Heimat heute 2018 - Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland

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Heimat heute 2018 - Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland
2018

heimat
heute

Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes

                                         Postfach, 3001 Bern
                                         info@heimatschutz-bernmittelland.ch
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Impressum
Herausgeber
Berner Heimatschutz
Region Bern Mittelland
Postfach, 3001 Bern
www.heimatschutz-bernmittelland.ch
info@heimatschutz-bernmittelland.ch

Redaktion
Raphael Sollberger

Fachlektorat
Jasmin Christ

Korrektorat
Margrit Zwicky

Satz und Gestaltung
Raphael Sollberger
www.dessign.ch

Druck
Länggass Druck AG
www.ldb.ch

Auflage
1’600 Exemplare

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Inhalt

     Einleitung
 4   Aareschwumm, Berner Sennenhund, Zibelemärit: die Vielfalt unseres kulturellen Erbes
     Raphael Sollberger

     Aktuell – Kulturerbe
10   Kultur ist vielfältig – geschaffen von Menschen an einem bestimmten Ort
     Bernhard Furrer

     Archivperlen
16   Kuriositäten und Kulturerbe
     Rolf Hürlimann

     Aus der Praxis – Kulturerbe
18   «Im erschte und im letschte Tram» – alte Trams und Busse als Teil unseres Kulturerbes
     Tim Hellstern

     Aus der Praxis – Heimatschutz
24   Inventare als Instrumente zum Erhalt unseres Kulturerbes – Die Stadtführungen 2018
     Anne-Catherine Schröter

     Aus der Politik
25   Die Erklärung von Davos: eine Politik der «hohen Baukultur»

     Aus der Praxis – Kulturerbe
26   Nachhaltige Schweizer Bankgeheimnisse
     Renate Albrecher

     Stadtspaziergang
31   Auf den Spuren bernischer Apotheken
     Rolf Hürlimann

     Lesenswert
36   Neuer Kunstführer: Siedlungen der Nachkriegszeit in Bümpliz-Bethlehem
     Anne-Catherine Schröter und Raphael Sollberger

     In eigener Sache
38   Neue Homepage für unsere Regionalgruppe

38   Abbildungsverzeichnis

39   Adressen

                                                                                        heimat heute 2018 | 3
Heimat heute 2018 - Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland
EINLEITUNG

Aareschwumm, Berner Sennen-
hund, Zibelemärit: die Vielfalt
unseres kulturellen Erbes
Das Bewusstsein einer Gesellschaft für ihre Geschichte beruht zu einem grossen Teil auf ihrem
gemeinsamen kulturellen Erbe. Dieses nehmen Menschen von Kindesbeinen an einmal mehr, einmal
weniger bewusst in sich auf, entwickeln es weiter und geben es weiter; indem sie Häuser bauen, ihre
Umgebung gestalten, Feste feiern, Werkzeuge und Maschinen herstellen, Kunst machen, Sport treiben,
Essen zubereiten. Kulturerbe ist also mehr als historische Architektur, mehr als Folklore. Ganz im Sinne
des Kulturerbejahrs 2018 – Sharing Heritage – möchten wir Ihnen zum Einstieg drei unterschiedliche
Formen kulturellen Erbes vorstellen, die die Geschichte und die Gesellschaft unserer Region seit langer
Zeit wesentlich mitprägen.

  Q 1 Die letzte Rechtskurve
     zwischen dem Eichholz
    und dem Marzilibad. Ab
   hier kann ein letztes Mal
      dem Klang der Kiesel-
  steine auf dem Flussgrund
    gelauscht werden, bevor
     man sich langsam aber
   sicher Gedanken darüber
      machen muss, wo man
   denn aussteigen möchte.

                               Beliebt seit dem Mittelalter: der «Aareschwumm»   Ein «Aareschwumm» ist Entschleunigung.
                               Für viele Bernerinnen und Berner gehört           Kein Wunder also, dass ein Versuch, im Rah-
                               das Schwimmen in der Aare untrennbar zum          men eines jährlich stattfindenden Events,
                               Sommer. Die beliebtesten Ausgangspunkte           in der Aare um die Wette zu schwimmen,
                               sind die zwei traditionsreichen städtischen       kläglich scheiterte und der Anlass schliess-
                               Flussbäder, das Marzili- und das Lorrainebad,     lich aufgrund ausbleibender Anmeldun-
                               und das Zehndermätteli auf der Engehalbinsel.     gen eingestampft werden musste.1
                               Hier trifft man sich nach der Arbeit oder an
                               einem freien Tag, deponiert seine Kleider und     Entscheidende Faktoren für die Popularität
                               reiht sich ein in die Kolonne der flussaufwärts   des Aareschwimmens sind die Szenerie – mit
                               Spazierenden, bevor man sich im türkisen          Bundeshaus und Monbijoubrücke in Bern
                               Nass zurück in die Stadt, zurück zur Badi oder    oder mit unverbauten Auen im Aaretal – und
                               aber rund um die Halbinsel von Schloss und        die herausragende Wasserqualität. Letztere
                               Kirche Bremgarten treiben lassen kann. Auch       machte Bern und die Aare 2009 zu einem
                               das Schlauchbootfahren ist ein beliebtes Frei-    Vorbild für Urban Swimming in den USA, als
                               zeitvergnügen: Bis zu 500 Boote pro Stunde        ein Bostoner Forschungsprojekt zum Schluss
                               befahren an schönen Sommertagen die rund          kam, dass «nirgendwo auf der Welt […] Urban
                               vierstündige Strecke von Thun nach Bern.          Swimming ein derart breit verankerter Teil der

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EINLEITUNG

Stadtkultur wie in Bern»2 sei und daraufhin                                                        R 2 Sie gehören unver-
die Idee präsentierte, den Charles River nach                                                      wechselbar zum Berner
Berner Vorbild schwimmtauglich zu machen.3                                                         Sommer und haben eine
Der Aareschwumm hat, wie die Quellen                                                               lange Tradition: Schlauch-
verraten, eine lange Tradition: Bereits im                                                         bootfahrerinnen und -fahrer
14. und 15. Jahrhundert sind Badeunfälle in                                                        und Aareschwimmer, von
der Aare überliefert, ab dem 18. Jh. soll die                                                      der Monbijoubrücke aus
Aare «zwischen der Elfenau und der Enge-                                                           aufgenommen. Aug. 1991.
halbinsel» an warmen Sommertagen eine
«einzige riesige Flussbadeanstalt» gewesen
sein.4 Eine Trendwende ist erst für das 19.
Jahrhundert zu verzeichnen, als verschiedene
Badeverbote erlassen werden mussten; z. B.
weil «an öffentlichen Orten […] erwachsene        Schweizerische Lebensrettungs-Gesellschaft
Mannspersonen und Knaben ohne mit Scham-          SLRG jeweils am Sonntag vor dem Zibelemärit
tüchern versehen zu sein, durcheinanderbaden      (siehe weiter unten) ein herbstliches «Zibe-
und oft nackt auf der Strasse herumlaufen»5.      leschwümme» (Zwiebelschwimmen), bei dem
                                                  sich die kälteresistentesten Schwimmerinnen
Heute jedoch ist weniger die Bekleidung           und Schwimmer Berns bei durchschnittlichen
(«weil im Wasser alle gleich sind – egal, wer     Wassertemperaturen von 8–12 Grad vom
man an der Fleischschau zuvor auf dem Mar-        Schönausteg zum Marzili hinuntertreiben
zilirasen zu sein vorgab» ) als die jeweilige
                         6
                                                  lassen. Am kältesten ist die Aare jeweils im
Aaretemperatur ein Dauergesprächsthema            Februar mit durchschnittlich 5,35 Grad.
unter Stadtbernerinnen und Stadtbernern.
Die Frage, wer wann und wie oft schon bei                                                          R 3 Beim Zehndermätteli auf
welcher Temperatur in der Aare war, prägt                                                          der Engehalbinsel herrscht
den hiesigen sommerlichen Small-Talk und mit                                                       oft weniger Betrieb als in
ihm eine ganze Stadtkultur. Falls auch Sie bei                                                     den städtischen Flussbädern.
der nächsten Gelegenheit mit diesbezüglichem
Wissen auftrumpfen möchten: Am wärmsten
war die Aare in Bern seit Messbeginn in diesem
Jahr! Am 6. August um 16.00 Uhr knackte sie
den Höchstwert des Hitzesommers 2003 (am
11. August wurden damals 23,41 Grad gemes-
sen), als das Thermometer ganze 23,83 Grad        Weltbekannt: der Berner Sennenhund
anzeigte. Doch auch bei kälteren Temperaturen     Der Berner Sennenhund ist als sprichwörtlich
lässt sich schwimmen: Seit 1986 organisiert die   lebendiges Kulturerbe weit über die Landes-
                                                  grenzen hinaus bekannt. Dank seiner schönen
                                                  Zeichnung und seiner Gutmütigkeit steht er       R 4 Für alle Marzilibesu-
                                                  heute weit oben auf der Beliebtheitsskala der    cherinnen und -besucher,
                                                  Begleithunderassen und ist fast in der ganzen    die nicht bis zum Eichholz
                                                  Welt anzutreffen – in vivo oder zumindest als    spazieren möchten, ist der
                                                  Stofftier. Er gehört genauso zum stereotypen     Schönausteg auf Höhe des
                                                  Bild der Schweiz wie das Matterhorn, die Scho-   Tierparks Dählhölzli ein
                                                  kolade und der Käse. Aus dem Wallis stammt       beliebter Einstieg für einen
                                                  er jedoch nicht, Zweiteres mag er von Natur      kurzen, ca. 800 m langen
                                                  aus nicht besonders und wirklich zu tun hatte    Aareschwumm, zurück
                                                  er aus historischer Sicht bloss mit Letzterem.   ins städtische Freibad.

                                                                                                      heimat heute 2018 | 5
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EINLEITUNG

                                                                                   1902 neben Jagd- und anderen Nutzhunden
                                                                                   auch erstmals vier Dürrbächler gezeigt werden
                                                                                   sollten.8 Auch der Zürcher Geologieprofessor,
                                                                                   Mitbegründer des Schweizerischen Alpenclubs
                                                                                   SAC, passionierte Hobby-Kynologe und in seiner
                                                                                   Freizeit als Ausstellungsrichter tätige Albert
                                                                                   Heim (1849–1937) war von den Dürrbächlern
                                                                                   begeistert. Er regte an, einen Klub zur Zucht
                                                                                   und Pflege der Rasse zu gründen, welcher sich
                                                                                   am 15. November 1907 als Dürrbach-Klub mit
                                                                                   16 Mitgliedern konstituierte und heute noch
                                                                                   als Schweizerischer Klub für Berner Sennen-
                                                                                   hunde KBS existiert. 1914 veröffentlichte Heim
                                                                                   anlässlich der Schweizer Landesausstellung
                                                                                   auf dem Berner Neufeld eine Schrift mit dem
                                                                                   Titel Die Schweizer-Sennenhunde9, in der er
                                                                                   auch die Rasse, die Pflege und die Zucht des
S   5 Die preisgekrönten Ber-    Die unmittelbaren Vorfahren der Berner- und       Berner Sennenhunds beschrieb. Noch heute
 ner Sennenhunde Alvin und       Schweizer Sennenhunde waren die Bauern-           ist es ein Hauptziel des KBS, mittels Überwa-
Arisha «vom Niesenblick» an      und Küherhunde des Berner Mittellands, des        chung der Zucht und durch die Festschreibung
 der letzten Nationalen Hun-     Emmentals und des Entlebuchs sowie des            von Standards die Rasse des Berner Sennen-
deausstellung 2015 in Aarau.     Schwarzenburgerlands, wo sie als Viehtreiber,     hunds zu erhalten.10 Die Albert-Heim-Stiftung
                                 Wachhunde und Hofgehilfen gehalten und            mit Sitz im Naturhistorischen Museum der
                                 weiterentwickelt wurden. Zu ihren historisch      Burgergemeinde Bern fördert daneben die
                                 belegbaren Hauptaufgaben gehörte das Ziehen
      Q 6 Schweizer Auswan-      eines mit Milchkannen beladenen Leiterwa-
     dererfamilien bescherten    gens, um die Milch zur Käserei zu bringen.
     dem Berner Sennenhund
    im frühen 20. Jahrhundert    Im 19. Jahrhundert fand der Sennenhund
       weltweite Bekanntheit.    erstmals Beachtung in der Literatur. In den
     Auch in den USA wurden      Geschichten Jeremias Gotthelfs (1797–1854)
die Berner Sennenhunde als       kam «der Bernerhund», der noch keinen
 Hofhunde geschätzt und die      Rassenamen hatte, immer wieder vor. Da die
  Tradition des Milchkarren-     «Bernerhunde» im Gebiet des Dürrbachs (ein
        ziehens hochgehalten.    heute nicht mehr verzeichneter Weiler sowie
                                 ein kleiner Zufluss der Grüne in der Gemeinde
                                 Lützelflüh) von Handwerksleuten aus Burg-
    Q 7 Das richtige Milchkar-   dorf und Bern als Zughunde gekauft werden
    renziehen will geübt sein.   konnten, nannte man sie oft auch einfach
    Beispielsweise am «Wäge-     «Dürrbächler».7 Auch in der Stadt fand man an
  litag» des Schweizerischen     den gutmütigen vierbeinigen Helfern (die nota
    Klubs für Berner Sennen-     bene in den engen Gassen der Altstädte auch
        hunde KBS. Mai 2018.     deutlich weniger Platz benötigten als Pferde)
                                 schnell Gefallen. Fritz Probst (1867–1945), ein
                                 Stadtberner Wirt und Jäger, wohnhaft an der
                                 Aarbergergasse, regte deshalb an, dass an der
                                 ersten Schweizerischen Hundeausstellung der
                                 Kynologischen Gesellschaft Bern am 11. Mai

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EINLEITUNG

kynologische Forschung in der Schweiz und         ist der Zibelemärit auch für die nachmittäg-
betreibt dort die weltweit grösste Hundeschä-     lichen «Konfettischlachten» in den Hauptgassen
delsammlung mit rund 2500 Exemplaren.11           (man bewirft sich gegenseitig mit Konfetti und
                                                  haut aneren mit Plastikhämmerchen möglichst
Dem Namen nach zwar immer noch ein Sen-           unbemerkt auf den Hinterkopf), den Jahrmarkt
nenhund, hat sich der Aufgabenbereich des         auf der Schützenmatte und die Partys bis tief in
Berners jedoch zum Ende des 20. Jahrhunderts      die Nacht hinein bekannt. 1984 rief der ehe-
hin grundlegend verändert; heute gehört er zur    malige Berner Stadtschützenpräsident Rudolf        S 8 Ein Berner Sennen-
Gruppe der «Hunde ohne Arbeitsprüfung»12.         Wenger die Gilde der Zibelegringe von Bern ins     hund und seine stolzen
Umso wichtiger wurde dafür seine Funktion         Leben. Neben der feierlichen Ernennung des         Besitzer in Tracht anlässlich
als Begleithund. Als solcher, und da er un-       «Oberzibelegrings» (Oberzwiebelkopf) treten        eines Umzugs am Eid-
bestrittenerweise ein Zeuge der Schweizer         Musikantinnen und Musikanten der Gilde am          genössischen Schwing-
Wirtschafts- und Kulturgeschichte darstellt,      Zibelemärit jeweils in verschiedenen Lokalen       fest 2013 in Burgdorf.
ist er oft auch an Folkloreanlässen zu sehen,     der Stadt auf und präsentieren ihre politsati-
wo das Ziehen des Milchkarrens weniger            rischen Lieder als eine Art Berner Variation
der Käseherstellung als hauptsächlich der         der berühmten Basler Schnitzelbänke.13
Nostalgie dient. Geblieben ist die Freude der
Menschen, ihren Hund einzuspannen, sich und       Der Ursprung des Zibelemärits ist nicht genau
ihren vierbeinigen Begleiter herauszuputzen       bekannt. Aus dem 15. Jahrhundert, insbe-
und den Leiterwagen festlich zu schmücken;        sondere aus der Berner Chronik von Conrad
so wird das Milchkarrenziehen anlässlich          Justinger (1370–1438), wissen wir von einem
von Märkten, Jodler- und Trachtenfesten als       Berner Wochenmarkt sowie von Festivitäten im
lebendige Tradition aufrechterhalten. Kein        Rahmen des St.-Martins-Tags am 11. November.
Wunder, geniesst auch der Dürrbächler selbst      Für den Verkauf ihrer überzähligen Sommer-
die ihm dort entgegengebrachte Aufmerksam-        ernteprodukte reisten die Bauersleute des
keit, fliegen ihm an solchen Anlässen doch die    Umlands in die Stadt, wo sich die Bernerinnen
Herzen der Zuschauenden – und vielleicht ab       und Berner mit Vorräten für den Winter ein-
und zu auch etwas Essbares – scharenweise zu.     decken konnten. Eine Win-win-Situation, die        S 9 Auf dem Bundesplatz
                                                  auch historisch durchaus Sinn macht. In den        beginnt der Zibelemärit
Alle Jahre wieder: der Zibelemärit                Quellen, insbesondere den Marktordnungen           bereits frühmorgens.
Der Stadtberner «Zibelemärit», Berndeutsch        des 16. Jahrhunderts und den darin enthaltenen
für Zwiebelmarkt und mittlerweile der kanto-      Produktekatalogen, fehlt jedoch ein zentrales
nalbernische Brauch mit dem grössten Publi-       Element, das uns erlauben würde, das mittel-
kumszuspruch überhaupt, findet jedes Jahr am      alterliche Treiben als direkten Vorgänger des
vierten Montag im November statt. Zahlreiche      heutigen Zibelemärits zu beschreiben: die
Bäuerinnen und Bauern bieten am Zibelemärit       Zwiebel. Zwar gab es sie damals in Bern bereits
ihre Zwiebelzöpfe, Zwiebelkuchen, Zwiebel-        zu kaufen, jedoch lediglich im eher unfestlichen
figuren und was sich sonst noch alles aus         Rahmen eines Wochenmarkts.14 Ein am Martins-
der aus Mittel- und Vorderasien stammenden        tag abgehaltenes Fest ist zudem sowieso erst
Lauchpflanze herstellen lässt, zum Verkauf an.    nach der Reformation, genauer seit Anfang des
Bis zu 50 t Zwiebeln und Knoblauch gibt es zu     17. Jahrhunderts, quellenkundlich belegt. Dabei
kaufen, nebst dem für Volksfeste in der Schweiz   handelte es sich um eine mehrtägige Feier, die
obligaten Magenbrot und Glühwein. Bereits         «Martinimesse»15 mit Umzügen, Marktständen
in den frühen Morgenstunden besuchen die          und vornehmlich bernburgerlichen Festivi-          S 10 Anlässlich der «Kon-
Bernerinnen und Berner den Markt, Restau-         täten. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist      fettischlacht» bewerfen sich
rants und Bäckereien servieren den ganzen Tag     ein unbestrittener Zusammenhang zwischen           vorwiegend junge Berne-
über ihre zumeist hausgemachten Zwiebel- und      St. Martin und den Zwiebeln belegt: In der         rinnen und Berner jährlich
Käsekuchen. Seit dem späten 20. Jahrhundert       Presse war 1860 zu lesen, dass «die Messe nun      mit bis zu 20 t Konfetti.

                                                                                                         heimat heute 2018 | 7
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11 Am Berner Zibele­
                        märit werden jährlich
                        bis zu 50 t Zwiebeln zum
                        Verkauf angeboten.

8 | heimat heute 2018
Heimat heute 2018 - Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland
EINLEITUNG

mit einem Zwiebelmarkt» beginne.16 Wenn hier
von «Messe» die Rede ist, so darf man sich
nicht etwa eine christliche Feier und auch keine
Messe als Gewerbe- und Produkteschau vor-
stellen, wie sie heute noch in vielen Schweizer
Orten stattfinden. Vielmehr handelte es sich in
Bern um eine etwas sonderbare Mischung aus
christlichem Feiertag und marktschreierischer
Warenmesse mit Schaustellern, Affenhaltern,
Bärentänzen – und einem für uns heute eher
schwer verdaulichen «Meitschimärit», einem
Mägdemarkt. Die Martinimesse begann bis zum
Jahr 1900 offiziell immer am Dienstag vor dem
30. November. Auswärtigen Marktfahrerinnen
und Marktfahrern war es jedoch gestattet,
ihre Waren schon am Vortag des offiziellen
Messebeginns anzubieten, und so begann die
mittlerweile zwei Wochen andauernde Veran-
staltung inoffiziell immer bereits am   Montag.    Raphael Sollberger ist Architekturhistoriker               S 12 Hektisches Trei-
                                                   und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der                 ben und Zwiebelzöpfe,
Es darf also davon ausgegangen werden,             kantonalen Denkmalpflege Zürich.                           wohin das Auge reicht:
dass es sich beim Zibelemärit in seiner heu-                                                                  der Zibelemärit auf dem
tigen Form um ein Überbleibsel eines über          Anmerkungen                                                Waisenhausplatz um 1930.
                                                   1    Christoph Gertsch, «Man muss das erlebt haben»,
die Jahrhunderte stark abgewandelten, viel-             in: Neue Zürcher Zeitung, 05.07.2009.
seitigen herbstlichen Stadtfests handelt. Der      2    Ferdinand Hellweger u. a., Urban Swimming,
                                                        Forschungsprojekt der Northeastern University,
Zibelemärit: ein vom jeweiligen Zeitgeist               College of Engineering, Boston 2009.
geprägter Brauch also, tradiert von Generation     3    Vgl. www.thecharles.org, Stand 31.07.2018.
                                                   4    Katrin Rieder, Aareschwimmen in Bern, online
zu Generation, stets geprägt von aktuellen              abrufbar unter www.lebendige-traditionen.ch,
wirtschaftlichen und politischen Umständen              Stand 31.07.2018.
                                                   5    Vgl. dazu Andreas Schwab, Nackt beim Dählhölzli
und sozialen Gefügen. Das 20. Jahrhundert               herumspazieren, in: Der kleine Bund, 22.08.1998.
mit seinen Wirtschaftskrisen und Weltkriegen       6    Wie Anmerkung 1.
                                                   7    Anita Schneider, Der Berner Sennenhund, in:
überstanden hat von der Martinimesse aus-               Schweizer Hunde Magazin, 2007, Nr. 3, S. 6–11.
schliesslich der montägliche Eröffnungs-Ge-        8    Hans Räber, Enzyklopädie der Rassehunde.
                                                        Ursprung, Geschichte, Zuchtziele, Eignung und
müsemarkt17 – und mit ihm die ausgelassene              Verwendung, Stuttgart 1993, S. 150.
Stimmung, mit welcher die Bernerinnen und          9    Albert Heim, Schweizer-Sennenhunde, Zürich 1914.
                                                   10   Zur Geschichte des KBS siehe Margret Bärtschi,
Berner wohl seit der frühen Neuzeit den jeweils         Kleine Klubgeschichte, in: Schweizer Hundesport,
kommenden Winter zu begrüssen wussten.                  1982, Nr. 17 (Sonderausgabe).
                                                   11   www.albert-heim-stiftung.ch, Stand 31.07.2018.
                                                   12   FCI-Rassestandard für den Berner Sennenhund
                                                        (Dürrbächler), Nr. 45 vom 05.03.2003, hg. von
                                                        Féderation Cynologique Internationale, Thuin 2003.    R 13 Eine gestellte Szene
                                                   13   Vgl. www.zibelegringe.ch, Stand 31.07.2018.           am Zibelemärit auf dem
                                                   14   Im 15. Jahrhundert ist ein «Zwiebel-Wochenmarkt»      Bundesplatz zeugt vom
                                                        belegt, der jeweils dienstags im Zibelegässli (der
                                                        oberste Abschnitt der Brunngasse) stattfand.          Produkte-Marketing anno
                                                   15   Rudolf Ramseyer, Zibelemärit. Martinimesse,           1926: Das weisse «B» auf
                                                        Langnau 1990.
                                                   16   Katrin Rieder, Zibelemärit, online abrufbar unter     dem Schild oben links war
                                                        www.lebendige-traditionen.ch, Stand 31.07.2018.
                                                                                                              das Signet des Schweizer
                                                   17   1917 konnte die Messe wegen des Ersten Weltkriegs,
                                                        1918 wegen einer Grippeepidemie und 1919 wegen        Gemüsegrossisten Berger.
                                                        der Maul- und Klauenseuche nicht stattfinden; Hans
                                                        Erpf, Dr Märit z Bärn. Geschichten, Episoden, Verse
                                                        und Bilder rund um die Berner Märkte, Bern 1982.

                                                                                                                 heimat heute 2018 | 9
Heimat heute 2018 - Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland
AKTUELL – KULTURERBE

Kultur ist vielfältig – geschaffen
von Menschen an einem
bestimmten Ort
Das Verständnis dessen, was zur Kultur gehört, ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend breiter
geworden. Vergangenes und Gegenwärtiges, Materielles und Immaterielles, Hochprofessionelles und
Laienhaftes verbinden sich zum Ausdruck einer Gesellschaft. In diesem Beziehungsnetz kommt dem
baulichen Kulturerbe und damit dem Heimatschutz eine wichtige Rolle zu.

                                Was gehört zur Kultur einer Gesellschaft?            alles, was dazu führt, dass der Mensch seine
                                «Kultur» ist gegenwärtig in aller Leute Mund.        Lage besser begreift, um sie unter Umstän-
                                Das hat viel mit dem Verständnis zu tun, was         den verändern zu können.»1 Diese Definition
                                Kultur eigentlich sei und was sie für die Men-       hat in vielen Kulturstrategien von Schweizer
                                schen zu bedeuten habe. Lange Zeit wurde             Gemeinden und Städten Eingang gefunden.
                                darunter bloss eine Hochkultur verstanden,
                                die Gebildeten vorbehalten war: Theater,             Die Konvention von Faro oder die Teilhabe
                                Konzert, Literatur, Malerei und Bildhauerei.         der ganzen Bevölkerung an der Kultur
                                In den 1980er Jahren formulierte und publizier-      Das heutige Verständnis von Kultur, wie es
                                te der Europarat eine Definition, die dieses Ver-    sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt
                                ständnis wesentlich erweiterte: «Kultur ist alles,   hat, ist nochmals wesentlich breiter gewor-
                                was dem ‹Individuum› erlaubt, sich gegenüber         den. Wer sprach vor einer Generation von
        T 1 Die Fankultur des   der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber        einer «Theaterkultur auf dem Land» oder
Schlittschuhclubs Bern SCB.     dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden,             von der «Fankultur eines Eishockeyclubs»?

                                                                                     Das Rahmenübereinkommen des Europarats
                                                                                     über den Wert des Kulturerbes für die Gesell-
                                                                                     schaft2, das nach dem Ort seiner Unterzeich-
                                                                                     nung kurz Konvention von Faro genannt wird
                                                                                     und dessen Ratifizierung durch die Schweiz
                                                                                     gegenwärtig diskutiert wird, definiert in Arti-
                                                                                     kel 2 einen solch umfassenden Kulturbegriff.

                                                                                     Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, an
                                                                                     denjenigen Bereichen des Kulturerbes teil-
                                                                                     zuhaben, denen er sich zugehörig fühlt. Dies
                                                                                     stiftet ihm Sinn und Lebensqualität, hilft ihm,
                                                                                     seine Identität zu bewahren, indem er seine
                                                                                     Werte und Traditionen bewahrt. Kultur gibt dem
                                                                                     Menschen Sicherheit; dadurch fördert sie eine
                                                                                     gesamtverantwortliche Entwicklung und die
                                                                                     Bereitschaft, Neues zu erkunden und Verände-
Q   2 Das Haus der Religionen                                                        rungen zuzulassen. Der Ort, an dem die Men-
         in Bern ist Ausdruck                                                        schen ihre Kultur leben, wird ihnen zur Heimat.
       verschiedener Kulturen                                                        Es gibt nicht nur eine Kultur. Vielmehr bestehen
        und des gegenseitgien                                                        in unserem Umfeld viele Kulturen, von denen
              Verständnisses.                                                        jede die besondere Beziehung einer Gruppe
                                                                                     von Menschen zur Gesellschaft widerspiegelt.
                                                                                     So müsste die Ausübung eigener Kulturpraxis
                                                                                     auch Toleranz und Verständnis gegenüber
                                                                                     gesellschaftlichen Gruppen anderer kultureller
                                                                                     Herkunft, Sprache und Religion beinhalten.

10 | heimat heute 2018
AKTUELL – KULTURERBE

                                                   die Sprachen und die Art des Umgangs mit          R 3 Der Studebaker
                                                   anderen Menschen miteingeschlossen. Für           Champion 1953 von
                                                   das immaterielle Kulturerbe sind Richtlinien,     Liselotte Pulver (*1929),
                                                   wie sie für das materielle Kulturerbe existie-    nach der Konservierung und
                                                   ren, nicht möglich und auch nicht sinnvoll.5      Restaurierung des Autolacks.
                                                   Wohl gibt es inventarähnliche Verzeichnisse
                                                   mit detaillierten Beschrieben wie die Liste
                                                   der lebendigen Traditionen der Schweiz6.
                                                   Die UNESCO nimmt zudem seit einigen               T 4 Das Münster und die
                                                   Jahren auch immaterielle Kulturgüter              Altstadt von Bern sind ein
                                                   in die Liste des Weltkulturguts auf.7             bauliches Kulturerbe, dem
Die Konvention von Faro versteht Kultur-                                                             sich die ganze Gesell-
erbe in einem umfassenden Sinn; es geht um         Traditionen lassen sich indessen nicht fest-      schaft verpflichtet fühlt.
wesentlich mehr als die erwähnte Kultur des        schreiben, sondern entwickeln sich kon-
Bildungsbürgertums oder um Hochkultur.             tinuierlich weiter. Es liegt ausschliesslich      TT 5 Der «Blaue Pfeil»
Vielmehr werden im Kulturerbeverständnis           an den Trägerinnen und Trägern dieser             BCFe 4/6 736 der Lötsch-
der Konvention alle Formen kultureller Äusse-      Traditionen zu bestimmen, in welchem Mass         bergbahnen BLS ist ein Bei-
rungen miteinbezogen, materielle Zeugnisse         und in welche Richtung dies geschieht.            spiel mobilen Kulturerbes.
wie immobile Objekte, Bauten, und ganze
Kulturlandschaften sowie mobile Gegenstände
aller Zeiten und Gattungen einerseits, im-
materielle Kulturäusserungen wie Brauchtum
oder lebendige Traditionen andererseits.

Im Bereich der materiellen Zeugnisse ist die Art
des Umgangs mit Baudenkmälern auf interna-
tionaler Ebene mit Schriftstücken wie der Char-
ta von Venedig3, auf nationaler Ebene mit den
Leitsätzen zur Denkmalpflege in der Schweiz4
in den Grundzügen definiert. Beide Grundla-
genpapiere geben sowohl einen gedanklichen
Hintergrund wie Hinweise zur praktischen
Herangehensweise. Diese Grundsätze können
auf alle materiellen Kulturgüter, neben histori-
schen Bauten auch auf historische Fahrzeuge,
Uhren, Instrumente oder Sitzbänke angewendet
werden, wie sie in diesem Heft vorgestellt wer-
den. Auch ein Oldtimer verliert an historischem
Wert, wenn die originale Lackierung über-
spritzt und der Motor nicht revidiert, sondern
durch ein modernes Aggregat ersetzt wird.

Das immaterielle Kulturerbe ist in den letzten
Jahrzehnten stärker ins Bewusstsein gerückt.
Neben vielfältigen Formen des Brauchtums,
religiös begründeten Riten, traditionellen
Anlässen oder kulinarischen Gepflogenheiten
sind im umfassenden Verständnis von Kultur

                                                                                                       heimat heute 2018 | 11
AKTUELL – KULTURERBE

                                 So bleibt offen, ob der Brünigschwinget in         aufbauend auf dem Vergangenen dem Erbe
                                 zwanzig Jahren noch existiert und ob das           beständig Neues hinzugefügt und es dadurch
                                 heute gültige «technische Regulativ» durch         weiterentwickelt wird. Das «grosse Erbe»
                                 ein anderes Regelwerk abgelöst wird.               verstanden nicht als Last, sondern als Chance
                                                                                    für Neues: Der Zwerg auf den Schultern des
                                 «Kulturerbe» ist ein Begriff, der zu Missver-      Titanen sieht weiter als der Riese selbst.
                                 ständnissen führen kann. Er lässt vermuten,
      S 6 Das offtzielle Label   dass es sich bei der Kultur lediglich um das von   Das Europäische Kulturerbejahr oder
  des Kulturerbejahrs 2018.      den Vorfahren Geerbte handelt, um Vergange-        die Vielfalt des Kulturerbes
                                 nes, das es zu bewahren gilt. Dies ist indessen    Der Europarat versucht im laufenden Jahr, die
                                 bloss die eine Seite der Münze. Natürlich ist      enorme Vielfalt dessen, was unter Kultur zu
                                 es wichtig, zu den überlieferten materiellen       verstehen ist, aufzuzeigen. Unter dem Motto
                                 und immateriellen Werten Sorge zu tragen.          Sharing Heritage sollen daher während des
                                 Die andere Seite der Münze ist die täglich neu     Europäischen Kulturerbejahrs 20189 mög-
                                 entstehende, auch selber geschaffene Kultur.       lichst breite Bevölkerungskreise darauf auf-
                                                                                    merksam gemacht werden, wie bedeutend
                                 Jede kulturelle Tätigkeit oder Äusserung baut      die Kultur für die Gesellschaft ist, wie breit
                                 auf Geerbtem auf, entwickelt dieses vielleicht     gefächert kulturelle Aktivitäten sind und
                                 fort, lehnt es ab – immer bezieht sich das         wie wichtig die Teilhabe jedes einzelnen
                                 neu Entstehende auf bereits Vorhandenes.           Menschen an kulturellen Aktivitäten ist.
                                 «Tradition ist die Weitergabe des Feuers und
                                 nicht die Anbetung der Asche»8, eine häufig        In der Schweiz beteiligen sich zahlreiche
                                 Gustav Mahler zugeschriebene Aussage ver-          Organisationen an der Durchführung und Um-
                                 sucht deutlich zu machen, dass dem Erbe die        setzung des Kulturerbejahrs. Besonders zu er-
  T   7 Der Brünigschwinget,    Kraft der Erneuerung innewohnt. Das Kul-           wähnen sind der Schweizer Heimatschutz, der
   eine lebendige Tradition.     turerbe ist als Prozess zu verstehen, in dem       das Präsidium des Trägervereins innehat, und

12 | heimat heute 2018
AKTUELL – KULTURERBE

das Bundesamt für Kultur BAK, das unter dem         Der Heimatschutz oder das
Hashtag und dem Logo #Kulturerbe2018 die            Ergänzen staatlicher Stellen
Kampagne koordiniert, unterstützt und mitträgt.     Das Kulturerbe umfasst folglich eine Vielzahl
                                                    von Objekten und Tätigkeiten. Richtigerweise
Die Erklärung von Davos 2018 oder                   konzentriert sich der Heimatschutz als na-
die Bedeutung der Baukultur                         tionale Vereinigung innerhalb dieses grossen
Die enge und unerlässliche Verflechtung von         Ganzen auf seine Kernkompetenz: auf die
Bestehendem und Neuem, von der die Rede             Vorgänge im Zusammenhang mit historischen
war, wird beim Bauen besonders augenfällig.         und aktuellen Bauten; dabei achtet er auf
Die heutige Gesellschaft hat einen grossen          eine hohe baukulturelle Qualität. Nachdem
Bestand an Bauten übernommen und baut               in den Anfängen das Gewicht auf die Erhal-
kontinuierlich weiter. Die im breitesten Sinn       tung des Bestehenden gelegt worden war,
verstandene gebaute Umwelt und neue gebaute         kam später das Interesse an der Gestaltung
Realisierungen machen insgesamt das aus, was        des Neuen dazu und heute wird zudem die
wir mit dem Begriff «Baukultur» umschreiben.        Vermittlung dieser Werte grossgeschrieben.
Es ist das Verdienst der von der Schweiz initi-     Erhalten – Gestalten – Vermitteln. In allen drei
ierten Davos Declaration10 (siehe S. 25), deren     Gebieten zeichnet der Heimatschutz mit dem
Unterzeichnung unter dem Titel «Eine hohe           Wakkerpreis exemplarische Leistungen aus.
Baukultur für Europa» europaweit das Kultur-
erbejahr 2018 einläutete, dass eine qualitäts-      Im Rahmen der Stiftung Ferien im Baudenkmal
volle Baukultur als Gesamtschau von wertvollen      zeigt er eindrücklich, wie historische Bau-
Altbauten und architektonisch hochstehend           ten, die zuvor als unrettbar verloren galten,
konzipierten Neubauten in ihrem weiten Kon-         durch zurückhaltende Interventionen von
text von Siedlung und Umraum definiert wird.11      hoher architektonischer Qualität dem heuti-         T 8 Die Casascura im
                                                    gen Leben neu geöffnet werden können. Die           Hinterdorf von Fläsch
Baukultur beschränkt sich also nicht auf histori-   Fokussierung auf das Baugeschehen hindert           vereinigt eine hohe Bau-
sche Bauten und Anlagen, namentlich auf Bau-        ihn indessen nicht daran, andere Bereiche           kultur im historischen wie
denkmäler, die erhalten und gepflegt werden         wie sorgfältige Ortsplanungen, mobile Kul-          im modernen Bauen.
sollen, eine Vorstellung, die in den Köpfen von
einigen Denkmalpflegenden immer noch gehegt
wird. Sie betrifft ebensowenig bloss das aktuel-
le Bauschaffen, das durch gezielte Massnahmen
in seiner Qualität gefördert werden soll, wie
dies in Stellungnahmen von Architektenver-
bänden mitunter hervorgehoben wird. Und sie
kümmert sich auch nicht bloss um Einzelbauten
als isolierte Objekte, wie dies von Städtebauern
teils befürchtet wird. Angesprochen ist viel-
mehr die Gesamtheit der bestehenden und
neu entstehenden gebauten Umwelt in ihrem
Gesamtzusammenhang mit den durch sie ge-
schaffenen Freiräumen und in ihrem Verhältnis
zur Landschaft und den damit im Zusammen-
hang stehenden kulturellen, gesellschaftlichen,
politischen und planerischen Prozessen.
Diese Gesamtschau lohnt sich: Es geht um das
Umfeld, in dem wir leben, das uns Anregungen
vermitteln und in dem uns wohl sein soll.

                                                                                                          heimat heute 2018 | 13
AKTUELL – KULTURERBE

                                                                                 der Behandlung von Bauprojekten; handle es
                                                                                 sich um Altbauten oder Neuplanungen, bringt
                                                                                 er immer wieder weiterführende Vorschläge
                                                                                 ein. Von grosser Bedeutung ist sein Engage-
                                                                                 ment für die Vermittlung von Baukultur, bei der
                                                                                 seine Ausrichtung inzwischen ganz wesentlich
                                                                                 auch Bauten der Zwischen- und Nachkriegszeit
                                                                                 in den Städten umfasst. So hat sich der Heimat-
                                                                                 schutz gemeinsam mit der Präsident/innenkon-
                                                                                 ferenz bernischer Bauplanungsfachverbände
                                                                                 PKBB, ganz im Sinne der kantonalen Baugesetz-
                                                                                 gebung, in einer fundiert begründeten Eingabe
                                                                                 für eine Ergänzung des Stadtberner Bauinven-
                                                                                 tars namentlich durch Nachkriegsbauten, die
                                                                                 im Entwurf untervertreten sind, eingesetzt.12

                                                                                 Eine solche Beteiligung an der Diskussion
                                                                                 über kulturelle Belange entspricht genau
S   9 Der diesjährige Wakker-     turobjekte oder volkstümliche Traditionen      den Anliegen des Kulturerbejahrs 2018
 preis ging erstmals nicht an     in seine Aktivitäten miteinzubeziehen.         und der Konvention von Faro. Leider ist
 eine Gemeinde, sondern an                                                       die Eingabe des Heimatschutzes vom kan-
die Stiftung Nova Fundaziun       Der Berner Heimatschutz seinerseits hat        tonalen Amt für Kultur mit formaljuristi-
Origen in Riom. Der Heimat-       sich schon seit längerer Zeit von zwei ihm     scher Begründung abgewiesen worden.
       schutz zeichnete damit     lange anhaftenden Etiketten losgesagt:
     nicht nur die realisierten   vom Vorwurf einerseits, er beschränke sich     Gerade in Anbetracht des Anliegens, die
Bauten (hier die zum Theater      auf das blosse Neinsagen, und vom Ein-         interessierte Bevölkerung und die Vereinigun-
    umfunktionierte Scheune),     druck andererseits, er beschäftige sich        gen, in denen sie sich zusammengeschlossen
    sondern auch die Theater-     ausschliesslich mit altehrwürdigen Bauten,     hat, vermehrt an der Entwicklung der Kultur
 aktivitäten des Vereins aus.     namentlich in ländlichen Gegenden.             teilhaben zu lassen, ist es wichtig, dass sich
                                  Heute ist er mit neuen Ideen präsent und bei   der Heimatschutz engagiert einbringt. Eine der

Q 10 Die Siedlung Meienegg
       im Stöckackerquartier:
    trotz Empfehlung der Eid-
    genössischen Kommission
  für Denkmalpflege EKD im
      revidierten Berner Bau-
      inventar nicht als schüt-
         zenswert eingestuft.

14 | heimat heute 2018
AKTUELL – KULTURERBE

                                                  Anmerkungen
hauptsächlichen Legitimationen seiner Existenz    1    Zitiert nach Beat Sitter-Liver, Kulturmanagement.
gründet in seinem Selbstverständnis als unab-          Eine ethisch-politische Herausforderung,
                                                       in: Kulturmanagement und Kulturpolitik (Jahrbuch
hängiger Beobachter und allenfalls als Kritiker        für Kulturmanagement 2011), hg. von Sigrid
der Tätigkeit staatlicher und kommunaler               Bekmeier-Feuerhahn, Bielefeld 2011, S. 117–128.
                                                  2    www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conven-
Verwaltungen. Er hat dazu eine hohe Fachkom-           tions/rms/0900001680083746, Stand 22.07.2018.
petenz in Fragen der Baukultur vorzuweisen.       3    Internationale Charta über die Konservierung und
                                                       Restaurierung von Denkmälern und Ensembles,
Nötigenfalls muss er unmissverständlich auf            Venedig 1964; online abrufbar unter
Lücken oder einseitige Betrachtungsweisen              www.nike-kulturerbe.ch/de/grundlagen/konventio-
                                                       nen-charten-richtlinien-leitfaeden, Stand 22.07.2018.
aufmerksam machen. Dazu sind klare Worte          4    Leitsätze zur Denkmalpflege in der Schweiz,
und eindeutige Stellungnahmen gefordert, wie           hg. von Eidgenössische Kommission für Denkmalpfle-
                                                       ge, Zürich, 2007; online abrufbar unter: www.vdf.ch/
sie beispielsweise in der letzten Nummer dieser        leitsaetze-zur-denkmalpflege-in-der-schweiz.html.
                                                  5    In Art. 13 (siehe Anm. 7) werden bloss allgemeine
Zeitschrift zum Planungsperimeter Stöckacker
                                                       Massnahmen zur Bewahrung aufgelistet.
Nord (Siedlung Meienegg) in Bern gewählt          6    www.lebendige-traditionen.ch, Stand 22.07.2018.
                                                  7    Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen
wurden13 – mit Polemik hat das nichts zu tun.
                                                       Kulturerbes vom 17. Oktober 2003;
                                                       online abrufbar unter www.admin.ch/opc/de/
                                                       federal-gazette/2007/7281.pdf.
Die staatlichen Stellen und der privatrecht-
                                                  8    Die Aussage enthält eine Anlehnung an die Rede von
liche Heimatschutz sollten sich als voneinander        Jean Jaurès vor der Assemblée Nationale in Paris
                                                       am 21.01.1910: «Jawohl, meine Herren, auch wir
unabhängige Partner mit einem gemeinsamen              verehren die Vergangenheit. Nicht vergeblich hat die
Interesse, der Erhaltung und Pflege der Bau-           Flamme im Herd so vieler menschlicher Generatio-
                                                       nen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht
kultur, verstehen. Auch dann, wenn sie unter-          stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir
schiedliche Meinungen vertreten, wie dieses            sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren:
                                                       wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur
Ziel zu erreichen sei, müssen sie in einem             die Asche bewahrt.»
offenen Gespräch bleiben – auch die Kultur des    9    Für Europa: www.europa.eu/cultural-heritage; für die
                                                       Schweiz: www.kulturerbe2018.ch, Stand 22.07.2018.
Umgangs miteinander ist Teil des Kulturerbes.     10   www.davosdeclaration2018.ch; Stand 22.07.2018.
Wenn sich eine Seite diesem Austausch ver-        11   Hieronymus, Zwischenruf, in: Die Denkmalpfle-
                                                       ge. Wissenschaftliche Zeitschrift der Vereinigung
weigert, schadet dies dem gemeinsamen Ziel.            der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik
                                                       Deutschland, 2017, Nr. 1, S. 165.
                                                  12   Der Bund, 03.05.2018, S. 1 und 17 sowie online
Bernhard Furrer ist Architekt und                      unter www.heimatschutz-bernmittelland.ch/presse,
ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt Bern.              Stand 22.07.2018.
                                                  13   Vgl. heimat heute 2017, S. 6–10 sowie 20–24.

                                                                                                                R 11 Die Schulanlage Hoch-
                                                                                                                feld, eine hervorragende
                                                                                                                Anlage mit überzeugender
                                                                                                                Gesamtkomposition, gut pro-
                                                                                                                portionierten Aussenräumen,
                                                                                                                klaren Baukörpern mit zeitty-
                                                                                                                pischen Detaillierungen und
                                                                                                                grosszügigen Innenräumen,
                                                                                                                wurde entgegen dem Antrag
                                                                                                                des Heimatschutzes nicht als
                                                                                                                schützenswert eingestuft.

                                                                                                                  heimat heute 2018 | 15
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Kuriositäten und Kulturerbe

     S 1 Relikte der Berner
      Gasversorgung, deren
   Geschichte 1843 mit dem
Bau des ersten Gaswerks der
 Schweiz ihren Anfang nahm
  und zu der Energie Wasser
 Bern EWB zum 175-Jahr-Ju-
   biläum einen öffentlichen
  Rundgang um die früheren
  Gaswerkareale geschaffen       S 2 Zweifaches Kulturerbe: 1997–1998 machte in der
hat: Oben die Gasstrasse vor     Bundesstadt ein Tramzug mit blauen Wellen, Schaufel-
 der Kulisse des mittlerweile    radkasten, verspielten Ornamenten und Schiffskaminen
zum Wellness-Bad umfunktio-      auf weissem Grund auf den Thunersee-Raddampfer
nierten Oktogonbaus auf den      Blümlisalp von 1906 aufmerksam. Besagtes Schiff wur-
 Fundamenten des einstigen       de 1971 von der BLS stillgelegt, später aber dank des
  Gasometers an der Weiher-      Engagements des Vereins Vaporama wieder betriebsfähig
 gasse 1, unten Gaslaternen,     gemacht und gilt seit 1992 als Hauptattraktion der Ober-
 die die Stadt Bern 1993 auf     länder Seeschifffahrt. Ein Museumsstück ist mittlerweile
     der Kleinen Schanze als     auch der Anhänger Nr. 337 der betreffenden Strassen-
   Hommage an vergangene         bahn-Komposition. Gemeinsam mit weiteren Oldtimern
       Zeiten installiert hat.   gehört er als Patenfahrzeug des Tramvereins Bern zum
           März/April 2008.      Bestand von BERNMOBIL historique. Nov. 1997.

                                 R 3 Eine Stunde von Bern: Stundenstein an der Ausfall-
                                 strasse nach Worblaufen nahe der Berner Tiefenaubrücke.
                                 Steinquader dieser Art, von denen es zu Zeiten auf Kantons-
                                 gebiet um 150 Stück gab und gegen 100 noch existieren,
                                 wurden vom 18. Jh. an entlang bedeutender Verkehrswege
                                 aufgestellt und zeigen die Distanz der menschlichen
                                 Fortbewegung zu Fuss oder zu Pferd zum Berner Zeitglo-        S 4 Der Fuchsbrunnen mit seinen Tierskulpturen von
                                 ckenturm an. Eine Wegstunde entsprach bis 1837 18’000         Walter Schnegg (1903–1990) bei einem Picknickplatz im
                                 Bernschuh (5’279 m). Danach galt die Schweizer Wegstunde      Steinhölzliwald nahe der Bahnstation Weissenbühl zu seinen
                                 mit 16’000 Schweizer Schuh bzw. 4’800 m, weshalb die          besten Zeiten. Heute macht er einen tristeren Eindruck;
                                 Stundensteine entsprechend versetzt wurden. April 1983.       denn die bronzene, lebensgrosse Froschskulptur ist seit
                                                                                               Jahren spurlos verschwunden und dem steinernen Fuchs
                                                                                               wurden sinnloserweise die Ohren abgeschlagen. Okt. 1994.

16 | heimat heute 2018
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 Q 5 Berner Badekultur: Das «Bubenseeli» des Marzilibads,
         als es noch nicht von Schilf bewachsen war und das
                          Bundeshaus spiegelte. Okt. 1990.

S 6 Die Zentrale der Stadtberner Wasserversorgung               T 8 Schlicht idyllisch: Der Matte-Tych, dessen «In-
am Aareufer beim Schönausteg mit ihren drei natur-              selisteg» aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. das einst
steinverkleideten Bauten von Hans Weiss (1894–1973)             vorwiegend von Industrie- und Gewerbebetrieben
aus dem Jahr 1950 samt der dazugehörigen, sommers               genutzte Viertel der Wasserwerkgasse mit der Schiff-
unzähligen Fluss-Schwimmerinnen und -schwimmern als             laube verbindet und dabei u. a. zur charakteristischen,
Einstieg dienenden Treppe und dem Brunnen mit Frosch-           heute als einziges Exemplar ihrer Art erhalten geblie-
und Fisch-Skulptur von Walter Schnegg. Jan. 2013.               benen Litfasssäule rechts im Bild führt. Aug. 1968.

                                                                                                                          S 9 Der Aufzug von der
                                                                                                                          Matte nach der Münster-
                                                                                                                          plattform, im Volksmund
                                                                                                                          «Senkeltram» genannt, ist
                                                                                                                          mit seiner 32,5 m hohen
                                                                                                                          Metallkonstruktion nicht
                                                                                                                          mehr aus dem Stadtbild
                                                                                                                          von Bern wegzudenken.
                                                                                                                          Er wurde 1896 auf private
                                                                                                                          Initiative hin erstellt und
                                                                                                                          blieb, sieht man ab vom

S   7 Könizer Kulturerbe: Der Lerberstock an der Waberer                                                                  abendlichen Busbetrieb der
Kirchstrasse aus dem Jahr 1693, als er noch allein auf weiter                                                             BERNMOBIL-Linie 30, bis
Flur stand. Er wurde 1982 im Zuge des Baus von Seminar                                                                    heute das einzige öffentliche
und Gymnasium Lerbermatt um einige Meter verschoben                                                                       Transportmittel des aare-
und in die neue Schulanlage integriert. April 1975.                                                                       nahen Quartiers. Juli 1996.

                                                                                                                            heimat heute 2018 | 17
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE

«Im erschte und im letschte Tram» –
alte Trams und Busse als Teil
unseres Kulturerbes
Der öffentliche Verkehr verbindet und erschliesst seit über 125 Jahren die Stadt Bern und die
Agglomeration, verbindet den Wohnraum mit dem Arbeitsplatz und die Ausflugsidee mit dem Ziel.
Öffentlicher Verkehr ist Alltagskultur, seine Geschichte daher genauso facettenreich wie unser Alltag.
Mit einer umfangreichen Sammlung historischer Trams und Busse bewahrt und betreibt die Stiftung
BERNMOBIL historique in vorwiegend freiwilliger Arbeit diese wichtigen Zeugen gesellschaftlichen
Lebens und der Schweizer Technikgeschichte.

       S 1 Kernaufgabe der       Tramkultur und Kulturgut Tram                   Historische Fahrzeuge haben eine grosse Anzie-
  Stiftung ist die Bewahrung     Warum gerade Berner Musiker eine gewisse        hungskraft und erregen stets Aufmerksamkeit;
historischer Fahrzeuge. Eine     Affinität zum Tram haben, ist unklar, doch      die Veranstaltungen rund um das 125-jährige
     Auswahl der Sammlung        scheint es sie nicht nur physisch zu bewegen.   Bestehen des Berner Trambetriebs im Jahr
 wurde anlässlich der Jubilä-    Während das «Nüni-Tram» bei Mani Matter in      2015 stiessen bei der Bevölkerung auf reges
 umsfeierlichkeiten 2015 der     der Monbijou-Allee der Gegenwart entschwin-     Interesse. Doch warum eigentlich? Worin liegt
   Öffentlichkeit präsentiert.   det, philosophiert Polo Hofer «im letschte      der Wert einer Sammlung wie jener von BERN-
                                 Tram». Stiller Has wie auch Lo & Leduc reisen   MOBIL historique und warum investieren Men-
                                 dagegen «im erschte Tram», wobei es für den     schen Hunderte von Stunden Freizeit in ihre
                                 einen eine Geisterbahn und für die anderen      Wartung und Pflege? Selbstverständlich lassen
                                 einen Ort des Schweigens darstellt. Doch
      Q 2 Gelegentlich steht     nicht nur Musiker sind unterwegs. Seit 1890
  auch der älteste Schweizer     gehört das Tram und seit 1924 auch der Bus
Stadtbus aus dem Jahr 1924       zum Berner Alltag.1 Jeden Tag werden auf
 für Extrafahrten im Einsatz.    den Berner Tram-, Bus- und Trolleybuslinien
                                 mehrere Hunderttausend Menschen befördert.

                                 Der öffentliche Verkehr und seine Geschichte
                                 bewegen Menschen und Gemüter: Wo Befürwor-
                                 terinnen und Befürworter von einem sichtlich
                                 guten ÖV-Angebot sprechen, monieren Kritiker
                                 eine fahrende rote Wand in der Innenstadt.

18 | heimat heute 2018
sich an Stadtbussen unterschiedlichen Alters
verschiedene technische Entwicklungen aufzei-
gen. Doch da ist noch mehr, ja muss mehr sein!
Die Fahrzeuge zeugen auch von kultur- und
sozialgeschichtlichen Gegebenheiten. So lässt
sich beispielsweise am Dampftram aus dem
Jahr 1894 – dem ältesten Objekt der Samm-
lung – einiges über die damaligen Betriebsver-
hältnisse ablesen. Die komplette Verschalung
des Triebwerks ermöglichte den Einsatz auf
den noch nicht asphaltierten und daher sehr
staubigen Strassen, obwohl die Gleitlager der
Triebstangen und Achsen als sehr staubemp-
findlich gelten.2 Beinahe eine technikhistorische
Pionierrolle nimmt der Autobus Nr. 50 von 1941
ein. Er ist der Vertreter einer neuen Bauweise,
die als impulsgebend für eine bis heute an-
dauernde Entwicklung steht. Im weltweiten
Vergleich stellt er eines der frühesten und
mittlerweile ältesten noch erhaltenen Fahr-
zeuge ohne die bis dahin dem Fahrgastraum
und Fahrersitz vorgelagerte Motorhaube dar.
Von den verschiedenen Prototypen für dieses
damals fortschrittliche Konzept, die in den Jah-
ren zuvor von der Schweizer Fahrzeugindustrie
entwickelt wurden, existiert heute keiner mehr.3

Zudem sind die historischen Fahrzeuge stets
auch Abbilder des jeweiligen Zeitgeschmacks.
Dank ihrer relativ kurzen Einsatzzeit erfuhren
sie während ihrer Betriebsphase in den meisten
Fällen keine Neugestaltung der Innenräume,          lenkautobus Nr. 283 des Schweizer Fahrzeug-         SS 3 Zwei Tramzüge mit
Eingriffe beschränkten sich in der Regel auf        herstellers Franz Brozincevic Wetztikon FBW         Dampftraktion kreuzen
die Reparatur und gegebenenfalls den Ersatz         erwähnt werden: Das Fahrzeug mit Baujahr            sich vor dem Hauptbahn-
einzelner verschlissener oder beschädigter          1977 kann punkto Gestaltung und Material-           hof Bern, um 1898.
Teile. In diesem Zusammenhang muss der Ge-          wahl als geradezu charakteristisch angesehen
                                                    werden. Neben Sitzbezügen aus rotem Weich-          S 4 Der Autobus Nr. 50 ist
                                                    PVC sind die Wände sowie Teile der Decke mit        ein Vertreter der frühesten
                                                    Nadelfilz in zeittypischem orangem Farbton          Grossraumfahrzeuge mit
                                                    bezogen. Der braune gerippte PVC-Bodenbelag         Heckmotor und somit
                                                    vervollständigt das epochentypische Interieur.      fehlender Schnauze.

                                                    Gleichzeitig ist der öffentliche Verkehr auch der
                                                    Arbeitsplatz unterschiedlichster Berufsleute. Wo
                                                    der Begriff «Führerstand» bei Tramfahrzeugen        R 5 Mit öffentlichen Anlässen
                                                    über lange Zeit tatsächlich auf das «Stehen» zu-    wie hier bei der Tramparade
                                                    rückzuführen ist, entsprechen heutige Fahrzeu-      2015 wird die rollende Ge-
                                                    ge ergonomischen Vorgaben und Empfehlungen          schichte erfahrbar gemacht.

                                                                                                          heimat heute 2018 | 19
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE

   Q 6 Standardisierung und
    Vereinheitlichung bilden
     einen der Grundpfeiler
     der FBW-Busse aus den
   1970er Jahren. Vergleich-
 bare Fahrzeuge verkehrten
  in Basel, Zürich, Genf und
weiteren Schweizer Städten.

        T 7 Der Innenraum
     der FBW-Busse aus den
    1970er Jahren ist bezüg-
      lich Materialwahl und
      Farbigkeit zeittypisch.

                                                                                   Nicht zuletzt funktionieren die Fahrzeuge als
                                                                                   Erinnerungsträger. So manche Liebesbeziehung
                                                                                   begann mit einem flüchtigen Blickkontakt oder
                                                                                   der Enttäuschung, dass das Gegenüber bereits
                                                                                   aussteigen musste oder gar in die entgegen-
                                                                                   gesetzte Richtung fuhr. Wer über Jahre täg-
                                                                                   lich mit einem bestimmten Fahrzeugtyp zur
                                                                                   Schule oder an den Arbeitsplatz fährt, bindet
                                                                                   den Geruch oder das Fahrgeräusch in seine
                                                                                   persönlichen Wahrnehmungen ein. Speziell die
                                                                                   jüngeren Fahrzeuge aus der Sammlung wecken

                                aus arbeitspsychologischen Richtlinien. Weich
                                gefederte Sitze und klimatisierte, vom Fahrgast-
                                raum physisch wie auch akustisch abgetrennte
    Q 8 Kurzer Zug und viel     Cockpits aktueller Fahrzeuge bilden einen
  Personal: Bis in die 1960er   Kontrast zum einfach eingerichteten, direkt
     Jahre waren neben dem      im Einstiegsbereich platzierten Fahrstand der
      Fahrer auch auf jedem     frühesten Generation elektrischer Trams, bei
       Fahrzeug ein bis zwei    denen zusätzlich zum Wagenführer auch ein
    Kondukteure unterwegs.      bis zwei Kondukteure pro Wagen mitfuhren.

20 | heimat heute 2018
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE

bei vielen Fahrgästen persönliche Erinnerun-       Folgejahren etliche weitere Fahrzeuge erhalten
gen. Nicht nur ihr beinahe im Kontrast zum         werden. Insbesondere während der 1990er Jah-
heutigen BERNMOBIL-Rot stehendes Grün              re wuchs die Sammlung rasch an. Zu den Fahr-
löst dabei stets Emotionen aus; immer wieder       zeugen aus dem Bestand der SVB kamen solche
führt auch das charakteristische Klack-Ge-
räusch beim Betreten der Trittbretter der                                                           R 9 Im Rahmen der
als «Schweizer Standardwagen» bekannten                                                             Museumsnacht kann man
Tramzüge zu entsprechenden Reaktionen.                                                              historische Fahrzeuge inkl.
                                                                                                    Stosszeitenfrequenz erleben.
Kulturhistorisches Bewusstsein
dank privater Initiative
Vielfältige Beweggründe und insbesondere
persönliche Bezüge zu ihnen spielten stets eine
wesentliche Rolle beim freiwilligen Engagement
für die historischen Fahrzeuge. Daneben sind
das Interesse an alter Technik, der Wille, mit
anderen Menschen zusammen etwas Gutes zu
tun oder der Ausgleich zur beruflichen Tätig-
keit andere mögliche Motivationen, weshalb
sich Menschen für die Sammlung engagieren.
Das ehrenamtliche Engagement reicht bis in
die 1970er Jahre und somit in eine für tech-
nisch-industrielles Kulturgut schwierige Epoche
zurück.4 In den «Boomjahren», den Jahrzehnten
des Aufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg,
schien Altes wenig Existenzberechtigung zu
haben. In der Gesellschaft wie auch in der Fach-
welt, etwa bei der Denkmalpflege, mangelte es
an Wissen über die Trams und Busse und somit
auch an Anerkennung der technikgeschicht-
lichen Objekte als Teil unseres Kulturguts.

Für die Berner Sammlung entscheidend war
eine Flottenbereinigung der Städtischen Ver-       von Berner Vorortsbahnen und Überlandbe-               S 10 Der 1956 an der
kehrsbetriebe SVB in den 1970er Jahren. Ausser     trieben. Die zunächst im Tramverein Bern TVB     Endstation Ostring wartende
einem Zweiachserzug sollten alle Vorkriegsfahr-    organisierten Freiwilligen wurden ab 2001 um           Tramzug setzt sich aus
zeuge verschrottet werden. Der neu gegründete      die Berner Tramway-Gesellschaft AG ergänzt,             Fahrzeugen mehrerer
Tramverein Bern TVB setzte sich für den Erhalt     die sich um den Dampftrambetrieb kümmerte.           Generationen zusammen.
weiterer Fahrzeuge ein und konnte mit dem          Doch die umfangreicher werdende Sammlung               Mit dem Wachstum der
Autobus Nr. 7 bereits 1974 einen «Schnauzen-       birgt auch immer neue Herausforderungen:            Nachkriegszeit stieg auch
bus» aus dem Jahr 1929 übernehmen. Daneben                                                               das Mobilitätsbedürfnis.
dokumentierten die Mitglieder auch die Ge-         Alte Fahrzeuge und neue Bedingungen
samtinfrastruktur sowie Alltagssituationen und     Der Erhaltung historischer Fahrzeuge wird
beschrieben so die Wechselbeziehung zwischen       heute eine gesellschaftliche Akzeptanz und
dem Sammlungsgegenstand und seinem his-            Anerkennung entgegengebracht. Doch so
torischen Kontext. Dank diesem Engagement          wie sich Gesinnungen wandeln können, ver-
entstand auch bei den SVB zunehmend ein            ändern sich auch die Bedingungen, unter
historisches Bewusstsein und so konnten in den     denen historisches Rollmaterial betrieben

                                                                                                      heimat heute 2018 | 21
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE

                                wird.5 So führten das allgemeine Wachstum          währte sich in diesem Zusammenhang die enge
                                und der Bauboom der letzten Jahre z. B. dazu,      Zusammenarbeit mit BERNMOBIL. Doch auch
                                dass Abstellplätze für grosse Fahrzeuge kaum       hier droht bei Generationenwechseln im Perso-
                                mehr vorhanden bzw. bezahlbar sind. Eine           nalbestand stets ein Wissensverlust. Personen,
                                historische Flotte schon nur vor Witterung         die beispielsweise Tramzüge mit Druckluft-
                                geschützt, geschweige denn unter konservato-       bremsen noch aus dem täglichen Betrieb und
                                risch idealen Bedingungen abstellen zu können      mit einer entsprechenden Routine kennen, sind
                                und dabei finanziell nicht zu kollabieren, ist     heute pensioniert und dürfen zum Teil alters-
                                heute eine wesentliche Herausforderung.            bedingt nicht mehr fahren. Wie kann solches
                                                                                   Wissen also gesichert und in die nächste Gene-
                                Insbesondere spurgeführte Fahrzeuge sind           ration überführt werden? Eine Möglichkeit bie-
                                Teil eines Gesamtsystems und auf eine ent-         tet die Digitalisierung: Mittlerweile konnte ein
                                sprechende Infrastruktur angewiesen. Neue          grosser Teil der technischen Unterlagen digitali-
                                Ansprüche und Gesetze verändern diese              siert werden. Einzelne Fahrzeuge sind dadurch
                                Infrastruktur laufend. So musste bei einigen       heute wohl gar besser dokumentiert, als sie es
                                historischen Fahrzeugen etwa die Höhe der          in ihrer Betriebszeit je waren. Viel spezifisches
                                Trittbretter an die neuerdings höheren und         Know-How, sogenanntes «impliziertes Wissen»,
                                mit dem Behindertengleichstellungsgesetz           ist teilweise jedoch für immer verschwunden
                                konformen Perronkanten angepasst werden.           oder kann nur durch eingehende Auseinan-
                                                                                   dersetzung und teilweise für teures Lehrgeld
                                Neue Sicherheitsvorschriften müssen auf ihre       wiedergewonnen werden.6 Der Betrieb an sich
                                Relevanz für historische Fahrzeuge und deren       ist dabei Teil des Erfolgsrezepts: Er zwingt zu
   T   11 Die Instandhaltung    Betrieb überprüft werden. Generell ist eine Ten-   Auseinandersetzung und Wissensvermittlung
  historischer Fahrzeuge er-    denz zu grösserer Regelungsdichte und einem        und hält so bestehendes Wissen aktuell.
 fordert viel technisches und   erhöhten Dokumentationsaufwand feststellbar.
 historisches Wissen. Gleich-   Die Lösungsfindung erfordert dabei genauso         Historisch unterwegs in die Zukunft
    zeitig wird dadurch erst    wie der Betrieb und die Instandhaltung ein         Um die genannten Herausforderungen lang-
 eine intensive Auseinander-    entsprechendes Fachwissen und einen über die       fristig meistern zu können, wurde Anfang 2018
 setzung ermöglicht und der     Zeit aufgebauten Erfahrungsschatz in unter-        die Stiftung BERNMOBIL historique gegründet.
  Wissenstransfer gefördert.    schiedlichen Disziplinen. Von Beginn an be-        Stiftungszweck sind die Bewahrung, der Betrieb
                                                                                   und die Vermittlung der umfangreichen Samm-
                                                                                   lung und somit des kulturellen Erbes der Berner
                                                                                   Verkehrsbetriebe und ihrer Vorgängergesell-
                                                                                   schaften. Der Stiftungsgründung ging eine
                                                                                   Schärfung des Sammlungsprofils und eine Situ-
                                                                                   ationsanalyse voraus. Verschiedene Fahrzeuge,
                                                                                   die nicht dem überarbeiteten Konzept entspra-
                                                                                   chen, konnten 2017 weitervermittelt werden.
                                                                                   Nach der Sammlungsbereinigung umfasst der
                                                                                   Bestand acht Autobusse, zwei Trolleybusse und
                                                                                   zehn Tramfahrzeuge, teilweise mit Anhängern.

                                                                                   Durch die Konzentration der Aktivitäten der
                                                                                   verschiedenen Beteiligten, namentlich des
                                                                                   TVB, der Tramway-Gesellschaft und BERN-
                                                                                   MOBIL, wurde für das kulturelle Erbe eine
                                                                                   zukunftsträchtige Basis geschaffen. Die
                                                                                   organisatorische und betriebliche Nähe der

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