Psychologie der Elternerwartungen - Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg beeinträchtigen können - Kanton ...

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Psychologie der Elternerwartungen - Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg beeinträchtigen können - Kanton ...
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            Psychologie der
        Elternerwartungen
                                    Warum zu hohe Erwartungen
                                      den kindlichen Schulerfolg
                                        beeinträchtigen können

                                                          Dossier 21/1

                                            Prof. Dr. Margrit Stamm

Psychologie der Elternerwartungen
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                Swiss Education
Prof. Dr. Margrit Stamm
Professorin em. für Erziehungswissenschaft an der Universität Fribourg
Forschungsinstitut Swiss Education
Aeschbachweg 12
CH-5000 Aarau
+41 (0)31 311 69 69
Persönliche Assistentin: Romina Zenklusen 079 462 92 82
margrit.stamm@unifr.ch
margritstamm.ch

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
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Inhalt
Vorwort ..................................................................................................................................... 4

Inhalte und Ziele des Dossiers ..................................................................................................... 5

Management Summary .............................................................................................................. 6

Schlüsselbotschaften .................................................................................................................. 9

Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Elternerwartungen ........................................................ 11

Briefing Paper 2: Begriffe .......................................................................................................... 13

Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss ................................................................................ 14

Briefing Paper 4: Elternerwartungen in Migrantenfamilien ........................................................ 19

Briefing Paper 5: Elternkontrolle und ihre Auswirkungen ........................................................... 22

Briefing Paper 6: Zusammenfassung und Empfehlungen ............................................................ 25

Psychologie der Elternerwartungen
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Vorwort
Wovon hängt es ab, ob eine Erstklässlerin zu den                   Geht es allerdings um die gezielte Förderung klei-
guten Schülerinnen gehört, ein Sechstklässler in                   ner Kinder aus besser situierten Familien, sind die
die Sekundarschule, die Realschule oder ins Gym-                   Meinungen geteilt, ob hohe Elternengagements
nasium kommt? Und ob eine 15-jährige den ge-                       und -erwartungen für die Kinder förderlich sind.
wünschten Ausbildungsplatz erhält oder nicht?                      Psychoanalytisch und entwicklungsorientierte
Natürlich von der Leistung, sprich Schulnoten –                    Fachleute sind eher skeptisch, während die Hirn-
denken die meisten.                                                forschung die Bedeutung der elterlichen Bil-
                                                                   dungsambitionen herausstreicht.
Leider nicht nur, lautet die Antwort. Die soziale
Herkunft erweist sich einmal mehr als zentral. Ne-                 Mit Blick auf die gesamte Bildungslaufbahn be-
ben den Lehrpersonen sind die Eltern zentral für                   steht in der Forschung Einigkeit darüber, dass El-
die schulische Leistung und die Noten ihrer Kin-                   tern mit hohen Erwartungshaltungen und einem
der. Das Elternhaus erklärt auch in hohem Aus-                     autoritativen, moderat kontrollierenden Erzie-
mass, in welchem Schultypus der Oberstufe ein                      hungsstil («Monitoring») die entwicklungsförder-
Kind sitzt und ob dieses eine Lehre macht oder ein                 lichsten Bedingungen schaffen. Doch zu hohe Er-
Gymnasium besucht.                                                 wartungen, begleitet von einer non-stop-Kon-
                                                                   trolle, überfordern Kinder und machen aus ihnen
Dies ist allerdings nichts Neues. Neu und bisher
                                                                   extrinsisch motivierte, d.h. fremdgesteuerte
wenig beachtet worden ist die in Studien vielfach
                                                                   Hochleister.
nachgewiesene Tatsache, dass nicht nur die sozi-
ale Herkunft, sondern in erster Linie die Elterner-                Das vorliegende Dossier konzentriert sich auf drei
wartungen eine grosse Rolle spielen. Sie sind ge-                  Fragen: (1) Was Elternerwartungen sind, wie sie
wissermassen der zentrale Mediator,                                          sich nach Familientyp unterscheiden
über den bildungsambitionierte Fa-                                           und welchen Bezug sie zum Bildungser-
milien ihren Kindern zum Bildungser-                                         folg der Kinder haben; (2) warum Mig-
folg verhelfen. Migrantenfamilien                                            rantenfamilien oft besonders hohe Er-
haben oft ebenso hohe Ambitionen,                                            wartungen haben, ihre Kinder diese
meist ohne dass sich diese in guten                                          aber nicht in gute Schulnoten transfor-
Leistungen ihrer Kinder abbilden.                                            mieren können und (3) welche Rolle die
                                                                             Elternkontrolle spielt.
Kaum berücksichtigt wird ein anderer Faktor, der
meist mit hohen Elternerwartungen einhergeht:                      Das Dossier kommt zum Schluss, dass hohe Er-
die Kontrolle durch das Elternhaus. Weil seit der                  wartungen wichtig, Überaspirationen jedoch
Jahrtausendwende die Sicherheit der Kinder und                     schädlich sind. Deshalb lautet die Botschaft eher:
eine «verantwortete Elternschaft» zunehmend                        Liebe Eltern, helft euren Kindern, ihr Potenzial
im Mittelpunkt stehen, wird von Eltern erwartet,                   selbst zu entwickeln, damit sie ihr echtes Selbst
dass sie ihren Nachwuchs engmaschig betreuen                       entdecken und Kompetenzen entwickeln dürfen,
und kontrollieren. Ein Beispiel sind die Hausauf-                  die lebenstüchtig machen.
gaben.
                                                                   Das Ziel dieses Dossiers ist es, Wirkungen und Zu-
Auch im Zuge der frühen Förderung wird die                         sammenhänge von Elternerwartungen und El-
Frage diskutiert, welche Bedeutung das Elternen-                   ternkontrolle im Hinblick auf eine entwicklungs-
gagement spielt. Grundsätzlich besteht ein Kon-                    angemessene Förderung und Begleitung aufzu-
sens, dass frühkindliche Bildungsförderung zur                     zeigen.
Minimierung ungleicher Startchancen der Kinder                     Aarau, im Januar 2021
beitragen kann und der Fokus deshalb spezifisch
auf benachteiligte Familiengruppen und ihre Kin-
der zu legen ist. Diese Ausrichtung ist wichtig, um
Bildungsungleichheiten wenigstens teilweise ver-                   Prof. Dr. Margrit Stamm
ringern zu können.                                                 Professorin em. der Universität Fribourg
                                                                   Forschungsinstitut Swiss Education

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
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Inhalte und Ziele des Dossiers
Das vorliegende Dossier konzentriert sich auf El-      Das vorliegende Dossier ist wiederum auf der Ba-
ternerwartungen und Elternkontrolle sowie de-          sis der Recherchearbeiten meiner persönlichen
ren Auswirkungen. Der Fokus liegt zwar auf bil-        Assistentin Romina Zenklusen entstanden. Sie
dungsambitionierten Mittelschichtfamilien, doch        hat den Text auch lektoriert, wofür ich ihr herz-
werden ebenso die Bildungsaspirationen von             lich danke.
Migrantenfamilien beleuchtet.
                                                       Alle Dossiers sind auf der Website margrit-
Elternerwartungen können nicht losgelöst vom           stamm.ch gratis herunterladbar. Mit Bezug auf
Kontrollverhalten von Müttern und Vätern disku-        den Frühbereich inklusive Primarschulalter sind
tiert werden. Dieses Verhalten ist einerseits ein      bisher folgende Dossiers erschienen:
Ergebnis unserer Leistungs- und Sicherheitskul-        ⚫ Der Schuleintritt. Sieben wissenschaftliche
tur und andererseits auch eine Reaktion auf das          Erkenntnisse für die bildungspolitische Har-
von Schulen gewünschte Engagement der Eltern,            moS-Diskussion (Dossier 10/1).
beispielsweise in Bezug auf die Hausaufgaben.
                                                       ⚫ Wozu frühkindliche Bildung? (Dossier 11/1).
Mütter und Väter, welche ihrem Kind viel Frei-
raum und Selbstverantwortung geben, gelten in          ⚫ Achtung, fertig, Schuleintritt (Dossier 12/2).
der Schule manchmal als «wenig förderorien-            ⚫ Qualität und frühkindliche Bildung (Dossier
tiert», solche mit gezielter Kontrolle und enger         12/3).
Betreuung als «karriereorientiert». Es ist somit
                                                       ⚫ Bildungsort Familie (Dossier 13/1).
etwas zu simpel, den Eltern grundsätzlich die
Schuld zuzuweisen und sie als Helikoptereltern         ⚫ Bildung braucht Bindung (Dossier 13/4).
zu bezeichnen. Denn das von mancher Schule er-         ⚫ Frühe Sprachförderung: Was sie leistet und
wartete Verhalten von Vätern und Müttern als             wie sie optimiert werden kann (Dossier
«kontrollierende Eltern» kann auch zu einer Leit-        14/1).
planke werden, was ein «förderliches» und was          ⚫ Best Practice in Kitas und Kindergärten. Von
ein «Laissez-Faire» Elternhaus ist.                      erfolgreichen Fach- und Lehrkräften lernen
                                                         (Studie PRINZ) (Dossier 14/2).
Dass ein kontrollierendes mit Blick auf Erwartun-
gen ambitioniertes Elternhaus nicht per se för-        ⚫ Frühförderung als Kinderspiel (Dossier
derlich ist, weist dieses Dossier nach. Hohe Elter-      14/5).
nerwartungen sind zwar entwicklungsförderlich,         ⚫ Blickpunkt Kindergarten. Der Übergang ins
zu hohe Ambitionen – kombiniert mit engma-               Schulsystem. Dossier 15/3.
schiger Kontrolle – führen aber eher zu ängstli-       ⚫ Väter: Wer sie sind, was sie tun, wie sie wir-
chen, unsicheren und unselbstständigen Kin-              ken (Dossier 16/1).
dern.
                                                       ⚫ Ich will – und zwar jetzt! Mangelnde emoti-
Das Dossier beantwortet folgende Fragen:                 onale Kompetenzen im Vorschulalter und
                                                         ihre Folgen (Dossier 16/3).
⚫ Wie wichtig sind Elternerwartungen, und
  was bewirken sie?                                    ⚫ Professionalisierung im Vorschulbereich.
                                                         Berufliche Handlungskompetenz und Prakti-
⚫ Wie unterscheiden sich Eltern im Hinblick auf
                                                         sche Intelligenz in Zeiten der Akademisie-
  ihre Erwartungen und Ambitionen und wie
                                                         rung (Dossier 18/1).
  sind diese mit dem Schulerfolg ihres Kindes
  verbunden?                                           ⚫ Buben als «Bildungsverlierer?» Weshalb Ini-
                                                         tiativen in Kita und Kindergarten ansetzen
⚫ Was weiss die Forschung über das Kontroll-
                                                         sollten (Dossier 20/1).
  verhalten von Eltern und wie beeinflusst die-
  ses die kindliche Entwicklung?

Psychologie der Elternerwartungen
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Management Summary
Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Er-                          Bildungsaspirationen werden als Vorstellungen
wartungen der Eltern                                               über den gewünschten, zeitlich aber noch ent-
Bildungsungleichheiten sind in der Schweiz                         fernten Bildungsabschluss des Kindes definiert.
stabil. Viele Studien weisen nach, dass die Wei-                   Bildungserwartungen gelten als konkrete und un-
chen hierfür bereits im Vorschulalter gestellt                     mittelbare Vorstellungen der Eltern im Hinblick
werden und Elternerwartungen dabei eine
grosse Rolle spielen.                                              auf die aktuelle Bildungsstufe. Erwartungshaltun-
                                                                   gen stehen für eine zusammenfassende Bezeich-
                        Briefing Paper 1 Seite 11                 nung für oft diffuse, manchmal sehr gezielte
                                                                   Denk- und Handlungsziele, die in der Zukunft lie-
In der internationalen Forschung zur Entwicklung
                                                                   gen. Erwartungshaltungen sind Teil jeder Erzie-
von Vorschulkindern gelten das familiäre Umfeld
                                                                   hung, sie machen Eltern etwas sicherer und beru-
und gemeinsame Aktivitäten von Eltern und Kin-
                                                                   higen oft auch ihre Ängste.
dern schon seit längerem als massgeblich für eine
nachhaltige kindliche Entwicklung.                                 Der Begriff Elternkontrolle wird genutzt, um die
                                                                   Anstrengungen zu beschreiben, das Leben mit
Eltern höherer Sozialschichten verfügen schon in
                                                                   den Kindern zu managen. Dazu gehören auch ver-
den ersten Lebensjahren über eine selbstbe-
                                                                   deckte Kontrollen anhand manipulativer Mittel
wusste Bildungsmotivation und gewichten auch
                                                                   wie Schuldgefühle und Liebesentzug.
das Sozialprestige höher als solche niedrigerer So-
zialschichten. Unter dem Stichwort «Treibhaus-                     Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss
Debatte» hat das Phänomen nun auch Eingang in
                                                                   Die Bildung der Eltern sowie ihre ökonomische
die wissenschaftliche und gesellschaftspolitische                  Situation beeinflussen die Erwartungen ganz be-
Diskussion gefunden.                                               sonders. In der Regel gilt: Je höher der elterliche
                                                                   Bildungsstand, desto höher die Erwartungen.
Wenn Elternerwartungen einen Unterschied ma-                       Doch der Einfluss der Eltern geht noch viel wei-
chen, geht es nicht nur darum, möglichst syste-                    ter.
matisch benachteiligte Kinder und ihre Familien
für frühe Bildungsmassnahmen zu gewinnen,
                                                                                       Briefing Paper 3 Seite 14
sondern genauso die Erwartungshaltungen von                        Die Forschung liefert deutliche Beweise dafür,
Fachkräften in den Blick zu nehmen. Fördermass-                    dass Elternerwartungen und Bildungsambitionen
nahmen nützen wenig, wenn Fachkräfte Kindern                       im Hinblick auf die Leistungen ihrer Kinder und
aus einfachen Familien schon beim ersten Kon-                      auf die Selektion beim Übertritt in die Sekundar-
takt allein aufgrund ihrer Herkunft mit geringen                   stufe I zentral sind. Kinder zeigen höhere Leistun-
Erwartungshaltungen begegnen. Denn wahr-                           gen, wenn Eltern Hoffnungen in sie setzen. Erwar-
scheinlich wird sich dieses Kind – und mit einer                   tungen sollten aber realistisch und nicht überam-
relativ hohen Wahrscheinlichkeit auch seine El-                    bitioniert sein. Unrealistisch hohe Erwartungen
tern – unbewusst genauso verhalten, dass dies                      können den Schulerfolg der Kinder sogar behin-
auch eintrifft (sich selbsterfüllende Prophezei-                   dern.
ung, «Self Fullfilling Prophecy»).
                                                                   Allerdings dürften die Lehrkräfte das Zünglein an
Solche Erwartungen spielen bereits beim Über-                      der Waage spielen. Denn Elternerwartungen be-
tritt ins Bildungssystem eine wichtige Rolle.                      einflussen auch die Notengebung. Vor diesem
                                                                   Hintergrund wird es nachvollziehbar, dass Kinder
Briefing Paper 2: Begriffe
                                                                   ohne Spitzennoten aber mit überambitionierten
In Bildung und Erziehung tauchen regelmässig                       Eltern trotzdem oft den Weg ins Gymnasium
neue Begriffe auf, die sich schnell verbreiten.
Oft werden sie undiskutiert und unreflektiert                      schaffen. Somit müsste die Aussage mancher For-
übernommen. Dies gilt auch für die Thematik                        scherinnen und Forscher relativiert werden,
der Elternerwartungen.                                             Schulnoten seien der beste Prädiktor für Intelli-
                        Briefing Paper 2 Seite 13                 genz. Schulnoten sind oft eher ein Abbild von

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
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Elternerwartungen und -engagement und häufig                entsprechenden Leistungen ihres Kindes kaum,
auch der sozialen Herkunft.                                 sich für gute Noten oder eine Übertrittsempfeh-
                                                            lung einzusetzen. Für sie sind Lehrkräfte Professi-
Briefing Paper 4: Bildungsaspirationen von                  onelle, weshalb man ihrer Einschätzung ver-
Migrantenfamilien                                           trauen muss. Ebenfalls ist in Betracht zu ziehen,
Migrantenfamilien, auch solche aus einfachen                dass Migrantenfamilien oft eine «kollektive Be-
Sozialschichten, haben im Durchschnitt höhere               handlungsbedürftigkeit» zugeschrieben wird. Da-
Bildungsaspirationen für ihre Kinder als einhei-            ran ist auch der Begriff «Migrationshintergrund»
mische Familien. Allerdings können diese die in
sie gesteckten Erwartungen oft nicht in entspre-            beteiligt.
chende Schulleistungen umsetzen. Warum ist
dem so?                                                     Briefing Paper 5: Elternkontrolle und ihre
                                                            Auswirkungen
                         Briefing Paper 4 Seite 19
                                                            Elternerwartungen sind ein Schlüsselelement
Das Phänomen, wonach Migrantenfamilien                      zum Verständnis der elterlichen Einflussnahme.
                                                            Aber sie sind nur die eine Seite der Medaille. Die
durchschnittlich hohe Bildungsaspirationen ha-              andere Seite ist die Elternkontrolle.
ben, ist in der Wissenschaft wiederholt unter-
sucht und bestätigt worden, in der pädagogischen                                 Briefing Paper 5 Seite 22
Praxis bisher jedoch kaum angekommen. Dieses
                                                            Elternkontrolle kann mit bestimmten offenen
Phänomen wird auch als «Aspiration-Achieve-
                                                            und verdeckten Erwartungshaltungen und Mani-
ment-Paradox» bezeichnet.
                                                            pulationen verbunden sein, weshalb der Begriff
Warum ist dem so? Dafür finden sich verschie-               für die Pädagogik von grosser Bedeutung ist.
dene mögliche Erklärungsansätze. (1) Mit dem                Doch oft gilt Kontrolle als «böses» Wort, weil man
Zuwanderungsoptimismus wird argumentiert,                   lieber von «Beziehung statt Erziehung» spricht
dass Migrantinnen und Migranten in Bezug auf                und die Tatsache dauernder kindlicher Überwa-
ihre Arbeitsmoral und ihren Ehrgeiz eine positiv            chung und deren Folgen verdrängt. Es steht aber
selektierte Gruppe sind. Sie sind meistens ausge-           viel auf dem Spiel. Kontrollierende Eltern haben
wandert, um etwas zu erreichen und ihre Lebens-             in der Regel Kinder mit weniger intrinsischer, da-
bedingungen zu verbessern. Entsprechend haben               für viel extrinsischer Motivation, die zudem un-
Migranteneltern auch hohe Aspirationen an die               selbstständiger, leistungsängstlicher und weniger
Bildungslaufbahnen ihrer Kinder. (2) Die Informa-           selbstbewusst sind.
tionsdefizite werden als mögliche weitere Ursa-
                                                            Eine dauerüberwachende Erziehung nimmt den
che für die hohen Bildungsaspirationen herange-
                                                            Kindern die Möglichkeit, aus sich heraus und ent-
zogen. Das oftmals fehlende Wissen über das hie-
                                                            sprechend ihren Fähigkeiten zu lernen. Eltern, die
sige Bildungssystem kann dazu führen, dass Kin-
                                                            ständig eingreifen, weil sie vom höheren Leis-
der von ihren Eltern besser eingeschätzt werden
                                                            tungspotenzial ihres Kindes überzeugt sind, ver-
als dies die Noten nahelegen. Dazu kommen auch
                                                            mitteln ihm die Botschaft, dass es nicht gut genug
die sprachlichen Barrieren in der Zusammenar-
                                                            ist. Allerdings ist Kontrolle nicht immer offen-
beit mit Schule und Lehrkräften, was wiederum
                                                            sichtlich. Es gibt auch eher verdeckte Kontrollstra-
zu unrealistischeren Einschätzungen der schuli-
                                                            tegien wie Liebesentzug oder besondere Anreize
schen Leistungen führt. (3) Die These der wahrge-
                                                            wie beispielsweise Geld für gute Noten.
nommenen Diskriminierung steht für die gefühlte
Diskriminierung mancher Migrantenfamilie auf                Wirken solche Anreize positiv? Fasst man For-
dem Arbeitsmarkt, weshalb sie auf eine hohe Bil-            schungsbefunde zusammen, dann kann ein finan-
dung für ihr Kinder setzt. Die Angst vor Diskrimi-          zieller Bonus (z.B. Geld für gute Noten oder ein
nierung kann zu Überkompensation und Überleis-              gutes Zeugnis) die Wahrscheinlichkeit erhöhen,
tung führen.                                                dass die Kinder das tun, was die Eltern wollen –
                                                            gute Noten schreiben. An Leistungen geknüpfte
Möglich ist aber auch, dass Aspirationen kaum
                                                            Belohnungen haben oft Erfolg, aber sie führen
eine Wirkung haben, weil Lehrkräfte den Kindern
                                                            meist nur zu kurzfristigen Änderungen und ange-
schlechtere Noten geben oder sie nicht fürs Gym-
                                                            passtem, extrinsisch motiviertem Verhalten.
nasium empfehlen. Zudem getrauen sich manche
Eltern   trotz   hohen     Erwartungen       und

Psychologie der Elternerwartungen
-8-

Deutlich nachhaltiger als jeder finanzielle Anreiz                 Ein Autonomie unterstützender Erziehungsstil
ist die kontinuierliche Anteilnahme der Eltern an                  jenseits von permanenter Förderung und Kon-
den schulischen Interessen des Kindes, weil dies                   trolle ist das wichtigste Element für ein gesundes
die intrinsische Lernmotivation stärkt. Seine Ge-                  Aufwachsen. Doch Erziehung zur Autonomie er-
nugtuung über den Erfolg aus eigenem Antrieb ist                   fordert für Eltern und signifikante Andere auch
tiefer, und auch das Selbstwertgefühl wird deut-                   die Fähigkeit zum selbstkritischen Blick in den
lich stärker angesprochen.                                         Spiegel. Dies beinhaltet unter anderem eine Rela-
                                                                   tivierung der Erwartungen an die Kinder und ge-
Deshalb gehört es zur pädagogischen Autorität
                                                                   zielte Versuche, die kindliche Selbstregulation
von Schulen, dass Eltern nicht zu verordneten
                                                                   und Autonomie zu fördern. Fünf Handlungsmaxi-
Paukern werden müssen und Hausaufgaben in
                                                                   men sind wegweisend:
den Verantwortungsbereich des Schulkindes im
Auftrag der Lehrperson gehören. Diese Botschaft                    Erstens haben Kinder ein Recht darauf, durch-
ist wichtig, weil sie signalisiert, dass ein struktu-              schnittlich sein zu dürfen und in Schule und Frei-
rierender Umgang, auch als autoritativer Erzie-                    zeit nicht dauernd brillieren zu müssen. Zweitens
hungsstil bekannt, wichtiger ist als jede Dau-                     sollten Eltern Signale des persönlichen Überenga-
erüberwachung. Autoritativ meint weder autori-                     gements erkennen und es zu zügeln versuchen.
tär noch «anything goes», sondern die Schaffung                    Drittens geht es um einen besseren Umgang mit
des Fundaments für eine gesunde psychische und                     dem eigenen Stress, der zu einer verstärkten
physische Entwicklung. Ein autoritativer Erzie-                    Selbstfürsorge und klareren Alltagsstrukturen
hungsstil verzichtet auf Zwang, gewährt aber viel                  führen kann. Viertens tun Eltern gut daran, zu ak-
Freiheit, um Kinder zu kultureller Eigenständig-                   zeptieren, dass Noten nicht das Gleiche sind wie
keit und Mündigkeit zu führen.                                     Fähigkeiten. Deshalb sollten sie sich stärker an
                                                                   den Lernprozessen und weniger an den Noten
Briefing Paper 6: Weniger ist mehr – Die                           orientieren. Damit erhöhen sie die Wahrschein-
Entwicklung angemessener Erwartungen                               lichkeit, dass ihr Kind intrinsisch motivierter wird.
Väter und Mütter, welche sich für die Schule in-                   Fünftens tut es Kindern gut, wenn ihre Eltern eine
teressieren, haben in der Regel erfolgreichere                     Antihaltung gegenüber der Optimierung kindli-
Kinder. Aber es kommt auf das Wie und die ei-                      cher Entwicklung einnehmen. Und schliesslich
gene Haltung an – und dies ist die grösste Her-
ausforderung.                                                      geht es sechstens um eine Erziehung, welche
                                                                   mehr Selbstregulation und Autonomie in den
                        Briefing Paper 6 Seite 25                 Blick nimmt. Eltern, die diese Maxime ernst neh-
                                                                   men, geben ihren Kindern mehr Zeit, unter-
Eltern sind neben Lehrkräften und «signifikanten
                                                                   schiedliche Wege zur Lösung eines Problems aus-
Anderen» (Trainerinnen und Trainer, Lehrkräfte
                                                                   zuprobieren, sie mischen sich nicht zu früh ein, sie
in der musischen Bildung, Grosseltern, ältere Ge-
                                                                   übernehmen nicht immer sofort die Verantwor-
schwister und Freunde etc.) die wichtigsten Per-
                                                                   tung, wenn sich ein Hindernis einstellt (z.B. bei
sonen, welche die Kinder in ihrer Entwicklung un-
                                                                   den Hausaufgaben).
terstützen können. Deshalb sollten solche Er-
wachsene Bedingungen schaffen, unter denen
Kinder Freude am Lernen und am Leben entwi-
ckeln können und dabei auch eigene Entschei-
dungen fällen dürfen.

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-9-

Schlüsselbotschaften
Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Er-               diejenigen privilegierterer Kinder sowie die
wartungen der Eltern                                    Angst der Eltern, sich für gute Noten ihres
                                                        Kindes einzusetzen.
⚫ Erwartungshaltungen von Familien sind be-
  deutsam. Väter und Mütter höherer Sozial-
                                                     Briefing Paper 5: Elternkontrolle und ihre
  schichten verfügen schon in den ersten Le-
                                                     Auswirkungen
  bensjahren über eine selbstbewusstere Bil-
  dungsmotivation und gewichten auch das So-         ⚫ Eine dauerüberwachende Erziehung nimmt
  zialprestige höher als solche niedrigerer Sozi-      den Kindern die Möglichkeit, aus sich heraus
  alschichten.                                         und entsprechend ihren Fähigkeiten zu ler-
                                                       nen.
⚫ Erwartungshaltungen von Fachkräften sind
  deshalb v.a. im Hinblick auf sozial einfach ge-    ⚫ Es gibt auch verdeckte Kontrollstrategien wie
  stellte Familien zentral. Sie beeinflussen die       Liebesentzug oder besondere Anreize wie
  Macht der sich selbsterfüllende Prophezeiung.        beispielsweise Geld für gute Noten.
                                                     ⚫ An Leistungen geknüpfte Belohnungen haben
Briefing Paper 2: Begriffe                             oft Erfolg, aber sie führen meist lediglich zu
⚫ Bildungsaspirationen werden als Vorstellun-          kurzfristigen Änderungen und angepasstem,
  gen über den gewünschten Bildungsab-                 extrinsisch motiviertem Verhalten.
  schluss des Kindes definiert. Bildungserwar-
  tungen gelten als konkrete Vorstellungen der       Briefing Paper 6: Weniger ist mehr – Die
  Eltern im Hinblick auf die aktuelle Bildungs-      Entwicklung angemessener Erwartungen
  stufe.
                                                     ⚫ Eltern sollen hohe, aber nicht übermässige
⚫ Erwartungshaltungen sind Einstellungen,              Erwartungen an ihre Kinder haben.
  welche sich auf mehr oder weniger klare Ziel-
                                                     ⚫ Erstes Ziel sollte die Schaffung von Bedingun-
  vorstellungen beziehen. Der Begriff Eltern-
                                                       gen sein, unter denen Kinder Freude am Ler-
  kontrolle wird genutzt, um die Anstrengun-
                                                       nen und am Leben entwickeln können und
  gen zu beschreiben, das Leben mit den Kin-
                                                       dabei auch eigene Entscheidungen fällen dür-
  dern zu managen. Dazu gehören auch ver-
                                                       fen.
  deckte Kontrollen (Schuldgefühle der Kinder,
  Liebesentzug etc.).                                ⚫ Die sechs wichtigsten Leitideen einer autono-
                                                       mieförderlichen Erziehung sind: (1) Kindern
Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss              erlauben, in Schule und Freizeit nicht immer
                                                       brillieren zu müssen. (2) Signale des persönli-
⚫ Je höher der elterliche Bildungsstand, desto
                                                       chen Überengagements erkennen und es zu
  höher die Erwartungen.
                                                       zügeln versuchen. (3) Besser mit dem eigenen
⚫ Unrealistisch hohe Erwartungen können den            Stress umgehen zu lernen. (4) Akzeptieren,
  Schulerfolg der Kinder behindern.                    dass Noten nicht das Gleiche wie Fähigkeiten
                                                       sind. (5) Eine Antihaltung gegenüber der Op-
⚫ Lehrkräfte spielen das Zünglein an der
                                                       timierung kindlicher Entwicklung einnehmen.
  Waage. Denn Elternerwartungen beeinflus-
                                                       (6) Kinder mehr autonome Zeit für ihre
  sen auch die Notengebung.
                                                       Selbstregulation geben (inkl. Hausaufgaben).
Briefing Paper 4: Bildungsaspirationen von
Migrantenfamilien
⚫ Obwohl Migrantenfamilien im Durchschnitt
  höhere Bildungsaspirationen als einheimi-
  sche Familien haben, resultieren sie kaum in
  entsprechende Schulleistungen der Kinder.
⚫ Ursachen sind der Zuwanderungsoptimis-
  mus, die Informationsdefizite sowie die wahr-
  genommene Diskriminierung.
⚫ Dazu kommen die schlechtere Benotung der
  Kinder trotz gleicher Leistungen wie
Psychologie der Elternerwartungen
-10-

                Psychologie der
            Elternerwartungen
                                      Warum zu hohe Erwartungen
                                        den kindlichen Schulerfolg
                                          beeinträchtigen können

                                                                               Dossier 21/1

                                                                 Prof. Dr. Margrit Stamm

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-11-

Briefing Paper 1: Frühe Förderung und Er-
wartungen der Eltern
In der internationalen Forschung zur Entwick-                               Kita und Kindergarten sehr genau auf angemes-
lung von Vorschulkindern gelten das familiäre                               sene Fähigkeiten und Förderung geachtet wird
Umfeld und gemeinsame Aktivitäten von Eltern                                (Stamm, 2016).
und Kindern schon seit längerem als massge-
                                                                            Solche Bemühungen fassen Lareau und Cox
blich für eine nachhaltige kindliche Entwicklung.
                                                                            (2011) mit spezifischem Blick auf Mittelschicht-
Interessanterweise ist aber relativ wenig über
                                                                            familien im Begriff der «concerted cultivation»
Erwartungen von Vätern und Müttern an ihre
                                                                            zusammen. Damit meinen sie die gezielte För-
Kinder bekannt. Obwohl der «Bildungsort Fami-
                                                                            derung der Kinder mittels vielfältigen Bildungs-
lie» ein geflügeltes Wort geworden ist, sind die
                                                                            anstrengungen.
Wirkungen wesentlicher Einflussfaktoren unter-
belichtet geblieben (Stamm & Edelmann, 2013).                               Elkind hat dieses Phänomen schon vor vielen
Dieses Briefing Paper wirft einen Blick auf Para-                           Jahren unter dem Titel «The hurried child»
meter in der frühen Kindheit, welche mit Eltern-                            (deutsch: Das gehetzte Kind, 1988) beschrieben
erwartungen verschränkt sind.                                               und dabei auch auf die mit hohen Erwartungs-
                                                                            haltungen verbundenen Entwicklungsrisiken
Elternengagement und die Treibhausde-                                       verwiesen. Unter dem Stichwort «Treibhaus-
batte                                                                       Debatte» hat das Phänomen nun auch Eingang
Obwohl es im Zuge der Etablierung frühkindli-                               in die wissenschaftliche und gesellschaftspoliti-
cher Förderprogramme eine wachsende Diskus-                                 sche Diskussion gefunden. Doch bis heute ist es
sion zur Frage gibt, welche Bedeutung dem El-                               empirisch nur in Ansätzen untersucht (Stamm,
ternengagement zukommt, sind die Meinungen                                  2010; 2017).
geteilt. Eher psychoanalytisch orientierte Fach-
leute befürchten, dass frühe Förderung, insbe-                              Soziale Herkunft und Erwartungshaltungen
sondere wenn sie kognitiv orientiert und fami-                              Nicht nur die Teilhabe an frühkindlicher Bildung
lienextern erfolgt, einer gesunden kindlichen                               zwischen sozialen Schichten und ethnischen
Entwicklung eher abträglich ist (Gerspach,                                  Gruppen differiert, sondern auch die Lernvor-
2018). Die Hirnforschung wiederum unter-                                    aussetzungen bei Vorschulkindern.
streicht die enorme Bedeutung des gezielten,
                                                                            Deshalb gehen Bemühungen in die Richtung,
frühen elterlichen Förderengagements, weil es
                                                                            möglichst systematisch benachteiligte Kinder
die hirnbiologische Basis für spätere Lernleis-
                                                                            und ihre Familien für frühe Bildungsmassnah-
tungen und sozio-emotionale Kompetenz bildet
                                                                            men zu gewinnen. Genauso wesentlich sind Er-
(Hüther, 2016).
                                                                            wartungshaltungen von Fachkräften. Die umfas-
Mit Blick auf die Erwartungshaltungen erweisen                              sendsten Fördermassnahmen nützen wenig,
sich in unserer Längsschnittstudie FRANZ)1 die                              wenn bei einem Kind aus einer einfachen Fami-
befragten Eltern als anspruchsvoll, messen sie                              lie schon beim ersten Kontakt allein aufgrund
doch insbesondere den schulrelevanten Fähig-                                seiner Herkunft davon ausgegangen wird, dass
keiten ihres Kind überdurchschnittliche Bedeu-                              es eher leistungsschwach oder problemhaftet
tung bei. 65% der Eltern vertreten die Ansicht,                             ist. Wer so denkt, wird wahrscheinlich Recht be-
frühe Lese- und Mathematikkompetenzen seien                                 kommen.
unabdingbar für den Schulerfolg, 72% erachten
                                                                            Anzunehmen ist, dass dieses Kind – und mit ei-
diesen als grundlegend für das gute Aufwachsen
                                                                            ner relativ hohen Wahrscheinlichkeit dürfte dies
ihres Kindes, und 72% wünschen sich von ihm
                                                                            auch für seine Eltern so sein – unbewusst ge-
später einen gymnasialen Abschluss mit Ma-
                                                                            nauso verhalten, dass dies auch eintrifft (sich
tura. Es erstaunt somit wenig, dass bereits in

1   Das Kürzel steht für «Früher an die Bildung – erfolgreicher in             insgesamt 309 Kindern aus Mittelschichtfamilien zwischen ih-
    die Zukunft?». Die Studie untersuchte zwischen 2009 und                    rem dritten und sechsten Lebensjahr.
    2015 die Betreuungs- und Erziehungskonstellationen von

Psychologie der Elternerwartungen
-12-

selbsterfüllende Prophezeiung, «Self Fullfilling                      verschiedenen Akteurgruppen als auch ihr
Prophecy»). Weil solche Erwartungen bereits                           Handlungsvermögen sehr unterschiedlich sind.
beim Übertritt ins Bildungssystem eine wichtige                       In der frühkindlichen Bildungsförderung wirken
Rolle spielen, werden Kinder aus einfachen So-                        gerade deshalb die Vorannahmen von Fachkräf-
zialverhältnissen beim Eintritt in Kindergarten                       ten im Verborgenen. Sie leisten auch einen Bei-
und Schule häufiger zurückgestellt und auch                           trag zur Festigung früher Muster von Bildungs-
häufiger als verhaltensschwierig bezeichnet                           ungleichheit.
(Tuppat, 2014; Stamm, 2017).
                                                                      Weiterführende Literatur
Doch frühe Bildungsungleichheiten entstehen
auch ausserhalb des Bildungssystems, etwa in                          Elkind, D. (1988). Das gehetzte Kind. Hamburg:
Nachbarschaft oder Gemeinde. Oft ziehen am-                           Kabel.
bitionierte Familien in Quartiere mit ähnlich am-                     Gerspach, M. (2018). Psychoanalytische Päda-
bitionierten Familien und mit homogener zu-                           gogik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: social-
sammengesetzten Schulklassen. Diese Segrega-                          net, 13.04.2018 [Zugriff am: 01.01.2021]. Ver-
tionstendenz hat zur Folge, dass Kinder aus be-                       fügbar unter: https://www.socialnet.de/lexi-
                                                                      kon/
nachteiligten Familien sich auf bestimmte Ge-
genden und Wohngebiete konzentrieren. Dies                            Hüther, G. (2016). Bedienungsanleitung für ein
führt dazu, dass mehr als die Hälfte dieser Kin-                      menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck
der eine Einrichtung besucht, in der die meisten                      u. Rupprecht.
Kinder zu Hause ebenfalls kein Deutsch spre-                          Lareau, A. & Cox, A. (2011). Social class and the
chen.                                                                 transition to adulthood: Differences in parents'
                                                                      interactions with institutions. In: M. Carlson &
Solche Parameter tragen dazu bei, dass die Vor-                       P. England (Eds.), Social class and changing fam-
schulkindheit zu einem neuen Schlüsselbereich                         ilies in an unequal America (pp. 134-164). Stan-
der Reproduktion von Bildungsungleichheit                             ford: Stanford University Press.
werden könnte, wenn nicht gezielte, auf be-                           Stamm, M. & Edelmann, D. (Hrsg.) (2013). Hand-
nachteiligte Kinder und ihre Familien ausgerich-                      buch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesba-
tete fokussierte Fördermassnahmen implemen-                           den: VS Fachverlag.
tiert werden.
                                                                      Stamm, M. (2010). Vorschulkinder im Treib-
                                                                      haus? In: L. Dunker et al. (Hrsg.), Bildung in der
Fazit                                                                 Kindheit (S. 126-131). Seelze: Klett.
Erwartungshaltungen von Familien sind bedeut-                         Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los. Warum
sam, aber je nach sozialer Herkunft unterschied-                      entspannte Erziehung lebenstüchtig macht.
lich. Deshalb zeigen sich im Zusammenhang mit                         München: Piper.
Elternerwartungen und den Bemühungen, mit
                                                                      Stamm, M. (2017). Elterninvestitionen und ge-
frühkindlicher Bildungsförderung Startchancen-                        sellschaftliche Benachteiligung. Eine Black Box
gleichheit zu erzielen, neue unbeabsichtigte Ne-                      der frühkindlichen Bildungsforschung. Pädago-
benwirkungen.                                                         gische Rundschau, 3/4, 293-304.
Erst in der Gegenüberstellung der Erwartungen                         Tuppat, J. (2014). Sind türkischstämmige Kinder
von Familien mit unterschiedlichem ökonomi-                           beim Schulstart im Nachteil? KZfSS Kölner Zeit-
schem und kulturellem Kapital kann deutlich                           schrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
werden, dass nicht «alle das gleiche Spiel spie-                      66, 219-241.
len» können. Gemeint ist damit, dass sowohl die                       .
Vorstellungen     und     Erwartungen       der

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-13-

Briefing Paper 2: Begriffe
In Bildung und Erziehung tauchen regelmässig               Erwartungshaltungen sind Teil jeder Erziehung,
neue Begriffe auf, die sich schnell verbreiten.            sie machen Eltern etwas sicherer und beruhi-
Oft werden sie wenig reflektiert übernommen.               gen oft auch ihre Ängste.
Mit Bezug zur Thematik von Elternerwartungen
und -kontrolle gilt dies ganz besonders. Nach-             Elternkontrolle
folgend werden die damit verbundenen ge-                   Hinter dem Begriff Elternkontrolle steckt ein
bräuchlichsten Begriffe erläutert.                         psychologisches Konzept, das in einen Zusam-
                                                           menhang zur Kommunikation mit Kindern ge-
Bildungsaspirationen                                       setzt wird. Dementsprechend wird der Begriff
Bildungsaspirationen entstehen durch ver-                  sehr verschieden genutzt, um auf die Anstren-
schiedenste Einflussfaktoren. Eines der Haupt-             gungen zu verweisen, das Leben mit Kindern zu
motive ist das Motiv des Statuserhalts. Grob               managen.
wird der Begriff (oft auch Bildungsambitionen
                                                           In der Wissenschaft ist die Rede von «psycho-
genannt) definiert als Vorstellungen über den
                                                           logischer Kontrolle» versus «psychologischer
gewünschten, zeitlich aber noch entfernten Bil-
                                                           Autonomie» oder von «autoritativem» versus
dungsabschluss des Kindes. Unterteilt wird er
                                                           «autoritärem» oder «Laissez-Faire-Erziehungs-
in realistische und idealistische Aspirationen.
                                                           stil». Ein Spezialfall ist der Ansatz der Selbstbe-
Beide Arten von Aspirationen können im Ein-
                                                           stimmungstheorie (Deci & Ryan, 1993), welche
klang oder im Gegensatz zueinanderstehen
                                                           Elternkontrolle unter dem Aspekt intrinsisch
(Stocké, 2009a; 2009b).
                                                           und extrinsisch motivierten Elternverhaltens
⚫ Idealistische Bildungsaspirationen be-                   untersuchten.
  schreiben den erhofften und gewünschten
  Bildungsabschluss und von der Realität los-              Auch wenn in mancher Familie die Lebenshal-
  gelöste Werthaltungen. Tatsächlichen Leis-               tung «Beziehung statt Erziehung» vertreten
  tungen und sonstige möglicherweise ein-                  wird, ist ein verdeckt kontrollierender Erzie-
  schränkende Bedingungen spielen keine                    hungsstil sehr verbreitet. Zum Einsatz gelangen
  Rolle.                                                   manipulative Mittel wie Schuldgefühle und Lie-
⚫ Realistische Bildungsaspirationen bezie-                 besentzug, um die Kinder dazu zu bringen, sich
  hen sich auf konkrete Schulleistungen oder               wie erwünscht zu verhalten.
  Noten. Dabei spielen Kosten-Nutzen-Ab-
  wägens und als vorweg genommene Bil-                     Weiterführende Literatur
  dungsentscheidungen eine Rolle.                          Deci, E. L. & Ryan, R. M. (1993). Die Selbstbe-
                                                           stimmungstheorie der Motivation und ihre Be-
Bildungserwartungen                                        deutung für die Pädagogik. Zeitschrift für Päda-
Definiert werden Bildungserwartungen als kon-              gogik, 39, 2, 223-238.
krete und unmittelbare Vorstellungen der El-               Schilter, M. (2016). Bildungserwartungen und
tern im Hinblick auf die aktuelle Bildungsstufe            bildungsbezogene Unterstützungsleistungen.
(Spielgruppe, Kita, Kindergarten, Schule). In der          Saarbrücken: Akademischer Verlag.
Fachliteratur werden Bildungsaspirationen und              Stocké, V. (2009a). Idealistische Bildungsaspi-
Bildungserwartungen häufig synonym verwen-                 rationen. In: A. Glöckner-Rist (Hrsg.), Zusam-
det (Schilter, 2016).                                      menstellung sozialwissenschaftlicher Items
                                                           und Skalen. ZIS Version 14.00.
Erwartungshaltungen
                                                           Stocké, V. (2009b). Realistische Bildungsaspira-
Erwartungshaltungen stehen für eine zusam-                 tionen. In: A. Glöckner-Rist (Hrsg.), Zusammen-
menfassende Bezeichnung für oft diffuse,                   stellung sozialwissenschaftlicher Items und
manchmal sehr gezielte Denk- und Handlungs-                Skalen. ZIS Version 14.00.
ziele, welche in der Zukunft liegen.

Psychologie der Elternerwartungen
-14-

Briefing Paper 3: Was die Forschung weiss
Die Bildung der Eltern sowie ihre ökonomische                            Bildungsaspirationen und die resultieren-
Situation beeinflussen die Erwartungen ganz                              den Bildungsentscheidungen der Eltern.
besonders. In der Regel gilt: Je höher der elter-                     Kinder aus gut situierten Verhältnissen werden
liche Bildungsstand, desto höher die Erwartun-                        von den Eltern anspruchsvolleren und kostspie-
gen. Doch der Einfluss der Eltern geht noch viel                      ligeren Bildungswegen zugewiesen, auch dann,
weiter. Es gibt auch einen starken Zusammen-                          wenn sie sich intellektuell nicht von Kindern
hang zwischen den elterlichen Bildungsaspira-                         aus einfachen Verhältnissen unterscheiden.
tionen und den tatsächlich getroffenen Schul-                         Gut situierte Familien verfügen über eine grös-
laufbahnentscheidungen. Dabei spielen auch                            sere Bildungsmotivation, fürchten sich kaum
Einstellungen und Erwartungen der Lehrkräfte                          vor Investitionsrisiken und gewichten auch das
eine Rolle. Was die Forschung hierzu weiss, ist                       Sozialprestige höher als Arbeiterfamilien. Diese
Thema dieses Briefing Papers.                                         kennen das Gymnasium nicht aus eigener Er-
                                                                      fahrung, schätzen die Zugangshürden als sehr
Wie Bildungsaspirationen entstehen                                    hoch ein und schrecken vor den erwarteten In-
Die Erwartungshaltungen der Eltern sind eine                          vestitionskosten zurück, was sich in einer deut-
wichtige Komponente des Humankapitals, wel-                           lichen Skepsis gegenüber akademischer Bil-
ches zusammen mit den ökonomischen Res-                               dung äussern kann.
sourcen und dem Sozialkapital den Familien-
hintergrund eines Kindes abbildet. Das Human-                         Der «Mutter-Effekt»
kapital steht für eine kognitiv anregende Atmo-                       Geht es um die bereits erwähnte «concerted
sphäre, den zeitlichen Umfang, den Eltern ih-                         cultivation», wird oft auch von «intensive mot-
rem Kind zuteilwerden lassen und ihre Bil-                            hering» gesprochen. Gemeint ist damit, dass
dungsaspirationen. Diese verweisen auch auf                           sich gut ausgebildete Mütter besonders inten-
das Interesse am Statuserhalt, und dieser wie-                        siv um die Betreuung und Förderung des Nach-
derum wirkt sich positiv auf die Erwartungshal-                       wuchses bemühen und sich dabei in ihren Er-
tungen aus (Stamm, 2016).                                             wartungshaltungen an anderen Mittelschicht-
Boudon (1974) verwendet das Konzept der Bil-                          müttern orientieren.
dungsaspiration in seinem Modell zur Erklä-                           Doch warum ist in so vielen Untersuchungen
rung sozialer Bildungsungleichheiten. Er unter-                       ausgerechnet das Bildungsniveau der Mutter
scheidet hierbei zwischen primären und sekun-                         entscheidend? Weil Mütter oft die familiäre
dären Herkunftseffekten.                                              Hauptverantwortung tragen und mehr Zeit mit
⚫ Die primären Effekte umfassen die Anre-                             ihren Kindern verbringen als die Väter. Dies be-
  gungen und Unterstützungen des Kindes                               weist laut Meluish (2014) zudem, dass die Er-
  durch das Elternhaus. Diese beeinflussen                            fahrungen des Kindes und die erzieherischen
  seine kognitive Entwicklung, das Lernver-                           Faktoren rund um die Bildung wichtiger sind als
  mögen, die Leistungsbereitschaft und auch                           die blossen Gene. Deshalb spricht er von einem
  den «Habitus» oder die «Mentalität» d.h.                            «Mutter-Effekt». In seiner Längsschnittstudie
  Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungs-
  muster, die in der Schule besonders gewich-                         zur Wirkung von verschiedenen Faktoren auf
  tet werden. Weil solche Bedingungen je                              die Leistungen von 10-jährigen Schulkindern
  nach Familie unterschiedlich sind, resultie-                        waren im Vergleich zum Geburtsgewicht, Ge-
  ren sie auch in unterschiedlichen Schulleis-                        schlecht oder Familieneinkommen der Bil-
  tungen.                                                             dungsstand der Mutter und ihre Erwartungen
⚫ Die sekundären Effekte erklären, weshalb                            am stärksten mit den Leistungen gekoppelt,
  Kinder trotz gleichen Leistungen und kogni-                         doppelt so stark wie der Bildungsstand des Va-
  tiven Fähigkeiten je nach Herkunft in unter-                        ters und um ein Viertel stärker als der Besuch
  schiedlich anspruchsvolle und kostspielige                          einer frühen Förderung. Edward Melhuish
  Schullaufbahnen gelangen. Ein wichtiger                             kommt deshalb zum Schluss, dass das, was
  Grund dafür sind die unterschiedlichen                              Mütter tun, wichtiger ist, als wer sie sind.

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-15-

Aber auch Väter tun heute viel in Richtung «in-                         Unterschiede (Bourdieu & Passeron, 1971). El-
tensive parenting» (Stamm, 2018). Ähnlich wie                           tern benutzen Gewohnheiten (Essen, Kleidung,
ihre Partnerinnen sind sie davon überzeugt, die                         Wohnung), Freizeitbeschäftigungen (Sport,
Kinder optimieren zu müssen, weil diese sonst                           Kultur, Musik), genauso wie Berufs- oder Le-
ihr Potenzial nicht entfalten können.                                   bensziele sehr unterschiedlich, um ihr status-
                                                                        bezogenes Bewusstsein auszudrücken. Dies gilt
Eltern unterstützen das Kind, wo sie nur kön-
                                                                        auch für ihre Leistungsorientierung, ihre Bil-
nen, halten es zum Lernen an, kontrollieren die
                                                                        dungsambitionen, ihre Art und Weise, ob und
Hausaufgaben, schicken es in der Freizeit in
                                                                        wie sie ihren Nachwuchs kontrollieren und in-
Förderkurse und pflegen einen engen Kontakt
                                                                        wiefern sie in ihren Erziehungsstil als Motivati-
zur Schule. Stellen sich die erwünschten Leis-
                                                                        onsförderung Belohnungs- und Anreizsysteme
tungen nicht ein, wird der Druck aufs Kind er-
                                                                        einbauen.
höht, vielleicht werden Belohnungen in Aus-
sicht gestellt oder weitere Lernunterstützung                           Dass es grosse Unterschiede gibt, wird aus Ab-
organisiert.                                                            bildung 1 deutlich. In dieser Abbildung sind die
                                                                        Ergebnisse einer Clusteranalyse dargestellt, die
Elterntypen und ihre Erwartungen                                        auf der Datenbasis einer Nacherhebung unse-
Es wäre vermessen, Eltern mit ihren Bildungs-                           rer FRANZ-Studie basieren. In die Analyse ein-
aspirationen und Erwartungshaltungen als ein-                           bezogen wurde neben dem Ausbildungsniveau
heitliche Gruppe zu bezeichnen, die anhand                              der Mutter die Bedeutung der Noten für die El-
bestimmter Merkmale etikettiert werden                                  tern, die Bildungsambitionen im Hinblick auf
kann. Unbesehen der sozialen Herkunft oder                              die Schullaufbahn des Kindes, das Ausmass der
der kulturellen Hintergründe reagieren bei wei-                         Elternkontrolle sowie die Frage nach vorhande-
tem nicht alle Väter und Mütter gleich auf die                          nen Belohnungssystemen (z.B. Geld für gute
heutige gesellschaftliche Situation. Es gibt feine                      Noten oder ein gutes Zeugnis).

                        Abbildung 1: Typen von Eltern und ihre Erwartungen (z-Werte2)

Typ 1 findet sich in 99 Fällen (33% der Stich-                          anspruchsvollen Berufen und in einem höhe-
probe). Mütter dieses Typs sind vorwiegend in                           ren Pensum tätig. Die Eltern erachten gute

2   z-Werte stellen Standardabweichungen vom Mittelwert dar. Ein z-Wert von 1 bedeutet beispielsweise, dass dieser Wert eine Stan-
    dardabweichung vom Mittelwert entfernt ist, also eine Standardabweichung oberhalb des Mittelwerts liegt. Ein z-Wert von -1 besagt,
    dass sich der Wert eine Standardabweichungen unterhalb des Mittelwerts befindet.

Psychologie der Elternerwartungen
-16-

Schulleistungen als selbstverständlich, weshalb                             sind gute Schülerinnen und Schüler. Weil Eltern
sie den Noten keine allzu grosse Bedeutung                                  ihre Kinder im Vergleich zu den anderen Clus-
beimessen. Sie sind bildungsambitioniert, kon-                              tern am stärksten kontrollieren und sie gleich-
trollieren ihre Kinder durchschnittlich und be-                             zeitig die Noten hoch gewichten, bekommt die-
lohnen sie für gute Leistungen eher wenig. Ihre                             ser Typ die Etikette «Kontroll- und Leistungsori-
Kinder erbringen sehr gute Schulleistungen.                                 entierte».
Weil die Ausprägung solcher Merkmale darauf
schliessen lassen, dass Eltern dem allgemeinen                              Wenn Bildungserwartungen zu hoch wer-
Trend , bildungsambitiös und kontrollierend zu                              den
sein, nur sehr zurückhaltend folgen, wird die-                              Es ist eine empirisch vielfach belegte Tatsache,
ses Cluster «Bildungsgewohnte Selbstsichere»                                dass Kinder erfolgreicher in der Schule sind,
genannt.                                                                    wenn ihre Eltern an sie glauben und hohe Er-
In Typ 2 (N=90) sind 30% der Eltern zusammen-                               wartungen haben. Dies wird in Typ 1 der Clus-
gefasst. Die Mütter sind vorwiegend im kauf-                                teranalyse bestätigt. Sind hohe Erwartungen in
männisch-gewerblichen Bereich im höheren                                    jedem Fall gut? Nicht unbedingt, denn Typ 2
Kader tätig. Im Vergleich zu den anderen drei                               zeigt ansatzweise, dass es möglicherweise ein
Typen achten diese Eltern besonders auf gute                                «zu viel» an Bildungsambitionen und -erwar-
Noten, sind am bildungsambitioniertesten,                                   tungen geben kann. Dass hohe Ambitionen so-
kontrollieren ihre Kinder am zweitstärksten                                 gar schädlich sein können, belegt eine deut-
und setzen auch gezielt Belohnungen für gute                                sche Studie von Murayama et al. (20163). Die
Noten ein. Diese Merkmalsausprägung führt                                   Resultate verweisen darauf, dass Kinder von El-
zur Zuschreibung «Bildungsambitioniert Strate-                              tern mit hohen Bildungserwartungen bessere
gische». Trotzdem sind die Kinder dieses Clus-                              Leistungen in Mathematik erbringen. Über-
ters tendenziell eher durchschnittliche Schüle-                             schreiten die Ambitionen die realistischen Er-
rinnen oder Schüler.                                                        wartungen, zeigen Kinder schlechtere Leistun-
                                                                            gen in Mathematik. Die Autoren kommen des-
Typ 3 markiert in gewisser Hinsicht den Gegen-                              halb zum Schluss, dass sich unrealistisch hohe
pol zu Cluster II. Er beschreibt diejenigen 11%                             Ambitionen negativ auf die Mathematikleis-
(N=33) der vorwiegend das Arbeitermilieu re-                                tungen der Kinder auswirken können.
präsentierenden Elternhäuser mit Müttern, die
im Dienstleistungsbereich untergeordnete Ar-                                Beeinflussung der Lehrkräfte durch Elter-
                                                                            nerwartungen
beiten verrichten. Die Noten sind für die Eltern
bedeutend weniger wichtig als für die Eltern                                Je nach Typ haben Eltern auf den Bildungsver-
der anderen drei Typen. Gleiches gilt für das                               lauf der Kinder und Jugendlichen einen grossen
Kontrollverhalten und die Anreize für gute No-                              Einfluss auf die Bildungslaufbahn ihres Nach-
ten. ihre Bildungsambitionen sind geringer als                              wuchses, insbesondere auf die Frage, ob das
in Typ 1, die Schulleistungen der Kinder sind                               Kind eher eine Lehre macht oder das Gymna-
durchschnittlich. Das Cluster bekommt deshalb                               sium besucht. Das ist ein erwartetes Ergebnis
die Bezeichnung «Moderat Wachsenlas-                                        der FASE-B-Untersuchung von Neuenschwan-
sende».                                                                     der (2013). Ein zweites Ergebnis erstaunt. Elter-
                                                                            nerwartungen beeinflussen nicht nur die Kin-
Typ 4 umfasst 26% des Samples (N=75). Die
                                                                            der, sondern auch deren Lehrkräfte. Neuen-
Mütter haben meist einen kaufmännisch-ge-
                                                                            schwander (ebd.) konnte nachweisen, dass bei
werblichen Hintergrund und sind oft in KMUs
                                                                            gleicher Leistung Lehrkräfte einem Kind von El-
tätig. Im Vergleich zu den anderen Clustern
                                                                            tern mit hohen Bildungserwartungen bessere
kontrollieren die Eltern ihre Kinder am ausge-
                                                                            Noten geben. Einschränken müsste man diese
prägtesten, setzen aber weniger auf Anreize,
                                                                            Befund auf bildungsaffine einheimische Eltern.
dafür mehr auf gute Noten. Ihre Bildungsambi-
tionen sind ähnlich wie in Cluster 3. Ihre Kinder

3   Untersucht wurden N=3’500 Kinder aus 42 Schulen in                         sie von ihren Kindern in Mathematik im nächsten Zeugnis er-
    Deutschland während 5 Jahren. Die Kinder und Eltern wur-                   warteten und welche Note sie als realistisch erachteten. Zu-
    den von der 5. bis zur 10. Klasse einmal pro Jahr befragt. Un-             dem wurde eine fast identische Studie mit N=12’000 Schüle-
    ter anderem wurden von den Kindern die Leistungen in Ma-                   rinnen und Schülern in den USA durchgeführt.
    thematik erfasst. Die Eltern mussten angeben, welche Note

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-17-

Warum ist dies so? Sicher liegt es unter ande-             Leistungen ihrer Kinder und auf die Selektion
rem an unserem mehrgliedrigen Bildungssys-                 beim Übertritt in die Sekundarstufe I. Dies spie-
tem sowie am Umstand, dass Eltern bei der Se-              gelt sich auch in unserer Typologie. Obwohl sie
lektion über das Rekursrecht ein gewichtiges               deutlich macht, dass sich Eltern in ihren Erwar-
Wörtchen mitzureden haben. Nehmen Lehr-                    tungen und Ambitionen unterscheiden, wirken
kräfte den Selektionsentscheid beim Übergang               sich hohe Elternerwartungen positiv auf die
in die Sek I vor, haben sie immer auch die Er-             Leistungen der Kinder aus. Dies wird im Typ
wartungshaltungen der Eltern im Kopf. Deshalb              «Bildungsgewohnte Selbstsichere» deutlich. El-
schlagen sie bei gleicher Leistung Kinder von El-          tern können tatsächlich als Erfolgspromotoren
tern mit einer hohen Bildungserwartung eher                ihrer Söhne und Töchter wirken.
für die leistungsstärkere Abteilung der Sekun-
                                                           Allerdings markiert der Typ 2 («Bildungsambiti-
darstufe I vor.
                                                           oniert Strategische»), dass sich Ehrgeiz nicht
Dieser Sachverhalt wird in der Dissertation von            immer in Spitzenleistungen niederschlagen
Hofstetter (2017) empirisch bestätigt. Unter-              muss. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass
sucht hat er die Übertrittsverfahren ins Gymna-            Kinder höhere Leistungen zeigen, wenn Eltern
sium im Kanton Freiburg. Im Ergebnis liessen               Hoffnungen in sie setzen. Erwartungen sollten
sich drei Gruppen von Eltern/Lehrkräften un-               aber realistisch und nicht überambitioniert
terscheiden:                                               sein. Unrealistisch hohe Erwartungen können
⚫ Eltern und Lehrkräfte auf Augenhöhe: Be-                 den Schulerfolg der Kinder sogar behindern.
  steht eine kongruente Beziehung zwischen                 Allerdings dürften die Lehrkräfte das Zünglein
  Eltern und Lehrkräften, wird die Übertritts-             an der Waage spielen. Denn Elternerwartun-
  empfehlung in gegenseitiger Sympathie                    gen beeinflussen auch die Notengebung. Vor
  diskutiert. Es besteht eine Bereitschaft der
  Lehrkräfte, ihre eigenen Eindrücke in Frage              diesem Hintergrund wird es nachvollziehbar,
  zu stellen.                                              dass Kinder überambitionierter Eltern trotz-
                                                           dem oft den Weg ins Gymnasium schaffen. Vor
⚫ Überlegenheit der Eltern gegenüber den                   diesem Hintergrund müsste die Aussage man-
  Lehrkräften: In dieser Situation überden-
                                                           cher Forscherinnen und Forscher relativiert
  ken Lehrkräfte ihr Urteil mehrfach, weil sie
  damit rechnen, dass sie ihren Entscheid                  werden, Schulnoten seien der beste Prädiktor
  werden legitimieren müssen. Eltern lenken                für Intelligenz. Schulnoten sind oft eher ein Ab-
  das Gespräch, bis die schulische Deutung                 bild des Elternengagements und der sozialen
  ihres Kindes ihren Erwartungen entspricht.               Herkunft.
⚫ Überlegenheit der Lehrkräfte gegenüber
  den Eltern: Selbst wenn Eltern (meist ein-               Weiterführende Literatur
  facher Sozialschichten) eine höhere Zutei-               Boudon, R. (1974). Education, opportunity, and
  lung ihres Kindes wünschen, folgen sie der               social inequality. New York: Wiley.
  Argumentation der Lehrperson. Sie sind
                                                           Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971). Die Illu-
  überzeugt, dass Lehrerinnen und Lehrer
  aufgrund ihrer Professionalität das Kind                 sion der Chancengleichheit. Untersuchungen
  besser einschätzen können als sie.                       zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel
                                                           Frankreichs. Stuttgart: Klett.
Solche Ergebnisse verweisen auf ein Dilemma:               Hofstetter, D. (2017). Die schulische Selektion
Zwar können Eltern bei der Selektion mitwir-               als soziale Praxis: Aushandlungen von Bildungs-
ken, weshalb die Akzeptanz der Schule in der               entscheidungen beim Übergang von der Pri-
Elternschaft erhöht werden kann. Andererseits              marschule in die Sekundarstufe I. Weinheim:
                                                           Beltz Juventa.
wird dadurch auch die Chancenungleichheit
verstärkt, weil die Erwartungen von bildungs-              Meluish, E. (2010). Impact of the home learning
ambitionierten Eltern erfolgreich sind.                    environment on child cognitive development:
                                                           Secondary analysis of data from «Growing Up
Fazit                                                      in Scotland». Edinburgh, United Kingdom: The
                                                           Scottish Government.
Die Forschung liefert deutliche Beweise dafür,
dass Elternerwartungen und Bildungsambitio-                Murayama, K., Pekrun, R., Suzuki, M., Marsh, H.
nen eine Rolle spielen im Hinblick auf die                 W., & Lichtenfeld, S. (2016). Don’t aim too high

Psychologie der Elternerwartungen
-18-

for your kids: Parental overaspiration under-                         Neuenschwander (Hrsg.), Selektion in Schule
mines students’ learning in mathema-                                  und Arbeitsmarkt. Zürich/Chur: Rüegger.
tics. Journal of Personality and Social Psycho-
                                                                      Stamm, M. (2016). Lasst die Kinder los! Warum
logy, 111, 5, 766-779.
                                                                      entspannte Erziehung lebenstüchtig macht.
Neuenschwander, M. P. (2013). Selektion beim                          München: Piper.
Übergang in die Sekundarstufe I und in den Ar-
                                                                      Stamm, M. (2018). Neue Väter brauchen neue
beitsmarkt im Vergleich (S. 63-97). In: M. P.
                                                                      Mütter. Weshalb Familie nur gemeinsam ge-
                                                                      lingt. München: Piper.

Warum zu hohe Erwartungen den kindlichen Schulerfolg bremsen können
-19-

Briefing Paper 4: Elternerwartungen in
Migrantenfamilien
Migrantenfamilien, auch solche aus einfachen              ansätze dienen können. Nachfolgend werden
Sozialschichten, haben im Durchschnitt höhere             die interessantesten vier Ansätze diskutiert.
Bildungsaspirationen für ihre Kinder als einhei-          ⚫ Zuwanderungsoptimismus: Es wird argu-
mische Familien. Dies gilt auch bei schlechteren            mentiert, dass Migrantinnen und Migranten
Schulleistungen. Allerdings können die Kinder               in Bezug auf ihre Arbeitsmoral und ihren
die in sie gesteckten Erwartungen oft nicht in              Ehrgeiz eine positiv selektierte Gruppe sind
entsprechende Schulleistungen umsetzen.                     (Kao & Tienda, 1995; Becker, 2010). Sie sind
                                                            meistens ausgewandert, um etwas zu errei-
Dieses Phänomen ist in der Wissenschaft wie-                chen und ihre Lebensbedingungen zu ver-
derholt untersucht und bestätigt worden, in der             bessern. Entsprechend haben Migrantenel-
pädagogischen Praxis bisher jedoch kaum ange-               tern auch hohe Aspirationen an die Bil-
kommen. Deshalb wird es in diesem Briefing Pa-              dungslaufbahnen ihrer Kinder. Dies hat sich
per näher untersucht. Dabei geht es um zwei                 besonders ausgeprägt in unserer MIRAGE-
Fragen:                                                     Studie zu den erfolgreichsten Migrantinnen
                                                            und Migranten in der Berufsbildung gezeigt
⚫ Warum haben Migrantenfamilien durch-                      (Stamm, Leumann & Kost, 2014). Eine hohe
  schnittlich höhere Bildungsaspirationen im                Bildung der Kinder sehen viele als wichtigs-
  Vergleich zu einheimischen Familien, auch                 ten Weg an, um die Aufwärtsmobilität zu
  unter Kontrolle der Schulleistung der Kin-                verwirklichen.
  der?
                                                             Ogbu und Fordham (1986) unterscheiden
⚫ Weshalb können die Kinder diese hohen As-                  ferner zwischen freiwilliger und unfreiwilli-
  pirationshaltungen nicht in angemessene                    ger Immigration. Freiwillig immigrierte Fa-
  Leistungen transformieren?                                 milien haben weit höhere Bildungsaspirati-
                                                             onen und sind stärker bereit, kulturelle Dif-
Das «Aspiration-Achievement-Paradox»                         ferenzen in Bezug auf Sprache, Integration
Da sich Bildungsaspirationen oftmals an die ak-              oder Kommunikation zu überwinden, wäh-
                                                             rend unfreiwillig immigrierte Familien sie
tuellen schulischen Leistungen der Kinder an-
                                                             zum Schutze ihrer ursprünglichen Identität
gleichen und Kinder mit Migrationshintergrund                nutzen und eine zum Mainstream konträre
im Durchschnitt schlechter abschneiden als sol-              Subgruppenidentität entwickeln.
che aus einheimischen Familien, wären für die
                                                          ⚫ Informationsdefizite: Eine andere mögliche
meisten Migrantengruppen eher niedrigere Bil-
                                                            Ursache für die hohen (realistischen) Bil-
dungsaspirationen zu erwarten. Dem ist aber                 dungsaspirationen von Migrantenfamilien
nicht so. Dieses Phänomen wird auch als als                 ist gemäss Becker und Gresch (2016) das
«Aspiration-Achievement-Paradox» bezeichnet                 fehlende Wissen über das hiesige Bildungs-
(Becker, 2010; Becker & Gresch, 2016). Es sind              system. Diese These wird oft vertreten, ins-
also nicht nur die Zuwanderungseliten («Ex-                 besondere dann, wenn es um die Wahl von
pats»), welche hohe Erwartungshaltungen an                  Berufslehre oder Gymnasium geht. For-
ihre Kinder haben. Deshalb stellt sich die Frage            schungsarbeiten z.B. von Gresch (2012) ma-
nach den Hintergründen dieses paradoxen Be-                 chen zudem deutlich, dass Kinder von ihren
                                                            Eltern oft besser eingeschätzt werden als
funds.                                                      dies die Noten nahelegen und dies auch für
                                                            die Selbsteinschätzung der Kinder gelten
Gründe für höhere Bildungsaspirationen                      kann. Dazu kommen auch die sprachlichen
Im Hinblick auf die erste Frage nach den mögli-             Barrieren in der Zusammenarbeit mit
chen Ursachen für die oft überdurchschnittlich              Schule und Lehrkräften, was wiederum zu
hohen Bildungsaspirationen in Migrantenfami-                einer unrealistischeren Einschätzungen der
                                                            schulischen Leistungen führt.
lien finden sich in der Fachliteratur verschie-
dene Studien, die als mögliche Erklärungs-                ⚫ Wahrgenommene Diskriminierung: Diese
                                                            These, die auch als «blocked opportunities
                                                            thesis» bekannt ist, steht für ein

Psychologie der Elternerwartungen
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