HILFE hilft - Deutscher Kinderschutzbund
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D I E Z E I T S C H R I F T D E S K I N D E R S C H U T Z B U N D E S 2 . Q UA R TA L 2 0 2 1 / H 8 7 6 3 F
KINDERSCHUTZ A K T U E L L
2.21
Kleine Menschen –
großer Kummer
HILFE hilft Manche Erfahrungen oder Ereignisse belasten
Kinder schwer. Dann brauchen sie jemanden
an ihrer Seite, der sie unterstützt.
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KSA
Kleine Menschen – großer Kummer: Hilfe hilft
Viele Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen im Prinzip unbeschwert von größeren
Problemen heran. Nicht so wenige sind aber auch bekümmert, weil sie plötzlich oder dauerhaft
sehr belastenden Situationen ausgesetzt sind, die sie kaum auf sich allein gestellt bewältigen
können. Nicht alle diese jungen Menschen fallen uns sofort in den Blick, wenn sie uns nicht auf ihre
Last hinweisen. Viele tun das auch so versteckt, dass wir es gar nicht bemerken. Oder so lautstark, dass
wir sie eher zurechtweisen möchten als ihnen zu helfen. Dabei hilft in bestimmten Lebenslagen den
Kindern nur die Hilfe! Das zeigen die folgenden fünf Beispiele aus der Praxis des Kinderschutzbundes.
Inhalt 2.2021
12 KLIPP & KLAR
7 4
THEMA
Kolumne, Nachrichten,
Kinderrechte im digitalen Raum
6 Gut, dass es mich gibt
Einführung: Sicherheit und Geborgenheit
in der Krise
7 Riesenthema schon in den Grundschulen
Cybermobbing: Zurückdrängen durch
Prävention und Intervention
Cybermobbing Kinder und Jugendliche 10 Erstaunlich kraftvoll
in Grundschulen in Trauer Kinder psychisch kranker Eltern:
Diese Form von Gewalt blüht im Internet Der Verlust eines nahen Menschen trifft Hilfe durch TROTZDEM
und wird meist über die sozialen auch Kinder und Jugendliche plötzlich oder 12 Mal weinen, mal lachen
Netzwerke und Messenger-Dienste aus- lange vorhersehbar. In beiden Fällen bleibt Trauernde Kinder und Jugendliche:
geübt. Mit schlimmen Folgen für die be- ihnen die Trauer nicht erspart. Jeder junge Brauchen Zuspruch und Begleitung
troffenen Kinder, wenn ihnen niemand Mensch trauert auf seine Weise. Manche
zur Seite steht, der sie unterstützt. müssen dabei aufgefangen werden. 14 Besuch von Daniela
Ab Seite 7 Ab Seite 12 Kinder im Krankenhaus:
Haben viel Gesprächsbedarf
16 Große Herausforderung
Suizidgefährdete Kinder und Jugendliche:
Wo ist frühzeitige Hilfe?
KINDER IM BLICK
18 Verbandsentwicklung im DKSB
Der LV Sachsen schafft klare Strukturen
19 Erkenntnisse
Junge Menschen leiden unter der Pandemie
20 Mobile Sorgenbüros
Lassen sich von Corona nicht unterkriegen
20
22 Die machen Sachen
Infos & Tipps aus der DKSB-Praxis
24 Kinderrechtebüro
Jetzt neu im OV Wuppertal
25 Gewalt in der Erziehung
Im Westerwald: Sorgenbüros im Krisenmodus Ohrfeige? Finden zu viele okay
Die „Mobilen Sorgenbüros“ der Ortsverbandes Höhr-Grenzhausen sind seit 26 Jahren 26 Interview
im Westerwald an mittlerweile 15 Grundschulen präsent. Die Kinder schätzen die Gespräch mit dem neuen DKSB-Bundes-
Fachkräfte der Schulsozialarbeit als verlässliche Gesprächspartnerinnen, die eines geschäftsführer
besonders gut können: zuhören! Mit dem ersten Pandemie-bedingten Lockdown 28 Kulturelle Bildungsarbeit
im Frühjahr 2020 schien es damit aber über Nacht plötzlich vorbei. Da haben die Teams Blick in die Frankfurter Orangerie
von den Sorgenbüros die Ärmel hochgekrempelt und gedacht: Jetzt erst recht!
Die Reportage erzählt, welche Schwierigkeiten sich in der Pandemie auftaten und 30 Aktuelles aus dem Bundesverband
wie die Sorgenbüros ihre Arbeit trotzdem fortsetzen konnten. Ab Seite 20 31 Impressum
KLIPP &
Kolumne KLAR
Liebe Leserinnen
und Leser, „OPTIMIERUNG“ DES KINDES:
es ist schon über ein Jahr her, dass die Bundesregie- Das macht wütend!
rung gemeinsam mit den Länderregierungen Maß- Die Fachzeitschrift „Kinderärztliche Praxis“ legt
nahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie be- ihrer Leserschaft in der Ausgabe 92 (März 2021)
schlossen hatte, die sich bis zu diesem Zeitpunkt in nahe, Kinder ggf. frühzeitig mit Wachstumshor-
Deutschland niemand vorstellen konnte. Aus einer mon zu behandeln. Begründung: Kleiner gewach-
„kurzen Kraftanstrengung“ wurde ein Dauermara- sene Leute verdienen später mal weniger Geld.
thon, dessen Ende immer noch nicht absehbar ist. Zitat Seite 138: „Jede 2,5 Zentimeter über der
Durchschnittsgröße bringen 2,2 Prozent mehr
Ein Jahr geht für uns Erwachsene gefühlt schnell vor- Gehalt. (…) Die rechtzeitige Behandlung mit
bei. Doch aus Kinderperspektive ist ein Jahr eine Ewig- Wachstumshormon kann die Größe und dadurch
keit. Vieles, auf das die junge Generation verzichten die Lebensqualität erheblich verbessern.“
musste – von Sportturnieren bis zum Abi-Ball –, lässt sich nicht mehr Bei der Behandlung des neu entdeckten „Erkran-
nachholen. Studien zeigen, dass junge Menschen auch bereit sind, ihren kungsrisikos“ geht`s also um die Optimierung des
Teil zur Eindämmung der Pandemie beizutragen. Und trotzdem leiden sie Kindes bzw. seines späteren Verdienstes. Kein Appell
unter Einsamkeit und Zukunftsängsten. Dafür zu sorgen, dass sich ihre Be- der „Kinderärztlichen Praxis“ für mehr Respekt und
fürchtungen im Hinblick auf die Zukunft nicht bewahrheiten, ist nun unser Sensitivität gegenüber unterdurchschnittlich großen
aller Aufgabe. Besonders die staatliche Gemeinschaft sehe ich hier in der Menschen, keine Scham des Fachblattes gegenüber
Verantwortung. Denn die große Mehrheit der Jugendlichen fühlt sich von Kindern, keine kritische Distanz zur Quelle der Emp-
denen, die politisch entscheiden, übersehen. Was also wäre zu tun? fehlung: Sie kommt vom Pharma-Konzern Hexal AG,
der seine Geschäfte u.a. mit Wachstumspräparaten
Wir brauchen ein von der Bundesregierung finanziertes Corona-Ferien- macht. Hoffen wir also auf starke Eltern an der Seite
programm, um auszugleichen, was im letzten Jahr versäumt wurde: von Kindern sowie auf kinderärztliche Zurückhal-
Schwimmkurse, Trainingslager, Sprachlernkurse und Musikunterricht tung vor dem Griff zum Rezeptblock. kb
oder einfach nur zusammen Spaß haben. Die bestehenden Programme
reichen nicht, im Gegenteil: Ihre Möglichkeiten werden sich aufgrund von
höherem Personalbedarf (wegen kleinerer Gruppen) und Testkosten sogar MAUSGEBURTSTAG:
noch reduzieren. Deshalb sollte jetzt seitens der Regierung investiert wer-
den. Kinder mit Lerndefiziten sollten in Sommerschulen den entgangenen
Das macht fröhlich!
Lernstoff nacharbeiten können, damit sie den Anschluss nicht verpassen. Seit 50 Jahren beweist ein orangefarbenes
Die Regierung versucht zwar bereits, mit der Azubi-Prämie Unternehmen Mäuschen mit kessem Klimperblick im Fernsehen,
zu motivieren, Ausbildungsplätze zu erhalten. Ich möchte da aber noch dass Bildung großen Spaß machen kann.
weitergehen und fordere einen Ausbildungspakt von Bundesregierung und Ihre „Lach- und Sachgeschichten“ stillen seit 7. März
Arbeitgeberverbänden, um allen Jugendlichen nach diesem besonderen 1971 den Wissensdurst von Kindern. Immer gut
Jahr einen Ausbildungsplatz zu garantieren. recherchiert spürt die „Sendung mit der Maus“
spannenden Phänomenen nach: Wie kommen die
Es liegt an uns – an der Gesellschaft, an der Wirtschaft und Politik – den Löcher in den Käse oder das Blau an den Himmel?
jungen Menschen jetzt eine Perspektive zu geben. Und das gilt besonders Generationen Maus-Fans lieben diese Erklärfilme.
für jene Kinder und Jugendliche, die auch schon vor der Corona-Krise oft Glückwunsch an alle „Maus-Macher*innen“, die Jung
übersehen wurden: Kinder aus armen und belasteten Familien, Kinder und Alt seit fünf Jahrzehnten begeistern und immer
aus den Jugendhilfeeinrichtungen und Kinder aus Flüchtlingsfamilien. neugierig geblieben sind! dü
Ich fordere ein Bekenntnis von Bund, Ländern und Kommunen zu den
Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Nach der Corona-Krise müssen
Foto: WDR/Michael Schwettmann
Freizeit- und Unterstützungsangebote ausgebaut werden. Sie dürfen
keinesfalls dem bestimmt aufkommenden Spardruck zum Opfer fallen.
2021 wird die Bundesregierung neu gewählt. Lassen Sie uns gemeinsam
darauf hinarbeiten, dass die Parteien nicht nur ihre Wählerinnen und
Wähler berücksichtigen, sondern auch diejenigen, denen das Wahlrecht
noch verweigert wird!
Ihr Heinz Hilgers
Präsident
4 KSA 2.2021
Ohne Wenn und Aber! Kinderrechte im digitalen Raum
Jetzt ist es „offiziell“: Die Kinderrechte In der nun verabschiedeten Fassung betont Leben“ und „Berücksichtigung des Kindes-
gelten auch im digitalen Raum. Das hat der UN-Kinderrechtsausschuss die zentrale willens“) im digitalen Umfeld zu verstehen
der UN-Kinderrechtsausschuss mit seiner Bedeutung digitaler Technologien für das sind, und setzt einzelne Kinderrechte in Be-
25. Allgemeinen Bemerkung festgestellt. gegenwärtige und zukünftige Leben der ziehung zur virtuellen Welt. Und auch die
Sie wurde am 24. März 2021 in englischer Kinder. Sie können Kinder befähigen und Aufforderung an die Vertragsstaaten, erfor-
Sprache veröffentlicht. dabei unterstützen, die gesamte Bandbreite derliche legislative und administrative Maß-
Der UN-Kinderrechtsausschuss beobachtet ihrer bürgerlichen, politischen, kulturellen, nahmen zu ergreifen, fehlt nicht.
regelmäßig die Einhaltung der Kinderrechte wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu ver-
und verfasst dazu mit seinen Allgemeinen wirklichen. Der Ausschuss gibt auch Hin- Am 25. General Comment haben weltweit
Bemerkungen Kommentare. Diese sind als weise, wie die generellen Prinzipien der UN- über 700 Kinder und Jugendliche mitgear-
eine Art „Interpretationshilfe“ für die Ver- Kinderrechtskonvention („Nichtdiskriminie- beitet. Nun müssen ihre Rechte auch im
tragsstaaten nicht bindend, unterstützen sie rung“, „Vorrang des Kindeswohls“, „Recht auf Internet stärker geachtet werden. dü
aber bei der Umsetzung der UN-Kinder-
rechtskonvention.
Der 25. General Comment gibt eine wertvol-
le Hilfestellung, wie Staaten die Rechte des
Kindes in Bezug auf die digitale Umgebung
respektieren, schützen und erfüllen sollten.
Denn auch in der virtuellen Welt muss das
Wohl des Kindes vorrangig bleiben. Wie im
analogen Leben besitzen Kinder dort:
M Schutzrechte – und das nicht nur
im Hinblick auf Daten und Privatsphäre,
sondern vor allem auch als Schutz vor
iStockphoto/StockPlanets
jeder Form von Gewalt und Ausbeutung.
M Förderrechte: Dazu gehören das Recht
auf bestmögliche Gesundheit, auf
Bildung, auf soziale Sicherheit und
angemessene Lebensbedingungen.
Und nicht zu vergessen: das Recht auf
Spiel und Freizeit. Umsetzung in Deutschland
M Beteiligungsrechte, die ihnen den
Zugang zu Informationen und Medien
sowie die freie Meinungsäußerung Noch mehr Jugendmedienschutz
garantieren.
Ein richtiger Schritt zu mehr Achtung der Kinderrechte im digitalen Raum ist in Deutsch-
land mit der Novellierung des Jugendschutzgesetzes erfolgt: Zum 1. Mai 2021 trat das
„Die Kinderrechte in die digitale Welt zu
Zweite Gesetz zur Änderung des Jugendschutzgesetzes in Kraft.
übertragen und dort durchzusetzen, ist eine
gewaltige Aufgabe“, sagt Joachim Türk. Das Gesetz soll Kinder nicht nur vor ungeeigneten Medieninhalten schützen, sondern
Der Experte für Digitales ist Mitglied im zugleich vor Gefahren, die in der digitalen Welt durch dortige Kommunikation entstehen.
DKSB-Bundesvorstand und gehörte auch Deshalb werden jetzt auch große, von Kindern viel genutzte kommerzielle Anbieter in die
dem Steuerkreis an, der in Deutschland die Verantwortung genommen – soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram & Co. sowie
Diskussion des interdisziplinären Kreises Messenger-Dienste wie WhatsApp. Alle sind nun zu wirksamen Vorsorgemaßnahmen
aus Fachleuten über den Entwurf der verpflichtet, damit junge Menschen sich ungefährdet bei ihnen bewegen können.
25. Allgemeinen Bemerkung strukturierte.
Auch Online-Spiele und -Filme erhalten künftig eine einheitliche Altersbewertungen. Darin
Anschließend wurden die erarbeiteten
mitgedacht sind nicht nur für Kinder ungeeignete Inhalte, sondern auch ihre sogenannten
Hinweise zum Entwurf an den UN-Kinder-
„Interaktionsrisiken“, etwa die ungeschützte Kommunikation mit anderen (Fremden) oder
rechtsausschuss übermittelt. Der hat auf
Kostenfallen.
diese Weise von allen Vertragsstaaten
Hinweise empfangen. Kontrolliert werden soll die Einhaltung der Regelungen von der bisherigen „Bundesprüf-
stelle für jugendgefährdende Medien“. Für die neue Aufgabe wird sie in „Bundeszentrale für
Kinder- und Jugendmedienschutz“ umgewandelt sowie entsprechend personell und mit
Kompetenzen ausgestattet. sd
5
Gut,
TITEL-
THEMA
dass es mich gibt!
iStockphoto/shapecharge
Von Elli hingegen hört man wenig. Ihr Lehrer ihnen zuzuhören, wenn sie uns ihre Geschich-
wundert sich, dass das früher so aufgeweckte te(n) erzählen. Nur so lässt sich erfahren, wie
Mädchen im Unterricht jetzt oft abwesend sich Umstände, die wir Erwachsene als mehr
wirkt. Weil Elli ihm auch immer dünner und oder weniger „schlimm“ definieren, tatsäch-
blasser vorkommt, ruft er ihre Eltern an. Viel- lich in Kindern abbilden. Aber dann müssen
leicht ist sie ja krank? Aber nein, sagt der Vater, wir auch ihre Gefühle von Wut, Ärger oder
alles in Ordnung, wir waren mit ihr erst ges- Traurigkeit aushalten. Oder wollen wir davon
tern routinemäßig beim Arzt. Dabei kann sich am liebsten nichts wissen?
der Vater denken, was mit Elli los ist. Er ist ja Je jünger ein Kind ist, umso stärker orientiert
selbst ganz versteinert, weil sich seine Frau es sich in Krisen an vertrauten Personen. Rea-
von ihm trennen will. Reden will er darüber gieren diese selbst sehr verstört, so kann auch
nicht – schon gar nicht mit der Tochter. Er- das Kind seine innere Balance verlieren. Ver-
wachsenensorgen sind nichts für Kinder, fin- mitteln Erwachsene trotz Krise dem Kind hin-
det der Vater. Dennoch lässt sich die Stim- gegen Sicherheit und Geborgenheit, wird es
mung zuhause kaum mehr verbergen – hier Belastungen in der Regel ganz gut überste-
hat in letzter Zeit keiner mehr gesungen oder hen. Gerade in sehr schwierigen Situationen
gelacht. braucht das Kind Unterstützung, um seine
Anders geht es bei Alia zu. Mit drei jüngeren „Grundgewissheit“ zu behalten: Ich bin da,
Geschwistern und den Eltern in einer Zwei- ich bin am Leben – und es ist gut, dass es mich
raum-Mansardenwohnung – das wird oft tur- gibt.
bulent. Alia findet großartig, dass ihre Familie Kleine Kinder haben in Krisen oft mehr Angst
Eines vorneweg: Den
nach Monaten in einer Gemeinschaftsunter- um andere als um sich selbst. Manche Er-
meisten Kindern geht es kunft für Geflüchtete nun eine eigene Küche wachsene zeigen sich gerührt vom „Mitge-
ziemlich gut, zumindest in und Dusche ganz für sich allein hat. Aber letz- fühl“, mit dem ein besorgtes Kind seine wei-
te Woche haben sich die Nachbarn darunter nende Mama zu trösten versucht. Doch das
Deutschland. Selbst wenn
über den Lärm beschwert. Schriftlich! Außer- ist beim Kind fast immer verbunden mit der
sie größere Sorgen haben. dem kommen andauernd irgendwelche Brie- verzweifelten Angst um die eigene Fortexis-
Denn in der Regel sind dann fe von Ämtern. Beides beunruhigt Alia sehr. tenz: Wer ist für mich da, wenn die wichtigs-
Sie versteht zwar Deutsch schon viel besser ten Menschen in meinem Leben nicht mehr
Menschen an ihrer Seite,
als die Eltern, aber diese Briefe nicht. Alia ein noch aus wissen?
die sie trösten, ihnen Zu- macht sich auch Sorgen, dass ihr Vater jeden Es gibt Probleme, die sich aus dem Weg räu-
versicht vermitteln und sie Tag niedergeschlagener wird. Der Ingenieur men lassen. Es gibt Krisen, deren Beendigung
wollte es in Deutschland so gerne schaffen, in unserer Macht liegt. Es gibt aber auch lang-
unterstützen. Es gibt aber
gerade mit einem Job. Die Tochter versucht anhaltende bzw. bleibende Bedrohungen
auch Kinder, die mit sehr ihn aufzuheitern, aber das klappt nur selten. wie die aktuelle Pandemie. Nicht alles können
belastenden Erfahrungen Nachts, wenn das Heimweh kommt, weint wir beeinflussen. Wir können aber bewirken,
Alia manchmal ins Kissen, leise, damit der Va- ob Kinder und Jugendliche die zurückliegen-
alleine klarkommen
ter nicht noch trauriger wird. Sie weiß, die El- den Lockdown-Monate als „die Zeit, in der wir
müssen, weil sie niemanden tern sind nur wegen ihr und ihrer Geschwister wenigstens alle schön im Schlafanzug früh-
haben, der ihnen zuhört. aus Syrien geflohen. stücken konnten“ erinnern werden – oder als
Nein, Kinder kann man nicht vor Krisen be- „die Zeit, in der gar nichts mehr ging“.
Rico ist stinksauer. Seine Eltern wollen ihm wahren, seien sie persönlichen, familiären Auf den folgenden Seiten zeigen im Kinder-
einfach nicht das neue Raumschiff mit Fern- oder globalen Ursprungs. Aber genau das schutzbund engagierte Menschen an fünf
bedienung kaufen, das er aber unbedingt würden viele Erwachsene gern tun. Kinder- Beispielen auf, welche Krisen der ganz nor-
haben will. Neuerdings kriegt Rico deshalb glück liegt uns am Herzen, potentielle Belas- male Alltag für Kinder bereithalten kann. Und
schon frühmorgens Wutanfälle. Seiner Mutter tungen für Kinder werden vielfach beforscht was der DKSB dazu beiträgt, damit Kinder da
macht das schwer zu schaffen. Kriegt der Vier- und untersucht. Auch dabei geht es u.a. da- gut „durchkommen“ können.
jährige vielleicht `ne Krise, weil er vor vier Wo- rum, nicht nur über sie zu sprechen, sondern Korinna Bächer, Redaktion
chen gerade eine Schwester bekommen hat? vor allem mit ihnen. Sie ernstzunehmen und
6 KSA 2.2021
Riesenthema
schon in Grundschulen Cybermobbing
Cybermobbing ist eine
Form von Gewalt, die meist
über die sozialen Netzwerke
und Messenger-Dienste im
Internet ausgeübt wird. Dass
diese Fälle zugenommen
haben, ist auch der Corona-
Pandemie geschuldet. Sie
iStockphoto/ljubaphoto
hat das Leben und Lernen
von Kindern und Jugend-
lichen verstärkt in die digi-
tale Welt abgedrängt. Doch
was heißt eigentlich „Cyber-
mobbing“ und welche
(pädagogischen) Handlungs-
möglichkeiten gibt es?
MOBBING ANALOG klares Handeln von ihnen folgt. Zusammen- Outing und Trickery = Bloßstellen durch
Viele Kinder und Jugendliche kennen Mob- genommen lernen also diejenigen, die in der öffentliches Posten von vertraulichen
bing z.B. aus der Schule: Ein wie auch immer Schule jemanden mobben: Mein oder unser Nachrichten, Bildern oder Videos
geartetes Machtungleichgewicht (z.B. Grup- Verhalten hat Erfolg! Impersonation = Auftreten unter falscher
pengröße, Alter) wird genutzt, um jemanden Dieses analoge Mobbing, z.B. in der Schule, ist Identität / Fake-Account
über einen längeren Zeitraum regelmäßig meist räumlich und zeitlich begrenzt. Zu- Exclusion = Ausschluss des Opfers aus
und systematisch auszugrenzen oder zu er- gleich ist sichtbar, wer wen erniedrigt. Gruppen in sozialen Netzwerken
niedrigen. Das verbale oder körperliche Mob- Cyberthreats = offene Androhung
bing kann von einer Person oder auch einer MOBBING DIGITAL von Gewalt
Gruppe ausgeübt werden. Das betroffene Im Unterschied dazu kann digitales Mobbing
Kind wird in eine wehrlose Situation gebracht, immer und von überall her stattfinden, sozu- Das Bündnis gegen Cybermobbing hat in
aus der heraus es das Mobbing nicht mehr aus sagen „Mobbing mobil“ per Smartphone. Au- seiner aktuellen Studie von 2020 eine ver-
eigener Kraft stoppen kann. ßerdem können die mobbenden Personen hängnisvolle Entwicklung aufgezeigt: Die
Dabei lässt sich ein gruppendynamischer anonym bleiben, was Grenzverletzungen er- Zahl der von Cybermobbing betroffenen Kin-
Prozess beobachten, der es dem Opfer er- leichtert. Und noch etwas tritt bei dieser Form der und Jugendlichen ist – unter anderem
schwert, die erlebte Gewalt zu beenden: von Gewalt erschwerend hinzu: der hohe auch pandemiebedingt – in den letzten drei
Das verunsicherte und verängstigte Opfer Grad, mit dem die Erniedrigungen öffentlich Jahren stark angestiegen (um 36%). Heute
zieht sich immer weiter zurück, leidet und werden. sind fast zwei Millionen Schüler*innen davon
schweigt. Auch die Mitschüler*innen könnte betroffen – und das nicht nur aus weiterfüh-
das Geschehen verängstigen, sie könnten es Beim Cybermobbing können renden Schulen, sondern zunehmend auch
aber auch fasziniert beobachten. In beiden verschiedene Methoden eingesetzt aus Grundschulen. Laut Aussagen der be-
Fällen bleiben sie passiv. Manche beteiligen werden, unter anderem: fragten Eltern hat jedes zehnte Kind schon
sich aber auch als Mitläufer*innen aktiv da- Flaming = vulgär geprägte mal Cybermobbing erlebt.
ran. Sofern die Eltern des Mobbingopfers Auseinandersetzung im Chat Hier fehlt es nicht nur an Intervention, son-
überhaupt etwas erfahren, handeln sie meist Harassment = Beleidigungen über dern auch an Prävention. Mehr noch: Die ent-
gar nicht oder zu impulsiv. Lehrkräfte wieder- soziale Netzwerke sprechenden Angebote sind aus Sicht der
um sind in der Situation oft so unentschlos- Denigration = Gerüchte über jemanden Schüler*innen und Lehrkräfte sogar zurück-
sen, überfordert oder auch uneinig, dass kein verbreiten, Anschwärzen gegangen. Zu Recht weist das Bündnis in sei-
7
ner Publikation (S. 9) darauf hin, dass gerade verbreitet, obwohl sich Mobbingopfer so- HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN
„in der kritischen Phase der Pubertät (…) die wieso schon oft selbst die Schuld am Ge- Der sicherste Schutz entsteht präventiv –
Jugendlichen durch Cybermobbing beson- schehen geben. Daher sehen sie im Hilfe ho- durch eine Atmosphäre in den Schulklassen
ders verletzlich (sind). Eine geringe Zufrie- len keine Besserung, sondern eher eine Ver- und Peergruppen, in der jede Form von Mob-
denheit mit der eigenen sozialen Alltagssi- schlimmerung. Das suggerieren ihnen oft bing nicht ankommt und nicht akzeptiert
tuation verstärkt diese Verletzlichkeit erheb- auch diejenigen, die die Gewalt ausüben, um wird. Diese Haltung sollte an allen Lebensor-
lich. Prävention muss sich daher auch auf die das Schweigen der Opfer zu erzwingen. ten von Kindern und Jugendlichen gestärkt
Lebenssituation jenseits des Internets bezie- werden.
hen und auf den Aufbau von Resilienz gerich- Betroffene Kinder und Jugendliche sorgen Tritt trotzdem ein Fall von Cybermobbing
tet werden.“ sich auch, dass ihnen das Smartphone und auf, so ist es das Allerwichtigste und die zen-
die Internetnutzung verboten werden, wenn trale Voraussetzung dafür, dass ein Opfer Hil-
FOLGEN VON CYBERMOBBING sie den Eltern etwas erzählen. Zwar wollen fe erfährt: Es sollte sich einer erwachsenen
Die Opfer durchlaufen in den meisten Fällen Eltern ihr Kind damit meistens nur vor weite- Person anvertrauen! Ansprechpartner*innen
zwei Belastungsphasen: ren Angriffen schützen. Aber sie vergessen sind Eltern, andere Angehörige, Lehrkräfte,
1. Im Moment der Attacke und kurz danach dabei, dass das Internet mittlerweile ein fest Fachkräfte der Schulsozialarbeit oder in Bera-
fühlen sich die Betroffenen zunächst kurzfris- verankerter Sozialraum ist. Ein Zutrittsverbot tungsstellen. Ebenso bieten anonyme Hilfs-
tig geschädigt, sind z.B. wütend oder frus- könnte Kindern und Jugendlichen dann auch angebote (z.B. die Nummer gegen Kummer)
triert. Die meisten können noch gar nicht noch die letzten positiven Kontakte zu Gleich- gute Unterstützung.
richtig glauben, was da überhaupt passiert. altrigen nehmen. Wichtig bleibt, dass sich um das betroffene
Der erste Schock muss erstmal verarbeitet Es gibt aber auch die Fälle unter Kinder und Kind ein Hilfe-Netzwerk aus Erwachsenen
und die gesamte Reichweite der Mobbing- Jugendlichen, in denen Cybermobbing für ei- bildet, die eng zusammenarbeiten. So kön-
handlungen erfasst werden. Manche Kinder nen „ganz normalen“ Umgangston gehalten nen Eltern, Lehrkräfte, Sozialarbeiter*innen
und Jugendliche reagieren aber auch schon oder als „Scherz“ deklariert wird. Dann kön- etc. besser miteinander klären, welche Rolle,
in dieser ersten Phase verängstigt oder entwi- nen Betroffene die Gewalt in den Handlun- Aufgabe und Handlungsmöglichkeit sie je-
‚‚
ckeln psychosomatische Beschwerden. Wird gen kaum oder gar nicht erkennen. In der Fol- weils haben. Es geht darum, einerseits das be-
den Betroffenen dann bewusst wird, was da ge bewerten sie ihre Gefühle dann als „falsch“ troffene Kind emotional zu stabilisieren, es
eigentlich geschieht und dass sie nichts mehr – oder sie möchten kein Aufsehen erregen, darüber hinaus im Umgang mit den digitalen
daran ändern können, beginnt die zweite indem sie sich wehren. Dabei spielt der Angriffen zu stärken – und außerdem den be-
Phase. Wunsch nach Zugehörigkeit eine zentrale schriebenen Teufelskreis zu beenden.
2. Jetzt erkennen die Betroffenen das ganze Rolle. Gewalt, egal in welcher Form, darf nicht ge-
Ausmaß des Geschehens und fühlen sich dau- duldet werden. Auch eine schulische Ge-
erhaft belastet. Viele entwickeln nun auch Wichtig bleibt, meinschaft sollte sich hier eindeutig positio-
Scham- und Schuldgefühle, was in Schule, Fa- nieren. Daher sollten im Kontext Schule klare
milie, Freundeskreis und Freizeit zu Isolation
dass sich um das (vorhandene oder zu schaffende) Strukturen
führen kann. Mögliche weitere Folgen bei betroffene Kind ein Hilfe- den Kindern ermöglichen, sich angstfrei über
anhaltender Belastung: u.a. Schulverweige- Netzwerk aus Erwachsenen jemanden beschweren zu können und ernst
rung, geringes Selbstwertgefühl, Depressio- bildet, die eng zusammen- genommen zu werden. Auch wenn Mob-
nen, selbstverletzendes Verhalten bis hin zu bing/Cybermobbing außerhalb der Schulzeit
Suizid(versuchen) und generellem Misstrau-
arbeiten.
en gegenüber anderen. Viele Betroffene ver-
suchen auch, ihre Gefühle mit Alkohol und
Tabletten zu betäuben. Diese Gruppe ist im
Vergleich zu 2017 zahlenmäßig um fast 30
Prozent angestiegen, hat das Bündnis gegen
Cybermobbing erforscht. Die Zahl der Be- iStockphoto/Valeriy_G
troffenen, die Suizidgedanken äußerten, er-
höhte sich im gleichen Zeitraum ebenfalls
und zwar um erschreckende 20 Prozent.
Scham- und Schuldgefühle hindern die be-
troffenen Kinder und Jugendlichen oft da-
ran, sich Hilfe zu holen. Schließlich müssten
sie den unterstützenden Personen ja dann
zeigen, was über sie alles im Internet öffent-
lich ist – und das ist ihnen zu peinlich. Außer-
dem fürchten viele auch Vorwürfe nach dem
Motto „Wenn du das Foto nicht gepostet hät-
test…“ oder „Wenn du dich nicht so und so
verhalten hättest…“. Solche Reaktionen sind
in unserer Gesellschaft leider immer noch
8 KSA 2.2021
iStockphoto/cokada
oder des Schulgeländes verübt wird, kann an die damaligen Entwicklungen anpassen
Schule die Betroffenen enorm unterstützen, mussten. Da die Zahl der (Cyber)Mobbing-
ggf. mit Hilfe von außen. Sie sollte aber auch Fälle meist in der Phase der Pubertät ihren
aktiv etwas für die Prävention tun: z.B. durch Höhepunkt erreicht, haben wir uns dazu ent-
Schulungen für Lehrkräfte und Workshops schieden, präventiv zu diesem Problem be-
für Schüler*innen. reits mit Viertklässlern zu arbeiten.
Die Eltern erfahren manchmal als erste von Die erste Umsetzung des Projektes in Grund-
der Mobbingdynamik. Sie sollten aber ihrem schulen erfolgte zu Beginn des Schuljahres
spontanen Impuls, nun die Familie des „Tä- 2015. Mittlerweile hat sich unser Angebot im
ters“ bzw. der „Täterin“ damit zu konfrontie- gesamten Kreis Unna etabliert. Im Jahr 2019
ren, widerstehen. Erfahrungsgemäß eskaliert haben es beispielsweise 11 Grundschulen mit
die Situation dadurch eher noch. Eltern von insgesamt 30 Klassen für sich genutzt, und
Mobbing-Opfern sollten ihr Kind emotional die Nachfrage wächst stetig.
stärken und darüber hinaus das Gespräch mit Die Durchführung ist für die Schulen kosten-
der Schule und/oder spezialisierten Fachleu- frei und nimmt jeweils zwei Unterrichtsstun-
ten (für sich und das Kind) suchen, damit ein den pro Klasse in Anspruch. Dabei widmen
Netzwerk der Unterstützung mit verteilten wir uns zunächst dem Begriff „Cybermob-
Aufgaben entstehen kann. bing“. Mit unterschiedlichen Medien und auf
Je nach Alter und Verfassung braucht das spielerische Art erarbeiten wir mit den Kin- Leider war die Teilnahme der Eltern an dem
Mobbingopfer eine unterschiedlich starke dern eine Definition sowie Merkmale von„Cy- an sie gerichteten Teil unseres Projektes so
Unterstützung z.B. bei diesen Schritten: bermobbing“ – auch in Abgrenzungen zum gering gewesen, dass wir diesen wichtigen
Ignorieren der digitalen Anfeindungen, Thema Streit. Das ist nötig, weil der Begriff Teil nach einiger Zeit einstellen mussten.
nicht darauf reagieren, Absender sperren Mobbing häufig auch für andere Situationen
manchmal sinnvoll oder sogar ver- angewandt wird. Dadurch werden jedoch Dass bereits Viertklässler so vielfältige Erfah-
pflichtend: Meldung der Vorfälle an die nicht nur wirkliche Fälle von Mobbing und rungen gemacht haben, hat uns zur Überle-
Betreibenden der genutzten Plattform Cybermobbing verharmlost, sondern zum gung geführt, vielleicht noch früher als in der
oder bei Straftatbeständen Anzeige bei Teil auch gar nicht erkannt. Die Kinder verste- vierten Klasse mit unserem Präventionsange-
der Polizei hen den oben beschriebenen Teufelskreis bot zum Thema Cybermobbing anzusetzen.
Führen eines Mobbingtagebuchs und die Dynamik des Cybermobbings mit al- Aber auch die höheren Klassen melden gro-
(erleichtert auch psychosoziale Hilfen so- len Auswirkungen gut. Empathisch können ßen Bedarf an derartigen Unterstützungsan-
wie ggf. das Einleiten rechtlicher Schritte) sie sich auch in die Gefühle der Opfer hinein- geboten bei uns an. Wie hoch die Nachfrage
versetzen. Auf dieser Basis sammeln wir dann ist, belegt zudem der steigende Beratungs-
Darüber hinaus ist es wichtig, dass das Opfer mögliche Schutz- und Hilfsmöglichkeiten für bedarf von Cybermobbing-Betroffenen in
den beschriebenen Teufelskreis der Mobbing- betroffene Kinder und Außenstehende. Da- unserer Beratungsstelle. Hier zeigen sich die
dynamik versteht. Gerade der intervenieren- bei bleibt als wichtigster erster Schritt, sich ei- Möglichkeiten und Grenzen der Unterstüt-
den und beraterisch-therapeutischen Beglei- nem Erwachsenen anzuvertrauen. zung vor allem am Maß der gelingenden Zu-
tung kommt hier eine wichtige Aufgabe zu. Nach unserer Erfahrung war es absolut rich- sammenarbeit vor allem mit der Institution
tig, das Thema Cybermobbing bereits in der Schule. Leider finden dort viele, dass das Pro-
Zum gesamten Geschehen gehören aber Grundschule zu etablieren. Auch das Bünd- blem nicht in ihren Zuständigkeitsbereich
auch diejenigen, die das Cybermobbing aus- nis gegen Cybermobbing hat in seiner Stu- fällt und sie daher keine Handlungsmöglich-
üben. Das ist zwar nicht Thema dieses Arti- die festgestellt: „Cybermobbing betrifft alle keiten sehen.
kels, soll aber doch erwähnt werden: Sofern Schulformen, mittlerweile auch Grundschu- Hier erhoffen wir uns in Zukunft mehr Zusam-
es sich um Minderjährige handelt, dürfen len.“ Das zeigt auch das große Interesse der menarbeit und ein systemisches Verständnis
auch sie nicht vergessen werden – und zwar Grundschulen und damit der Lehrerkräfte an der Dynamik von Cybermobbing. Erst wenn
nicht nur im Hinblick auf die Schuldfrage und unserem Projekt. Und ebenso unterstreichen die Idee der Verantwortungsgemeinschaft
die daraus resultierenden Sanktionen, son- unsere Erfahrungen in den Klassen den Be- zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
dern vor allem auch bezüglich des Hilfebe- fund. Unsere vielen Gespräche mit ihnen ha- über Systemgrenzen hinweg gelebt wird,
darfs dieser Kinder und Jugendlichen. Auch ben ergeben: Fast jedes Kind besitzt bereits in kann Betroffenen effizient geholfen und eine
das sehen wir als wesentliche Aufgabe der der vierten Klasse ein eigenes Smartphone andere Kultur des Miteinanders geschaffen
Schule und der Schulsozialarbeit an. und viele haben unbegrenzten Zugang zum werden, die Gewalt verhindert.
Internet. Nur etwa einem Drittel der Kinder Dr. Henriette Schildberg,
UNSER PROJEKT wird von den Eltern eine Grenze gesetzt, etwa Dipl. Pädagogin und Fachberaterin
GEGEN CYBERMOBBING durch zeitliche Vorgaben oder auch Verbote, Kinderschutz
Bevor wir mit unserem aktuellen Projekt zum bestimmte Angebote (Apps, Spiele) zu nut- Hannah Westermann,
Thema Cybermobbing in die Grundschulen zen. Zwei Drittel können sich im Internet je- Erziehungswissenschaftlerin BA
gegangen sind, haben wir in Kooperation mit doch ungehemmt bewegen. Bei diesen Aus- und Projektleiterin „Cybermobbing
der Polizei ein Projekt an weiterführenden sagen verwundert es nicht, dass nahezu je- an Grundschulen“, beide KV Unna
Schulen zum Thema Mobbing angeboten. des Kind schon einmal mit ungeeigneten In-
Ende 2014 wurde uns dann jedoch klar, dass halten oder Gefahren im Internet in Berüh- kinderschutzbund-kreisunna.de
wir sowohl die Zielgruppe als auch den Inhalt rung gekommen ist.
9
Kinder psychisch erkrankter Eltern
Erstaunlich kraftvoll
Wächst ein Kind bei psychisch erkrankten
Eltern auf, so erlebt es nicht selten eine Art
Dauerkrise im Familienalltag. Und steht damit
oft genug allein. Welche Hilfe ist möglich?
In Deutschland sind jedes Jahr knapp 30 Pro-
zent der Erwachsenen von einer psychischen
Erkrankung betroffen. Ob es tatsächlich im-
mer mehr werden oder nur mehr wahrge-
nommen werden, ist umstritten. Fest steht,
dass u.a. Angststörungen und Depressionen1
zu den häufigsten Erkrankungen gehören.
Treffen kann sie jeden Menschen. Zumindest
indirekt stets mitbetroffen sind Familienmit-
glieder, ggf. Kolleginnen bzw. Kollegen, der
Freundeskreis. Und eben auch das Kind, wenn
die eigene Mutter oder der eigene Vater er-
krankt ist. Im Durchschnitt wächst in Deutsch-
land jedes fünfte Kind mit einem zeitweise
psychisch erkrankten Elternteil auf.
Es gibt verschiedene Arten von psychischen
Erkrankungen, manche sind leicht zu erken-
nen, andere nicht. Einige haben einen chroni-
schen Verlauf mit wiederholten Aufenthalten
in einer psychiatrischen Klinik, andere zeigen
iStockphoto/pamspix
sich in nur einer Episode.
Alle Betroffenen teilen die Erfahrung, dass
sich ihre Stimmung und ihre Gedanken stark
verändern und ihren Alltag und die Teilnah-
me am sozialen Leben beeinflussen. Men-
schen, die den Erkrankten nahestehen, be-
kommen dies mit. Insbesondere die Kinder Besonders schwierig wird es für betroffene Wenn wie oben geschilderte Szenen zum Fa-
merken ganz genau, wenn etwas mit ihren El- Kinder, wenn niemand mit ihnen altersange- milienalltag gehören, beeinflussen sie die
tern nicht stimmt. Sie machen sich Sorgen, messen über die Erkrankung des Elternteils Entwicklung der Kinder nachhaltig. Das zei-
haben Angst um den erkrankten Elternteil, spricht. Wenn Papa nicht vom Sofa aufsteht, gen u.a. die Forschungen von Prof. Dr. Albert
und manchmal auch vor ihm. obwohl er es versprochen hat, ist es für die Lenz, u.a. Autor des Buches „Kinder psychisch
Jedes Kind reagiert in einer solchen Situation Kinder wichtig zu wissen, dass nicht sie daran kranker Eltern“: Die betroffenen Kinder ha-
anders. Einige ziehen sich zurück, passen sich schuld sind, sondern Antriebslosigkeit das ben ein zwei- bis fünffach erhöhtes Risiko für
an, übernehmen Aufgaben, die eigentlich El- Hauptzeichen seiner Depressionen ist. Wenn körperliche und seelische Misshandlungen.
tern obliegen, und tun alles, um Mutter/Vater Mama im plötzlichen Wutanfall die fehlerhaf- Und sie weisen auch ein deutlich erhöhtes Ri-
zu entlasten. Diese Kinder stellen ihre eige- ten Hausaufgaben des Kindes zerreißt, muss siko auf, im Laufe ihres Lebens selbst psy-
nen Bedürfnisse weit zurück und zeigen sich es doch erfahren, dass das nichts mit ihm zu chisch zu erkranken. Das belegen weitere
oft auffällig unauffällig. Andere Kinder ma- tun hat, sondern die erkrankte Mutter ihre Im- Studien.
chen wahrnehmbar darauf aufmerksam, dass pulse nicht kontrollieren kann. Wird das be- Um u.a. diesen Risiken entgegenzuwirken,
ihre Bedürfnisse zu kurz kommen und in ihrer troffenen Kindern nicht erklärt, beziehen sie bietet die Jugendhilfe Unterstützung an. Das
Familie etwas nicht stimmt: Sie drängen in die Symptome der Krankheit meist auf sich Kinderschutz-Zentrum des Kinderschutz-
den Mittelpunkt, im Zweifelsfall auch laut selbst und entwickeln Schuldfantasien, z.B.: bundes Osnabrück z.B. unterhält seit über
schreiend. Häufig werden diese Kinder dann „Papa beschäftigt sich nicht mit mir, weil ich zehn Jahren das Angebot „TROTZDEM. Trotz
als „verhaltensauffällig“ oder „aggressiv“ eti- nicht liebenswert bin.“ - „Mama ist wütend psychischer Erkrankung – Stark mit Kind“.
kettiert. Wenn ihr dahinter liegendes Leid und macht meine Sachen kaputt, weil ich es Neben Beratungsgesprächen für Familien,
nicht erkannt wird, fühlen sich Erziehende verdient habe.“ Eltern und Kinder bis 18 Jahren bieten wir bei
und Lehrkräfte von ihnen eher provoziert. 1 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie:
Basisdaten zu psychischen Erkrankungen, Oktober 2020
10 KSA 2.2021Eine psychische Erkrankung stellt immer eine
besondere Belastung für die gesamte Familie
dar. Damit wir gemeinsam mit ihr herausfin-
den können, welche Unterstützung passend
sein kann, ist es uns sehr wichtig, die jeweilige
Familie gut kennenzulernen. Leider gibt es je-
doch viele Betroffene, die Hilfsangebote ab-
lehnen oder ihnen mit Vorbehalten begeg-
nen. Dahinter steckt oft die Angst, wegen der
psychischen Erkrankung das Sorgerecht für
das eigene Kind zu verlieren. Nicht selten ha-
ben diese Eltern von negativen Erfahrungen
aus ihrem Umfeld gehört oder wurden selbst
mit abwertenden Vorurteilen konfrontiert.
iStockphoto/vm
Weil psychische Erkrankungen jedoch weit
verbreitet sind, setzen wir uns gezielt und
auch öffentlich für einen vorurteilsfreien Um-
gang damit ein und betonen dabei auch, dass
es stark und sehr verantwortungsvoll ist, Hilfe
TROTZDEM auch Kindergruppen an und ver- kann. Dann suchen wir gemeinsam danach, anzunehmen. Im Ergebnis freuen wir uns
mitteln ehrenamtliche Patenschaften. wie Entlastung für den erkrankten Elternteil dann über jede Familie, die den Weg zu uns
In unserer Arbeit beeindrucken uns immer sowie Unterstützung im Alltag für die gesam- findet und den Mut hat, mit uns offen über ih-
wieder die kraftvollen Fähigkeiten der betrof- te Familie geschaffen werden können. re psychischen Probleme zu sprechen.
fenen Kinder, ihre Energie und Willenskraft, Ob wir mit der ganzen Familie oder mit nur Maike Ruskowski,
ihr Humor und häufig ihre besondere Sensi- einem Familienmitglied zusammenarbeiten Sozialarbeiterin/-pädagogin B.A.,
bilität für Stimmungen. Die Kinder können – Psychoedukation (Wissen über das jeweili- Systemische Therapeutin und
die psychische Verfassung ihrer Eltern er- ge Krankheitsbild und seine Symptome) Familientherapeutin
staunlich fein wahrnehmen. Sie berichten, spielt immer eine große Rolle. Die alters- Stefanie Wolf, Dipl. Pädagogin
dass sie schon am Klang der Stimme oder und entwicklungsgerechte Aufklärung über Anell Havekost, Dipl. Psychologin,
auch an der Körperhaltung des erkrankten El- das Krankheitsbild ist erwiesenermaßen ein Leiterin Kinderschutz-Zentrum/
ternteils erkennen können, ob es ein guter wichtiger Schutzfaktor für die Kinder. Da- Beratungsstelle, OV Osnabrück
oder schlechter Tag wird. Verantwortungsbe- durch können die einzelnen Familienmit-
wusstsein, Selbstständigkeit, Empathie und
Reflexionsvermögen sind nur einige Charak-
tereigenschaften, die bei vielen betroffenen
glieder einordnen, was um sie herum ge-
schieht, und sie können Worte finden, um
über ihre Situation miteinander zu spre-
kinderschutzbund-osnabrueck.de
iStockphoto/pappamaart
Kindern besonders hervorstechen. Abhängig chen. Die Kinder können erkennen, dass es
von der Ausprägung und der jeweiligen Fa- nicht ihre Schuld ist, wenn es Mama oder Pa-
miliensituation können diese Eigenschaften pa schlecht geht oder ein Elternteil ein be-
positive wie negative Wirkungen für die Kin- stimmtes Verhalten zeigt. Und sie können
der haben. verstehen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, für
In wöchentlichen Beratungs- und Spieltermi- die Erwachsenen zu sorgen.
nen stehen die Kinder bei uns mit ihren indi-
viduellen Stärken und Bedürfnissen im Mit- Ein weiterer zentraler Schutzfaktor für die Kin-
telpunkt und genießen unsere ungeteilte Auf- der ist eine stabile erwachsene Bezugsperson
merksamkeit. Eine sehr kostbare Erfahrung in ihrem Umfeld. Gemeinsam mit den Famili-
für sie, denn sie sind daran gewöhnt, dass zu en überlegen wir daher, wer im Umfeld des
Hause die Krankheit an erster Stelle steht, auf Kindes diese wichtige Funktion übernehmen
die sie Rücksicht nehmen müssen. In unseren könnte. Vor diesem Hintergrund haben wir
Kindergruppen spüren die Mädchen und Jun- TROTZDEM im Jahr 2012 auch um die ehren-
gen oft auch zum allerersten Mal, dass sie mit amtlichen Patenschaften für Kinder psychisch
ihrer Situation, ihren Gefühlen und Gedanken kranker Eltern erweitert. Die darauf gut vorbe-
nicht allein sind. Ihr Erleben der Zusammen- reiteten Ehrenamtlichen verbringen selbst-
gehörigkeit und des Verstanden-Werdens verpflichtend für ein Jahr oder länger einen
entlastet sie enorm. Nachmittag in der Woche mit dem „Paten-
In der Beratung der betroffenen Eltern wie- kind“. So können langfristige, verlässliche Be-
derum klären wir die Mütter und Väter darü- ziehungen wachsen, auf die die Kinder sich
ber auf, wie sich die psychische Erkrankung „als Anker in unruhigen Zeiten“ verlassen
auf die Entwicklung ihrer Kinder auswirken können.
11iStockphoto/ManoAfrica
Trauernde Kinder und Jugendliche
Mal Weinen, förmlich vor heftigen Gefühlsausbrüchen. Für
Marie war das kaum auszuhalten. Sie trauerte
sehr um ihren geliebten großen Bruder, zu-
sätzlich machte ihr die ständig bedrückende
MAL LACHEN
Stimmung zu Hause sehr zu schaffen. Umso
mehr genoss Marie die ungeteilte Aufmerk-
samkeit unserer Trauerbegleiterin. Dies war
ihre Stunde, hier waren nur ihre eigenen Ge-
fühle von Bedeutung. Die einzelnen Treffen
fanden in unserem gemütlich eingerichteten
Immer wieder werden Kinder und Jugendliche mit dem Beratungsraum statt und gestalteten sich
absehbaren oder auch völlig unerwarteten Tod eines sehr unterschiedlich: Mal wurde nur erzählt,
nahestehenden Menschen konfrontiert. Aber wie kann mal waren wir kreativ und künstlerisch, dann
wieder brachte Marie Erinnerungsstücke oder
ein Kind den frühen Tod der Mutter oder des Vaters ver- Fotos von Ben mit.
kraften? Welche Reaktionen sind „normal“ und welche Während anfangs die Trauer um Ben und die
Ängste können entstehen? Was passiert mit dem Familien- angespannte Situation zuhause dominierte,
traten nach und nach auch wieder Themen
system, wenn ein Bruder oder eine Schwester stirbt? zutage, die Marie Freude bereiteten.
Und was kann dem trauernden Kind helfen?
Ein dreiviertel Jahr später erlitt die Neunjähri-
Seit 20 Jahren gilt das Augenmerk des Kinder- ßerdem gab es vier Schwerverletzte. Bens Fa- ge dann den nächsten Verlust: Ihre Eltern
schutzbundes in Hilden trauernden Kindern milie war geschockt und völlig fassungslos. trennten sich. Nun kam auch noch diese Be-
und Jugendlichen. Damit hat sich das Ange- Sie hatten Schuldgefühle wegen des Streits lastung dazu. Marie vermisste ihren Vater und
bot der Trauerbegleitung dort zum Schwer- und waren wütend auf den Fahrer, der vorher hatte auch Angst, dass die Mutter es finanziell
punkt der Beratungsarbeit entwickelt. Alkohol getrunken hatte. Die Eltern hatten allein nicht schaffen würde. Und dass sie viel-
einfach keine Kraft mehr, sich um Maries See- leicht umziehen müssten in einen günstige-
MARIE lenleben zu kümmern. ren Stadtteil, dass sie dann die Schule wech-
Im Herbst 2018 haben sich Marie (9) und ihre Marie kam wöchentlich zur Trauerbegleitung. seln müsste, ihren Freundeskreis verlieren
Eltern von uns in ihrer Trauer begleiten lassen. Auch ihre Eltern kamen anfangs zu Einzelge- würde usw. usw.
Maries 18-jähriger Bruder Ben hatte nach ei- sprächen. Dabei gingen die Mutter und der Wir haben Marie mit sehr viel Aufmerksam-
nem Streit wütend die Wohnung verlassen – Vater sehr unterschiedlich mit ihrer Trauer keit 21 Monate lang begleitet. Heute lebt sie
wenig später wurden er und sein Freund bei um. Während der Vater eher passiv und in sich mit ihrer Mutter allein, zum Vater besteht kein
einem schweren Verkehrsunfall getötet. Au- zurückgezogen war, explodierte die Mutter Kontakt mehr.
12 KSA 2.2021iStockphoto/FrankyDeMeyer
WARUM IST DIE BEGLEITUNG Kinder und Jugendliche sollten gut aufgefan-
SO WICHTIG? gen werden in ihrer Trauer. Manche verfügen
Für ein Kind bzw. eine Jugendliche/einen Ju- über ein sehr gutes soziales Netzwerk, das ih-
gendlichen sind Tod, Verlust und Trauer fast nen reicht, um den Verlust zu verkraften. An-
immer eine ganz persönliche und schwere dere wiederum brauchen den geschützten
Krise, die kaum alleine zu bewältigen ist. Raum einer Trauerbegleitung, in dem sie sich
öffnen können, aufgehoben und verstanden
Kinder trauern intensiv und tief – wenn auch fühlen. Einige sind auch so aus der Bahn ge-
ganz anders als Jugendliche und Erwachse- worfen, dass sie psychotherapeutische Hilfe
ne. Sie weinen z.B. nicht unbedingt dann, benötigen.
wenn man es erwarten würde. Sie können in Aber auch wenn alle Hilfen da sind: Der ver-
einem Moment furchtbar traurig sein und im storbene Mensch fehlt! Dieser schwere Ver-
nächsten wieder ganz fröhlich, so als hätte lust gehört für immer zur Biografie des be-
man einen Schalter betätigt. Und das immer troffenen Kindes oder Jugendlichen. Das
wieder. prägt dauerhaft.
Kinder trauern spontan. Sie tun in ihrer Trauer
manchmal sonderbare Dinge, die wir Erwach- UNSERE ERFAHRUNGEN
senen nicht immer verstehen können. Aber In einer Trauerbegleitung ist aber nicht nur
wir müssen sie in solch einer Lebenslage un- der Tod des nahen Menschen zu betrachten,
terstützen! Da sein, wenn das Kind Zuspruch sondern auch die Zeit„davor“. Gab es eine lan-
braucht, ihm zuhören, auch wenn man ei- ge Erkrankungszeit? Wie oft war der junge takt zur Familie, wenn der/die Erkrankte noch
gentlich gerade keine Zeit dafür hat. Fragen Mensch schon vor dem Tod des Betroffenen lebt, die Situation zuhause aber schon im
beantworten, aber dabei unbedingt authen- auf sich alleine gestellt, weil dieser im Kran- Ausnahmezustand ist.
tisch bleiben. Und wenn möglich das Kind in kenhaus lag? Wieviel Schmerz und Leid hat Je nachdem, wer verstorben ist, reißt diese
das Geschehen mit einbeziehen und es darü- das Kind schon miterleben müssen, wieviel Person unterschiedliche Lücken in das Leben
ber aufklären, was nun passiert. Veränderungen im Wesen des Erkrankten des Kindes bzw. von betroffenen Jugendli-
(z.B. bei einem Hirntumor) oder im Äußerli- chen. Der Verlust eines Elternteils bedeutet
Trauernde Jugendliche dagegen bauen oft ei- chen? Wieviel Verantwortung wurde dem immer große Trauer, Angst vor der Zukunft,
ne Scheinwelt um sich herum auf, zeigen sich Kind in dieser Zeit übertragen? vor finanziellen Engpässen. Ein ganz wichti-
nach außen cool und „gut drauf“. Viele möch- Kinder und Jugendliche, die eine solche Zeit ger Mensch fehlt, der gesamte Ablauf inner-
ten nicht, dass jemand bemerkt, wie intensiv miterlebt haben, sind im Vergleich zu Gleich- halb der Familie ist verändert. Und doch schaf-
sie sich mit dem erlebten Verlust auseinander- altrigen zahlreichen zusätzlichen Belastun- fen es viele Familien nach einer emotional
setzen. Der Tod eines nahen Angehörigen gen praktischer, emotionaler und kognitiver sehr anstrengenden Zeit und mit oft gravie-
oder eines Freundes/einer Freundin kann Ju- Art ausgesetzt. Zwangsläufig sind sie bereits renden Veränderungen trotzdem, wieder in
gendliche aber völlig aus der Bahn werfen. sehr früh verantwortungsbewusster und rei- einen normalen Alltag zu finden.
Nicht selten entstehen ein inneres Chaos der fer als ihre Altersgenossen, oft meistern sie ih- Stirbt aber ein Geschwisterkind in der Familie,
Gefühle und eine Instabilität des eigenen re Alltagssituation autodidaktisch. ist die Situation um einiges schwieriger. Für
Ichs. Jugendliche mögen oft nicht mit ihren Eltern gibt es wohl kaum einen schlimmeren
engsten Verwandten über ihre Gefühle spre- Wenn möglich, beginnt unsere Trauerbeglei- Verlust als den eines Kindes. Sie sind in tiefster
chen, sondern suchen sich innerhalb ihrer tung schon in der palliativen Phase. Das be- Trauer und das für eine sehr lange Zeit. Die El-
Peergroup Halt und Verständnis. deutet: Die Trauerbegleiterin hat bereits Kon- tern kämpfen um ihr eigenes emotionales
Überleben. Das bedeutet für das Geschwis-
terkind: Es hat nicht nur den Verlust des Bru-
iStockphoto/Srdjanns74
ders oder der Schwester zu verkraften, son-
dern auch den Verlust der Eltern, so wie sie
einmal waren. Daher ist die Begleitung eines
trauernden Geschwisterkindes stets eine sehr
besondere Aufgabe. Sie zu beschreiben wäre
einen gesonderten Artikel wert.
Gleiches gilt für die besondere Begleitung
nach dem Suizid eines nahestehenden Men-
schen – diese Fälle nehmen 20 Prozent unse-
rer Trauerbegleitungen ein! Der plötzliche
Tod macht zunächst sprachlos und stellt ei-
nen unfassbaren und tragischen Einbruch im
Leben eines Kindes bzw. Jugendlichen dar.
Ein Suizid ruft bei den Betroffenen besondere
Gefühle hervor. Wut, Scham und Schande, W W
13gehemmtes Schweigen, Schuldgefühle und
Schuldzuweisungen begegnen uns in diesen
Situationen oft.
iStockphoto/kupicoo
SO BEGLEITEN WIR
Unser Angebot der professionellen Trauerbe-
gleitungen ist sehr vielfältig:
Einzelbegleitung: Sie wird am häufigsten in
Anspruch genommen. Während der Sitzun-
gen ist die Trauerbegleiterin nur für dieses
Kind, diese Jugendliche bzw. diesen Jugend-
lichen da. In Akutsituationen finden die Tref-
fen wöchentlich, sonst 14-tägig statt. Das Ver-
trauen der Betroffenen kann die Trauerbe-
gleiterin manchmal nur sehr mühsam und in
vielen kleinen Schritten gewinnen, und sie
muss es immer wieder verstärken. Diese Ar-
beit erfordert viel Einfühlungsvermögen, Ge-
duld und Verständnis.
Familienhilfe: In manchen Situationen reicht
eine Trauerbegleitung allein für das Kind
nicht aus. Dann stehen wir z.B. Eltern zur Sei-
te, wenn der Partner bzw. die Partnerin un-
heilbar erkrankt ist (palliative Begleitung).
Was kann man dem Kind bereits sagen, was Kinder im Krankenhaus
ist noch zu früh? Wer kann außerdem hel-
fen? Wir unterstützen die Familien beim Auf-
bau eines sozialen Netzwerkes, begleiten in
schwierigen Fällen auch zu Ämtern oder Be-
statter. Wir ermutigen die Betroffenen, sich
zur gegebenen Zeit mit Abschiednehmen BESUCH
von Daniela
und Trauerritualen auseinanderzusetzen. Für
Kinder und Jugendliche ist es zur eigenen
Trauerbewältigung sehr hilfreich, wenn sie
behutsam in das gesamte Geschehen mit
eingebunden werden.
Beratung: Auch Angehörige, Lehrkräfte und Manchmal ist eine Erkrankung so ernst, dass ein
Erzieher*innen können sich in einem persön-
lichen Gespräch bei uns über einen angemes-
stationärer Aufenthalt im Krankenhaus unumgänglich ist.
senen Umgang mit trauernden Kindern/Ju- Selbst wir Erwachsenen haben dann meist gemischte
gendlichen informieren. Gefühle zwischen Unsicherheit, Hoffen und Bangen.
Unterstützung von Schulklassen: Ist eine
Schulklasse vom Tod einer Mitschülerin bzw.
Wieviel mehr Angst und Gefühlschaos brechen da erst
eines Mitschülers, einer Lehrkraft oder eines auf Kinder und Jugendliche herein, wenn sie selbst
Elternteils betroffen, besuchen wir die Klasse ins Krankenhaus müssen?!
auf Wunsch. In einer Doppelstunde sprechen
wir dann meist über die Ängste der Kinder Plötzlich finden sie sich in einer vollkommen Zeit nicht da, um sie zu trösten und in den
und über den Umgang mit dem unmittelbar fremden Situation wieder: allein in der Klink, Arm zu nehmen. Manchmal können Eltern
betroffenen Kind. Dabei bereiten wir die Kin- umgeben von unbekanntem medizinischen ihr Kind auch gar nicht besuchen. Den Kin-
der ggf. auch auf eine Teilnahme an der Beer- Personal, zusammen mit fremden kranken dern und Jugendlichen fehlt im Krankenhaus
digung vor. Kindern in einem Zimmer. Der junge Mensch aber auch der persönliche Kontakt mit ihrem
wird möglicherweise mit Apparaten unter- Freundeskreis. Chatten und Telefonate sind
Alle Angebote der Trauerarbeit im OV Hilden sucht, die er zuvor noch nie gesehen hat. Er dafür ein kein vollwertiger Ersatz.
werden durch Spenden finanziert. sorgt sich, ob er wieder ganz gesund wird, hat
Christa Cholewinski, vielleicht Angst vor einer Operation oder den Neben körperlichen Schmerzen plagen Teen-
langjährige Trauerbegleiterin und Schmerzen danach. Und nicht mal das Essen ager zusätzlich oft Zukunftsängste. Sie fragen
Geschäftsführerin des OV Hilden schmeckt. sich z.B., ob sie beim Sport und in der Schule
Kinder oder Jugendliche im Krankenhaus noch mithalten können, ob die nötigen Medi-
kinderschutzbund-hilden.de müssen einen völlig ungewohnten Alltag be- kamente Folgewirkungen haben. Viele Mäd-
wältigen. Mama und Papa sind die meiste chen möchten sich auch ihre Haare stylen,
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