Psychologie der Elternerwartungen - Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg beeinträchtigen können - Kanton ...
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-1- Psychologie der Elternerwartungen Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg beeinträchtigen können Dossier 21/1 Prof. Dr. Margrit Stamm Psychologie der Elternerwartungen
-2- Swiss Education Prof. Dr. Margrit Stamm Professorin em. für Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg Forschungsinstitut Swiss Education Aeschbachweg 12 CH-5000 Aarau +41 (0)31 311 69 69 Persönliche Assistentin: Romina Zenklusen 079 462 92 82 margrit.stamm@unifr.ch margritstamm.ch Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-3- Inhalt Vorwort ..................................................................................................................................... 4 Inhalte und Ziele des Dossiers ..................................................................................................... 5 Management Summary .............................................................................................................. 6 Schlüsselbotschaften .................................................................................................................. 9 Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Elternerwartungen ........................................................ 11 Briefing Paper 2: Begriffe .......................................................................................................... 13 Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss ................................................................................ 14 Briefing Paper 4: Elternerwartungen in Migrantenfamilien ........................................................ 19 Briefing Paper 5: Elternkontrolle und ihre Auswirkungen ........................................................... 22 Briefing Paper 6: Zusammenfassung und Empfehlungen ............................................................ 25 Psychologie der Elternerwartungen
-4- Vorwort Wovon hängt es ab, ob eine Erstklässlerin zu den Geht es allerdings um die gezielte Förderung klei- guten Schülerinnen gehört, ein Sechstklässler in ner Kinder aus besser situierten Familien, sind die die Sekundarschule, die Realschule oder ins Gym- Meinungen geteilt, ob hohe Elternengagements nasium kommt? Und ob eine 15-jährige den ge- und -erwartungen für die Kinder förderlich sind. wünschten Ausbildungsplatz erhält oder nicht? Psychoanalytisch und entwicklungsorientierte Natürlich von der Leistung, sprich Schulnoten – Fachleute sind eher skeptisch, während die Hirn- denken die meisten. forschung die Bedeutung der elterlichen Bil- dungsambitionen herausstreicht. Leider nicht nur, lautet die Antwort. Die soziale Herkunft erweist sich einmal mehr als zentral. Ne- Mit Blick auf die gesamte Bildungslaufbahn be- ben den Lehrpersonen sind die Eltern zentral für steht in der Forschung Einigkeit darüber, dass El- die schulische Leistung und die Noten ihrer Kin- tern mit hohen Erwartungshaltungen und einem der. Das Elternhaus erklärt auch in hohem Aus- autoritativen, moderat kontrollierenden Erzie- mass, in welchem Schultypus der Oberstufe ein hungsstil («Monitoring») die entwicklungsförder- Kind sitzt und ob dieses eine Lehre macht oder ein lichsten Bedingungen schaffen. Doch zu hohe Er- Gymnasium besucht. wartungen, begleitet von einer non-stop-Kon- trolle, überfordern Kinder und machen aus ihnen Dies ist allerdings nichts Neues. Neu und bisher extrinsisch motivierte, d.h. fremdgesteuerte wenig beachtet worden ist die in Studien vielfach Hochleister. nachgewiesene Tatsache, dass nicht nur die sozi- ale Herkunft, sondern in erster Linie die Elterner- Das vorliegende Dossier konzentriert sich auf drei wartungen eine grosse Rolle spielen. Sie sind ge- Fragen: (1) Was Elternerwartungen sind, wie sie wissermassen der zentrale Mediator, sich nach Familientyp unterscheiden über den bildungsambitionierte Fa- und welchen Bezug sie zum Bildungser- milien ihren Kindern zum Bildungser- folg der Kinder haben; (2) warum Mig- folg verhelfen. Migrantenfamilien rantenfamilien oft besonders hohe Er- haben oft ebenso hohe Ambitionen, wartungen haben, ihre Kinder diese meist ohne dass sich diese in guten aber nicht in gute Schulnoten transfor- Leistungen ihrer Kinder abbilden. mieren können und (3) welche Rolle die Elternkontrolle spielt. Kaum berücksichtigt wird ein anderer Faktor, der meist mit hohen Elternerwartungen einhergeht: Das Dossier kommt zum Schluss, dass hohe Er- die Kontrolle durch das Elternhaus. Weil seit der wartungen wichtig, Überaspirationen jedoch Jahrtausendwende die Sicherheit der Kinder und schädlich sind. Deshalb lautet die Botschaft eher: eine «verantwortete Elternschaft» zunehmend Liebe Eltern, helft euren Kindern, ihr Potenzial im Mittelpunkt stehen, wird von Eltern erwartet, selbst zu entwickeln, damit sie ihr echtes Selbst dass sie ihren Nachwuchs engmaschig betreuen entdecken und Kompetenzen entwickeln dürfen, und kontrollieren. Ein Beispiel sind die Hausauf- die lebenstüchtig machen. gaben. Das Ziel dieses Dossiers ist es, Wirkungen und Zu- Auch im Zuge der frühen Förderung wird die sammenhänge von Elternerwartungen und El- Frage diskutiert, welche Bedeutung das Elternen- ternkontrolle im Hinblick auf eine entwicklungs- gagement spielt. Grundsätzlich besteht ein Kon- angemessene Förderung und Begleitung aufzu- sens, dass frühkindliche Bildungsförderung zur zeigen. Minimierung ungleicher Startchancen der Kinder Aarau, im Januar 2021 beitragen kann und der Fokus deshalb spezifisch auf benachteiligte Familiengruppen und ihre Kin- der zu legen ist. Diese Ausrichtung ist wichtig, um Bildungsungleichheiten wenigstens teilweise ver- Prof. Dr. Margrit Stamm ringern zu können. Professorin em. der Universität Fribourg Forschungsinstitut Swiss Education Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-5- Inhalte und Ziele des Dossiers Das vorliegende Dossier konzentriert sich auf El- Das vorliegende Dossier ist wiederum auf der Ba- ternerwartungen und Elternkontrolle sowie de- sis der Recherchearbeiten meiner persönlichen ren Auswirkungen. Der Fokus liegt zwar auf bil- Assistentin Romina Zenklusen entstanden. Sie dungsambitionierten Mittelschichtfamilien, doch hat den Text auch lektoriert, wofür ich ihr herz- werden ebenso die Bildungsaspirationen von lich danke. Migrantenfamilien beleuchtet. Alle Dossiers sind auf der Website margrit- Elternerwartungen können nicht losgelöst vom stamm.ch gratis herunterladbar. Mit Bezug auf Kontrollverhalten von Müttern und Vätern disku- den Frühbereich inklusive Primarschulalter sind tiert werden. Dieses Verhalten ist einerseits ein bisher folgende Dossiers erschienen: Ergebnis unserer Leistungs- und Sicherheitskul- ⚫ Der Schuleintritt. Sieben wissenschaftliche tur und andererseits auch eine Reaktion auf das Erkenntnisse für die bildungspolitische Har- von Schulen gewünschte Engagement der Eltern, moS-Diskussion (Dossier 10/1). beispielsweise in Bezug auf die Hausaufgaben. ⚫ Wozu frühkindliche Bildung? (Dossier 11/1). Mütter und Väter, welche ihrem Kind viel Frei- raum und Selbstverantwortung geben, gelten in ⚫ Achtung, fertig, Schuleintritt (Dossier 12/2). der Schule manchmal als «wenig förderorien- ⚫ Qualität und frühkindliche Bildung (Dossier tiert», solche mit gezielter Kontrolle und enger 12/3). Betreuung als «karriereorientiert». Es ist somit ⚫ Bildungsort Familie (Dossier 13/1). etwas zu simpel, den Eltern grundsätzlich die Schuld zuzuweisen und sie als Helikoptereltern ⚫ Bildung braucht Bindung (Dossier 13/4). zu bezeichnen. Denn das von mancher Schule er- ⚫ Frühe Sprachförderung: Was sie leistet und wartete Verhalten von Vätern und Müttern als wie sie optimiert werden kann (Dossier «kontrollierende Eltern» kann auch zu einer Leit- 14/1). planke werden, was ein «förderliches» und was ⚫ Best Practice in Kitas und Kindergärten. Von ein «Laissez-Faire» Elternhaus ist. erfolgreichen Fach- und Lehrkräften lernen (Studie PRINZ) (Dossier 14/2). Dass ein kontrollierendes mit Blick auf Erwartun- gen ambitioniertes Elternhaus nicht per se för- ⚫ Frühförderung als Kinderspiel (Dossier derlich ist, weist dieses Dossier nach. Hohe Elter- 14/5). nerwartungen sind zwar entwicklungsförderlich, ⚫ Blickpunkt Kindergarten. Der Übergang ins zu hohe Ambitionen – kombiniert mit engma- Schulsystem. Dossier 15/3. schiger Kontrolle – führen aber eher zu ängstli- ⚫ Väter: Wer sie sind, was sie tun, wie sie wir- chen, unsicheren und unselbstständigen Kin- ken (Dossier 16/1). dern. ⚫ Ich will – und zwar jetzt! Mangelnde emoti- Das Dossier beantwortet folgende Fragen: onale Kompetenzen im Vorschulalter und ihre Folgen (Dossier 16/3). ⚫ Wie wichtig sind Elternerwartungen, und was bewirken sie? ⚫ Professionalisierung im Vorschulbereich. Berufliche Handlungskompetenz und Prakti- ⚫ Wie unterscheiden sich Eltern im Hinblick auf sche Intelligenz in Zeiten der Akademisie- ihre Erwartungen und Ambitionen und wie rung (Dossier 18/1). sind diese mit dem Schulerfolg ihres Kindes verbunden? ⚫ Buben als «Bildungsverlierer?» Weshalb Ini- tiativen in Kita und Kindergarten ansetzen ⚫ Was weiss die Forschung über das Kontroll- sollten (Dossier 20/1). verhalten von Eltern und wie beeinflusst die- ses die kindliche Entwicklung? Psychologie der Elternerwartungen
-6- Management Summary Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Er- Bildungsaspirationen werden als Vorstellungen wartungen der Eltern über den gewünschten, zeitlich aber noch ent- Bildungsungleichheiten sind in der Schweiz fernten Bildungsabschluss des Kindes definiert. stabil. Viele Studien weisen nach, dass die Wei- Bildungserwartungen gelten als konkrete und un- chen hierfür bereits im Vorschulalter gestellt mittelbare Vorstellungen der Eltern im Hinblick werden und Elternerwartungen dabei eine grosse Rolle spielen. auf die aktuelle Bildungsstufe. Erwartungshaltun- gen stehen für eine zusammenfassende Bezeich- Briefing Paper 1 Seite 11 nung für oft diffuse, manchmal sehr gezielte Denk- und Handlungsziele, die in der Zukunft lie- In der internationalen Forschung zur Entwicklung gen. Erwartungshaltungen sind Teil jeder Erzie- von Vorschulkindern gelten das familiäre Umfeld hung, sie machen Eltern etwas sicherer und beru- und gemeinsame Aktivitäten von Eltern und Kin- higen oft auch ihre Ängste. dern schon seit längerem als massgeblich für eine nachhaltige kindliche Entwicklung. Der Begriff Elternkontrolle wird genutzt, um die Anstrengungen zu beschreiben, das Leben mit Eltern höherer Sozialschichten verfügen schon in den Kindern zu managen. Dazu gehören auch ver- den ersten Lebensjahren über eine selbstbe- deckte Kontrollen anhand manipulativer Mittel wusste Bildungsmotivation und gewichten auch wie Schuldgefühle und Liebesentzug. das Sozialprestige höher als solche niedrigerer So- zialschichten. Unter dem Stichwort «Treibhaus- Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss Debatte» hat das Phänomen nun auch Eingang in Die Bildung der Eltern sowie ihre ökonomische die wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Situation beeinflussen die Erwartungen ganz be- Diskussion gefunden. sonders. In der Regel gilt: Je höher der elterliche Bildungsstand, desto höher die Erwartungen. Wenn Elternerwartungen einen Unterschied ma- Doch der Einfluss der Eltern geht noch viel wei- chen, geht es nicht nur darum, möglichst syste- ter. matisch benachteiligte Kinder und ihre Familien für frühe Bildungsmassnahmen zu gewinnen, Briefing Paper 3 Seite 14 sondern genauso die Erwartungshaltungen von Die Forschung liefert deutliche Beweise dafür, Fachkräften in den Blick zu nehmen. Fördermass- dass Elternerwartungen und Bildungsambitionen nahmen nützen wenig, wenn Fachkräfte Kindern im Hinblick auf die Leistungen ihrer Kinder und aus einfachen Familien schon beim ersten Kon- auf die Selektion beim Übertritt in die Sekundar- takt allein aufgrund ihrer Herkunft mit geringen stufe I zentral sind. Kinder zeigen höhere Leistun- Erwartungshaltungen begegnen. Denn wahr- gen, wenn Eltern Hoffnungen in sie setzen. Erwar- scheinlich wird sich dieses Kind – und mit einer tungen sollten aber realistisch und nicht überam- relativ hohen Wahrscheinlichkeit auch seine El- bitioniert sein. Unrealistisch hohe Erwartungen tern – unbewusst genauso verhalten, dass dies können den Schulerfolg der Kinder sogar behin- auch eintrifft (sich selbsterfüllende Prophezei- dern. ung, «Self Fullfilling Prophecy»). Allerdings dürften die Lehrkräfte das Zünglein an Solche Erwartungen spielen bereits beim Über- der Waage spielen. Denn Elternerwartungen be- tritt ins Bildungssystem eine wichtige Rolle. einflussen auch die Notengebung. Vor diesem Hintergrund wird es nachvollziehbar, dass Kinder Briefing Paper 2: Begriffe ohne Spitzennoten aber mit überambitionierten In Bildung und Erziehung tauchen regelmässig Eltern trotzdem oft den Weg ins Gymnasium neue Begriffe auf, die sich schnell verbreiten. Oft werden sie undiskutiert und unreflektiert schaffen. Somit müsste die Aussage mancher For- übernommen. Dies gilt auch für die Thematik scherinnen und Forscher relativiert werden, der Elternerwartungen. Schulnoten seien der beste Prädiktor für Intelli- Briefing Paper 2 Seite 13 genz. Schulnoten sind oft eher ein Abbild von Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-7- Elternerwartungen und -engagement und häufig entsprechenden Leistungen ihres Kindes kaum, auch der sozialen Herkunft. sich für gute Noten oder eine Übertrittsempfeh- lung einzusetzen. Für sie sind Lehrkräfte Professi- Briefing Paper 4: Bildungsaspirationen von onelle, weshalb man ihrer Einschätzung ver- Migrantenfamilien trauen muss. Ebenfalls ist in Betracht zu ziehen, Migrantenfamilien, auch solche aus einfachen dass Migrantenfamilien oft eine «kollektive Be- Sozialschichten, haben im Durchschnitt höhere handlungsbedürftigkeit» zugeschrieben wird. Da- Bildungsaspirationen für ihre Kinder als einhei- ran ist auch der Begriff «Migrationshintergrund» mische Familien. Allerdings können diese die in sie gesteckten Erwartungen oft nicht in entspre- beteiligt. chende Schulleistungen umsetzen. Warum ist dem so? Briefing Paper 5: Elternkontrolle und ihre Auswirkungen Briefing Paper 4 Seite 19 Elternerwartungen sind ein Schlüsselelement Das Phänomen, wonach Migrantenfamilien zum Verständnis der elterlichen Einflussnahme. Aber sie sind nur die eine Seite der Medaille. Die durchschnittlich hohe Bildungsaspirationen ha- andere Seite ist die Elternkontrolle. ben, ist in der Wissenschaft wiederholt unter- sucht und bestätigt worden, in der pädagogischen Briefing Paper 5 Seite 22 Praxis bisher jedoch kaum angekommen. Dieses Elternkontrolle kann mit bestimmten offenen Phänomen wird auch als «Aspiration-Achieve- und verdeckten Erwartungshaltungen und Mani- ment-Paradox» bezeichnet. pulationen verbunden sein, weshalb der Begriff Warum ist dem so? Dafür finden sich verschie- für die Pädagogik von grosser Bedeutung ist. dene mögliche Erklärungsansätze. (1) Mit dem Doch oft gilt Kontrolle als «böses» Wort, weil man Zuwanderungsoptimismus wird argumentiert, lieber von «Beziehung statt Erziehung» spricht dass Migrantinnen und Migranten in Bezug auf und die Tatsache dauernder kindlicher Überwa- ihre Arbeitsmoral und ihren Ehrgeiz eine positiv chung und deren Folgen verdrängt. Es steht aber selektierte Gruppe sind. Sie sind meistens ausge- viel auf dem Spiel. Kontrollierende Eltern haben wandert, um etwas zu erreichen und ihre Lebens- in der Regel Kinder mit weniger intrinsischer, da- bedingungen zu verbessern. Entsprechend haben für viel extrinsischer Motivation, die zudem un- Migranteneltern auch hohe Aspirationen an die selbstständiger, leistungsängstlicher und weniger Bildungslaufbahnen ihrer Kinder. (2) Die Informa- selbstbewusst sind. tionsdefizite werden als mögliche weitere Ursa- Eine dauerüberwachende Erziehung nimmt den che für die hohen Bildungsaspirationen herange- Kindern die Möglichkeit, aus sich heraus und ent- zogen. Das oftmals fehlende Wissen über das hie- sprechend ihren Fähigkeiten zu lernen. Eltern, die sige Bildungssystem kann dazu führen, dass Kin- ständig eingreifen, weil sie vom höheren Leis- der von ihren Eltern besser eingeschätzt werden tungspotenzial ihres Kindes überzeugt sind, ver- als dies die Noten nahelegen. Dazu kommen auch mitteln ihm die Botschaft, dass es nicht gut genug die sprachlichen Barrieren in der Zusammenar- ist. Allerdings ist Kontrolle nicht immer offen- beit mit Schule und Lehrkräften, was wiederum sichtlich. Es gibt auch eher verdeckte Kontrollstra- zu unrealistischeren Einschätzungen der schuli- tegien wie Liebesentzug oder besondere Anreize schen Leistungen führt. (3) Die These der wahrge- wie beispielsweise Geld für gute Noten. nommenen Diskriminierung steht für die gefühlte Diskriminierung mancher Migrantenfamilie auf Wirken solche Anreize positiv? Fasst man For- dem Arbeitsmarkt, weshalb sie auf eine hohe Bil- schungsbefunde zusammen, dann kann ein finan- dung für ihr Kinder setzt. Die Angst vor Diskrimi- zieller Bonus (z.B. Geld für gute Noten oder ein nierung kann zu Überkompensation und Überleis- gutes Zeugnis) die Wahrscheinlichkeit erhöhen, tung führen. dass die Kinder das tun, was die Eltern wollen – gute Noten schreiben. An Leistungen geknüpfte Möglich ist aber auch, dass Aspirationen kaum Belohnungen haben oft Erfolg, aber sie führen eine Wirkung haben, weil Lehrkräfte den Kindern meist nur zu kurzfristigen Änderungen und ange- schlechtere Noten geben oder sie nicht fürs Gym- passtem, extrinsisch motiviertem Verhalten. nasium empfehlen. Zudem getrauen sich manche Eltern trotz hohen Erwartungen und Psychologie der Elternerwartungen
-8- Deutlich nachhaltiger als jeder finanzielle Anreiz Ein Autonomie unterstützender Erziehungsstil ist die kontinuierliche Anteilnahme der Eltern an jenseits von permanenter Förderung und Kon- den schulischen Interessen des Kindes, weil dies trolle ist das wichtigste Element für ein gesundes die intrinsische Lernmotivation stärkt. Seine Ge- Aufwachsen. Doch Erziehung zur Autonomie er- nugtuung über den Erfolg aus eigenem Antrieb ist fordert für Eltern und signifikante Andere auch tiefer, und auch das Selbstwertgefühl wird deut- die Fähigkeit zum selbstkritischen Blick in den lich stärker angesprochen. Spiegel. Dies beinhaltet unter anderem eine Rela- tivierung der Erwartungen an die Kinder und ge- Deshalb gehört es zur pädagogischen Autorität zielte Versuche, die kindliche Selbstregulation von Schulen, dass Eltern nicht zu verordneten und Autonomie zu fördern. Fünf Handlungsmaxi- Paukern werden müssen und Hausaufgaben in men sind wegweisend: den Verantwortungsbereich des Schulkindes im Auftrag der Lehrperson gehören. Diese Botschaft Erstens haben Kinder ein Recht darauf, durch- ist wichtig, weil sie signalisiert, dass ein struktu- schnittlich sein zu dürfen und in Schule und Frei- rierender Umgang, auch als autoritativer Erzie- zeit nicht dauernd brillieren zu müssen. Zweitens hungsstil bekannt, wichtiger ist als jede Dau- sollten Eltern Signale des persönlichen Überenga- erüberwachung. Autoritativ meint weder autori- gements erkennen und es zu zügeln versuchen. tär noch «anything goes», sondern die Schaffung Drittens geht es um einen besseren Umgang mit des Fundaments für eine gesunde psychische und dem eigenen Stress, der zu einer verstärkten physische Entwicklung. Ein autoritativer Erzie- Selbstfürsorge und klareren Alltagsstrukturen hungsstil verzichtet auf Zwang, gewährt aber viel führen kann. Viertens tun Eltern gut daran, zu ak- Freiheit, um Kinder zu kultureller Eigenständig- zeptieren, dass Noten nicht das Gleiche sind wie keit und Mündigkeit zu führen. Fähigkeiten. Deshalb sollten sie sich stärker an den Lernprozessen und weniger an den Noten Briefing Paper 6: Weniger ist mehr – Die orientieren. Damit erhöhen sie die Wahrschein- Entwicklung angemessener Erwartungen lichkeit, dass ihr Kind intrinsisch motivierter wird. Väter und Mütter, welche sich für die Schule in- Fünftens tut es Kindern gut, wenn ihre Eltern eine teressieren, haben in der Regel erfolgreichere Antihaltung gegenüber der Optimierung kindli- Kinder. Aber es kommt auf das Wie und die ei- cher Entwicklung einnehmen. Und schliesslich gene Haltung an – und dies ist die grösste Her- ausforderung. geht es sechstens um eine Erziehung, welche mehr Selbstregulation und Autonomie in den Briefing Paper 6 Seite 25 Blick nimmt. Eltern, die diese Maxime ernst neh- men, geben ihren Kindern mehr Zeit, unter- Eltern sind neben Lehrkräften und «signifikanten schiedliche Wege zur Lösung eines Problems aus- Anderen» (Trainerinnen und Trainer, Lehrkräfte zuprobieren, sie mischen sich nicht zu früh ein, sie in der musischen Bildung, Grosseltern, ältere Ge- übernehmen nicht immer sofort die Verantwor- schwister und Freunde etc.) die wichtigsten Per- tung, wenn sich ein Hindernis einstellt (z.B. bei sonen, welche die Kinder in ihrer Entwicklung un- den Hausaufgaben). terstützen können. Deshalb sollten solche Er- wachsene Bedingungen schaffen, unter denen Kinder Freude am Lernen und am Leben entwi- ckeln können und dabei auch eigene Entschei- dungen fällen dürfen. Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-9- Schlüsselbotschaften Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Er- diejenigen privilegierterer Kinder sowie die wartungen der Eltern Angst der Eltern, sich für gute Noten ihres Kindes einzusetzen. ⚫ Erwartungshaltungen von Familien sind be- deutsam. Väter und Mütter höherer Sozial- Briefing Paper 5: Elternkontrolle und ihre schichten verfügen schon in den ersten Le- Auswirkungen bensjahren über eine selbstbewusstere Bil- dungsmotivation und gewichten auch das So- ⚫ Eine dauerüberwachende Erziehung nimmt zialprestige höher als solche niedrigerer Sozi- den Kindern die Möglichkeit, aus sich heraus alschichten. und entsprechend ihren Fähigkeiten zu ler- nen. ⚫ Erwartungshaltungen von Fachkräften sind deshalb v.a. im Hinblick auf sozial einfach ge- ⚫ Es gibt auch verdeckte Kontrollstrategien wie stellte Familien zentral. Sie beeinflussen die Liebesentzug oder besondere Anreize wie Macht der sich selbsterfüllende Prophezeiung. beispielsweise Geld für gute Noten. ⚫ An Leistungen geknüpfte Belohnungen haben Briefing Paper 2: Begriffe oft Erfolg, aber sie führen meist lediglich zu ⚫ Bildungsaspirationen werden als Vorstellun- kurzfristigen Änderungen und angepasstem, gen über den gewünschten Bildungsab- extrinsisch motiviertem Verhalten. schluss des Kindes definiert. Bildungserwar- tungen gelten als konkrete Vorstellungen der Briefing Paper 6: Weniger ist mehr – Die Eltern im Hinblick auf die aktuelle Bildungs- Entwicklung angemessener Erwartungen stufe. ⚫ Eltern sollen hohe, aber nicht übermässige ⚫ Erwartungshaltungen sind Einstellungen, Erwartungen an ihre Kinder haben. welche sich auf mehr oder weniger klare Ziel- ⚫ Erstes Ziel sollte die Schaffung von Bedingun- vorstellungen beziehen. Der Begriff Eltern- gen sein, unter denen Kinder Freude am Ler- kontrolle wird genutzt, um die Anstrengun- nen und am Leben entwickeln können und gen zu beschreiben, das Leben mit den Kin- dabei auch eigene Entscheidungen fällen dür- dern zu managen. Dazu gehören auch ver- fen. deckte Kontrollen (Schuldgefühle der Kinder, Liebesentzug etc.). ⚫ Die sechs wichtigsten Leitideen einer autono- mieförderlichen Erziehung sind: (1) Kindern Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss erlauben, in Schule und Freizeit nicht immer brillieren zu müssen. (2) Signale des persönli- ⚫ Je höher der elterliche Bildungsstand, desto chen Überengagements erkennen und es zu höher die Erwartungen. zügeln versuchen. (3) Besser mit dem eigenen ⚫ Unrealistisch hohe Erwartungen können den Stress umgehen zu lernen. (4) Akzeptieren, Schulerfolg der Kinder behindern. dass Noten nicht das Gleiche wie Fähigkeiten sind. (5) Eine Antihaltung gegenüber der Op- ⚫ Lehrkräfte spielen das Zünglein an der timierung kindlicher Entwicklung einnehmen. Waage. Denn Elternerwartungen beeinflus- (6) Kinder mehr autonome Zeit für ihre sen auch die Notengebung. Selbstregulation geben (inkl. Hausaufgaben). Briefing Paper 4: Bildungsaspirationen von Migrantenfamilien ⚫ Obwohl Migrantenfamilien im Durchschnitt höhere Bildungsaspirationen als einheimi- sche Familien haben, resultieren sie kaum in entsprechende Schulleistungen der Kinder. ⚫ Ursachen sind der Zuwanderungsoptimis- mus, die Informationsdefizite sowie die wahr- genommene Diskriminierung. ⚫ Dazu kommen die schlechtere Benotung der Kinder trotz gleicher Leistungen wie Psychologie der Elternerwartungen
-10- Psychologie der Elternerwartungen Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg beeinträchtigen können Dossier 21/1 Prof. Dr. Margrit Stamm Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-11- Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Er- wartungen der Eltern In der internationalen Forschung zur Entwick- Kita und Kindergarten sehr genau auf angemes- lung von Vorschulkindern gelten das familiäre sene Fähigkeiten und Förderung geachtet wird Umfeld und gemeinsame Aktivitäten von Eltern (Stamm, 2016). und Kindern schon seit längerem als massge- Solche Bemühungen fassen Lareau und Cox blich für eine nachhaltige kindliche Entwicklung. (2011) mit spezifischem Blick auf Mittelschicht- Interessanterweise ist aber relativ wenig über familien im Begriff der «concerted cultivation» Erwartungen von Vätern und Müttern an ihre zusammen. Damit meinen sie die gezielte För- Kinder bekannt. Obwohl der «Bildungsort Fami- derung der Kinder mittels vielfältigen Bildungs- lie» ein geflügeltes Wort geworden ist, sind die anstrengungen. Wirkungen wesentlicher Einflussfaktoren unter- belichtet geblieben (Stamm & Edelmann, 2013). Elkind hat dieses Phänomen schon vor vielen Dieses Briefing Paper wirft einen Blick auf Para- Jahren unter dem Titel «The hurried child» meter in der frühen Kindheit, welche mit Eltern- (deutsch: Das gehetzte Kind, 1988) beschrieben erwartungen verschränkt sind. und dabei auch auf die mit hohen Erwartungs- haltungen verbundenen Entwicklungsrisiken Elternengagement und die Treibhausde- verwiesen. Unter dem Stichwort «Treibhaus- batte Debatte» hat das Phänomen nun auch Eingang Obwohl es im Zuge der Etablierung frühkindli- in die wissenschaftliche und gesellschaftspoliti- cher Förderprogramme eine wachsende Diskus- sche Diskussion gefunden. Doch bis heute ist es sion zur Frage gibt, welche Bedeutung dem El- empirisch nur in Ansätzen untersucht (Stamm, ternengagement zukommt, sind die Meinungen 2010; 2017). geteilt. Eher psychoanalytisch orientierte Fach- leute befürchten, dass frühe Förderung, insbe- Soziale Herkunft und Erwartungshaltungen sondere wenn sie kognitiv orientiert und fami- Nicht nur die Teilhabe an frühkindlicher Bildung lienextern erfolgt, einer gesunden kindlichen zwischen sozialen Schichten und ethnischen Entwicklung eher abträglich ist (Gerspach, Gruppen differiert, sondern auch die Lernvor- 2018). Die Hirnforschung wiederum unter- aussetzungen bei Vorschulkindern. streicht die enorme Bedeutung des gezielten, Deshalb gehen Bemühungen in die Richtung, frühen elterlichen Förderengagements, weil es möglichst systematisch benachteiligte Kinder die hirnbiologische Basis für spätere Lernleis- und ihre Familien für frühe Bildungsmassnah- tungen und sozio-emotionale Kompetenz bildet men zu gewinnen. Genauso wesentlich sind Er- (Hüther, 2016). wartungshaltungen von Fachkräften. Die umfas- Mit Blick auf die Erwartungshaltungen erweisen sendsten Fördermassnahmen nützen wenig, sich in unserer Längsschnittstudie FRANZ)1 die wenn bei einem Kind aus einer einfachen Fami- befragten Eltern als anspruchsvoll, messen sie lie schon beim ersten Kontakt allein aufgrund doch insbesondere den schulrelevanten Fähig- seiner Herkunft davon ausgegangen wird, dass keiten ihres Kind überdurchschnittliche Bedeu- es eher leistungsschwach oder problemhaftet tung bei. 65% der Eltern vertreten die Ansicht, ist. Wer so denkt, wird wahrscheinlich Recht be- frühe Lese- und Mathematikkompetenzen seien kommen. unabdingbar für den Schulerfolg, 72% erachten Anzunehmen ist, dass dieses Kind – und mit ei- diesen als grundlegend für das gute Aufwachsen ner relativ hohen Wahrscheinlichkeit dürfte dies ihres Kindes, und 72% wünschen sich von ihm auch für seine Eltern so sein – unbewusst ge- später einen gymnasialen Abschluss mit Ma- nauso verhalten, dass dies auch eintrifft (sich tura. Es erstaunt somit wenig, dass bereits in 1 Das Kürzel steht für «Früher an die Bildung – erfolgreicher in insgesamt 309 Kindern aus Mittelschichtfamilien zwischen ih- die Zukunft?». Die Studie untersuchte zwischen 2009 und rem dritten und sechsten Lebensjahr. 2015 die Betreuungs- und Erziehungskonstellationen von Psychologie der Elternerwartungen
-12- selbsterfüllende Prophezeiung, «Self Fullfilling verschiedenen Akteurgruppen als auch ihr Prophecy»). Weil solche Erwartungen bereits Handlungsvermögen sehr unterschiedlich sind. beim Übertritt ins Bildungssystem eine wichtige In der frühkindlichen Bildungsförderung wirken Rolle spielen, werden Kinder aus einfachen So- gerade deshalb die Vorannahmen von Fachkräf- zialverhältnissen beim Eintritt in Kindergarten ten im Verborgenen. Sie leisten auch einen Bei- und Schule häufiger zurückgestellt und auch trag zur Festigung früher Muster von Bildungs- häufiger als verhaltensschwierig bezeichnet ungleichheit. (Tuppat, 2014; Stamm, 2017). Weiterführende Literatur Doch frühe Bildungsungleichheiten entstehen auch ausserhalb des Bildungssystems, etwa in Elkind, D. (1988). Das gehetzte Kind. Hamburg: Nachbarschaft oder Gemeinde. Oft ziehen am- Kabel. bitionierte Familien in Quartiere mit ähnlich am- Gerspach, M. (2018). Psychoanalytische Päda- bitionierten Familien und mit homogener zu- gogik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: social- sammengesetzten Schulklassen. Diese Segrega- net, 13.04.2018 [Zugriff am: 01.01.2021]. Ver- tionstendenz hat zur Folge, dass Kinder aus be- fügbar unter: https://www.socialnet.de/lexi- kon/ nachteiligten Familien sich auf bestimmte Ge- genden und Wohngebiete konzentrieren. Dies Hüther, G. (2016). Bedienungsanleitung für ein führt dazu, dass mehr als die Hälfte dieser Kin- menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck der eine Einrichtung besucht, in der die meisten u. Rupprecht. Kinder zu Hause ebenfalls kein Deutsch spre- Lareau, A. & Cox, A. (2011). Social class and the chen. transition to adulthood: Differences in parents' interactions with institutions. In: M. Carlson & Solche Parameter tragen dazu bei, dass die Vor- P. England (Eds.), Social class and changing fam- schulkindheit zu einem neuen Schlüsselbereich ilies in an unequal America (pp. 134-164). Stan- der Reproduktion von Bildungsungleichheit ford: Stanford University Press. werden könnte, wenn nicht gezielte, auf be- Stamm, M. & Edelmann, D. (Hrsg.) (2013). Hand- nachteiligte Kinder und ihre Familien ausgerich- buch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesba- tete fokussierte Fördermassnahmen implemen- den: VS Fachverlag. tiert werden. Stamm, M. (2010). Vorschulkinder im Treib- haus? In: L. Dunker et al. (Hrsg.), Bildung in der Fazit Kindheit (S. 126-131). Seelze: Klett. Erwartungshaltungen von Familien sind bedeut- Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los. Warum sam, aber je nach sozialer Herkunft unterschied- entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. lich. Deshalb zeigen sich im Zusammenhang mit München: Piper. Elternerwartungen und den Bemühungen, mit Stamm, M. (2017). Elterninvestitionen und ge- frühkindlicher Bildungsförderung Startchancen- sellschaftliche Benachteiligung. Eine Black Box gleichheit zu erzielen, neue unbeabsichtigte Ne- der frühkindlichen Bildungsforschung. Pädago- benwirkungen. gische Rundschau, 3/4, 293-304. Erst in der Gegenüberstellung der Erwartungen Tuppat, J. (2014). Sind türkischstämmige Kinder von Familien mit unterschiedlichem ökonomi- beim Schulstart im Nachteil? KZfSS Kölner Zeit- schem und kulturellem Kapital kann deutlich schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, werden, dass nicht «alle das gleiche Spiel spie- 66, 219-241. len» können. Gemeint ist damit, dass sowohl die . Vorstellungen und Erwartungen der Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-13- Briefing Paper 2: Begriffe In Bildung und Erziehung tauchen regelmässig Erwartungshaltungen sind Teil jeder Erziehung, neue Begriffe auf, die sich schnell verbreiten. sie machen Eltern etwas sicherer und beruhi- Oft werden sie wenig reflektiert übernommen. gen oft auch ihre Ängste. Mit Bezug zur Thematik von Elternerwartungen und -kontrolle gilt dies ganz besonders. Nach- Elternkontrolle folgend werden die damit verbundenen ge- Hinter dem Begriff Elternkontrolle steckt ein bräuchlichsten Begriffe erläutert. psychologisches Konzept, das in einen Zusam- menhang zur Kommunikation mit Kindern ge- Bildungsaspirationen setzt wird. Dementsprechend wird der Begriff Bildungsaspirationen entstehen durch ver- sehr verschieden genutzt, um auf die Anstren- schiedenste Einflussfaktoren. Eines der Haupt- gungen zu verweisen, das Leben mit Kindern zu motive ist das Motiv des Statuserhalts. Grob managen. wird der Begriff (oft auch Bildungsambitionen In der Wissenschaft ist die Rede von «psycho- genannt) definiert als Vorstellungen über den logischer Kontrolle» versus «psychologischer gewünschten, zeitlich aber noch entfernten Bil- Autonomie» oder von «autoritativem» versus dungsabschluss des Kindes. Unterteilt wird er «autoritärem» oder «Laissez-Faire-Erziehungs- in realistische und idealistische Aspirationen. stil». Ein Spezialfall ist der Ansatz der Selbstbe- Beide Arten von Aspirationen können im Ein- stimmungstheorie (Deci & Ryan, 1993), welche klang oder im Gegensatz zueinanderstehen Elternkontrolle unter dem Aspekt intrinsisch (Stocké, 2009a; 2009b). und extrinsisch motivierten Elternverhaltens ⚫ Idealistische Bildungsaspirationen be- untersuchten. schreiben den erhofften und gewünschten Bildungsabschluss und von der Realität los- Auch wenn in mancher Familie die Lebenshal- gelöste Werthaltungen. Tatsächlichen Leis- tung «Beziehung statt Erziehung» vertreten tungen und sonstige möglicherweise ein- wird, ist ein verdeckt kontrollierender Erzie- schränkende Bedingungen spielen keine hungsstil sehr verbreitet. Zum Einsatz gelangen Rolle. manipulative Mittel wie Schuldgefühle und Lie- ⚫ Realistische Bildungsaspirationen bezie- besentzug, um die Kinder dazu zu bringen, sich hen sich auf konkrete Schulleistungen oder wie erwünscht zu verhalten. Noten. Dabei spielen Kosten-Nutzen-Ab- wägens und als vorweg genommene Bil- Weiterführende Literatur dungsentscheidungen eine Rolle. Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbe- stimmungstheorie der Motivation und ihre Be- Bildungserwartungen deutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Päda- Definiert werden Bildungserwartungen als kon- gogik, 39, 2, 223-238. krete und unmittelbare Vorstellungen der El- Schilter, M. (2016). Bildungserwartungen und tern im Hinblick auf die aktuelle Bildungsstufe bildungsbezogene Unterstützungsleistungen. (Spielgruppe, Kita, Kindergarten, Schule). In der Saarbrücken: Akademischer Verlag. Fachliteratur werden Bildungsaspirationen und Stocké, V. (2009a). Idealistische Bildungsaspi- Bildungserwartungen häufig synonym verwen- rationen. In: A. Glöckner-Rist (Hrsg.), Zusam- det (Schilter, 2016). menstellung sozialwissenschaftlicher Items und Skalen. ZIS Version 14.00. Erwartungshaltungen Stocké, V. (2009b). Realistische Bildungsaspira- Erwartungshaltungen stehen für eine zusam- tionen. In: A. Glöckner-Rist (Hrsg.), Zusammen- menfassende Bezeichnung für oft diffuse, stellung sozialwissenschaftlicher Items und manchmal sehr gezielte Denk- und Handlungs- Skalen. ZIS Version 14.00. ziele, welche in der Zukunft liegen. Psychologie der Elternerwartungen
-14- Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss Die Bildung der Eltern sowie ihre ökonomische Bildungsaspirationen und die resultieren- Situation beeinflussen die Erwartungen ganz den Bildungsentscheidungen der Eltern. besonders. In der Regel gilt: Je höher der elter- Kinder aus gut situierten Verhältnissen werden liche Bildungsstand, desto höher die Erwartun- von den Eltern anspruchsvolleren und kostspie- gen. Doch der Einfluss der Eltern geht noch viel ligeren Bildungswegen zugewiesen, auch dann, weiter. Es gibt auch einen starken Zusammen- wenn sie sich intellektuell nicht von Kindern hang zwischen den elterlichen Bildungsaspira- aus einfachen Verhältnissen unterscheiden. tionen und den tatsächlich getroffenen Schul- Gut situierte Familien verfügen über eine grös- laufbahnentscheidungen. Dabei spielen auch sere Bildungsmotivation, fürchten sich kaum Einstellungen und Erwartungen der Lehrkräfte vor Investitionsrisiken und gewichten auch das eine Rolle. Was die Forschung hierzu weiss, ist Sozialprestige höher als Arbeiterfamilien. Diese Thema dieses Briefing Papers. kennen das Gymnasium nicht aus eigener Er- fahrung, schätzen die Zugangshürden als sehr Wie Bildungsaspirationen entstehen hoch ein und schrecken vor den erwarteten In- Die Erwartungshaltungen der Eltern sind eine vestitionskosten zurück, was sich in einer deut- wichtige Komponente des Humankapitals, wel- lichen Skepsis gegenüber akademischer Bil- ches zusammen mit den ökonomischen Res- dung äussern kann. sourcen und dem Sozialkapital den Familien- hintergrund eines Kindes abbildet. Das Human- Der «Mutter-Effekt» kapital steht für eine kognitiv anregende Atmo- Geht es um die bereits erwähnte «concerted sphäre, den zeitlichen Umfang, den Eltern ih- cultivation», wird oft auch von «intensive mot- rem Kind zuteilwerden lassen und ihre Bil- hering» gesprochen. Gemeint ist damit, dass dungsaspirationen. Diese verweisen auch auf sich gut ausgebildete Mütter besonders inten- das Interesse am Statuserhalt, und dieser wie- siv um die Betreuung und Förderung des Nach- derum wirkt sich positiv auf die Erwartungshal- wuchses bemühen und sich dabei in ihren Er- tungen aus (Stamm, 2016). wartungshaltungen an anderen Mittelschicht- Boudon (1974) verwendet das Konzept der Bil- müttern orientieren. dungsaspiration in seinem Modell zur Erklä- Doch warum ist in so vielen Untersuchungen rung sozialer Bildungsungleichheiten. Er unter- ausgerechnet das Bildungsniveau der Mutter scheidet hierbei zwischen primären und sekun- entscheidend? Weil Mütter oft die familiäre dären Herkunftseffekten. Hauptverantwortung tragen und mehr Zeit mit ⚫ Die primären Effekte umfassen die Anre- ihren Kindern verbringen als die Väter. Dies be- gungen und Unterstützungen des Kindes weist laut Meluish (2014) zudem, dass die Er- durch das Elternhaus. Diese beeinflussen fahrungen des Kindes und die erzieherischen seine kognitive Entwicklung, das Lernver- Faktoren rund um die Bildung wichtiger sind als mögen, die Leistungsbereitschaft und auch die blossen Gene. Deshalb spricht er von einem den «Habitus» oder die «Mentalität» d.h. «Mutter-Effekt». In seiner Längsschnittstudie Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungs- muster, die in der Schule besonders gewich- zur Wirkung von verschiedenen Faktoren auf tet werden. Weil solche Bedingungen je die Leistungen von 10-jährigen Schulkindern nach Familie unterschiedlich sind, resultie- waren im Vergleich zum Geburtsgewicht, Ge- ren sie auch in unterschiedlichen Schulleis- schlecht oder Familieneinkommen der Bil- tungen. dungsstand der Mutter und ihre Erwartungen ⚫ Die sekundären Effekte erklären, weshalb am stärksten mit den Leistungen gekoppelt, Kinder trotz gleichen Leistungen und kogni- doppelt so stark wie der Bildungsstand des Va- tiven Fähigkeiten je nach Herkunft in unter- ters und um ein Viertel stärker als der Besuch schiedlich anspruchsvolle und kostspielige einer frühen Förderung. Edward Melhuish Schullaufbahnen gelangen. Ein wichtiger kommt deshalb zum Schluss, dass das, was Grund dafür sind die unterschiedlichen Mütter tun, wichtiger ist, als wer sie sind. Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-15- Aber auch Väter tun heute viel in Richtung «in- Unterschiede (Bourdieu & Passeron, 1971). El- tensive parenting» (Stamm, 2018). Ähnlich wie tern benutzen Gewohnheiten (Essen, Kleidung, ihre Partnerinnen sind sie davon überzeugt, die Wohnung), Freizeitbeschäftigungen (Sport, Kinder optimieren zu müssen, weil diese sonst Kultur, Musik), genauso wie Berufs- oder Le- ihr Potenzial nicht entfalten können. bensziele sehr unterschiedlich, um ihr status- bezogenes Bewusstsein auszudrücken. Dies gilt Eltern unterstützen das Kind, wo sie nur kön- auch für ihre Leistungsorientierung, ihre Bil- nen, halten es zum Lernen an, kontrollieren die dungsambitionen, ihre Art und Weise, ob und Hausaufgaben, schicken es in der Freizeit in wie sie ihren Nachwuchs kontrollieren und in- Förderkurse und pflegen einen engen Kontakt wiefern sie in ihren Erziehungsstil als Motivati- zur Schule. Stellen sich die erwünschten Leis- onsförderung Belohnungs- und Anreizsysteme tungen nicht ein, wird der Druck aufs Kind er- einbauen. höht, vielleicht werden Belohnungen in Aus- sicht gestellt oder weitere Lernunterstützung Dass es grosse Unterschiede gibt, wird aus Ab- organisiert. bildung 1 deutlich. In dieser Abbildung sind die Ergebnisse einer Clusteranalyse dargestellt, die Elterntypen und ihre Erwartungen auf der Datenbasis einer Nacherhebung unse- Es wäre vermessen, Eltern mit ihren Bildungs- rer FRANZ-Studie basieren. In die Analyse ein- aspirationen und Erwartungshaltungen als ein- bezogen wurde neben dem Ausbildungsniveau heitliche Gruppe zu bezeichnen, die anhand der Mutter die Bedeutung der Noten für die El- bestimmter Merkmale etikettiert werden tern, die Bildungsambitionen im Hinblick auf kann. Unbesehen der sozialen Herkunft oder die Schullaufbahn des Kindes, das Ausmass der der kulturellen Hintergründe reagieren bei wei- Elternkontrolle sowie die Frage nach vorhande- tem nicht alle Väter und Mütter gleich auf die nen Belohnungssystemen (z.B. Geld für gute heutige gesellschaftliche Situation. Es gibt feine Noten oder ein gutes Zeugnis). Abbildung 1: Typen von Eltern und ihre Erwartungen (z-Werte2) Typ 1 findet sich in 99 Fällen (33% der Stich- anspruchsvollen Berufen und in einem höhe- probe). Mütter dieses Typs sind vorwiegend in ren Pensum tätig. Die Eltern erachten gute 2 z-Werte stellen Standardabweichungen vom Mittelwert dar. Ein z-Wert von 1 bedeutet beispielsweise, dass dieser Wert eine Stan- dardabweichung vom Mittelwert entfernt ist, also eine Standardabweichung oberhalb des Mittelwerts liegt. Ein z-Wert von -1 besagt, dass sich der Wert eine Standardabweichungen unterhalb des Mittelwerts befindet. Psychologie der Elternerwartungen
-16- Schulleistungen als selbstverständlich, weshalb sind gute Schülerinnen und Schüler. Weil Eltern sie den Noten keine allzu grosse Bedeutung ihre Kinder im Vergleich zu den anderen Clus- beimessen. Sie sind bildungsambitioniert, kon- tern am stärksten kontrollieren und sie gleich- trollieren ihre Kinder durchschnittlich und be- zeitig die Noten hoch gewichten, bekommt die- lohnen sie für gute Leistungen eher wenig. Ihre ser Typ die Etikette «Kontroll- und Leistungsori- Kinder erbringen sehr gute Schulleistungen. entierte». Weil die Ausprägung solcher Merkmale darauf schliessen lassen, dass Eltern dem allgemeinen Wenn Bildungserwartungen zu hoch wer- Trend , bildungsambitiös und kontrollierend zu den sein, nur sehr zurückhaltend folgen, wird die- Es ist eine empirisch vielfach belegte Tatsache, ses Cluster «Bildungsgewohnte Selbstsichere» dass Kinder erfolgreicher in der Schule sind, genannt. wenn ihre Eltern an sie glauben und hohe Er- In Typ 2 (N=90) sind 30% der Eltern zusammen- wartungen haben. Dies wird in Typ 1 der Clus- gefasst. Die Mütter sind vorwiegend im kauf- teranalyse bestätigt. Sind hohe Erwartungen in männisch-gewerblichen Bereich im höheren jedem Fall gut? Nicht unbedingt, denn Typ 2 Kader tätig. Im Vergleich zu den anderen drei zeigt ansatzweise, dass es möglicherweise ein Typen achten diese Eltern besonders auf gute «zu viel» an Bildungsambitionen und -erwar- Noten, sind am bildungsambitioniertesten, tungen geben kann. Dass hohe Ambitionen so- kontrollieren ihre Kinder am zweitstärksten gar schädlich sein können, belegt eine deut- und setzen auch gezielt Belohnungen für gute sche Studie von Murayama et al. (20163). Die Noten ein. Diese Merkmalsausprägung führt Resultate verweisen darauf, dass Kinder von El- zur Zuschreibung «Bildungsambitioniert Strate- tern mit hohen Bildungserwartungen bessere gische». Trotzdem sind die Kinder dieses Clus- Leistungen in Mathematik erbringen. Über- ters tendenziell eher durchschnittliche Schüle- schreiten die Ambitionen die realistischen Er- rinnen oder Schüler. wartungen, zeigen Kinder schlechtere Leistun- gen in Mathematik. Die Autoren kommen des- Typ 3 markiert in gewisser Hinsicht den Gegen- halb zum Schluss, dass sich unrealistisch hohe pol zu Cluster II. Er beschreibt diejenigen 11% Ambitionen negativ auf die Mathematikleis- (N=33) der vorwiegend das Arbeitermilieu re- tungen der Kinder auswirken können. präsentierenden Elternhäuser mit Müttern, die im Dienstleistungsbereich untergeordnete Ar- Beeinflussung der Lehrkräfte durch Elter- nerwartungen beiten verrichten. Die Noten sind für die Eltern bedeutend weniger wichtig als für die Eltern Je nach Typ haben Eltern auf den Bildungsver- der anderen drei Typen. Gleiches gilt für das lauf der Kinder und Jugendlichen einen grossen Kontrollverhalten und die Anreize für gute No- Einfluss auf die Bildungslaufbahn ihres Nach- ten. ihre Bildungsambitionen sind geringer als wuchses, insbesondere auf die Frage, ob das in Typ 1, die Schulleistungen der Kinder sind Kind eher eine Lehre macht oder das Gymna- durchschnittlich. Das Cluster bekommt deshalb sium besucht. Das ist ein erwartetes Ergebnis die Bezeichnung «Moderat Wachsenlas- der FASE-B-Untersuchung von Neuenschwan- sende». der (2013). Ein zweites Ergebnis erstaunt. Elter- nerwartungen beeinflussen nicht nur die Kin- Typ 4 umfasst 26% des Samples (N=75). Die der, sondern auch deren Lehrkräfte. Neuen- Mütter haben meist einen kaufmännisch-ge- schwander (ebd.) konnte nachweisen, dass bei werblichen Hintergrund und sind oft in KMUs gleicher Leistung Lehrkräfte einem Kind von El- tätig. Im Vergleich zu den anderen Clustern tern mit hohen Bildungserwartungen bessere kontrollieren die Eltern ihre Kinder am ausge- Noten geben. Einschränken müsste man diese prägtesten, setzen aber weniger auf Anreize, Befund auf bildungsaffine einheimische Eltern. dafür mehr auf gute Noten. Ihre Bildungsambi- tionen sind ähnlich wie in Cluster 3. Ihre Kinder 3 Untersucht wurden N=3’500 Kinder aus 42 Schulen in sie von ihren Kindern in Mathematik im nächsten Zeugnis er- Deutschland während 5 Jahren. Die Kinder und Eltern wur- warteten und welche Note sie als realistisch erachteten. Zu- den von der 5. bis zur 10. Klasse einmal pro Jahr befragt. Un- dem wurde eine fast identische Studie mit N=12’000 Schüle- ter anderem wurden von den Kindern die Leistungen in Ma- rinnen und Schülern in den USA durchgeführt. thematik erfasst. Die Eltern mussten angeben, welche Note Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-17- Warum ist dies so? Sicher liegt es unter ande- Leistungen ihrer Kinder und auf die Selektion rem an unserem mehrgliedrigen Bildungssys- beim Übertritt in die Sekundarstufe I. Dies spie- tem sowie am Umstand, dass Eltern bei der Se- gelt sich auch in unserer Typologie. Obwohl sie lektion über das Rekursrecht ein gewichtiges deutlich macht, dass sich Eltern in ihren Erwar- Wörtchen mitzureden haben. Nehmen Lehr- tungen und Ambitionen unterscheiden, wirken kräfte den Selektionsentscheid beim Übergang sich hohe Elternerwartungen positiv auf die in die Sek I vor, haben sie immer auch die Er- Leistungen der Kinder aus. Dies wird im Typ wartungshaltungen der Eltern im Kopf. Deshalb «Bildungsgewohnte Selbstsichere» deutlich. El- schlagen sie bei gleicher Leistung Kinder von El- tern können tatsächlich als Erfolgspromotoren tern mit einer hohen Bildungserwartung eher ihrer Söhne und Töchter wirken. für die leistungsstärkere Abteilung der Sekun- Allerdings markiert der Typ 2 («Bildungsambiti- darstufe I vor. oniert Strategische»), dass sich Ehrgeiz nicht Dieser Sachverhalt wird in der Dissertation von immer in Spitzenleistungen niederschlagen Hofstetter (2017) empirisch bestätigt. Unter- muss. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sucht hat er die Übertrittsverfahren ins Gymna- Kinder höhere Leistungen zeigen, wenn Eltern sium im Kanton Freiburg. Im Ergebnis liessen Hoffnungen in sie setzen. Erwartungen sollten sich drei Gruppen von Eltern/Lehrkräften un- aber realistisch und nicht überambitioniert terscheiden: sein. Unrealistisch hohe Erwartungen können ⚫ Eltern und Lehrkräfte auf Augenhöhe: Be- den Schulerfolg der Kinder sogar behindern. steht eine kongruente Beziehung zwischen Allerdings dürften die Lehrkräfte das Zünglein Eltern und Lehrkräften, wird die Übertritts- an der Waage spielen. Denn Elternerwartun- empfehlung in gegenseitiger Sympathie gen beeinflussen auch die Notengebung. Vor diskutiert. Es besteht eine Bereitschaft der Lehrkräfte, ihre eigenen Eindrücke in Frage diesem Hintergrund wird es nachvollziehbar, zu stellen. dass Kinder überambitionierter Eltern trotz- dem oft den Weg ins Gymnasium schaffen. Vor ⚫ Überlegenheit der Eltern gegenüber den diesem Hintergrund müsste die Aussage man- Lehrkräften: In dieser Situation überden- cher Forscherinnen und Forscher relativiert ken Lehrkräfte ihr Urteil mehrfach, weil sie damit rechnen, dass sie ihren Entscheid werden, Schulnoten seien der beste Prädiktor werden legitimieren müssen. Eltern lenken für Intelligenz. Schulnoten sind oft eher ein Ab- das Gespräch, bis die schulische Deutung bild des Elternengagements und der sozialen ihres Kindes ihren Erwartungen entspricht. Herkunft. ⚫ Überlegenheit der Lehrkräfte gegenüber den Eltern: Selbst wenn Eltern (meist ein- Weiterführende Literatur facher Sozialschichten) eine höhere Zutei- Boudon, R. (1974). Education, opportunity, and lung ihres Kindes wünschen, folgen sie der social inequality. New York: Wiley. Argumentation der Lehrperson. Sie sind Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971). Die Illu- überzeugt, dass Lehrerinnen und Lehrer aufgrund ihrer Professionalität das Kind sion der Chancengleichheit. Untersuchungen besser einschätzen können als sie. zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett. Solche Ergebnisse verweisen auf ein Dilemma: Hofstetter, D. (2017). Die schulische Selektion Zwar können Eltern bei der Selektion mitwir- als soziale Praxis: Aushandlungen von Bildungs- ken, weshalb die Akzeptanz der Schule in der entscheidungen beim Übergang von der Pri- Elternschaft erhöht werden kann. Andererseits marschule in die Sekundarstufe I. Weinheim: Beltz Juventa. wird dadurch auch die Chancenungleichheit verstärkt, weil die Erwartungen von bildungs- Meluish, E. (2010). Impact of the home learning ambitionierten Eltern erfolgreich sind. environment on child cognitive development: Secondary analysis of data from «Growing Up Fazit in Scotland». Edinburgh, United Kingdom: The Scottish Government. Die Forschung liefert deutliche Beweise dafür, dass Elternerwartungen und Bildungsambitio- Murayama, K., Pekrun, R., Suzuki, M., Marsh, H. nen eine Rolle spielen im Hinblick auf die W., & Lichtenfeld, S. (2016). Don’t aim too high Psychologie der Elternerwartungen
-18- for your kids: Parental overaspiration under- Neuenschwander (Hrsg.), Selektion in Schule mines students’ learning in mathema- und Arbeitsmarkt. Zürich/Chur: Rüegger. tics. Journal of Personality and Social Psycho- Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum logy, 111, 5, 766-779. entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. Neuenschwander, M. P. (2013). Selektion beim München: Piper. Übergang in die Sekundarstufe I und in den Ar- Stamm, M. (2018). Neue Väter brauchen neue beitsmarkt im Vergleich (S. 63-97). In: M. P. Mütter. Weshalb Familie nur gemeinsam ge- lingt. München: Piper. Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-19- Briefing Paper 4: Elternerwartungen in Migrantenfamilien Migrantenfamilien, auch solche aus einfachen ansätze dienen können. Nachfolgend werden Sozialschichten, haben im Durchschnitt höhere die interessantesten vier Ansätze diskutiert. Bildungsaspirationen für ihre Kinder als einhei- ⚫ Zuwanderungsoptimismus: Es wird argu- mische Familien. Dies gilt auch bei schlechteren mentiert, dass Migrantinnen und Migranten Schulleistungen. Allerdings können die Kinder in Bezug auf ihre Arbeitsmoral und ihren die in sie gesteckten Erwartungen oft nicht in Ehrgeiz eine positiv selektierte Gruppe sind entsprechende Schulleistungen umsetzen. (Kao & Tienda, 1995; Becker, 2010). Sie sind meistens ausgewandert, um etwas zu errei- Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft wie- chen und ihre Lebensbedingungen zu ver- derholt untersucht und bestätigt worden, in der bessern. Entsprechend haben Migrantenel- pädagogischen Praxis bisher jedoch kaum ange- tern auch hohe Aspirationen an die Bil- kommen. Deshalb wird es in diesem Briefing Pa- dungslaufbahnen ihrer Kinder. Dies hat sich per näher untersucht. Dabei geht es um zwei besonders ausgeprägt in unserer MIRAGE- Fragen: Studie zu den erfolgreichsten Migrantinnen und Migranten in der Berufsbildung gezeigt ⚫ Warum haben Migrantenfamilien durch- (Stamm, Leumann & Kost, 2014). Eine hohe schnittlich höhere Bildungsaspirationen im Bildung der Kinder sehen viele als wichtigs- Vergleich zu einheimischen Familien, auch ten Weg an, um die Aufwärtsmobilität zu unter Kontrolle der Schulleistung der Kin- verwirklichen. der? Ogbu und Fordham (1986) unterscheiden ⚫ Weshalb können die Kinder diese hohen As- ferner zwischen freiwilliger und unfreiwilli- pirationshaltungen nicht in angemessene ger Immigration. Freiwillig immigrierte Fa- Leistungen transformieren? milien haben weit höhere Bildungsaspirati- onen und sind stärker bereit, kulturelle Dif- Das «Aspiration-Achievement-Paradox» ferenzen in Bezug auf Sprache, Integration Da sich Bildungsaspirationen oftmals an die ak- oder Kommunikation zu überwinden, wäh- rend unfreiwillig immigrierte Familien sie tuellen schulischen Leistungen der Kinder an- zum Schutze ihrer ursprünglichen Identität gleichen und Kinder mit Migrationshintergrund nutzen und eine zum Mainstream konträre im Durchschnitt schlechter abschneiden als sol- Subgruppenidentität entwickeln. che aus einheimischen Familien, wären für die ⚫ Informationsdefizite: Eine andere mögliche meisten Migrantengruppen eher niedrigere Bil- Ursache für die hohen (realistischen) Bil- dungsaspirationen zu erwarten. Dem ist aber dungsaspirationen von Migrantenfamilien nicht so. Dieses Phänomen wird auch als als ist gemäss Becker und Gresch (2016) das «Aspiration-Achievement-Paradox» bezeichnet fehlende Wissen über das hiesige Bildungs- (Becker, 2010; Becker & Gresch, 2016). Es sind system. Diese These wird oft vertreten, ins- also nicht nur die Zuwanderungseliten («Ex- besondere dann, wenn es um die Wahl von pats»), welche hohe Erwartungshaltungen an Berufslehre oder Gymnasium geht. For- ihre Kinder haben. Deshalb stellt sich die Frage schungsarbeiten z.B. von Gresch (2012) ma- nach den Hintergründen dieses paradoxen Be- chen zudem deutlich, dass Kinder von ihren Eltern oft besser eingeschätzt werden als funds. dies die Noten nahelegen und dies auch für die Selbsteinschätzung der Kinder gelten Gründe für höhere Bildungsaspirationen kann. Dazu kommen auch die sprachlichen Im Hinblick auf die erste Frage nach den mögli- Barrieren in der Zusammenarbeit mit chen Ursachen für die oft überdurchschnittlich Schule und Lehrkräften, was wiederum zu hohen Bildungsaspirationen in Migrantenfami- einer unrealistischeren Einschätzungen der schulischen Leistungen führt. lien finden sich in der Fachliteratur verschie- dene Studien, die als mögliche Erklärungs- ⚫ Wahrgenommene Diskriminierung: Diese These, die auch als «blocked opportunities thesis» bekannt ist, steht für ein Psychologie der Elternerwartungen
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