Heimat heute 2018 - Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes - Berner Heimatschutz, Region Bern Mittelland
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2018 heimat heute Die Vielfalt unseres kulturellen Erbes Postfach, 3001 Bern info@heimatschutz-bernmittelland.ch www.heimatschutz-bernmittelland.ch heimat heute 2018 | 1
Impressum Herausgeber Berner Heimatschutz Region Bern Mittelland Postfach, 3001 Bern www.heimatschutz-bernmittelland.ch info@heimatschutz-bernmittelland.ch Redaktion Raphael Sollberger Fachlektorat Jasmin Christ Korrektorat Margrit Zwicky Satz und Gestaltung Raphael Sollberger www.dessign.ch Druck Länggass Druck AG www.ldb.ch Auflage 1’600 Exemplare 2 | heimat heute 2018
Inhalt Einleitung 4 Aareschwumm, Berner Sennenhund, Zibelemärit: die Vielfalt unseres kulturellen Erbes Raphael Sollberger Aktuell – Kulturerbe 10 Kultur ist vielfältig – geschaffen von Menschen an einem bestimmten Ort Bernhard Furrer Archivperlen 16 Kuriositäten und Kulturerbe Rolf Hürlimann Aus der Praxis – Kulturerbe 18 «Im erschte und im letschte Tram» – alte Trams und Busse als Teil unseres Kulturerbes Tim Hellstern Aus der Praxis – Heimatschutz 24 Inventare als Instrumente zum Erhalt unseres Kulturerbes – Die Stadtführungen 2018 Anne-Catherine Schröter Aus der Politik 25 Die Erklärung von Davos: eine Politik der «hohen Baukultur» Aus der Praxis – Kulturerbe 26 Nachhaltige Schweizer Bankgeheimnisse Renate Albrecher Stadtspaziergang 31 Auf den Spuren bernischer Apotheken Rolf Hürlimann Lesenswert 36 Neuer Kunstführer: Siedlungen der Nachkriegszeit in Bümpliz-Bethlehem Anne-Catherine Schröter und Raphael Sollberger In eigener Sache 38 Neue Homepage für unsere Regionalgruppe 38 Abbildungsverzeichnis 39 Adressen heimat heute 2018 | 3
EINLEITUNG Aareschwumm, Berner Sennen- hund, Zibelemärit: die Vielfalt unseres kulturellen Erbes Das Bewusstsein einer Gesellschaft für ihre Geschichte beruht zu einem grossen Teil auf ihrem gemeinsamen kulturellen Erbe. Dieses nehmen Menschen von Kindesbeinen an einmal mehr, einmal weniger bewusst in sich auf, entwickeln es weiter und geben es weiter; indem sie Häuser bauen, ihre Umgebung gestalten, Feste feiern, Werkzeuge und Maschinen herstellen, Kunst machen, Sport treiben, Essen zubereiten. Kulturerbe ist also mehr als historische Architektur, mehr als Folklore. Ganz im Sinne des Kulturerbejahrs 2018 – Sharing Heritage – möchten wir Ihnen zum Einstieg drei unterschiedliche Formen kulturellen Erbes vorstellen, die die Geschichte und die Gesellschaft unserer Region seit langer Zeit wesentlich mitprägen. Q 1 Die letzte Rechtskurve zwischen dem Eichholz und dem Marzilibad. Ab hier kann ein letztes Mal dem Klang der Kiesel- steine auf dem Flussgrund gelauscht werden, bevor man sich langsam aber sicher Gedanken darüber machen muss, wo man denn aussteigen möchte. Beliebt seit dem Mittelalter: der «Aareschwumm» Ein «Aareschwumm» ist Entschleunigung. Für viele Bernerinnen und Berner gehört Kein Wunder also, dass ein Versuch, im Rah- das Schwimmen in der Aare untrennbar zum men eines jährlich stattfindenden Events, Sommer. Die beliebtesten Ausgangspunkte in der Aare um die Wette zu schwimmen, sind die zwei traditionsreichen städtischen kläglich scheiterte und der Anlass schliess- Flussbäder, das Marzili- und das Lorrainebad, lich aufgrund ausbleibender Anmeldun- und das Zehndermätteli auf der Engehalbinsel. gen eingestampft werden musste.1 Hier trifft man sich nach der Arbeit oder an einem freien Tag, deponiert seine Kleider und Entscheidende Faktoren für die Popularität reiht sich ein in die Kolonne der flussaufwärts des Aareschwimmens sind die Szenerie – mit Spazierenden, bevor man sich im türkisen Bundeshaus und Monbijoubrücke in Bern Nass zurück in die Stadt, zurück zur Badi oder oder mit unverbauten Auen im Aaretal – und aber rund um die Halbinsel von Schloss und die herausragende Wasserqualität. Letztere Kirche Bremgarten treiben lassen kann. Auch machte Bern und die Aare 2009 zu einem das Schlauchbootfahren ist ein beliebtes Frei- Vorbild für Urban Swimming in den USA, als zeitvergnügen: Bis zu 500 Boote pro Stunde ein Bostoner Forschungsprojekt zum Schluss befahren an schönen Sommertagen die rund kam, dass «nirgendwo auf der Welt […] Urban vierstündige Strecke von Thun nach Bern. Swimming ein derart breit verankerter Teil der 4 | heimat heute 2018
EINLEITUNG Stadtkultur wie in Bern»2 sei und daraufhin R 2 Sie gehören unver- die Idee präsentierte, den Charles River nach wechselbar zum Berner Berner Vorbild schwimmtauglich zu machen.3 Sommer und haben eine Der Aareschwumm hat, wie die Quellen lange Tradition: Schlauch- verraten, eine lange Tradition: Bereits im bootfahrerinnen und -fahrer 14. und 15. Jahrhundert sind Badeunfälle in und Aareschwimmer, von der Aare überliefert, ab dem 18. Jh. soll die der Monbijoubrücke aus Aare «zwischen der Elfenau und der Enge- aufgenommen. Aug. 1991. halbinsel» an warmen Sommertagen eine «einzige riesige Flussbadeanstalt» gewesen sein.4 Eine Trendwende ist erst für das 19. Jahrhundert zu verzeichnen, als verschiedene Badeverbote erlassen werden mussten; z. B. weil «an öffentlichen Orten […] erwachsene Schweizerische Lebensrettungs-Gesellschaft Mannspersonen und Knaben ohne mit Scham- SLRG jeweils am Sonntag vor dem Zibelemärit tüchern versehen zu sein, durcheinanderbaden (siehe weiter unten) ein herbstliches «Zibe- und oft nackt auf der Strasse herumlaufen»5. leschwümme» (Zwiebelschwimmen), bei dem sich die kälteresistentesten Schwimmerinnen Heute jedoch ist weniger die Bekleidung und Schwimmer Berns bei durchschnittlichen («weil im Wasser alle gleich sind – egal, wer Wassertemperaturen von 8–12 Grad vom man an der Fleischschau zuvor auf dem Mar- Schönausteg zum Marzili hinuntertreiben zilirasen zu sein vorgab» ) als die jeweilige 6 lassen. Am kältesten ist die Aare jeweils im Aaretemperatur ein Dauergesprächsthema Februar mit durchschnittlich 5,35 Grad. unter Stadtbernerinnen und Stadtbernern. Die Frage, wer wann und wie oft schon bei R 3 Beim Zehndermätteli auf welcher Temperatur in der Aare war, prägt der Engehalbinsel herrscht den hiesigen sommerlichen Small-Talk und mit oft weniger Betrieb als in ihm eine ganze Stadtkultur. Falls auch Sie bei den städtischen Flussbädern. der nächsten Gelegenheit mit diesbezüglichem Wissen auftrumpfen möchten: Am wärmsten war die Aare in Bern seit Messbeginn in diesem Jahr! Am 6. August um 16.00 Uhr knackte sie den Höchstwert des Hitzesommers 2003 (am 11. August wurden damals 23,41 Grad gemes- sen), als das Thermometer ganze 23,83 Grad Weltbekannt: der Berner Sennenhund anzeigte. Doch auch bei kälteren Temperaturen Der Berner Sennenhund ist als sprichwörtlich lässt sich schwimmen: Seit 1986 organisiert die lebendiges Kulturerbe weit über die Landes- grenzen hinaus bekannt. Dank seiner schönen Zeichnung und seiner Gutmütigkeit steht er R 4 Für alle Marzilibesu- heute weit oben auf der Beliebtheitsskala der cherinnen und -besucher, Begleithunderassen und ist fast in der ganzen die nicht bis zum Eichholz Welt anzutreffen – in vivo oder zumindest als spazieren möchten, ist der Stofftier. Er gehört genauso zum stereotypen Schönausteg auf Höhe des Bild der Schweiz wie das Matterhorn, die Scho- Tierparks Dählhölzli ein kolade und der Käse. Aus dem Wallis stammt beliebter Einstieg für einen er jedoch nicht, Zweiteres mag er von Natur kurzen, ca. 800 m langen aus nicht besonders und wirklich zu tun hatte Aareschwumm, zurück er aus historischer Sicht bloss mit Letzterem. ins städtische Freibad. heimat heute 2018 | 5
EINLEITUNG 1902 neben Jagd- und anderen Nutzhunden auch erstmals vier Dürrbächler gezeigt werden sollten.8 Auch der Zürcher Geologieprofessor, Mitbegründer des Schweizerischen Alpenclubs SAC, passionierte Hobby-Kynologe und in seiner Freizeit als Ausstellungsrichter tätige Albert Heim (1849–1937) war von den Dürrbächlern begeistert. Er regte an, einen Klub zur Zucht und Pflege der Rasse zu gründen, welcher sich am 15. November 1907 als Dürrbach-Klub mit 16 Mitgliedern konstituierte und heute noch als Schweizerischer Klub für Berner Sennen- hunde KBS existiert. 1914 veröffentlichte Heim anlässlich der Schweizer Landesausstellung auf dem Berner Neufeld eine Schrift mit dem Titel Die Schweizer-Sennenhunde9, in der er auch die Rasse, die Pflege und die Zucht des S 5 Die preisgekrönten Ber- Die unmittelbaren Vorfahren der Berner- und Berner Sennenhunds beschrieb. Noch heute ner Sennenhunde Alvin und Schweizer Sennenhunde waren die Bauern- ist es ein Hauptziel des KBS, mittels Überwa- Arisha «vom Niesenblick» an und Küherhunde des Berner Mittellands, des chung der Zucht und durch die Festschreibung der letzten Nationalen Hun- Emmentals und des Entlebuchs sowie des von Standards die Rasse des Berner Sennen- deausstellung 2015 in Aarau. Schwarzenburgerlands, wo sie als Viehtreiber, hunds zu erhalten.10 Die Albert-Heim-Stiftung Wachhunde und Hofgehilfen gehalten und mit Sitz im Naturhistorischen Museum der weiterentwickelt wurden. Zu ihren historisch Burgergemeinde Bern fördert daneben die belegbaren Hauptaufgaben gehörte das Ziehen Q 6 Schweizer Auswan- eines mit Milchkannen beladenen Leiterwa- dererfamilien bescherten gens, um die Milch zur Käserei zu bringen. dem Berner Sennenhund im frühen 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert fand der Sennenhund weltweite Bekanntheit. erstmals Beachtung in der Literatur. In den Auch in den USA wurden Geschichten Jeremias Gotthelfs (1797–1854) die Berner Sennenhunde als kam «der Bernerhund», der noch keinen Hofhunde geschätzt und die Rassenamen hatte, immer wieder vor. Da die Tradition des Milchkarren- «Bernerhunde» im Gebiet des Dürrbachs (ein ziehens hochgehalten. heute nicht mehr verzeichneter Weiler sowie ein kleiner Zufluss der Grüne in der Gemeinde Lützelflüh) von Handwerksleuten aus Burg- Q 7 Das richtige Milchkar- dorf und Bern als Zughunde gekauft werden renziehen will geübt sein. konnten, nannte man sie oft auch einfach Beispielsweise am «Wäge- «Dürrbächler».7 Auch in der Stadt fand man an litag» des Schweizerischen den gutmütigen vierbeinigen Helfern (die nota Klubs für Berner Sennen- bene in den engen Gassen der Altstädte auch hunde KBS. Mai 2018. deutlich weniger Platz benötigten als Pferde) schnell Gefallen. Fritz Probst (1867–1945), ein Stadtberner Wirt und Jäger, wohnhaft an der Aarbergergasse, regte deshalb an, dass an der ersten Schweizerischen Hundeausstellung der Kynologischen Gesellschaft Bern am 11. Mai 6 | heimat heute 2018
EINLEITUNG kynologische Forschung in der Schweiz und ist der Zibelemärit auch für die nachmittäg- betreibt dort die weltweit grösste Hundeschä- lichen «Konfettischlachten» in den Hauptgassen delsammlung mit rund 2500 Exemplaren.11 (man bewirft sich gegenseitig mit Konfetti und haut aneren mit Plastikhämmerchen möglichst Dem Namen nach zwar immer noch ein Sen- unbemerkt auf den Hinterkopf), den Jahrmarkt nenhund, hat sich der Aufgabenbereich des auf der Schützenmatte und die Partys bis tief in Berners jedoch zum Ende des 20. Jahrhunderts die Nacht hinein bekannt. 1984 rief der ehe- hin grundlegend verändert; heute gehört er zur malige Berner Stadtschützenpräsident Rudolf S 8 Ein Berner Sennen- Gruppe der «Hunde ohne Arbeitsprüfung»12. Wenger die Gilde der Zibelegringe von Bern ins hund und seine stolzen Umso wichtiger wurde dafür seine Funktion Leben. Neben der feierlichen Ernennung des Besitzer in Tracht anlässlich als Begleithund. Als solcher, und da er un- «Oberzibelegrings» (Oberzwiebelkopf) treten eines Umzugs am Eid- bestrittenerweise ein Zeuge der Schweizer Musikantinnen und Musikanten der Gilde am genössischen Schwing- Wirtschafts- und Kulturgeschichte darstellt, Zibelemärit jeweils in verschiedenen Lokalen fest 2013 in Burgdorf. ist er oft auch an Folkloreanlässen zu sehen, der Stadt auf und präsentieren ihre politsati- wo das Ziehen des Milchkarrens weniger rischen Lieder als eine Art Berner Variation der Käseherstellung als hauptsächlich der der berühmten Basler Schnitzelbänke.13 Nostalgie dient. Geblieben ist die Freude der Menschen, ihren Hund einzuspannen, sich und Der Ursprung des Zibelemärits ist nicht genau ihren vierbeinigen Begleiter herauszuputzen bekannt. Aus dem 15. Jahrhundert, insbe- und den Leiterwagen festlich zu schmücken; sondere aus der Berner Chronik von Conrad so wird das Milchkarrenziehen anlässlich Justinger (1370–1438), wissen wir von einem von Märkten, Jodler- und Trachtenfesten als Berner Wochenmarkt sowie von Festivitäten im lebendige Tradition aufrechterhalten. Kein Rahmen des St.-Martins-Tags am 11. November. Wunder, geniesst auch der Dürrbächler selbst Für den Verkauf ihrer überzähligen Sommer- die ihm dort entgegengebrachte Aufmerksam- ernteprodukte reisten die Bauersleute des keit, fliegen ihm an solchen Anlässen doch die Umlands in die Stadt, wo sich die Bernerinnen Herzen der Zuschauenden – und vielleicht ab und Berner mit Vorräten für den Winter ein- und zu auch etwas Essbares – scharenweise zu. decken konnten. Eine Win-win-Situation, die S 9 Auf dem Bundesplatz auch historisch durchaus Sinn macht. In den beginnt der Zibelemärit Alle Jahre wieder: der Zibelemärit Quellen, insbesondere den Marktordnungen bereits frühmorgens. Der Stadtberner «Zibelemärit», Berndeutsch des 16. Jahrhunderts und den darin enthaltenen für Zwiebelmarkt und mittlerweile der kanto- Produktekatalogen, fehlt jedoch ein zentrales nalbernische Brauch mit dem grössten Publi- Element, das uns erlauben würde, das mittel- kumszuspruch überhaupt, findet jedes Jahr am alterliche Treiben als direkten Vorgänger des vierten Montag im November statt. Zahlreiche heutigen Zibelemärits zu beschreiben: die Bäuerinnen und Bauern bieten am Zibelemärit Zwiebel. Zwar gab es sie damals in Bern bereits ihre Zwiebelzöpfe, Zwiebelkuchen, Zwiebel- zu kaufen, jedoch lediglich im eher unfestlichen figuren und was sich sonst noch alles aus Rahmen eines Wochenmarkts.14 Ein am Martins- der aus Mittel- und Vorderasien stammenden tag abgehaltenes Fest ist zudem sowieso erst Lauchpflanze herstellen lässt, zum Verkauf an. nach der Reformation, genauer seit Anfang des Bis zu 50 t Zwiebeln und Knoblauch gibt es zu 17. Jahrhunderts, quellenkundlich belegt. Dabei kaufen, nebst dem für Volksfeste in der Schweiz handelte es sich um eine mehrtägige Feier, die obligaten Magenbrot und Glühwein. Bereits «Martinimesse»15 mit Umzügen, Marktständen in den frühen Morgenstunden besuchen die und vornehmlich bernburgerlichen Festivi- S 10 Anlässlich der «Kon- Bernerinnen und Berner den Markt, Restau- täten. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist fettischlacht» bewerfen sich rants und Bäckereien servieren den ganzen Tag ein unbestrittener Zusammenhang zwischen vorwiegend junge Berne- über ihre zumeist hausgemachten Zwiebel- und St. Martin und den Zwiebeln belegt: In der rinnen und Berner jährlich Käsekuchen. Seit dem späten 20. Jahrhundert Presse war 1860 zu lesen, dass «die Messe nun mit bis zu 20 t Konfetti. heimat heute 2018 | 7
11 Am Berner Zibele märit werden jährlich bis zu 50 t Zwiebeln zum Verkauf angeboten. 8 | heimat heute 2018
EINLEITUNG mit einem Zwiebelmarkt» beginne.16 Wenn hier von «Messe» die Rede ist, so darf man sich nicht etwa eine christliche Feier und auch keine Messe als Gewerbe- und Produkteschau vor- stellen, wie sie heute noch in vielen Schweizer Orten stattfinden. Vielmehr handelte es sich in Bern um eine etwas sonderbare Mischung aus christlichem Feiertag und marktschreierischer Warenmesse mit Schaustellern, Affenhaltern, Bärentänzen – und einem für uns heute eher schwer verdaulichen «Meitschimärit», einem Mägdemarkt. Die Martinimesse begann bis zum Jahr 1900 offiziell immer am Dienstag vor dem 30. November. Auswärtigen Marktfahrerinnen und Marktfahrern war es jedoch gestattet, ihre Waren schon am Vortag des offiziellen Messebeginns anzubieten, und so begann die mittlerweile zwei Wochen andauernde Veran- staltung inoffiziell immer bereits am Montag. Raphael Sollberger ist Architekturhistoriker S 12 Hektisches Trei- und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der ben und Zwiebelzöpfe, Es darf also davon ausgegangen werden, kantonalen Denkmalpflege Zürich. wohin das Auge reicht: dass es sich beim Zibelemärit in seiner heu- der Zibelemärit auf dem tigen Form um ein Überbleibsel eines über Anmerkungen Waisenhausplatz um 1930. 1 Christoph Gertsch, «Man muss das erlebt haben», die Jahrhunderte stark abgewandelten, viel- in: Neue Zürcher Zeitung, 05.07.2009. seitigen herbstlichen Stadtfests handelt. Der 2 Ferdinand Hellweger u. a., Urban Swimming, Forschungsprojekt der Northeastern University, Zibelemärit: ein vom jeweiligen Zeitgeist College of Engineering, Boston 2009. geprägter Brauch also, tradiert von Generation 3 Vgl. www.thecharles.org, Stand 31.07.2018. 4 Katrin Rieder, Aareschwimmen in Bern, online zu Generation, stets geprägt von aktuellen abrufbar unter www.lebendige-traditionen.ch, wirtschaftlichen und politischen Umständen Stand 31.07.2018. 5 Vgl. dazu Andreas Schwab, Nackt beim Dählhölzli und sozialen Gefügen. Das 20. Jahrhundert herumspazieren, in: Der kleine Bund, 22.08.1998. mit seinen Wirtschaftskrisen und Weltkriegen 6 Wie Anmerkung 1. 7 Anita Schneider, Der Berner Sennenhund, in: überstanden hat von der Martinimesse aus- Schweizer Hunde Magazin, 2007, Nr. 3, S. 6–11. schliesslich der montägliche Eröffnungs-Ge- 8 Hans Räber, Enzyklopädie der Rassehunde. Ursprung, Geschichte, Zuchtziele, Eignung und müsemarkt17 – und mit ihm die ausgelassene Verwendung, Stuttgart 1993, S. 150. Stimmung, mit welcher die Bernerinnen und 9 Albert Heim, Schweizer-Sennenhunde, Zürich 1914. 10 Zur Geschichte des KBS siehe Margret Bärtschi, Berner wohl seit der frühen Neuzeit den jeweils Kleine Klubgeschichte, in: Schweizer Hundesport, kommenden Winter zu begrüssen wussten. 1982, Nr. 17 (Sonderausgabe). 11 www.albert-heim-stiftung.ch, Stand 31.07.2018. 12 FCI-Rassestandard für den Berner Sennenhund (Dürrbächler), Nr. 45 vom 05.03.2003, hg. von Féderation Cynologique Internationale, Thuin 2003. R 13 Eine gestellte Szene 13 Vgl. www.zibelegringe.ch, Stand 31.07.2018. am Zibelemärit auf dem 14 Im 15. Jahrhundert ist ein «Zwiebel-Wochenmarkt» Bundesplatz zeugt vom belegt, der jeweils dienstags im Zibelegässli (der oberste Abschnitt der Brunngasse) stattfand. Produkte-Marketing anno 15 Rudolf Ramseyer, Zibelemärit. Martinimesse, 1926: Das weisse «B» auf Langnau 1990. 16 Katrin Rieder, Zibelemärit, online abrufbar unter dem Schild oben links war www.lebendige-traditionen.ch, Stand 31.07.2018. das Signet des Schweizer 17 1917 konnte die Messe wegen des Ersten Weltkriegs, 1918 wegen einer Grippeepidemie und 1919 wegen Gemüsegrossisten Berger. der Maul- und Klauenseuche nicht stattfinden; Hans Erpf, Dr Märit z Bärn. Geschichten, Episoden, Verse und Bilder rund um die Berner Märkte, Bern 1982. heimat heute 2018 | 9
AKTUELL – KULTURERBE Kultur ist vielfältig – geschaffen von Menschen an einem bestimmten Ort Das Verständnis dessen, was zur Kultur gehört, ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend breiter geworden. Vergangenes und Gegenwärtiges, Materielles und Immaterielles, Hochprofessionelles und Laienhaftes verbinden sich zum Ausdruck einer Gesellschaft. In diesem Beziehungsnetz kommt dem baulichen Kulturerbe und damit dem Heimatschutz eine wichtige Rolle zu. Was gehört zur Kultur einer Gesellschaft? alles, was dazu führt, dass der Mensch seine «Kultur» ist gegenwärtig in aller Leute Mund. Lage besser begreift, um sie unter Umstän- Das hat viel mit dem Verständnis zu tun, was den verändern zu können.»1 Diese Definition Kultur eigentlich sei und was sie für die Men- hat in vielen Kulturstrategien von Schweizer schen zu bedeuten habe. Lange Zeit wurde Gemeinden und Städten Eingang gefunden. darunter bloss eine Hochkultur verstanden, die Gebildeten vorbehalten war: Theater, Die Konvention von Faro oder die Teilhabe Konzert, Literatur, Malerei und Bildhauerei. der ganzen Bevölkerung an der Kultur In den 1980er Jahren formulierte und publizier- Das heutige Verständnis von Kultur, wie es te der Europarat eine Definition, die dieses Ver- sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt ständnis wesentlich erweiterte: «Kultur ist alles, hat, ist nochmals wesentlich breiter gewor- was dem ‹Individuum› erlaubt, sich gegenüber den. Wer sprach vor einer Generation von T 1 Die Fankultur des der Welt, der Gesellschaft und auch gegenüber einer «Theaterkultur auf dem Land» oder Schlittschuhclubs Bern SCB. dem heimatlichen Erbgut zurechtzufinden, von der «Fankultur eines Eishockeyclubs»? Das Rahmenübereinkommen des Europarats über den Wert des Kulturerbes für die Gesell- schaft2, das nach dem Ort seiner Unterzeich- nung kurz Konvention von Faro genannt wird und dessen Ratifizierung durch die Schweiz gegenwärtig diskutiert wird, definiert in Arti- kel 2 einen solch umfassenden Kulturbegriff. Jeder Mensch soll die Möglichkeit haben, an denjenigen Bereichen des Kulturerbes teil- zuhaben, denen er sich zugehörig fühlt. Dies stiftet ihm Sinn und Lebensqualität, hilft ihm, seine Identität zu bewahren, indem er seine Werte und Traditionen bewahrt. Kultur gibt dem Menschen Sicherheit; dadurch fördert sie eine gesamtverantwortliche Entwicklung und die Bereitschaft, Neues zu erkunden und Verände- Q 2 Das Haus der Religionen rungen zuzulassen. Der Ort, an dem die Men- in Bern ist Ausdruck schen ihre Kultur leben, wird ihnen zur Heimat. verschiedener Kulturen Es gibt nicht nur eine Kultur. Vielmehr bestehen und des gegenseitgien in unserem Umfeld viele Kulturen, von denen Verständnisses. jede die besondere Beziehung einer Gruppe von Menschen zur Gesellschaft widerspiegelt. So müsste die Ausübung eigener Kulturpraxis auch Toleranz und Verständnis gegenüber gesellschaftlichen Gruppen anderer kultureller Herkunft, Sprache und Religion beinhalten. 10 | heimat heute 2018
AKTUELL – KULTURERBE die Sprachen und die Art des Umgangs mit R 3 Der Studebaker anderen Menschen miteingeschlossen. Für Champion 1953 von das immaterielle Kulturerbe sind Richtlinien, Liselotte Pulver (*1929), wie sie für das materielle Kulturerbe existie- nach der Konservierung und ren, nicht möglich und auch nicht sinnvoll.5 Restaurierung des Autolacks. Wohl gibt es inventarähnliche Verzeichnisse mit detaillierten Beschrieben wie die Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz6. Die UNESCO nimmt zudem seit einigen T 4 Das Münster und die Jahren auch immaterielle Kulturgüter Altstadt von Bern sind ein in die Liste des Weltkulturguts auf.7 bauliches Kulturerbe, dem Die Konvention von Faro versteht Kultur- sich die ganze Gesell- erbe in einem umfassenden Sinn; es geht um Traditionen lassen sich indessen nicht fest- schaft verpflichtet fühlt. wesentlich mehr als die erwähnte Kultur des schreiben, sondern entwickeln sich kon- Bildungsbürgertums oder um Hochkultur. tinuierlich weiter. Es liegt ausschliesslich TT 5 Der «Blaue Pfeil» Vielmehr werden im Kulturerbeverständnis an den Trägerinnen und Trägern dieser BCFe 4/6 736 der Lötsch- der Konvention alle Formen kultureller Äusse- Traditionen zu bestimmen, in welchem Mass bergbahnen BLS ist ein Bei- rungen miteinbezogen, materielle Zeugnisse und in welche Richtung dies geschieht. spiel mobilen Kulturerbes. wie immobile Objekte, Bauten, und ganze Kulturlandschaften sowie mobile Gegenstände aller Zeiten und Gattungen einerseits, im- materielle Kulturäusserungen wie Brauchtum oder lebendige Traditionen andererseits. Im Bereich der materiellen Zeugnisse ist die Art des Umgangs mit Baudenkmälern auf interna- tionaler Ebene mit Schriftstücken wie der Char- ta von Venedig3, auf nationaler Ebene mit den Leitsätzen zur Denkmalpflege in der Schweiz4 in den Grundzügen definiert. Beide Grundla- genpapiere geben sowohl einen gedanklichen Hintergrund wie Hinweise zur praktischen Herangehensweise. Diese Grundsätze können auf alle materiellen Kulturgüter, neben histori- schen Bauten auch auf historische Fahrzeuge, Uhren, Instrumente oder Sitzbänke angewendet werden, wie sie in diesem Heft vorgestellt wer- den. Auch ein Oldtimer verliert an historischem Wert, wenn die originale Lackierung über- spritzt und der Motor nicht revidiert, sondern durch ein modernes Aggregat ersetzt wird. Das immaterielle Kulturerbe ist in den letzten Jahrzehnten stärker ins Bewusstsein gerückt. Neben vielfältigen Formen des Brauchtums, religiös begründeten Riten, traditionellen Anlässen oder kulinarischen Gepflogenheiten sind im umfassenden Verständnis von Kultur heimat heute 2018 | 11
AKTUELL – KULTURERBE So bleibt offen, ob der Brünigschwinget in aufbauend auf dem Vergangenen dem Erbe zwanzig Jahren noch existiert und ob das beständig Neues hinzugefügt und es dadurch heute gültige «technische Regulativ» durch weiterentwickelt wird. Das «grosse Erbe» ein anderes Regelwerk abgelöst wird. verstanden nicht als Last, sondern als Chance für Neues: Der Zwerg auf den Schultern des «Kulturerbe» ist ein Begriff, der zu Missver- Titanen sieht weiter als der Riese selbst. ständnissen führen kann. Er lässt vermuten, S 6 Das offtzielle Label dass es sich bei der Kultur lediglich um das von Das Europäische Kulturerbejahr oder des Kulturerbejahrs 2018. den Vorfahren Geerbte handelt, um Vergange- die Vielfalt des Kulturerbes nes, das es zu bewahren gilt. Dies ist indessen Der Europarat versucht im laufenden Jahr, die bloss die eine Seite der Münze. Natürlich ist enorme Vielfalt dessen, was unter Kultur zu es wichtig, zu den überlieferten materiellen verstehen ist, aufzuzeigen. Unter dem Motto und immateriellen Werten Sorge zu tragen. Sharing Heritage sollen daher während des Die andere Seite der Münze ist die täglich neu Europäischen Kulturerbejahrs 20189 mög- entstehende, auch selber geschaffene Kultur. lichst breite Bevölkerungskreise darauf auf- merksam gemacht werden, wie bedeutend Jede kulturelle Tätigkeit oder Äusserung baut die Kultur für die Gesellschaft ist, wie breit auf Geerbtem auf, entwickelt dieses vielleicht gefächert kulturelle Aktivitäten sind und fort, lehnt es ab – immer bezieht sich das wie wichtig die Teilhabe jedes einzelnen neu Entstehende auf bereits Vorhandenes. Menschen an kulturellen Aktivitäten ist. «Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche»8, eine häufig In der Schweiz beteiligen sich zahlreiche Gustav Mahler zugeschriebene Aussage ver- Organisationen an der Durchführung und Um- sucht deutlich zu machen, dass dem Erbe die setzung des Kulturerbejahrs. Besonders zu er- T 7 Der Brünigschwinget, Kraft der Erneuerung innewohnt. Das Kul- wähnen sind der Schweizer Heimatschutz, der eine lebendige Tradition. turerbe ist als Prozess zu verstehen, in dem das Präsidium des Trägervereins innehat, und 12 | heimat heute 2018
AKTUELL – KULTURERBE das Bundesamt für Kultur BAK, das unter dem Der Heimatschutz oder das Hashtag und dem Logo #Kulturerbe2018 die Ergänzen staatlicher Stellen Kampagne koordiniert, unterstützt und mitträgt. Das Kulturerbe umfasst folglich eine Vielzahl von Objekten und Tätigkeiten. Richtigerweise Die Erklärung von Davos 2018 oder konzentriert sich der Heimatschutz als na- die Bedeutung der Baukultur tionale Vereinigung innerhalb dieses grossen Die enge und unerlässliche Verflechtung von Ganzen auf seine Kernkompetenz: auf die Bestehendem und Neuem, von der die Rede Vorgänge im Zusammenhang mit historischen war, wird beim Bauen besonders augenfällig. und aktuellen Bauten; dabei achtet er auf Die heutige Gesellschaft hat einen grossen eine hohe baukulturelle Qualität. Nachdem Bestand an Bauten übernommen und baut in den Anfängen das Gewicht auf die Erhal- kontinuierlich weiter. Die im breitesten Sinn tung des Bestehenden gelegt worden war, verstandene gebaute Umwelt und neue gebaute kam später das Interesse an der Gestaltung Realisierungen machen insgesamt das aus, was des Neuen dazu und heute wird zudem die wir mit dem Begriff «Baukultur» umschreiben. Vermittlung dieser Werte grossgeschrieben. Es ist das Verdienst der von der Schweiz initi- Erhalten – Gestalten – Vermitteln. In allen drei ierten Davos Declaration10 (siehe S. 25), deren Gebieten zeichnet der Heimatschutz mit dem Unterzeichnung unter dem Titel «Eine hohe Wakkerpreis exemplarische Leistungen aus. Baukultur für Europa» europaweit das Kultur- erbejahr 2018 einläutete, dass eine qualitäts- Im Rahmen der Stiftung Ferien im Baudenkmal volle Baukultur als Gesamtschau von wertvollen zeigt er eindrücklich, wie historische Bau- Altbauten und architektonisch hochstehend ten, die zuvor als unrettbar verloren galten, konzipierten Neubauten in ihrem weiten Kon- durch zurückhaltende Interventionen von text von Siedlung und Umraum definiert wird.11 hoher architektonischer Qualität dem heuti- T 8 Die Casascura im gen Leben neu geöffnet werden können. Die Hinterdorf von Fläsch Baukultur beschränkt sich also nicht auf histori- Fokussierung auf das Baugeschehen hindert vereinigt eine hohe Bau- sche Bauten und Anlagen, namentlich auf Bau- ihn indessen nicht daran, andere Bereiche kultur im historischen wie denkmäler, die erhalten und gepflegt werden wie sorgfältige Ortsplanungen, mobile Kul- im modernen Bauen. sollen, eine Vorstellung, die in den Köpfen von einigen Denkmalpflegenden immer noch gehegt wird. Sie betrifft ebensowenig bloss das aktuel- le Bauschaffen, das durch gezielte Massnahmen in seiner Qualität gefördert werden soll, wie dies in Stellungnahmen von Architektenver- bänden mitunter hervorgehoben wird. Und sie kümmert sich auch nicht bloss um Einzelbauten als isolierte Objekte, wie dies von Städtebauern teils befürchtet wird. Angesprochen ist viel- mehr die Gesamtheit der bestehenden und neu entstehenden gebauten Umwelt in ihrem Gesamtzusammenhang mit den durch sie ge- schaffenen Freiräumen und in ihrem Verhältnis zur Landschaft und den damit im Zusammen- hang stehenden kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und planerischen Prozessen. Diese Gesamtschau lohnt sich: Es geht um das Umfeld, in dem wir leben, das uns Anregungen vermitteln und in dem uns wohl sein soll. heimat heute 2018 | 13
AKTUELL – KULTURERBE der Behandlung von Bauprojekten; handle es sich um Altbauten oder Neuplanungen, bringt er immer wieder weiterführende Vorschläge ein. Von grosser Bedeutung ist sein Engage- ment für die Vermittlung von Baukultur, bei der seine Ausrichtung inzwischen ganz wesentlich auch Bauten der Zwischen- und Nachkriegszeit in den Städten umfasst. So hat sich der Heimat- schutz gemeinsam mit der Präsident/innenkon- ferenz bernischer Bauplanungsfachverbände PKBB, ganz im Sinne der kantonalen Baugesetz- gebung, in einer fundiert begründeten Eingabe für eine Ergänzung des Stadtberner Bauinven- tars namentlich durch Nachkriegsbauten, die im Entwurf untervertreten sind, eingesetzt.12 Eine solche Beteiligung an der Diskussion über kulturelle Belange entspricht genau S 9 Der diesjährige Wakker- turobjekte oder volkstümliche Traditionen den Anliegen des Kulturerbejahrs 2018 preis ging erstmals nicht an in seine Aktivitäten miteinzubeziehen. und der Konvention von Faro. Leider ist eine Gemeinde, sondern an die Eingabe des Heimatschutzes vom kan- die Stiftung Nova Fundaziun Der Berner Heimatschutz seinerseits hat tonalen Amt für Kultur mit formaljuristi- Origen in Riom. Der Heimat- sich schon seit längerer Zeit von zwei ihm scher Begründung abgewiesen worden. schutz zeichnete damit lange anhaftenden Etiketten losgesagt: nicht nur die realisierten vom Vorwurf einerseits, er beschränke sich Gerade in Anbetracht des Anliegens, die Bauten (hier die zum Theater auf das blosse Neinsagen, und vom Ein- interessierte Bevölkerung und die Vereinigun- umfunktionierte Scheune), druck andererseits, er beschäftige sich gen, in denen sie sich zusammengeschlossen sondern auch die Theater- ausschliesslich mit altehrwürdigen Bauten, hat, vermehrt an der Entwicklung der Kultur aktivitäten des Vereins aus. namentlich in ländlichen Gegenden. teilhaben zu lassen, ist es wichtig, dass sich Heute ist er mit neuen Ideen präsent und bei der Heimatschutz engagiert einbringt. Eine der Q 10 Die Siedlung Meienegg im Stöckackerquartier: trotz Empfehlung der Eid- genössischen Kommission für Denkmalpflege EKD im revidierten Berner Bau- inventar nicht als schüt- zenswert eingestuft. 14 | heimat heute 2018
AKTUELL – KULTURERBE Anmerkungen hauptsächlichen Legitimationen seiner Existenz 1 Zitiert nach Beat Sitter-Liver, Kulturmanagement. gründet in seinem Selbstverständnis als unab- Eine ethisch-politische Herausforderung, in: Kulturmanagement und Kulturpolitik (Jahrbuch hängiger Beobachter und allenfalls als Kritiker für Kulturmanagement 2011), hg. von Sigrid der Tätigkeit staatlicher und kommunaler Bekmeier-Feuerhahn, Bielefeld 2011, S. 117–128. 2 www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conven- Verwaltungen. Er hat dazu eine hohe Fachkom- tions/rms/0900001680083746, Stand 22.07.2018. petenz in Fragen der Baukultur vorzuweisen. 3 Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälern und Ensembles, Nötigenfalls muss er unmissverständlich auf Venedig 1964; online abrufbar unter Lücken oder einseitige Betrachtungsweisen www.nike-kulturerbe.ch/de/grundlagen/konventio- nen-charten-richtlinien-leitfaeden, Stand 22.07.2018. aufmerksam machen. Dazu sind klare Worte 4 Leitsätze zur Denkmalpflege in der Schweiz, und eindeutige Stellungnahmen gefordert, wie hg. von Eidgenössische Kommission für Denkmalpfle- ge, Zürich, 2007; online abrufbar unter: www.vdf.ch/ sie beispielsweise in der letzten Nummer dieser leitsaetze-zur-denkmalpflege-in-der-schweiz.html. 5 In Art. 13 (siehe Anm. 7) werden bloss allgemeine Zeitschrift zum Planungsperimeter Stöckacker Massnahmen zur Bewahrung aufgelistet. Nord (Siedlung Meienegg) in Bern gewählt 6 www.lebendige-traditionen.ch, Stand 22.07.2018. 7 Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen wurden13 – mit Polemik hat das nichts zu tun. Kulturerbes vom 17. Oktober 2003; online abrufbar unter www.admin.ch/opc/de/ federal-gazette/2007/7281.pdf. Die staatlichen Stellen und der privatrecht- 8 Die Aussage enthält eine Anlehnung an die Rede von liche Heimatschutz sollten sich als voneinander Jean Jaurès vor der Assemblée Nationale in Paris am 21.01.1910: «Jawohl, meine Herren, auch wir unabhängige Partner mit einem gemeinsamen verehren die Vergangenheit. Nicht vergeblich hat die Interesse, der Erhaltung und Pflege der Bau- Flamme im Herd so vieler menschlicher Generatio- nen gebrannt und gefunkelt; aber wir, die wir nicht kultur, verstehen. Auch dann, wenn sie unter- stillstehen, die wir für ein neues Ideal kämpfen, wir schiedliche Meinungen vertreten, wie dieses sind die wahren Erben der Herde unserer Vorfahren: wir haben daraus ihre Flamme geholt, ihr habt nur Ziel zu erreichen sei, müssen sie in einem die Asche bewahrt.» offenen Gespräch bleiben – auch die Kultur des 9 Für Europa: www.europa.eu/cultural-heritage; für die Schweiz: www.kulturerbe2018.ch, Stand 22.07.2018. Umgangs miteinander ist Teil des Kulturerbes. 10 www.davosdeclaration2018.ch; Stand 22.07.2018. Wenn sich eine Seite diesem Austausch ver- 11 Hieronymus, Zwischenruf, in: Die Denkmalpfle- ge. Wissenschaftliche Zeitschrift der Vereinigung weigert, schadet dies dem gemeinsamen Ziel. der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland, 2017, Nr. 1, S. 165. 12 Der Bund, 03.05.2018, S. 1 und 17 sowie online Bernhard Furrer ist Architekt und unter www.heimatschutz-bernmittelland.ch/presse, ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt Bern. Stand 22.07.2018. 13 Vgl. heimat heute 2017, S. 6–10 sowie 20–24. R 11 Die Schulanlage Hoch- feld, eine hervorragende Anlage mit überzeugender Gesamtkomposition, gut pro- portionierten Aussenräumen, klaren Baukörpern mit zeitty- pischen Detaillierungen und grosszügigen Innenräumen, wurde entgegen dem Antrag des Heimatschutzes nicht als schützenswert eingestuft. heimat heute 2018 | 15
ARCHIVPERLEN Kuriositäten und Kulturerbe S 1 Relikte der Berner Gasversorgung, deren Geschichte 1843 mit dem Bau des ersten Gaswerks der Schweiz ihren Anfang nahm und zu der Energie Wasser Bern EWB zum 175-Jahr-Ju- biläum einen öffentlichen Rundgang um die früheren Gaswerkareale geschaffen S 2 Zweifaches Kulturerbe: 1997–1998 machte in der hat: Oben die Gasstrasse vor Bundesstadt ein Tramzug mit blauen Wellen, Schaufel- der Kulisse des mittlerweile radkasten, verspielten Ornamenten und Schiffskaminen zum Wellness-Bad umfunktio- auf weissem Grund auf den Thunersee-Raddampfer nierten Oktogonbaus auf den Blümlisalp von 1906 aufmerksam. Besagtes Schiff wur- Fundamenten des einstigen de 1971 von der BLS stillgelegt, später aber dank des Gasometers an der Weiher- Engagements des Vereins Vaporama wieder betriebsfähig gasse 1, unten Gaslaternen, gemacht und gilt seit 1992 als Hauptattraktion der Ober- die die Stadt Bern 1993 auf länder Seeschifffahrt. Ein Museumsstück ist mittlerweile der Kleinen Schanze als auch der Anhänger Nr. 337 der betreffenden Strassen- Hommage an vergangene bahn-Komposition. Gemeinsam mit weiteren Oldtimern Zeiten installiert hat. gehört er als Patenfahrzeug des Tramvereins Bern zum März/April 2008. Bestand von BERNMOBIL historique. Nov. 1997. R 3 Eine Stunde von Bern: Stundenstein an der Ausfall- strasse nach Worblaufen nahe der Berner Tiefenaubrücke. Steinquader dieser Art, von denen es zu Zeiten auf Kantons- gebiet um 150 Stück gab und gegen 100 noch existieren, wurden vom 18. Jh. an entlang bedeutender Verkehrswege aufgestellt und zeigen die Distanz der menschlichen Fortbewegung zu Fuss oder zu Pferd zum Berner Zeitglo- S 4 Der Fuchsbrunnen mit seinen Tierskulpturen von ckenturm an. Eine Wegstunde entsprach bis 1837 18’000 Walter Schnegg (1903–1990) bei einem Picknickplatz im Bernschuh (5’279 m). Danach galt die Schweizer Wegstunde Steinhölzliwald nahe der Bahnstation Weissenbühl zu seinen mit 16’000 Schweizer Schuh bzw. 4’800 m, weshalb die besten Zeiten. Heute macht er einen tristeren Eindruck; Stundensteine entsprechend versetzt wurden. April 1983. denn die bronzene, lebensgrosse Froschskulptur ist seit Jahren spurlos verschwunden und dem steinernen Fuchs wurden sinnloserweise die Ohren abgeschlagen. Okt. 1994. 16 | heimat heute 2018
ARCHIVPERLEN Q 5 Berner Badekultur: Das «Bubenseeli» des Marzilibads, als es noch nicht von Schilf bewachsen war und das Bundeshaus spiegelte. Okt. 1990. S 6 Die Zentrale der Stadtberner Wasserversorgung T 8 Schlicht idyllisch: Der Matte-Tych, dessen «In- am Aareufer beim Schönausteg mit ihren drei natur- selisteg» aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. das einst steinverkleideten Bauten von Hans Weiss (1894–1973) vorwiegend von Industrie- und Gewerbebetrieben aus dem Jahr 1950 samt der dazugehörigen, sommers genutzte Viertel der Wasserwerkgasse mit der Schiff- unzähligen Fluss-Schwimmerinnen und -schwimmern als laube verbindet und dabei u. a. zur charakteristischen, Einstieg dienenden Treppe und dem Brunnen mit Frosch- heute als einziges Exemplar ihrer Art erhalten geblie- und Fisch-Skulptur von Walter Schnegg. Jan. 2013. benen Litfasssäule rechts im Bild führt. Aug. 1968. S 9 Der Aufzug von der Matte nach der Münster- plattform, im Volksmund «Senkeltram» genannt, ist mit seiner 32,5 m hohen Metallkonstruktion nicht mehr aus dem Stadtbild von Bern wegzudenken. Er wurde 1896 auf private Initiative hin erstellt und blieb, sieht man ab vom S 7 Könizer Kulturerbe: Der Lerberstock an der Waberer abendlichen Busbetrieb der Kirchstrasse aus dem Jahr 1693, als er noch allein auf weiter BERNMOBIL-Linie 30, bis Flur stand. Er wurde 1982 im Zuge des Baus von Seminar heute das einzige öffentliche und Gymnasium Lerbermatt um einige Meter verschoben Transportmittel des aare- und in die neue Schulanlage integriert. April 1975. nahen Quartiers. Juli 1996. heimat heute 2018 | 17
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE «Im erschte und im letschte Tram» – alte Trams und Busse als Teil unseres Kulturerbes Der öffentliche Verkehr verbindet und erschliesst seit über 125 Jahren die Stadt Bern und die Agglomeration, verbindet den Wohnraum mit dem Arbeitsplatz und die Ausflugsidee mit dem Ziel. Öffentlicher Verkehr ist Alltagskultur, seine Geschichte daher genauso facettenreich wie unser Alltag. Mit einer umfangreichen Sammlung historischer Trams und Busse bewahrt und betreibt die Stiftung BERNMOBIL historique in vorwiegend freiwilliger Arbeit diese wichtigen Zeugen gesellschaftlichen Lebens und der Schweizer Technikgeschichte. S 1 Kernaufgabe der Tramkultur und Kulturgut Tram Historische Fahrzeuge haben eine grosse Anzie- Stiftung ist die Bewahrung Warum gerade Berner Musiker eine gewisse hungskraft und erregen stets Aufmerksamkeit; historischer Fahrzeuge. Eine Affinität zum Tram haben, ist unklar, doch die Veranstaltungen rund um das 125-jährige Auswahl der Sammlung scheint es sie nicht nur physisch zu bewegen. Bestehen des Berner Trambetriebs im Jahr wurde anlässlich der Jubilä- Während das «Nüni-Tram» bei Mani Matter in 2015 stiessen bei der Bevölkerung auf reges umsfeierlichkeiten 2015 der der Monbijou-Allee der Gegenwart entschwin- Interesse. Doch warum eigentlich? Worin liegt Öffentlichkeit präsentiert. det, philosophiert Polo Hofer «im letschte der Wert einer Sammlung wie jener von BERN- Tram». Stiller Has wie auch Lo & Leduc reisen MOBIL historique und warum investieren Men- dagegen «im erschte Tram», wobei es für den schen Hunderte von Stunden Freizeit in ihre einen eine Geisterbahn und für die anderen Wartung und Pflege? Selbstverständlich lassen einen Ort des Schweigens darstellt. Doch Q 2 Gelegentlich steht nicht nur Musiker sind unterwegs. Seit 1890 auch der älteste Schweizer gehört das Tram und seit 1924 auch der Bus Stadtbus aus dem Jahr 1924 zum Berner Alltag.1 Jeden Tag werden auf für Extrafahrten im Einsatz. den Berner Tram-, Bus- und Trolleybuslinien mehrere Hunderttausend Menschen befördert. Der öffentliche Verkehr und seine Geschichte bewegen Menschen und Gemüter: Wo Befürwor- terinnen und Befürworter von einem sichtlich guten ÖV-Angebot sprechen, monieren Kritiker eine fahrende rote Wand in der Innenstadt. 18 | heimat heute 2018
sich an Stadtbussen unterschiedlichen Alters verschiedene technische Entwicklungen aufzei- gen. Doch da ist noch mehr, ja muss mehr sein! Die Fahrzeuge zeugen auch von kultur- und sozialgeschichtlichen Gegebenheiten. So lässt sich beispielsweise am Dampftram aus dem Jahr 1894 – dem ältesten Objekt der Samm- lung – einiges über die damaligen Betriebsver- hältnisse ablesen. Die komplette Verschalung des Triebwerks ermöglichte den Einsatz auf den noch nicht asphaltierten und daher sehr staubigen Strassen, obwohl die Gleitlager der Triebstangen und Achsen als sehr staubemp- findlich gelten.2 Beinahe eine technikhistorische Pionierrolle nimmt der Autobus Nr. 50 von 1941 ein. Er ist der Vertreter einer neuen Bauweise, die als impulsgebend für eine bis heute an- dauernde Entwicklung steht. Im weltweiten Vergleich stellt er eines der frühesten und mittlerweile ältesten noch erhaltenen Fahr- zeuge ohne die bis dahin dem Fahrgastraum und Fahrersitz vorgelagerte Motorhaube dar. Von den verschiedenen Prototypen für dieses damals fortschrittliche Konzept, die in den Jah- ren zuvor von der Schweizer Fahrzeugindustrie entwickelt wurden, existiert heute keiner mehr.3 Zudem sind die historischen Fahrzeuge stets auch Abbilder des jeweiligen Zeitgeschmacks. Dank ihrer relativ kurzen Einsatzzeit erfuhren sie während ihrer Betriebsphase in den meisten Fällen keine Neugestaltung der Innenräume, lenkautobus Nr. 283 des Schweizer Fahrzeug- SS 3 Zwei Tramzüge mit Eingriffe beschränkten sich in der Regel auf herstellers Franz Brozincevic Wetztikon FBW Dampftraktion kreuzen die Reparatur und gegebenenfalls den Ersatz erwähnt werden: Das Fahrzeug mit Baujahr sich vor dem Hauptbahn- einzelner verschlissener oder beschädigter 1977 kann punkto Gestaltung und Material- hof Bern, um 1898. Teile. In diesem Zusammenhang muss der Ge- wahl als geradezu charakteristisch angesehen werden. Neben Sitzbezügen aus rotem Weich- S 4 Der Autobus Nr. 50 ist PVC sind die Wände sowie Teile der Decke mit ein Vertreter der frühesten Nadelfilz in zeittypischem orangem Farbton Grossraumfahrzeuge mit bezogen. Der braune gerippte PVC-Bodenbelag Heckmotor und somit vervollständigt das epochentypische Interieur. fehlender Schnauze. Gleichzeitig ist der öffentliche Verkehr auch der Arbeitsplatz unterschiedlichster Berufsleute. Wo der Begriff «Führerstand» bei Tramfahrzeugen R 5 Mit öffentlichen Anlässen über lange Zeit tatsächlich auf das «Stehen» zu- wie hier bei der Tramparade rückzuführen ist, entsprechen heutige Fahrzeu- 2015 wird die rollende Ge- ge ergonomischen Vorgaben und Empfehlungen schichte erfahrbar gemacht. heimat heute 2018 | 19
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE Q 6 Standardisierung und Vereinheitlichung bilden einen der Grundpfeiler der FBW-Busse aus den 1970er Jahren. Vergleich- bare Fahrzeuge verkehrten in Basel, Zürich, Genf und weiteren Schweizer Städten. T 7 Der Innenraum der FBW-Busse aus den 1970er Jahren ist bezüg- lich Materialwahl und Farbigkeit zeittypisch. Nicht zuletzt funktionieren die Fahrzeuge als Erinnerungsträger. So manche Liebesbeziehung begann mit einem flüchtigen Blickkontakt oder der Enttäuschung, dass das Gegenüber bereits aussteigen musste oder gar in die entgegen- gesetzte Richtung fuhr. Wer über Jahre täg- lich mit einem bestimmten Fahrzeugtyp zur Schule oder an den Arbeitsplatz fährt, bindet den Geruch oder das Fahrgeräusch in seine persönlichen Wahrnehmungen ein. Speziell die jüngeren Fahrzeuge aus der Sammlung wecken aus arbeitspsychologischen Richtlinien. Weich gefederte Sitze und klimatisierte, vom Fahrgast- raum physisch wie auch akustisch abgetrennte Q 8 Kurzer Zug und viel Cockpits aktueller Fahrzeuge bilden einen Personal: Bis in die 1960er Kontrast zum einfach eingerichteten, direkt Jahre waren neben dem im Einstiegsbereich platzierten Fahrstand der Fahrer auch auf jedem frühesten Generation elektrischer Trams, bei Fahrzeug ein bis zwei denen zusätzlich zum Wagenführer auch ein Kondukteure unterwegs. bis zwei Kondukteure pro Wagen mitfuhren. 20 | heimat heute 2018
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE bei vielen Fahrgästen persönliche Erinnerun- Folgejahren etliche weitere Fahrzeuge erhalten gen. Nicht nur ihr beinahe im Kontrast zum werden. Insbesondere während der 1990er Jah- heutigen BERNMOBIL-Rot stehendes Grün re wuchs die Sammlung rasch an. Zu den Fahr- löst dabei stets Emotionen aus; immer wieder zeugen aus dem Bestand der SVB kamen solche führt auch das charakteristische Klack-Ge- räusch beim Betreten der Trittbretter der R 9 Im Rahmen der als «Schweizer Standardwagen» bekannten Museumsnacht kann man Tramzüge zu entsprechenden Reaktionen. historische Fahrzeuge inkl. Stosszeitenfrequenz erleben. Kulturhistorisches Bewusstsein dank privater Initiative Vielfältige Beweggründe und insbesondere persönliche Bezüge zu ihnen spielten stets eine wesentliche Rolle beim freiwilligen Engagement für die historischen Fahrzeuge. Daneben sind das Interesse an alter Technik, der Wille, mit anderen Menschen zusammen etwas Gutes zu tun oder der Ausgleich zur beruflichen Tätig- keit andere mögliche Motivationen, weshalb sich Menschen für die Sammlung engagieren. Das ehrenamtliche Engagement reicht bis in die 1970er Jahre und somit in eine für tech- nisch-industrielles Kulturgut schwierige Epoche zurück.4 In den «Boomjahren», den Jahrzehnten des Aufbruchs nach dem Zweiten Weltkrieg, schien Altes wenig Existenzberechtigung zu haben. In der Gesellschaft wie auch in der Fach- welt, etwa bei der Denkmalpflege, mangelte es an Wissen über die Trams und Busse und somit auch an Anerkennung der technikgeschicht- lichen Objekte als Teil unseres Kulturguts. Für die Berner Sammlung entscheidend war eine Flottenbereinigung der Städtischen Ver- von Berner Vorortsbahnen und Überlandbe- S 10 Der 1956 an der kehrsbetriebe SVB in den 1970er Jahren. Ausser trieben. Die zunächst im Tramverein Bern TVB Endstation Ostring wartende einem Zweiachserzug sollten alle Vorkriegsfahr- organisierten Freiwilligen wurden ab 2001 um Tramzug setzt sich aus zeuge verschrottet werden. Der neu gegründete die Berner Tramway-Gesellschaft AG ergänzt, Fahrzeugen mehrerer Tramverein Bern TVB setzte sich für den Erhalt die sich um den Dampftrambetrieb kümmerte. Generationen zusammen. weiterer Fahrzeuge ein und konnte mit dem Doch die umfangreicher werdende Sammlung Mit dem Wachstum der Autobus Nr. 7 bereits 1974 einen «Schnauzen- birgt auch immer neue Herausforderungen: Nachkriegszeit stieg auch bus» aus dem Jahr 1929 übernehmen. Daneben das Mobilitätsbedürfnis. dokumentierten die Mitglieder auch die Ge- Alte Fahrzeuge und neue Bedingungen samtinfrastruktur sowie Alltagssituationen und Der Erhaltung historischer Fahrzeuge wird beschrieben so die Wechselbeziehung zwischen heute eine gesellschaftliche Akzeptanz und dem Sammlungsgegenstand und seinem his- Anerkennung entgegengebracht. Doch so torischen Kontext. Dank diesem Engagement wie sich Gesinnungen wandeln können, ver- entstand auch bei den SVB zunehmend ein ändern sich auch die Bedingungen, unter historisches Bewusstsein und so konnten in den denen historisches Rollmaterial betrieben heimat heute 2018 | 21
AUS DER PRAXIS – KULTURERBE wird.5 So führten das allgemeine Wachstum währte sich in diesem Zusammenhang die enge und der Bauboom der letzten Jahre z. B. dazu, Zusammenarbeit mit BERNMOBIL. Doch auch dass Abstellplätze für grosse Fahrzeuge kaum hier droht bei Generationenwechseln im Perso- mehr vorhanden bzw. bezahlbar sind. Eine nalbestand stets ein Wissensverlust. Personen, historische Flotte schon nur vor Witterung die beispielsweise Tramzüge mit Druckluft- geschützt, geschweige denn unter konservato- bremsen noch aus dem täglichen Betrieb und risch idealen Bedingungen abstellen zu können mit einer entsprechenden Routine kennen, sind und dabei finanziell nicht zu kollabieren, ist heute pensioniert und dürfen zum Teil alters- heute eine wesentliche Herausforderung. bedingt nicht mehr fahren. Wie kann solches Wissen also gesichert und in die nächste Gene- Insbesondere spurgeführte Fahrzeuge sind ration überführt werden? Eine Möglichkeit bie- Teil eines Gesamtsystems und auf eine ent- tet die Digitalisierung: Mittlerweile konnte ein sprechende Infrastruktur angewiesen. Neue grosser Teil der technischen Unterlagen digitali- Ansprüche und Gesetze verändern diese siert werden. Einzelne Fahrzeuge sind dadurch Infrastruktur laufend. So musste bei einigen heute wohl gar besser dokumentiert, als sie es historischen Fahrzeugen etwa die Höhe der in ihrer Betriebszeit je waren. Viel spezifisches Trittbretter an die neuerdings höheren und Know-How, sogenanntes «impliziertes Wissen», mit dem Behindertengleichstellungsgesetz ist teilweise jedoch für immer verschwunden konformen Perronkanten angepasst werden. oder kann nur durch eingehende Auseinan- dersetzung und teilweise für teures Lehrgeld Neue Sicherheitsvorschriften müssen auf ihre wiedergewonnen werden.6 Der Betrieb an sich Relevanz für historische Fahrzeuge und deren ist dabei Teil des Erfolgsrezepts: Er zwingt zu T 11 Die Instandhaltung Betrieb überprüft werden. Generell ist eine Ten- Auseinandersetzung und Wissensvermittlung historischer Fahrzeuge er- denz zu grösserer Regelungsdichte und einem und hält so bestehendes Wissen aktuell. fordert viel technisches und erhöhten Dokumentationsaufwand feststellbar. historisches Wissen. Gleich- Die Lösungsfindung erfordert dabei genauso Historisch unterwegs in die Zukunft zeitig wird dadurch erst wie der Betrieb und die Instandhaltung ein Um die genannten Herausforderungen lang- eine intensive Auseinander- entsprechendes Fachwissen und einen über die fristig meistern zu können, wurde Anfang 2018 setzung ermöglicht und der Zeit aufgebauten Erfahrungsschatz in unter- die Stiftung BERNMOBIL historique gegründet. Wissenstransfer gefördert. schiedlichen Disziplinen. Von Beginn an be- Stiftungszweck sind die Bewahrung, der Betrieb und die Vermittlung der umfangreichen Samm- lung und somit des kulturellen Erbes der Berner Verkehrsbetriebe und ihrer Vorgängergesell- schaften. Der Stiftungsgründung ging eine Schärfung des Sammlungsprofils und eine Situ- ationsanalyse voraus. Verschiedene Fahrzeuge, die nicht dem überarbeiteten Konzept entspra- chen, konnten 2017 weitervermittelt werden. Nach der Sammlungsbereinigung umfasst der Bestand acht Autobusse, zwei Trolleybusse und zehn Tramfahrzeuge, teilweise mit Anhängern. Durch die Konzentration der Aktivitäten der verschiedenen Beteiligten, namentlich des TVB, der Tramway-Gesellschaft und BERN- MOBIL, wurde für das kulturelle Erbe eine zukunftsträchtige Basis geschaffen. Die organisatorische und betriebliche Nähe der 22 | heimat heute 2018
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