selbstständige) und einer        erheben. Zu erwähnen ist ferner, dass die
beitslosenleistungen für eine Höchstdauer      bestimmten Anzahl von Arbeitstagen im           von den gewerkschaftlichen Fonds gezahl-
von sieben Jahren bezogen werden. 1996         Laufe des berücksichtigten Zeitabschnittes.     ten Leistungen höher liegen als die von
wurde diese Zeit auf fünf Jahre verkürzt       Die Bezugsdauer der Arbeitslosenleistun-        nicht-gewerkschaftlichen Fonds gewährten
und das erforderliche Mindestalter von 17      gen beträgt 300 Tage (450 Tage für über 55-     Leistungen. Dies ist von entscheidender
auf 19 Jahre erhöht.                           Jährige). Seit Juli 1997 bestehen folgende      Bedeutung, um die Motivation zum Ein-
    In Schweden verwalten die Gewerk-          Voraussetzungen für die Inanspruchnah-          tritt in die Gewerkschaft zu verstehen.
schaften seit 1934 etwa 40 vom Staat nahe-     me von Leistungen:                                   Wer seine Arbeit verloren hat und eine
zu vollständig finanzierte Versicherungs-                                                      neue Beschäftigung sucht, hat Anspruch
fonds gegen Arbeitslosigkeit (Arbetsloshets-   – eine Beschäftigung von mindestens             auf Leistungen aus dem eigenen Versiche-
kassor). Die Einzelbeiträge stellen hierbei    sechs Monaten und mindestens 70 Stun-           rungsfonds; er muss jedoch eine Reihe von
nicht mehr als 5 % der Gesamtsumme der         den pro Monat                                   Auflagen beachten, die mit der so genann-
Mittel dar, die Arbeitslosen oder Arbeitsu-    – eine Gesamtzahl von mindestens 450 Ar-        ten Aktivierungspolitik verbunden sind:
chenden zur Verfügung stehen (Clasen u.a.      beitsstunden während der letzten sechs          Eintragung beim Arbeitsamt und Bereit-
2001, S. 202f.).4 Die Höhe des Einkom-         Monate (Boesby u.a. 2002).                      schaft, zusammen mit den Arbeitsämtern
mensersatzes beträgt heute 75 %, was zwar                                                      Umschulungs- und Arbeitswiedereinglie-
nach wie vor hoch ist, jedoch bedeutend        Der normale Gewerkschaftsbeitrag um-            derungspläne zu vereinbaren (Lund-
weniger als die bis 1993 gezahlten ca. 90 %    fasst bereits den Versicherungsbeitrag, des-    berg/Amark 2001, S. 57).5 Der Erwerbslose
(Bjoorklund 2000). Seit 1997 existieren        sen Höhe ziemlich bescheiden bleibt. Die        muss sich bei der Arbeitssuche aktiv enga-
zwei Vorbedingungen für Arbeitslosenleis-      Eintragung in einen Fonds ist auch ohne         giert zeigen und darf keine Angebote ab-
tungen:                                        Gewerkschaftsmitgliedschaft möglich. In         lehnen, falls diese – in Bezug auf Berufstyp,
                                               diesem Fall ist der Beitrag um etwa ein         Einkommen und Arbeitsweg – vom Ar-
– eine Beschäftigung von mindestens            Drittel niedriger als der gesamte Gewerk-       beitsamt als angemessen erachtet werden.
sechs Monaten und wenigstens 70 Stunden        schaftsbeitrag. In den vergangenen Jahren       Nach einer gewissen Zeit wird sich der Ar-
pro Monat während der letzten 12 Monate        scheint der Anteil von Arbeitnehmern ge-        beitslose auch damit abfinden müssen, ei-
oder                                           stiegen zu sein, die die Eintragung in einen    ne Arbeit anzunehmen, die seiner eigenen
– eine Gesamtzeit von mindestens 450 Ar-       Fonds ohne Gewerkschaftsmitgliedschaft          Berufsqualifikation nicht entspricht. In der
beitsstunden während der letzten sechs         beantragt haben. In Schweden rechnet
Monate.                                        man, dass bis 10 % der Arbeitnehmer in
                                               keinem Versicherungsfonds eingetragen           4   Diese Quote beträgt in Dänemark 20 % und in
Der Anspruch auf Leistungen besteht nach       sind. Dabei müssen jedoch sowohl die Ar-            Finnland 6 %. In Norwegen hingegen, ähnlich wie
12-monatiger gewerkschaftlicher Eintra-        beitnehmer berücksichtigt werden, die               in Deutschland, Holland oder Großritannien, stel-
                                                                                                   len die Einzelbeiträge die Hauptquelle für die Fi-
gung (24 Monate für Selbstständige). Der       nicht die Mindestzahl der erforderlichen
                                                                                                   nanzierung dar.
Staat erlässt die Errichtungs- und Verwal-     Stunden geleistet haben, als auch die Ar-       5   Für eine linke Kritik an diesem so genannten
tungsregelungen und sorgt für die Kon-         beitnehmer, die die maximale Leistungs-             Workfare-Ansatz siehe Deguerre 2005.

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Zwischenzeit ist der Erwerbslose verpflich-         Auch in Schweden gab es zur selben            schaften und dort insbesondere gegen die
tet, kostenlos Ausbildungs- und Berufsum-       Zeit eine schwere Beschäftigungskrise (die        christlichen Gewerkschaften (Bouquin
schulungskurse zu besuchen.                     Arbeitslosenquote stieg von 1,6 % im Jah-         2002). Wenn die Arbeitslosigkeit sowohl
     Obwohl der Grad der Abdeckung durch        re 1990 auf 8,2 % im Jahre 1993); es folgte       auf sozialer als auch auf gewerkschaftlicher
die Arbeitslosenversicherung mit der Zeit       ein Zuwachs der Fonds-Eintragungen und            Ebene erst einmal entdramatisiert wird
relativ an Bedeutung verloren hat und die       der gewerkschaftliche Organisationsgrad           und sich der Schutz der Arbeitskraft von
Nachprüfungen des individuellen Engage-         profitierte davon mit einer geschätzten           den Arbeitsbeziehungen auf den Markt
ments bei der Arbeitssuche konsequenter         Steigerung zwischen 3 und 6 % in dieser           verlegt hat, könnte dem eine gewisse Zu-
durchgeführt werden, ist das Gent-Versiche-     Zeit (Bjoorklund/Freeman 1995). So hebt           stimmung der Gewerkschaft zu Arbeitge-
rungssystem der drei skandinavischen Län-       eine schwedische Studie hervor, dass der          berforderungen nach mehr Flexibilität und
der im Falle von Arbeitslosigkeit noch das      gewerkschaftliche Organisationsgrad unter         Unsicherheit der individuellen Arbeitsver-
umfassendste und großzügigste weltweit.         den Arbeitslosen jenes Landes nur 4 Pro-          träge folgen. Die dänische Erfahrung, nach
     Innerhalb der letzten 15 Jahre hat sich    zentpunkte niedriger als bei den Beschäf-         der der Arbeitsmarkt zwar effizient, aber
der durchschnittliche Anteil der Leistungs-     tigten ist – unvorstellbar für die Länder, wo     auch einer der flexibelsten in der ganzen
empfänger stabilisiert. Er liegt zwischen       kein Gent-System gilt.                            EU ist, scheint das Problem zu bestätigen –
50 und 60 % aller (registrierten) Arbeitslo-        Der von der Arbeitslosenversicherung          eine Art stiller Austausch, der jedoch auch
sen in Finnland, zwischen 53 und 73 % in        ausgehende Organisierungsanreiz wirkt             in anderen Ländern zahlreiche und ein-
Norwegen, zwischen 68 % und 78 % in Dä-         sich auch auf Zeitarbeiter oder Arbeitneh-        flussreiche Anhänger gefunden hat.
nemark sowie zwischen 71 % und 80 % in          mer mit befristeten Arbeitsverträgen aus.             Außerdem bleibt anzumerken: Das
Schweden.6                                      Da hier die Unterbrechung des Arbeitsver-         ganze System beruht auf einem bestimm-
                                                hältnisses bereits von Anfang an vorgese-         ten politischen Willen, erhebliche Anteile
                                                hen ist, liegt der Vorteil, sich für Zeiten der   sozialer Macht der gewerkschaftlichen Or-

4
Auswirkungen auf den
                                                Erwerbslosigkeit zu versichern, noch mehr
                                                auf der Hand. Bei der jetzigen Zunahme
                                                von Flexibilität und so genannter atypi-
                                                                                                  ganisationen zu schützen. Der Staat hat
                                                                                                  sich zum Garanten dieser Macht gemacht.
                                                                                                  Allerdings darf man – grundsätzlich – das
Organisationsgrad                               scher Arbeit stellen diese Arbeitnehmer           Risiko neuer Überlegungen nicht unter-
                                                möglicherweise die Hauptnutznießer des            schätzen und mithin die Rücknahme dieser
Die Einbeziehung der Gewerkschaft in die        Systems dar. Die Gewerkschaft ihrerseits          bis heute den Gewerkschaften zuerkannten
Leitung einer Grundinstitution des Sozial-      bleibt in der Lage, Arbeitnehmer zu errei-        halböffentlichen Aufgaben. Die Arbeitslo-
staates wie die Arbeitslosenversicherung        chen und aufzunehmen, die wenig oder              senversicherung existiert in diesen Ländern
verleiht den Gewerkschaften eine zweifel-       überhaupt nicht gewerkschaftlich organi-          bereits seit den 1930er und 1940er Jahren.
los privilegierte Position, setzt sie aber      siert sind, vor allem junge Menschen und              In Belgien, das lange Zeit von gemäßig-
gleichzeitig verschiedenen politischen und      Frauen mit ungesicherten Arbeitsverträ-           ten Parteien und Zentrumskoalitionen re-
organisationspolitischen Risiken aus. Die       gen.                                              giert wurde, sind seit dieser Zeit keine ein-
Vorteile liegen mehr oder weniger auf der                                                         flussreichen neuen Meinungen aufgekom-
Hand und sind beträchtlich. Die Gewerk-                                                           men. In Skandinavien haben die von
schaften sind in der Lage, eine der schwers-
ten Bedrohungen, der ein Arbeitnehmer –
und damit auch die Gewerkschaft, bei der
                                                5
                                                Leistungsfähigkeit und
                                                                                                  unterschiedlichen (also nicht sozialdemo-
                                                                                                  kratischen) Koalitionen geführten Regie-
                                                                                                  rungen Kritik und Einwände erhoben. Im
er Mitglied ist – ausgesetzt sein kann, näm-    Grenzen eines Modells                             Juni 1994 versuchte die damalige Mitte-
lich die Arbeitslosigkeit zum eigenen Vor-                                                        Rechts-Mehrheit in Schweden, den Zugang
teil zu verkehren (Western 1997; Albrecht-      Die hier beschriebenen Stärken sind selbst-       zu den Fonds unabhängig von den Ge-
sen 2004). Damit er sich freiwillig für die     verständlich nicht ohne unterschwellige           werkschaften zu erleichtern sowie die
Versicherung entscheidet, ist es nicht not-     Fragilität und Widersprüche. Fragilität           Höchstdauer des Leistungsbezugs auf
wendig, dass die befürchtete Möglichkeit        könnte insbesondere durch den hohen               zweieinhalb Jahre zu reduzieren. Als weni-
konkret eintritt, bereits ihr Risiko reicht     Grad der Institutionalisierung entstehen,         ge Monate später die Sozialdemokraten an
aus, um jedes Zögern zu überwinden. Je          die von den Gewerkschaften erreicht wur-          die Regierung kamen, die eine radikale Än-
höher das Risiko der Arbeitslosigkeit, um-      de, denn diese wiederum kann sie Risiken          derung des Systems traditionsgemäß ab-
so größer ist die Bereitschaft, sich an die     unterschiedlicher Natur aussetzen. Insbe-         lehnten, wurde dieses Vorhaben aufgege-
Gewerkschaft und ihre Versicherungsfonds        sondere könnten sich die Gewerkschaften           ben. Es gibt hingegen eine Diskussion dar-
zu wenden. Beispielhaft ist der finnische       auf eine bequeme und bürokratische Posi-          über, ob die Verwaltung der Fonds in der al-
Fall, wo die Arbeitslosigkeit in den 1990er     tion zurückziehen, die die vitalsten Eigen-       leinigen Zuständigkeit der Gewerkschaften
Jahren höher lag als in den anderen skan-       schaften langfristig lähmt. Die radikale Lin-
dinavischen Ländern. In nur drei Jahren,        ke der nordischen Länder hat das Schwin-
von 1990 bis 1993, stieg sie von 3,6 % auf      den der Gewerkschaftsautonomie sowohl
18 %. Die Auswirkungen auf die Gewerk-          gegenüber der Macht nahe stehender Re-
schaftseintritte zeigten sich unmittelbar als   gierungen als auch der der Arbeitgeber wie-       6   Im übrigen Europa sinken die Anteile drastisch,
beachtliche Steigerung der Mitgliedschaft:      derholt angeprangert. Eine ähnliche Kritik            wie etwa auf 20 % in Großbritannien, 30 % in
sie wuchs von 72 % auf 80 %.                    richtet sich gegen die belgischen Gewerk-             Deutschland, 35 % in Holland (Clasen u.a. 2001).

                                                                                                               WSI Mitteilungen 2/2006
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verbleiben soll oder ob nicht eher eine bi-      1952 in Holland geschehen, und die Aus-       1990er Jahre – jedoch als Begleit-
laterale, nach Pflichtbeiträgen und freiwil-     wirkungen auf die Gewerkschaftseintritte      erscheinung sozio-demografischer Verän-
ligen Beiträgen getrennte Verwaltung für         waren – nach historischen und statisti-       derungen, die die israelische Gesellschaft
die Versicherung denkbar wäre. Die Über-         schen Reihen (Ebbinghaus/Visser 2000) –       im selben Zeitraum erlebte – einen
legungen gehen dahin, die Finanzierung           nicht sonderlich kritisch. Die niederländi-   erdrutschartigen Verlust von etwa 77 % der
hauptsächlich öffentlich, jedoch mit einer       schen Gewerkschaften hielten in den           Mitglieder nach sich zog (Leonardi 2004).
den Sozialpartnern überlassenen Verwal-          1950er und 1960er Jahren ihre Machtposi-          Es wäre jedoch zu kurzschlüssig, zu
tung beizubehalten.                              tion und wuchsen in Norwegen sogar be-        glauben, dass die Mitgliederstärke der nor-
    Entgegen den regelmäßig vorgeschla-          trächtlich. Aber es waren andere Zeiten:      dischen Gewerkschaften von dem ein we-
genen Veränderungen scheint keine wirk-          Fordismus, Keynesianismus, Vollbeschäfti-     nig bürokratischen und halbstaatlichen
lich substanzielle Änderung bevorzuste-          gung und alles, was dazu beigetragen hat,     Kunstgriff des Gent-Systems abhängt. Wir
hen. Die gewerkschaftliche Verwaltung der        Europa in den 30 Jahren nach dem Zweiten      reden nämlich von Ländern, wo es den Ge-
Arbeitslosenversicherung ist ein Kernbe-         Weltkrieg sozial und gewerkschaftlich „gol-   werkschaften, insbesondere in Schweden,
stand der Modelle von Sozialstaaten ge-          den” und „glorreich” zu machen.               Finnland und Belgien gelungen ist, zwei
worden, und ihre Leistungen werden von               Das Gent-System hat sich gewiss in ei-    sehr solide direkte Schutzeinrichtungen zu
allen beteiligten Akteuren als relativ zufrie-   ner sehr ausgeprägten, jedoch nicht einzig-   behalten: eine relativ starke Kontrolle über
den stellend beurteilt, insbesondere             artigen Weise auf die außergewöhnliche        die nationalen und sektoralen Tarifver-
                                                 Dynamik der Mitgliedschaft der nordi-         handlungen sowie eine flächendeckende
– von Erwerbstätigen, die Leistungen be-         schen Gewerkschaften ausgewirkt – ein         und wirkungsvolle Präsenz in den Betrie-
ziehen konnten, die – in diesem Umfang –         Mehrwert, dessen genaues Ausmaß schwer        ben (Kjellberg 2000). Dazu haben konzer-
der Mehrheit ihrer europäischen Kollegen         einzuschätzen ist. Studien aus Finnland ha-   tierte und zwischen den Sozialparteien ver-
unbekannt sind;                                  ben die Auswirkung auf den Organisati-        einbarte Praktiken sowie deutlich sozialde-
– von den Gewerkschaften, weil sie ihre          onsgrad auf nicht weniger als 10 % ge-        mokratisch und gewerkschaftlich geprägte
Mitgliedsstärke und damit ihre finanzielle       schätzt, falls die Gewerkschaft jede Kon-     gesetzliche Unterstützungen auf dem Ge-
Kraft und politische Verhandlungsmacht           trolle über die Arbeitslosenversicherung      biet der industriellen und wirtschaftlichen
fast ununterbrochen gesteigert haben und         verlieren würde. Ähnliche schwedische Un-     Demokratie beigetragen. Eine gewisse Kul-
weil sie die Verwaltung und das Finanzwe-        tersuchungen in der ersten Hälfte der         tur protestantischer und eben „sozialde-
sen der Fonds innehaben, wodurch sie auf         1990er Jahre schätzten den Unterschied auf    mokratischer“ Herkunft hat zweifellos die
dem Gebiet der Sozial- und Arbeitsmarkt-         ca. 25 %. Heute stellen sie eine Differenz    Existenz starker sozialer Vermittler und
politik mehr politische Verantwortung be-        von 20 bis 30 % zwischen dem durch-           hochsolidarischer Bürgereigenschaften be-
kommen haben (Boeri u.a. 2002);                  schnittlichen Organisationsgrad der skan-     günstigt.
– von den Regierungen, die durch dieses          dinavischen Länder mit dem Gent-System            Das Gesamtergebnis ist noch heute ein
System der sozialen Selbstorganisation die       und dem norwegischen System ohne Gent-        sehr hoher Organisationsgrad auch unter
Verwaltung eines wichtigen Elements des          System fest.                                  den gefährdetsten Erwerbstätigen und
Sozialstaats dezentralisiert haben.                  Ähnlich stellt sich die Situation dar,    Randbelegschaften, sind wirkungsvolle So-
                                                 wenn man Belgien mit seinem Nachbarn          zialsysteme und eine soziale Macht, die es –
Insgesamt erscheint dieses System als posi-      Holland vergleicht oder stärker noch mit      wenn nötig und im Gegensatz zu den Be-
tive Regelung, und anscheinend ist nie-          dem in vieler Hinsicht ähnlichen Frank-       hauptungen von Theoretikern über eine
mand im Moment wirklich interessiert,            reich. Auch in diesem Fall besteht ein Un-    vermeintliche bürokratische und passive
sich daraus zurückzuziehen.                      terschied zwischen 20 und 30 % zu Gun-        gewerkschaftliche Verflachung – den nörd-
    Man bedenke jedoch, dass eine Reform,        sten des Landes mit dem Gent-System. Be-      lichen Gewerkschaften ermöglicht, sehr
die dem Staat die gesamte Aufsicht über das      sonders auffällig war demgegenüber der        harte Konflikte mit Streiks zu beginnen
Versicherungssystem zurückgibt oder ei-          Fall der israelischen Gewerkschaft Hista-     und zu beenden, deren Länge und Ausdeh-
nem bilateralen und paritätischen System         drut, wo die Abschaffung der gewerk-          nung für viele andere europäische Gewerk-
die Verwaltung (wie in Frankreich) über-         schaftlichen Beaufsichtigung über die na-     schaften undenkbar wäre.
trägt, jederzeit möglich ist. Dies ist bereits   tionale Gesundheitsversicherung (Kupat
1938 – wie erwähnt – in Norwegen und             Holim Klalit) in der ersten Hälfte der

84         WSI Mitteilungen 2/2006
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                                                                                                                       WSI Mitteilungen 2/2006
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