Handicapforum - Behindertenforum

Die Seite wird erstellt Stefan-Nikolas Kirsch
 
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2018
                                                                                                               1
handicapforum

   Unsichtbar
   Big Brother
   Frau und Gesundheit

                    Mitgliedorganisationen :: Schweizerische Vereinigung der Gelähmten ASPr-SVG – Orts-
                    gruppe beider Basel :: Band-Werkstätten Basel :: Fragile Suisse – Basler Vereinigung für
                    hirnverletzte Menschen :: Gehörlosen-Fürsorgeverein der Region Basel :: insieme Basel –
für Menschen mit einer geistigen Behinderung :: insieme Baselland – für Menschen mit einer geistigen Behin-
derung :: IVB – Behindertenselbsthilfe :: Behinderten-Sport Basel :: Procap Nordwestschweiz – für Menschen
mit Handicap :: Schweizerischer Blindenbund – Regionalgruppe Nordwestschweiz :: Schweizerischer Blinden-
und Sehbehindertenverband – Sektion Nordwestschweiz :: Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft
SMSG – Regionalgruppe beider Basel :: SGB-FSS Schweizerischer Gehörlosenbund :: Schwerhörigen-Verein
Nordwestschweiz :: Stiftung Rheinleben :: Vereinigung Cerebral Basel :: Zentrum Selbsthilfe :: Asperger-
Hilfe Nordwestschweiz :: Blind-Jogging
BO_Inserat_HF_sw_10:Inserat BBS.qxp 10.02.10 17:02 Seite 1

    Basler Orthopädie
               w w w. re n e - r u e p p . c h
                                                                           Hörprobleme?

                                  Basler Orthopädie
                                       René Ruepp AG
                     A u s t r a s s e 1 0 9 , 4 0 51 B a s e l
                          Te l e f o n 0 6 1 2 0 5 7 7 7 7
                                   Fax 061 205 77 78
                               info@rene-ruepp.ch

                                                                            Mit Verständigungstrainings
                                                                            verbessern Sie Ihre Hörfähigkeit
                                                                            und halten Ihr Gedächtnis fit.

                                                                            Falknerstrasse 33 | 4001 Basel
                                                                            Tel. 061 261 22 24 | Fax 061 262 13 90
                                                                            info@svnws.ch | www.svnws.ch

                                                                      Perspektiven schaffen
                                                                      Wohn- und Arbeitsplätze im WBZ

                                                                      Haben Sie eine körperliche
                                                                      Behinderung und lassen sich
                                                                      nicht gerne hindern? Suchen
                                                                      Sie nach neuen Möglichkeiten,
                                                                      Ihr Leben zu gestalten? Brauchen
                                                                      Sie Unterstützung, schätzen aber
                                                                      trotzdem das selbstbestimmte
                                                                      Sein? Dann sind Sie bei uns richtig.

                                                                      Wir bieten Wohn- und Arbeitsplätze
                                                                      – interne und externe Wohnpflege mit Betreuung
                                                                      – Arbeits- und Beschäftigungsplätze
                                                                      – Wohntraining

                                                                      Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann
                                                                      kontaktieren Sie uns. Wir freuen uns auf Sie.

                                                                      Cornelia Truffer                  WOHN- UND BÜROZENTRUM
                                                                      Bereichsleiterin Services         FÜR KÖRPERBEHINDERTE

                                                                  Gigercornelia.truffer@wbz.ch   Aumattstrasse 70–72, Postfach,
                                                                        & Partner • Allschwil/Basel • 061 333 20 85 • info@gigerpart.ch •
                                                                                                 CH-4153 Reinach 1
                                                                      t +41 61 755 71 07                t +41 61 755 77 77
                                                                                                        www.wbz.ch

                                                                                                         DIE FÄHIGKEIT ZÄHLT, NICHT DIE BEHINDERUNG

                                                                                                  DIE FÄHIGKEIT   ZÄHLT,
                                                                                                         DIE FÄHIGKEIT   NICHT
                                                                                                                       ZÄHLT,     DIE
                                                                                                                              NICHT DIEBEHINDERUNG
                                                                                                                                        BEHINDERUNG

2        handicapforum Nr. 1 | 2018
Inha ltsver zeich n is                                             Edito rial

                            THEMA

@unsichtbar –
die schwarzen Schatten lüften ihr Geheimnis                   4
Lieblingssport: Spazierenliegen                               5
Ich schiebe nichts auf                                   6–7
«Nobelpreis» für eine aussergewöhnlich Frau              8–9
          Glosse                                             10

                           AKTUELL                                 Liebe Leserin, Lieber Leser

                                                                   Viele Behinderungen sind unsichtbar. Das kann für
Kundgebung «Gleichstellung für Menschen
mit Behinderung: JETZT!»11                                        die Betroffenen von Vorteil sein, aber auch Schwie­
                                                                   rigkeiten mit sich bringen. «Wann sage ich wem
                  BEITRÄGE/HINWEISE                                was und wie – und meint das Gegenüber wo­
                                                                   möglich, ich würde simulieren?» Eine Hirnverlet­
Nicht laufen können,                                               zung oder CF, wie im vorliegenden Heft beschrie­
macht nicht automatisch unglücklich                     12–13     ben, sieht man den Betroffenen nicht an – jeden­
Big Brother                                             14–15     falls nicht auf den ersten Blick. Es braucht gewisse
Neue Rechtsprechung bei                                            Informationen, damit ihre speziellen Bedürfnisse
psychischen Erkrankungen                                     16
                                                                   berücksichtigt werden können. Erstaunlicherweise
Frau und Gesundheit                                     16–17
                                                                   sind aber auch Menschen mit augenfälligen Behin­
JuGru – wo sich junge Menschen treffen,
                                                                   derungen meist unsichtbar. Jedenfalls für Stadt-
die ein wenig anders sind                                    18
                                                                   und Bauplaner, Arbeitgeber und Politiker, für die
40 Jahre Freizeitzentrum insieme Basel                       19
                                                                   Bildungs- und Kulturverantwortlichen oder die Ex­
Ferien und Bildung                                           20
MUBA 20.-29. April 2018                                      20   perten des Gesundheitswesens – eigentlich für die
                                                                   meisten Entscheidungsträger in allen gesellschaft­
            M I T G L I E D O R G A N I S AT I O N E N             lichen Bereichen. Nicht dass wir mehr Aufmerksam­
                                                                   keit fordern für Menschen mit sichtbaren als für
Procap: Rückblick Jubiläum / Rechtsecke                      22   solche mit unsichtbaren Behinderungen, wir möch­
Procap: Anlässe / Veranstaltungen                            23   ten schlicht und einfach, dass alle wahrgenommen
IVB: Lotto im Sääli                                          24   werden. Dass keiner so tut, als würde Behinderung
Frohes und farbiges Schaffen                                 25   nicht zum Leben gehören, als könnte es nicht je­
                                                                   derzeit jeden und jede betreffen. Wir möchten,
               A D R E S S E N U N D K O N TA K T E                dass dieses «Übersehen» und damit das Ausgren­
                                                                   zen aufhört. Eine gute Gelegenheit sich unüber­
Wichtige Adressen ( BTD, Beratungsstellen etc. ) 26–27            sehbar zu machen bietet die Kundgebung vom
                                                                   17. März auf dem Bundesplatz (siehe Seite 4).
                                                                   Bitte teilnehmen – bitte weitersagen!
                              Irritationen in schwarz…
                              eine geheimnisvolle Figur der
                                                                   Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
                              Kampagne «unsichtbar» auf
                              dem Theaterplatz Basel
                                                                   Barbara Imobersteg

                              Bild: Pascal Feig

                                                                                        handicapforum Nr. 1 | 2018     3
T h em a

@unsichtbar –
die schwarzen Schatten lüften ihr Geheimnis

Wie Schattenrisse standen sie auf dem Theaterplatz. Schwarze Figuren zum Internationalen Tag der Men-
schen mit Behinderungen. Wer sich näher wagte, fand einen Code, der die Figuren aus ihrem Schatten­
dasein hervortreten liess.

bim. Menschen mit Behinderungen sind unsichtbar.               Die schwarzen Schatten gehen auf Reisen
Selbst wenn sie auffällig anders aussehen als erwartet,       Am 3. Dezember 2017 zum Internationalen Tag der
werden sie als gesellschaftliche Gruppe kaum wahrge-          Menschen mit Behinderung ist in Basel die Kampa-
nommen. Dabei lebt jede fünfte Person in der Schweiz          gne «unsichtbar» gestartet worden. Elf schwarze,
mit einer Behinderung. Nach der allgemein defizit­            ­lebengrosse Silhouetten aus Metall standen plötzlich
orientierten Sichtweise wird Behinderung negativ be-          vor dem Stadttheater und irritierten in ihrer stummen
wertet – die Betroffenen versuchen daher verständ­            Anwesenheit. Wer sich näher wagte, fand auf jeder
licherweise nicht aufzufallen und – wenn möglich -            Figur einen QR-Code, der das Geheimnis zu lüften ver-
ihre Behinderung nicht zu zeigen. Unsichtbar bleiben.         mochte. Die Codes führten zur Website «unsichtbar»
Ist eine Behinderung nicht offensichtlich, lässt man sie      und zu den Menschen, die ihre Geschichte und Umrisse
im Verborgenen, denn sobald sie wahrgenommen wird,            für die Aktion zur Verfügung gestellt hatten. Elf Persön-
kommen die Vorurteile. Ein vielseitiger Mensch mit vie-       lichkeiten mit einer Behinderung kann man auf diese
len Fähigkeiten wird sogleich auf seine Behinderung            Weise kennenlernen. Sie stellen sich vor und erzählen,
reduziert. Oder würden Sie Ihre unsichtbare Behinde-           wie sie ihr Leben mit den verschiedenen Herausforde-
rung bei einem Bewerbungsgespräch nennen? Würde               rungen gestalten. Sie möchten Fragen aufwerfen und
sich Offenheit und Ehrlichkeit auszahlen? Die meisten         zum Nachdenken anregen. Sie möchten auch nicht
Behinderungen sind tatsächlich unsichtbar, es wird mit        einfach wieder verschwinden. Menschen mit Behin-
über neunzig Prozent gerechnet. Gehörlosigkeit, psy-          derungen sind ja eigentlich nicht nur am 3. Dezember
chische Erkrankungen, Hirnverletzungen, chronische            auf der Welt… Die elf Figuren werden auf Reisen gehen
Erkrankungen… Alle kennen Beispiele und doch will             und sich in mehreren Schweizer Städten auf öffentliche
man sie nicht wirklich sehen.                                 Plätze stellen und hoffentlich viele Bekanntschaften
                                                               schliessen. Die Kampagne ist vom Verein «Impulse»
                                                              ins Leben gerufen worden, weitere Informationen sind
                                                              auch unter info@impulse.swiss erhältlich. Hier können
                                                              die Figuren auch ausgeliehen werden.

                                                                   www.unsichtbar-schweiz.ch
                                                                   www.impulse.swiss

Die meisten Behinderungen sind auf den ersten Blick unsichtbar…                                              Bild: zVg

4          handicapforum Nr. 1 | 2018
Them a

Lieblingssport: Spazierenliegen
Unsichtbar, aber einschneidend: Hirnverletzungen verändern das Leben grundlegend, auch wenn man von
aussen nichts sieht. Die Folgen einer Hirnverletzung sind für die Betroffenen sehr unterschiedlich. Traude
musste beispielsweise lernen, sich diszipliniert auszuruhen.

Mein Vorschlag für eine neue olympische Disziplin wäre:    mit wenig Anstrengung verbunden sein kann. Logi-
«spazieren liegen». Das ist mein Lieblingssport. Ich       sches Denken als Hirnverletzte, ist das möglich? Ich
nehme eine Decke mit, laufe zehn Minuten zu einem          weiss für mich: Wenn man diese Spielchen ein paar
schönen Platz, lege mich hin und schlafe eine Stunde.      Jahre macht, werden sie banal. Sie helfen mir auch
Hinlegen und Ausruhen sind zu wichtigen Begleitern         bei einer weiteren Herausforderung: Erschöpfung und
in meinem Leben geworden. Bevor alles anders wurde,        Müdigkeit führen dazu, dass ich mich immer wieder
stand ich voll im Leben. Voll im Berufsleben mit einem     hinlege(n muss). Aber ich kann doch nicht immer nur
100%-Pensum trifft es wohl besser.                         liegen! Und nicht immer nur nichts tun! Mit den Spiel-
                                                           chen komme ich seltener ins Grübeln und bin weniger
                                                           oft verzweifelt darüber, dass ich so unglaublich viel
Das gehört da nicht hin.                                   Lebenszeit mit Hinlegen und Ausruhen verbringe.
Als ich eines Tages beim Arzt auf dem MRI-Bild den
Tumor erkannte und realisierte, dass der Kopf auf dem
Bild mit diesem Tumor zu mir gehört, da wurde mir klar,      Gelassenheit und Annehmen
dass sich nun vieles ändern würde – für mich und für         sind für mich spannende Themen.
mein Umfeld. Wird das Gehirn durch Krankheit oder            Von all den vielen Reizen und der Erschöpfung bin ich
Unfall geschädigt, spricht man von Hirnverletzung. In        selbst oft gereizt. Ich rege mich unglaublich schnell
meinem Fall ist der Auslöser ein Hirntumor. Nach einem     auf über - eigentlich alles. Mir fehlt die Geschmeidig-
operativen Eingriff und vielen Wochen und Monaten           keit und Kreativität, um auf Konflikte angemessen zu
des Sich-Hinlegens und Ausruhens, der Rehabilitation        reagieren. Dann laufe ich in so mancher Situation ins
und Genesung kehrte ich irgendwann mit einem sehr            offene Messer. Ich fände es spannend, für einen Tag
viel kleineren Pensum in die Arbeitswelt zurück. Vielen      der Dalai Lama zu sein. Wie fühlt es sich wohl an, wenn
fällt es bis heute schwer zu verstehen, was ich eigent-     man das andauernde Infragestellen der eigenen Person
lich habe. Vor allem die unsichtbaren Einschränkun-          und die hohen Leistungsansprüche nicht zur Religion
gen behindern mich. Ich bin auf eine ganz andere Art         erhoben hat – so wie auch ich es von früher kenne?
leistungsfähig als früher, oft gereizt und quasi immer       Wie lebt es sich, wenn Gelassenheit und ­Annehmen
erschöpft und müde. Bei jeder und jedem Hirnverletz-        ­religiöse Wegweiser durchs Leben sind? Das Atmen
ten sind die Folgen anders.                                ­allein schon Leben bedeutet?

                                                           Ich wünsche mir, dass das gängige Modell verabschie-
Ich kann doch nicht immer nur liegen!                      det wird, bei dem der erwachsene Mensch Vollzeit ar-
Einfache Computerspielchen auf dem Handy haben             beitet und ansonsten so gut wie nichts anderes tut, bei
wenig Reize, in Schwarz und Weiss, keine Musik, kein       dem es auf dem Lebens- und Berufsweg weder Ein-
Gespräch – das sind die reizreduzierten Augenblicke,       brüche noch Störungen gibt. Der Blick sollte sich dafür
die mich kurz erholen lassen von der reizüberfluteten      öffnen, dass Krisen und Entwicklungsschritte im Leben
Welt. Reizüberflutung ist eine meiner grössten Her-        dazu gehören, genauso wie Familien- und Pflegearbeit.
ausforderungen. Überall gibt es Geräusche und Lärm,        Wie schön wäre es, wenn wir einander nicht nur fragen
Gerüche und Gestank, Farben und grelles Licht, Hitze       würden: Was machst Du? Sondern auch: Wie hast Du
und Kälte, Geschwindigkeit und viele, viele Menschen       diese Krise gemeistert?
mit tausend verschiedenen Emotionen. Für mich ist es
aber ganz wichtig, nicht zu vielen Reizen ausgesetzt       Im Leben geht es auf und ab. Das sind nicht alles Ein-
zu sein, damit die Reizverarbeitung überhaupt nach-        schränkungen – das ist doch Realität.
kommen kann. Mir helfen einfache Computer- oder
Handyspielchen. Ich nenne das für mich «diszipliniert      @unsichtbar: Traude, 53 Jahre
ausruhen». Für viele Menschen sind Sudoku und No-
nogramme anspruchsvoller Denksport und sie können            www.denkwerk-hirnverletzung.ch
es sich nicht vorstellen, dass das Spielen dieser Spiele

                                                                                 handicapforum Nr. 1 | 2018      5
T h em a

Ich schiebe nichts auf
Ines Hüppi hat Cystische Fibrose. Die Krankheit sieht man ihr nicht an, jedenfalls nicht auf den ersten Blick.
Sie prägt jedoch ihr Leben und ist von Geburt an ihre ständige Begleiterin - aber kein Grund, das Leben
nicht zu geniessen.

Ich habe es geschafft! Ich war sechs Wochen in Aust-      aufenthalte – kurz: ein gesundheitliches Auf und Ab
ralien und es war wunderbar. Eine solche Reise ist für    mit vielen Schmerzen und zu wenig Sauerstoff in der
mich alles andere als selbstverständlich. Viele junge     Lunge. Aber deswegen deprimiert zu Hause sitzen ist
Menschen fahren um die halbe Welt und denken sich         nicht mein Ding. Das bringt mich ja auch nicht wei-
vielleicht nicht viel dabei – mal da hin mal dorthin…     ter, im Gegenteil, da geht es einem nur schlechter. Ich
Für mich ist das etwas ganz Besonderes. Ich habe CF,      bin eigentlich sehr aktiv, ich bin gern unterwegs und
Cystische Fibrose. Ich habe lange gewartet, bis ich mir   unter Leuten – so gut es halt geht mit meiner Krank-
diesen Wunsch erfüllen konnte. Wie sehr man sich          heit. Manchmal muss ich das eine oder andere Treffen
dann freuen kann, wenn ein solcher Wunsch Wirk-           kurzfristig absagen, weil es mir nicht gut geht und es
lichkeit wird, dass können sich wohl nur Menschen         gibt natürlich auch Leute, die dafür kein Verständnis
vorstellen, die eine solche Krankheit haben – oder        haben. Aber ich habe ja keine Alternative. Wenn ich
etwas Ähnliches. Ich selber kenne ja nichts anderes,      einen schlechten Tag habe, dann geht es mir wirk-
als das Leben mit dieser Krankheit. CF ist ein Gende-     lich schlecht und ich bin gezwungen, meine Pläne zu
fekt. Ich kenne also nichts anderes als immer Medi-       ändern. Ich kann solche Situationen akzeptieren, ich
kamente einnehmen, täglich inhalieren, regelmässig        habe gelernt, immer das Beste daraus zu machen. Das
zur Therapie gehen, ständig Arzttermine, Krankenhaus-     ist sozusagen meine Überlebensstrategie. Ich mache

Wenn es gut geht, dann geniessen – aber richtig!                                                        Bild: zVg

6          handicapforum Nr. 1 | 2018
Them a

es mir dann möglichst gemütlich, ich verwöhne mich         Jeden Glücksmoment bewusst geniessen…
so gut es geht, ich gönne mir etwas Besonderes, ich        Was mich aber auch sehr beschäftigt hat in meiner
konzentriere mich auf jede Kleinigkeit, die mir gut tut.   Pubertät: dass Freundinnen, die wenig älter waren als
                                                           ich, gestorben sind. Ich habe immer Kontakt gepflegt
                                                           mit anderen Kindern und Jugendlichen mit CF. In den
Ich bin zum Glück eine Kämpferin                           CF-Lagern, die von der Gesellschaft für Cystische Fibrose
Am schlimmsten sind die Nierensteine. Bei meiner           angeboten werden, habe ich viel gelernt im Austausch
Mutation, respektive Ausprägung der Krankheit, bilden      mit den andern Betroffenen. Wir CFler hatten dadurch
sich häufig Nierensteine. Sie haben mir – im wahr­         auch eine spezielle Verbindung. Als ich sechzehn Jahre
sten Sinne des Wortes – schon manchen Stein in den         alt war, habe ich es dann zum ersten mal erlebt, dass
Weg gelegt. Besonders meine Berufsausbildung war           eine CF-Freundin gestorben ist. Das hat mich damals
schwierig unter diesen Voraussetzungen. Die Möglich-       sehr aufgewühlt: Muss ich nun auch schon mit 22
keiten einer Anpassung an die krankheitsbedingten          Jahren sterben? Inzwischen bin ich 26 und ich habe
Einschränkungen oder entsprechende Nachteilsaus-           keine Angst mehr vor dem Sterben. Die Anzahl Jahre,
gleiche, sind bei den Lehrbetrieben leider nicht so        die jemand zu leben hat, sagen ja nichts aus über die
vorhanden. Ich musste zweimal eine Lehre abbrechen.        Lebensqualität und darüber, ob man sein Leben aus-
Aber beim dritten Anlauf ist es mir gelungen und ich       gelebt hat. Menschen, die – wie ich – wissen, dass sie
bin stolz, meine KV-Lehre im Rang abgeschlossen zu         vielleicht nicht alt werden, leben einfach bewusster.
haben. Es ist wirklich schade, wenn Menschen wie ich,      Sie geniessen das Leben und jeden Glücksmoment sehr
mit guten intellektuellen Fähigkeiten, krankheits­halber   bewusst – so lebensfroh wie sie eben sind. Ich genie-
in einer geschützten Werkstätte landen, wo sie völlig      sse es sehr. Und es braucht nicht so viel dazu. Ein guter
unterfordert sind. Es sollte doch möglich sein, Lehr-      Tag und ich bin schon sehr zufrieden, denn ich weiss,
und Arbeitsstellen anzupassen. Ich bin zum Glück eine      das ist nicht selbstverständlich, dass ich am Morgen
Kämpferin, ich habe einfach nicht aufgegeben. Das ist      aufstehe und fit bin. Damit kann ich nun mal nicht
auch eines meiner Mottos: «nicht aufgeben!»                rechnen. Kommt ein guter Tag: dann mache ich, was
                                                           ich mir vorgenommen habe. Ich schiebe nichts auf. Das
                                                           ist wohl ein grosser Unterschied: Gesunde Menschen
Ein bisschen schwarzer Humor tut einfach gut               sagen, wenn ich dann Zeit habe oder wenn ich dann
Es gab auch andere Zeiten. Ich war nicht ununterbro-       pensioniert bin, dann mache ich dies und das. Wir
chen mein ganzes Leben lang tapfer und zuversichtlich.     sagen: wenn es uns gut geht, dann machen wir... und
Vor allem in der Pubertät hatte ich meine Krisen. Das      sobald es so ist, setzen wir unsere Vorhaben auch um.
ist natürlich ohnehin eine schwierige Zeit, ein grosser    Zum Beispiel eine Reise nach Australien. Auch wenn die
Veränderungsprozess. Auch bei mir gab es emotiona-         Vorbereitungen aufwändig waren und ich lange warten
le Achterbahnfahrten und die grosse Frage: Warum           musste – ich bin gefahren. Und ich werde mein Leben
ich? Ich habe damals sehr viele Gespräche geführt          weiterhin geniessen – bis zum letzten Moment.
mit meiner Mutter, die ja von Anfang an immer an
meiner Seite war und jeden Arztbesuch und Kranken­
hausaufenthalt begleitet hat. Sie hat mir wohl auch           Cystische Fibrose (CF) ist eine chronisch verlau-
die optimistische Sicht auf mein Leben vermittelt und         fende, fortschreitende Erkrankung, welche nicht
den humorvollen Umgang. Das mag für die Gesunden              geheilt, aber mit einer breiten Palette von Thera-
merkwürdig klingen, aber wir haben zusammen auch              piemöglichkeiten behandelt werden kann. CF ist
sehr viel gelacht. Wie oft sassen wir in irgendwelchen        oft auf den ersten Blick von aussen nicht sichtbar.
Wartezimmern oder auf der Notfallstation und haben            Durch die vorliegenden Symptome und den täg-
Tränen gelacht. «Hurra eine neuer Nierenstein, meine          lichen zeitintensiven Therapieaufwand bestimmt
Sammlung wächst... bald eröffnen wir den exklusi-             sie das Leben der Betroffenen trotzdem grund-
ven Ultra-Bio-Steinladen» und so weiter. Ein bisschen         legend. Mit einer konsequenten Therapie sowie
schwarzer Humor tut einfach gut. Meine Mutter hatte           einer spezialisierten medizinischen Betreuung
dann auch Verständnis, dass ich im Jugendalter ab und         können die Auswirkungen von CF behandelt
zu über die Stränge geschlagen habe. Es musste einfach        und die Lebensqualität verbessert werden. Dank
sein. Natürlich habe ich danach gelitten und brauch-          medizinischer Fortschritte hat sich die Lebens­
te Tage, um mich wieder zu erholen. Aber das habe             erwartung drastisch verbessert. Ein Grossteil der
ich dann hingenommen und mich trotzdem gefreut.               CF-Betroffenen erreicht heute das Erwachsenen-
Ich lasse mir meine Freude einfach nicht nehmen. Die          alter und führt ein erfülltes Leben. Dabei spielt die
Frage «warum ich», hat sich dann irgendwann nicht             Förderung der Eigenverantwortung im täglichen
mehr gestellt. Ich bin einfach ich – und andere sind          Umgang mit CF eine zentrale Rolle.
anders. Jeder Mensch kann sich fragen: «weshalb bin
ich Ich». Da kann man ja endlos rätseln.                         www.cfch.ch

                                                                                 handicapforum Nr. 1 | 2018           7
T h em a

«Nobelpreis» für eine aussergewöhnlich Frau
Yetnerbersh Nigussie ist Trägerin des «Alternativen Nobelpreises». Sie wurde für ihre «inspirierende Arbeit
im Kampf für die Rechte und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und damit für eine Veränderung
in unserer Gesellschaft» ausgezeichnet.

bim. Eine Frau, 35 Jahre alt, Rechtsanwältin und in           sowie das «Centre for the students with Disabilities»
Äthiopien aufgewachsen – das ist sehr selten. Möglich         (Zentrum für behinderte StudentInnen) begründet.
gemacht hat es ihre Behinderung. Nicht dass Menschen          Behinderte Frauen haben es doppelt schwer – nicht
mit Behinderungen in ihrem Herkunftsland speziell             nur in Äthiopien. «Das ist ein globales Thema», hält
gefördert würden – im Gegenteil. Die Äthiopierin hat          Yetnerbersh fest. Behinderte Frauen sind unsichtbar.
eine besondere Geschichte und dazu viel Mut und Le-           Weder in der Feminismus- noch in der Behinderten-
benskraft. Im 2017 ist ihr der «Alternative Nobelpreis»       bewegung tauchen sie als Führungsfiguren auf. Das
(Right Livelihood Award) verliehen worden. Yetner-            Komitee zur Un-Konvention über die Rechte von Men-
bersh Nigussie ist im Alter von fünf Jahren erblindet.        schen mit Behinderung hat achtzehn Mitglieder – eines
In der ländlichen Gegend, wo sie damals lebte, wur-           davon ist eine Frau... Weltweit gibt es laut dem «World
den die Mädchen mit zehn oder elf Jahren verheiratet.         Disability»-Bericht viel mehr Frauen mit Behinderun-
Mit einer Behinderung kam dies aber nicht in Frage.           gen als Männer, sie haben aber weit weniger Zugang
Deshalb durfte das Kind zur Schule gehen – vorerst in         zu den Unterstützungsangeboten. Schulbildung wäre
eine «Blindenschule», denn behinderte Kinder waren            besonders wichtig und nachhaltig; die Schule ist der
in der öffentlichen Schule nicht zugelassen. Mit dem          Ort, wo Vorurteile korrigiert werden können. «Meine
sechsten Schuljahr hörte die Sonderschule aber auf            Ausbildung war meine Befreiung – deswegen bin ich
und Yetnerbersh kam in eine reguläre Klasse. 76 Kin-          heute da, wo ich bin», sagt Yetnerbersh Nigussie.
der – und keines wollte mit ihr spielen oder lernen
oder auch nur den Tisch teilen. «Das hat mich eine
Menge gelehrt», sagt die Äthioperin rückblickend. Mit         Den Armutszyklus durchbrechen
ihren Erfahrungen von Ausgrenzung hat ihr Weg als             Für die Äthiopierin gehören die Themen Behinderung
Behindertenaktivistin begonnen.                               und Entwicklung untrennbar zusammen. Entwick-
                                                              lungsarbeit muss inklusiv sein. Yetnerbersh hat in
                                                              ihrer Heimat das «Ethiopian Centre for Disability and
Behinderte Frauen sind unsichtbar                             Development» (Äthiopisches Zentrum für Behinderung
Yetnerbersh Nigussie hat später in Adis Abeba Jura stu-       und Entwicklung) begründet – heute trägt sie diese
diert, als eine der ersten blinden Frauen überhaupt.          Denk- und Arbeitsweise in die ganze Welt, unter an-
Blinde Studenten hatte man schon gesehen. Aber Stu-           derem als Inklusions-Expertin der Organisation «Licht
dentinnen? Das Frau-Sein wurde in der juristischen Fa-        für die Welt». Die Ziele für Menschen mit Behinderung
kultät noch mehr diskriminiert als das behindert-Sein.        unterscheiden sich letztlich nicht von denen nicht-be-
Yetnerbersh hat ihr Studium nicht nur erfolgreich ab-         hinderter Menschen. Das übergreifende Ziel ist es doch,
geschlossen, sondern zugleich auch die erste «Fema-           niemanden zurückzulassen, ist die Preisträgerin über-
le Student Association» (Studentinnen-Vereinigung)            zeugt. Inklusion und eine gute Ausbildung zählt sie

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8            handicapforum Nr. 1 | 2018
Them a

Preisträgerin Yetnerbersh Nigussie: Rechtsanwältin dank ihrer Behinderung                                        Bild: zVg

klar zu ihren Prioritäten: «Man sollte in zukünftige Ge-        ren Unterstützungsangebote zugänglich zu machen. In
nerationen investieren, indem man sie miteinander               den ländlichen Gegenden ist die Versorgung allgemein
spielen, lernen und aufwachsen lässt. Das würde den             schlechter. Einen Teil ihres Preisgelds möchte Yetner-
Armutszyklus durchbrechen. Wenn wir das machen,                 bersh deshalb in Stipendien für die Mädchen aus den
können wir in Zukunft problemlos alle miteinander               Dörfern investieren. «Aus mir wäre nichts geworden
arbeiten und existieren.»                                       ohne meine Ausbildung in einem integrierten Lernum-
                                                                feld. Ich möchte also das Beste, was mir in meinem
                                                                Leben passiert ist, auch anderen ermöglichen.»
«Das Beste, was mir passiert ist, auch anderen
ermöglichen...»                                                    Quelle: www.bizeps.or.at/im-gespraech-mit-
Der Aufgabenbereich «Behinderung und Entwicklung»                  yetnebersh-nigussie
heisst in Äthiopien beispielsweise, dass man sich in               www.licht-fuer-die-welt.at
den Gemeinden engagiert. Anders als in Europa sind
kaum spezialisierte und separative Angebote vorhan-
den. Menschen mit Behinderungen leben in der Ge-
meinde, werden aber nach wie vor oft im Haus «gehal-
ten», versteckt und ausgegrenzt. Da Äthiopien mittler-              Der «Right Livelihood Award», auch «Alternati-
weile die UNO-Behindertenrechtskonvention ratifiziert               ver Nobelpreis genannt, ist eine Auszeichnung
hat, sind die gesetzlichen Voraussetzungen für eine                 «für die Gestaltung einer besseren Welt». Er
gesellschaftliche Teilhabe gegeben. Nun geht es darum,              wird seit 1980 jährlich von der Stiftung Right
Menschen mit Behinderungen in den Gemeinden auf-                    Livelihood Award Foundation vergeben und
zunehmen und zu integrieren, um diese Teilhabe auch                 durch Spenden finanziert.
umzusetzen und damit den Betroffenen alle verfügba-

                                                                                     handicapforum Nr. 1 | 2018          9
A ktu e l l

     Liebe Leserin,
     lieber Leser

     Wussten Sie, dass ich als Rollstuhlfahrer in mancherlei     spiriert das Spardiktat bei den öffentlichen Ausgaben
     Hinsicht zu den privilegierteren Menschen mit Behin-        Behörden und Gesetzgeber dazu, immer restriktiver
     derung gehöre? Zum Beispiel schaut mich niemand             mit Behinderung und Invalidität (= verminderte Er-
     schräg an, wenn ich bekenne, dass ich eine IV-Rente         werbsfähigkeit im juristischen Sinne) umzugehen, bis
     beziehe. Es läuft bei meinem Gegenüber kein Film ab         hin zur Marginalisierung und Abschaffung gewisser
     im Sinne von: Warum hat der eine IV-Rente? Ist diese        Behinderungsarten.
     auch berechtigt? Es wird nicht gewerweisst, ob ich
     nicht womöglich ein Rentendiebe sei, ein Schmarot-          Anderseits verdanken wir den unseligen Umgang mit
     zer der übelsten Sorte, wie es sie laut rechtsbürger-       gewissen Behinderungsarten – und damit mit den be-
     lichen Kreisen zuhauf gibt. Schliesslich hetzt man mir      troffenen Menschen – einer Missbrauchsdebatte, die
     als Rollifahrer auch keinen Privatermittler auf den Hals.   nun schon über zwanzig Jahren anhält und tiefe gesell-
     Glück gehabt!                                               schaftliche Spuren hinterlassen hat. Die Debatte wurde
                                                                 von rechtsbürgerlichen Kreisen losgetreten und richtet
     Andere haben weniger Glück. Sie stehen unter Gene-          sich wahlweise gegen jegliche Gesellschaftsgruppen,
     ralverdacht, weil man ihnen nicht gleich ansieht oder       die Ansprüche auf staatliche Leistungen stellen. Lange
     an ihrem Verhalten erkennt, dass sie eine Behinderung       Zeit waren es die Arbeitslosen, die unter Generalver-
     haben. Ihre Behinderung ist unsichtbar und deshalb in       dacht standen, Faulpelze zu sein. Dann die Menschen,
     den Augen vieler nicht existent oder zumindest höchst       welche Leistungen der Invalidenversicherung bean-
     zweifelhaft. Das beginnt bei Menschen mit Sehbehin-         spruchen. Und könnte man die SeniorInnen des Miss-
     derung, steigert sich bei den Hörbehinderten und            brauchs verdächtigen – etwa dass sie falsche Angaben
     kulminiert bei Menschen mit eine psychischen Be-            zu ihrem Alter machen –, so würde man es bestimmt
     einträchtigung. Würde man eine Rangliste unter den          auch tun ...
     Behinderungsarten erstellen, eine Reihenfolge ihrer
     gesellschaftlichen Akzeptanz, so stünden resp. sässen       Es ist dieses engherzige politische Klima, das dazu
     wir Rollifahrer zuoberst auf dem Podest, und zuunterst      beiträgt, dass die Sichtbarkeit einer Behinderung we-
     stünden Menschen mit psychischer Beeinträchtigung.          sentlich für ihre gesellschaftliche Akzeptanz geworden
     Pech gehabt! Denn ihnen sieht man die Behinderung           ist. Wie wenn das ein sinnvolles Kriterium wäre!
     nicht an.
                                                                                                         Walter Beutler
     Auch Menschen mit chronischen Schmerzen müssen
     neben ihrer körperlichen Pein oft das gesellschaftli-
     che Misstrauen verdauen, sobald sich ihre Schmerzen         P.S.
     nicht auf eine Ursache zurückführen lässt, die abbild-      Es ist ja nun nicht so, dass es mich unablässig stört,
     bar ist, etwa auf einem Röntgenbild oder in einem           als Rollstuhlfahrer zu den privilegierten Menschen
     anderen bildgebenden Verfahren. Wie einfach die             mit Behinderung zu gehören. Zuweilen geniesse ich
     Gemüter doch gestrickt sind, offenbar bis «hinauf» in       es sogar. Man gönnt sich ja sonst nichts ... Um ein Bei-
     die Verwaltung, die Politik und die Gesetzgebung! Was       spiel zu nennen: Ich bin froh, dass ich nicht jedes Mal
     man nicht sieht, kann nicht sein. So einfach ist das. Ist   von neuem für einen Rollstuhl kämpfen muss, der all-
     eine Behinderung nicht eindeutig auf somatische, also       tagstauglich ist, auch wenn ein solcher Aktivrollstuhl
      im Körperlichen begründete Ursachen zurückzufüh-           wesentlich teurer ist als ein Standardmodell, wie man
     ren, so wird sie von Seiten der Sozialversicherungen        es oft in Altersheimen oder Spitälern sieht. Trotzdem
     – und der Gesellschaft – zunehmend in Frage gestellt.       steigt mir die Schamesröte ins Gesicht, wenn ich
     Eine solche Haltung ist, gelinde gesagt, nicht auf dem      mir vorstelle, dass mein Privileg als Rollstuhlfahrer
     neusten Stand der Erkenntnis. Sie ist, genau betrach-       auf Kosten von anderen Menschen mit Behinderung
     tet, nicht einmal das Ergebnis einer Erkenntnissuche,       gehen könnte. – Und ein Privileg geht immer auf Kos-
      sondern folgt einer politischen Agenda. Einerseits in-     ten von anderen.

10            handicapforum Nr. 1 | 2018
Aktu e l l

             handicapforum Nr. 1 | 2018   11
Bei träge

Nicht laufen können,
macht nicht automatisch unglücklich

Ein Plädoyer für eine vielfältige, inklusive Gesellschaft von Raul Krauthausen (leicht gekürzt)

Eine Behinderung muss tatsächlich nicht zwingend              Dies zu verändern liegt weder in den Möglichkeiten,
Trauer und Verzweiflung auslösen. Oft sind es vielmehr        noch in der Verantwortung des einzelnen behinderten
die (gesellschaftlichen) Barrieren und insbesondere die       Menschen, sondern ist eine Aufgabe, die gesamtgesell-
Erfahrung ausgeschlossen zu werden, die Leid verursa-         schaftlich angegangen und gelöst werden muss. Zum
chen. Es gibt verschiedene Blickrichtungen. Nach wie          Nutzen aller. Denn zum einen haben auch nicht-be-
vor ist der medizinische Ansatz weit verbreitet: Er oder      hinderte Menschen ein Anrecht darauf, mit behinder-
sie hat ein Defizit und damit ein Problem, das sozu-          ten Menschen zusammen zu leben. Und zum anderen
sagen in ihm selber begründet ist. Er und sein fami-          kann ja jeder nicht-behinderte Mensch schnell und
liäres Umfeld haben es auch zu lösen. Dass durch die          unerwartet eine Behinderung erwerben. Statistisch ge-
Gesellschaft behindernde Faktoren geschaffen werden,          sehen ist das sogar weitaus häufiger der Fall, als dass
die die Behinderung erst zu einem Problem machen,             eine Behinderung geheilt wird.
wird nicht bedacht. Behinderung wird als ein Zustand
angesehen, der behandelt und im Idealfall beseitigt
werden kann. Wenn eine Beseitigung nicht möglich ist,         Das Problem ist die fehlende Rampe
dann wäre wenigstens eine Optimierung des behin-              Es gibt aber auch das soziale Denkmodell, das die
derten Menschen wünschenswert, um ihn möglichst               Problematik nicht in der behinderten Person selber
schnell wieder zu einem «funktionierenden» Mitglied           sieht, sondern in gesellschaftlichen Bedingungen,
der Gesellschaft zu machen und wieder in den Arbeits-         die verbessert werden müssen. Ganz simpel zusam-
markt einzugliedern.                                          mengefasst: Während beim medizinischen Modell der

Raúl Aguayo-Krauthausen, Behindertenaktivist und Gründer der «Sozialhelden»    Bild: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

12          handicapforum Nr. 1 | 2018
Beiträge

Mensch und seine Behinderung das Problem ist, wenn        und nicht-behinderte Gesellschaft zieht sich ein Spalt.
er beispielsweise eine Veranstaltung nicht besuchen       Menschen mit und ohne Behinderung wachsen von
kann, weil der Zugang nur über eine Treppe möglich        Anfang ihres Lebens an getrennt auf und besuchen
ist – sieht das soziale Modell das Problem hier in der    größtenteils unterschiedliche Bildungsinstitutionen.
fehlenden Rampe, also der nicht barrierefreien Um-        Dabei könnten wir die kindliche Unvoreingenommen-
gebung, und wendet sich der Problemlösung zu. Das         heit nutzen, um schon in jungen Jahren in Beziehung
soziale Modell berücksichtigt eine große Anzahl an As-    zueinander zu treten und uns zu einer Wir-Gesellschaft
pekten, denn hier wird davon ausgegangen, dass die        zu entwickeln – Behinderung lediglich als ein Prob-
durch die Umwelt konstruierte Behinderung in allen        lem der behindernden Umwelt verstehen lernen, das
Lebensbereichen stattfindet.                              gemeinsam gelöst werden kann. Kinder mit und ohne
Durch das im Jahre 2009 in Kraft getretene Überein-       Behinderung sollten von Beginn an zusammen leben,
kommen der Vereinten Nationen der Rechte von Men-         lernen, spielen und Spaß haben – sie sollten gemein-
schen mit Behinderungen (UN BRK) sollte die Sicht des     sam aufwachsen dürfen.
sozialen Modells von Behinderung in der Gesellschaft
übernommen werden. Heute muss man leider sagen,
dass nach wie vor die defizitorientierte Sicht auf Men-   Vielfältig leben und denken
schen mit Behinderung in Gesellschaft, Medizin und        «Es ist normal, verschieden zu sein», singt der Rapper
Politik dominiert.                                        Graf Fidi. Auch wenn diese Aussage in den vergange-
                                                          nen Jahren immer populärer geworden ist, spiegelt sie
                                                          sich immer noch nicht ausreichend in unserem Gesell-
Kaum Berührungspunkte                                     schaftsleben wider. Es gibt Menschen mit Behinderung,
Gesellschaftlich ist die Durchsetzung des sozialen Mo-    die viel Energie darauf verwenden, sich den Normen der
dells besonders aus einem Grund erschwert: Menschen       nicht-behinderten Mehrheitsgesellschaft anzupassen.
mit und ohne Behinderung haben im Alltag kaum Be-         Eine Normalität, an der sich die Mehrheit der Gesell-
rührungspunkte. Behinderte Menschen sind auf dem          schaft orientiert, selbst wenn sie für einen behinderten
ersten Arbeitsmarkt selten anzutreffen, die Inklusion     Menschen aufgrund seiner Beeinträchtigung unerreich-
in der Schule findet viel zu selten statt, so bleiben     bar ist. Wenn wir barrierefrei und vielfältig leben und
behinderte SchülerInnen an Förderschulen unter sich,      denken würden – gäbe es dann noch eine Verwendung
der Wohnungsmarkt ist kaum barrierefrei und Men-          für den Stempel normal und nicht-normal? Ist es nicht
schen mit Behinderung wohnen oft in Wohngruppen           endlich an der Zeit, jeden Menschen in seiner Verschie-
oder Heimen, die ihnen zwar Barrierefreiheit ermög-       denheit wahrzunehmen und zu akzeptieren?
lichen – aber kein Zusammenleben mit nicht-behin-
derten Menschen. Der Lebensweg vieler Menschen mit        Wir sollten aufhören, den Menschen der Gesellschaft
Behinderung entwickelt sich häufig von einer Sonder-      und selbst gestalteten Umwelt anzupassen. Stattdes-
schule hin zur Werkstatt mit angeschlossener Wohn-        sen sollten wir gemeinsam an einer Gesellschaft arbei-
gruppe. Überschneidungen mit der nicht-behinderten        ten, die Vielfalt und Inklusion ermöglicht, in der jeder
Mehrheitsgesellschaft gibt es kaum. So sind nicht-be-     Mensch sich in seiner Individualität verstanden und
hinderte Menschen oft ahnungslos, Fragen wie «Wie         aufgehoben fühlt, in der niemand um soziale Teilhabe
lebt die Person?» oder «Wie gestaltet sie ihr Leben?»     kämpfen muss. Und wir sollten unsere Umgebung so
können nicht kommuniziert werden, Freundschaften          gestalten, dass Barrierefreiheit zur Norm wird.
in der Schule und am Arbeitsplatz zwischen behinder-
ten und nicht-behinderten Menschen können meis-             Raul Krauthausen
tens erst gar nicht entstehen – durch die behinderte        raul.de

                                                                               handicapforum Nr. 1 | 2018     13
Bei träge

Big Brother
Nein, nicht potenzielle Terroristen werden überwacht, sondern Personen, die Sozialversicherungen bezie-
hen. Wie weit diese Massnahmen gehen sollen und dürfen, wird derzeit verhandelt.

                                                              Über Jahre wurden bereits Überwachungen durchge-
                                                              führt ohne Schutz der Privatsphäre und ohne eine ent-
                                                              sprechende Rechtsbasis. Die Observierungen mussten
                                                              nach dem Urteil des EGMR vorerst eingestellt werden
                                                              und das Parlament machte sich schnellstmöglich hinter
                                                              eine neue Gesetzesregelung, um die Praxis fortführen
                                                              zu können.

                                                              Zwanzig Anzeigen
                                                              Dass Versicherungsbetrug vermieden und – wenn nötig
                                                              – auch bekämpft werden soll, wird allgemein und auch
                                                              von den Behindertenorganisationen befürwortet. Al-
                                                              lerdings stellt sich stets die Frage der Verhältnismäs-
                                                              sigkeit. Gemäss Bundesamt für Sozialversicherung
                                                              (BSV) wurden im Jahr 2016 insgesamt 270 Observati-
                                                              onen angeordnet, wobei in 180 Fällen ein Missbrauch
                                                              nachgewiesen werden konnte. «Missbrauch» ist in der
                                                              Terminologie des BSV jedoch verwirrend, denn dazuge-
                                                              zählt wird beispielsweise auch, wenn jemand aus Ver-
                                                              sehen gegen die Meldepflicht verstösst. Wer sich schon
                                                              einmal im Dschungel der Sozialversicherungen bewegt
                                                              hat, kann sich vorstellen, wie schnell solches gesche-
                                                              hen kann – erst recht wenn jemand von Krankheit,
                                                              Unfall, Schmerzen usw. absorbiert ist oder die nicht
                                                              ganz einfache Behördensprache schlecht beherrscht.
                                                              Insgesamt kam es dann im 2016 zu zwanzig Strafan-
                                                              zeigen – Anzeigen, nicht Urteile! Wieviele Personen am
                                                              Ende tatsächlich wegen Betrug verurteilt wurden, ist
                                        Bild: Bruno Lindau   nicht bekannt.

bim. Das Gespenst der Scheininvaliden geht nach wie           Was ist verhältnismässig?
vor um und wird immer wieder von neuem beschwo-               Wie weit die Observierungen gehen dürfen, wird nun
ren. Wie kommt es, dass Menschen, die Leistungen aus          ausgehandelt. Der Ständerat und auch die Sozial- und
den Sozialversicherungen beziehen, hartnäckig des             Gesundheitskommission des Nationalrats möchten
Betrugs verdächtigt werden? Bestimmt nicht, weil sie          die Persönlichkeitsrechte von Menschen mit Behin-
mehrheitlich kriminell sind. Auch nicht weil sie Millio-      derungen massiv einschränken und Privatdedektiven
nen scheffeln. Dass sie sozusagen in globo vorverurteilt      erlauben, Personen bei Missbrauchsverdacht in ihrem
werden, hat vor allem mit politischer und entspre-            privaten Raum zu überwachen. Auch die umstrittenen
chender medialer Stimmungsmache zu tun. Konkret               GPS-Tracker (Global Positioning System) sollen nach
hat diese dazu geführt, dass die Schweizer Behörden           wie vor eingesetzt werden. Diese Geräte ermöglichen
ein Überwachungssystem eingeführt und praktiziert             es, Personen überall zu orten. Immerhin sollen diese
haben, als ob gefährliche Terrorzellen aufgespürt wer-        Massnahmen künftig nur mit richterlicher Genehmi-
den müssten. Und dies ohne ausreichende gesetzli-             gung erfolgen. Die nationale Behinderten-Selbsthilfe,
che Grundlagen. Der Europäische Menschenrechts-­              «Agile.ch», hat den Bundesrat ersucht, sich vertieft
Gerichtshof (EGMR) hat die Schweiz deshalb im Jahr            mit den verschiedenen Aspekten der Überwachung zu
2016 gerügt, respektive die Beschwerde einer obser-           befassen und insbesondere folgende Themenbereiche
vierten Person gutgeheissen. Sie war kein Einzelfall.         zu überprüfen:

14          handicapforum Nr. 1 | 2018
Beiträge

•	Kompetenz zur Anordnung der Überwachung:               zudem, dass Überwachungen auf allgemein zugängli-
   Wer ist unter Wahrung der verfassungsmässigen          che Orte beschränkt werden und dass observierte Per-
   Rechte zu ihrer Anordnung legitimiert? Wer über-       sonen über die Überwachung und allfällige Resulta-
   prüft, ob sie verhältnismässig ist? Was passiert mit   te informiert werden müssen - und zwar bevor eine
   den zusammengetragenen Daten?                          darauf gestützte medizinische Begutachtung erfolgt.
•	Verhältnis StGB (Strafrecht) und ATSG                  Agile.ch warnt auch vor neuen Notlagen, wenn die
   (Sozialversicherungsrecht):                            Gesetzesvorschläge ohne Korrektur angenommen wür-
   Soll die Regelung des ATSG tatsächlich weiter gehen    den. Sollten die Sozialversicherungen ihre Leistungen
   als das StGB? Oder anders ausgedrückt: Sollen Bezü-    vorsorglich einstellen, dürfte dies nur erfolgen, wenn
   ger/Bezügerinnen von Sozialversicherungen tatsäch-     konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass eine verdäch-
   lich weniger Verfahrensrechte haben als z.B. Mörder,   tigte Person die Leistung unrechtmässig erwirkt hat.
   Diebe oder Angehörige von kriminellen Banden?          Ein vager Verdacht dürfte keine derart einschneidende
•	Wie weit geht die Überwachungskompetenz von            Massnahme auslösen. Wer Sozialversicherungen be-
   privaten Versicherern?                                 zieht, hat nicht viel zum Leben und schon gar keine
                                                          Reserven. Dass ausgerechnet sie nun unter dem Gene-
                                                          ralverdacht stehen zu betrügen und sich unrechtmässig
Der Generalverdacht                                       zu bereichern ist ein Armutszeugnis für diejenigen, die
Agile.ch stellt sich auf den Standpunkt, dass nur die-    solche Gedanken verbreiten. Es ist zu hoffen, dass die
jenigen missbräuchlich handeln, die vorsätzlich ihre      Politik besonnen reagiert und die Forderungen der Be-
Pflichten verletzen und sich auf diese Weise Leistungen   hindertenorganisationen ernst nimmt.
verschaffen. Eine versicherte Person sollte davon aus-
gehen dürfen, dass sie eine Leistung zu Recht erhält,       Weitere Informationen:
wenn ihr diese von der Sozialversicherungen zuge-           inclusion-handicap.ch
sprochen wird. Die Behindertenorganisation verlangt         agile.ch

                                                                                                Bild: Bruno Lindau

                                                                               handicapforum Nr. 1 | 2018       15
Bei träge

Neue Rechtsprechung bei psychischen Erkrankungen
Ein allfälliger Rentenanspruch bei einer leichten bis mittelschweren Depression wird künftig anders ermit-
telt als in der bisherigen Praxis.

bim. Mit psychischen Erkrankungen tut sich die IV beson-     lige Therapien und deren Wirkung, berufliche Eingliede-
ders schwer. Selbst wenn keinerlei gesellschaftliche Vor-    rungsbemühungen, mögliche Begleiterkrankungen, das
urteile oder Ängste mitspielen, ist es sehr anspruchsvoll,   soziale Umfeld und alle Einschränkungen im Alltag, die
diese schwer fassbaren Leiden und Einschränkungen so zu      geltend gemacht werden können. Wenn sich bei umfas-
kategorisieren, dass sie versicherungstauglich werden. Da    sender Betrachtung ein stimmiges Gesamtbild für eine
die IV bekanntlich auch noch sparen muss, ist die Tendenz    Einschränkung der Arbeitsfähigkeit in allen Lebensberei-
klar. Rentenzusprüche bei leichten bis mittelschweren        chen ergibt, sind die Voraussetzungen gegeben, um einen
Depressionen wurden im Zuge der Sparmassnahmen bei           Rentenanspruch zu prüfen. Die Beweislast liegt dabei
den Sozialversicherungen drastisch reduziert, indem man      nach wie vor bei der versicherten Person. Das Vorgehen
den Betroffenen kategorisch nur dann eine IV-Rente ge-       zur Klärung von IV-Renten-Ansprüchen soll künftig also
währte, wenn ihr Leiden als «therapieresistent» qualifi-     bei allen psychischen Leiden angewendet werden – auch
ziert wurde. Diese Praxis musste revidiert werden. Ende      bei leichten bis mittelschweren Depressionen. Eine fach-
2017 hat das Bundesgericht eine Kehrtwendung vollzo-         gerecht gestellte medizinische Diagnose wird selbstver-
gen: künftig wird die Rechtssprechung dem Vorgehen bei       ständlich nach wie vor verlangt. Sie allein kann aber nicht
somatoformen Schmerzstörungen angepasst. Dieses folgt        mehr ausschlaggebend für die Einschätzung der Arbeits-
einem so genannten strukturierten Beweisverfahren. Die-      fähigkeit sein. Entscheidend ist vielmehr, wie sich die
ses Verfahren stellt auf verschiedene Indikatoren ab, mit    Erkrankung auswirkt. Das alleinige Kriterium der Thera-
deren Hilfe ermittelt werden soll ob, beziehungsweise in     pierbarkeit sei im Falle von psychischen Erkrankungen
welchem Umfang, die versicherte Person arbeiten kann.        weder sachlich geboten noch medizinisch abgestützt, wird
Berücksichtigt werden die medizinischen Befunde, allfäl-     im Bundesgerichtsurteil festgehalten.

Frau und Gesundheit
Menschen mit Behinderungen haben noch längst nicht überall Zugang zu den Gesundheitseinrichtungen.
Frauen und Mädchen mit ihren spezifischen Bedürfnissen gehen besonders gern «vergessen».

bim. Was bedeutet Gesundheit? Denkt man ein wenig            heitsanliegen» –Ausgrenzung und Diskriminierung tra-
darüber nach, so merkt man, dass diese Frage gar nicht       gen jedenfalls nicht zur Gesundheit bei.
so schnell beantwortet werden kann und je nach Zu-
sammenhang ganz verschieden ausfällt. In jedem Zeit-
alter, in jeder Kultur und auch in jeder gesellschaftli-     Das bestmögliche Befinden
chen Schicht wird Gesundheit unterschiedlich definiert       Nichtbehinderte stellen sich vielleicht die Frage, ob
und auch jeder einzelne Mensch erlebt und versteht           sich Menschen mit Behinderungen überhaupt gesund
Gesundheit wieder anders. Dass Gesundheit schlicht           fühlen können, sie haben ja – zumindest nach dem
die Abwesenheit von Krankheit bedeutet, greift jeden-        bio-medizinischen Denkmodell – bestimmte Defizite.
falls zu kurz. Die Weltgesundheitsorganisation WHO de-       Aber wie auch immer die Voraussetzungen aussehen,
finiert den Begriff folgendermassen: «Gesundheit ist         es gibt immer ein bestmögliches Befinden, das indi-
ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen        viduell erlebt und als gesund wahrgenommen wird.
und sozialen Wohlergehens…». Diese Definition greift         Leider haben Menschen mit Behinderungen nach wie
sehr weit – «vollständiges soziales Wohlergehen» liegt       vor oft nur einen erschwerten oder noch gar keinen Zu-
beispielsweise für viele Menschen in weiter Ferne und        gang zu den Gesundheits-Einrichtungen. Insbesondere
wäre doch ein wichtiger Faktor, um sich wirklich um-         in den Bereichen Information, Bildung und Präventi-
fassend gesund zu fühlen. So gesehen gibt es auch            on werden Menschen mit Behinderungen noch wenig
für Menschen mit Behinderungen noch viele «Gesund-           miteinbezogen.

16          handicapforum Nr. 1 | 2018
Beiträge

Das vorherrschende Schönheitsideal                          Die eigenen Vorstellungen und Wünsche
«Avanti donne», die nationale Interessenvertretung für      Frauen mit Behinderungen haben, je nach Voraus­
Frauen und Mädchen mit Behinderung legt den Fokus           setzung, unterschiedliche Bedürfnisse hinsichtlich
auf die Gesundheit von Frauen mit Behinderungen,            medizinischer Untersuchungen und Behandlungen.
respektive auf die Barrieren, die speziell den Frauen       Oft müsste mehr Zeit eingeplant werden und manch-
den Weg versperren. Die Frauenorganisation fordert,         mal auch mehr Personal – Mitarbeitende, die so as-
dass Frauen mit Behinderung, ebenso wie nichtbehin-         sistieren, dass die Würde und das Wohlbefinden der
derte junge Menschen eine barrierefreie grundlegende        Patientinnen gewahrt bleiben. Weibliche Teenager
Gesundheitsbildung erhalten. Dazu gehören Selbst­           mit Behinderung sollten überall Zugang zu den ersten
sorge und Prävention (Bewegung, Ernährung, Umgang           gynäkologischen Gesundheitsleistungen haben. Nach
mit körperlichen und psychischen Belastungen usw.),         wie vor werden gynäkologische Untersuchungen an
eine altersgemässe und geschlechtersensible Sexual-         FachärztInnen für bestimmte Behinderungen delegiert,
aufklärung sowie Informationen über Patientenrech-          statt dass die gynäkologischen Praxen barrierefrei ein-
te und Unterstützungsangebote. Mädchen und junge            gerichtet werden. Dem medizinischen Personal sollte
Frauen mit Behinderung werden durch das vorherr-            aber auch bewusst sein, dass Frauen mit Behinderung
schende Schönheits- und Schlankheitsideal beson-            nicht asexuell sind. Sie können wie andere Frauen un-
ders unter Druck gesetzt. Das heisst, sie müssten in        gewollt schwanger sein oder eine Geschlechtskrankheit
ihrem Selbstbewusstsein erst recht bestärkt werden,         haben. Und sie haben ihre eigenen Vorstellungen und
damit sie sich in ihrem Körper wohlfühlen und ein           Wünsche bezüglich Verhütung und Familienplanung,
Verständnis dafür entwickeln, dass sie sexuelle Be-         die es zu respektieren gilt. Frauen mit Behinderung
ziehungen führen können wie andere auch. Über sich          können aber nicht nur schwanger werden, sondern
selber bestimmen lernen, sexuellen Missbrauch erken-        auch Kinder bekommen und eine Familie haben. Dazu
nen und sich erfolgreich dagegen wehren sind weitere        sollten ihnen natürlich auch die spezifischen Angebote
wichtige Themen für jungen Frauen. Präventions- und         zur Verfügung stehen. Selbstverständlich ist dies (noch)
Schutzangebote, zum Beispiel Frauenhäuser, müssten          nicht. «Avanti donne» spricht von «Gleichstellung im
selbstverständlich barrierefrei zugänglich sein. Damit      Schneckentempo» und setzt sich entschieden für eine
alle Beteiligten für diese Anliegen sensibilisiert werden   schnellere Gangart ein.
und ein Umdenken in Gang kommt, müssten deshalb
bei allen Gesundheitsberufen die Erkenntnisse der             Avantidonne.ch
Gender ­Health-Forschung einfliessen.

Frauen mit Behinderungen dürfen nicht übergangen werden!                     Bild: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Im Bild: Schauspielerin Carina Kühne

                                                                                 handicapforum Nr. 1 | 2018          17
Bei träge

JuGru – wo sich junge Menschen treffen, die ein
wenig anders sind

Entspannung, Anregung und Vergnügen – auch mit künstlerischen Aktivitäten                                     Bild: zVg

Sie interessieren sich für Filme, für Musik, für Liebe        Nachfrage wieder befriedigt werden kann. Die Ju-
und Sexualität. Sie wollen gamen und chillen, sie wol-        gendgruppe hilft mit, den Übergang vom Kind zum
len etwas unternehmen und sie haben eine Meinung.             Jugendlichen zu erleichtern. Sie ist ein verlässlicher
Sie wünschen sich einen Beruf, sie verlieben sich, sie        Ort ausserhalb der Familie, wo Erlebnisse, Freude und
wollen später heiraten und Kinder kriegen, sie haben          Kummer geteilt werden und Freundschaften entstehen
Krach zu Hause und sie mögen Schokolade: Jugendliche          können. Die Jugendlichen bestimmen über die Aktivi-
mit einer leichten geistigen Beeinträchtigung sind in         täten und Themen und übernehmen mehr und mehr
erster Linie Jugendliche - und sie sind ein bisschen an-      Verantwortung. Sie formulieren Wünsche, reden mit-
ders. Einige Themen stellen für sie im Zusammenhang           einander, tragen Konflikte aus, finden Lösungen und
mit ihrer geistigen Behinderung oder Beeinträchtigung         planen möglichst selbständig. Kreativ- künstlerische
eine besondere Herausforderung dar. In der Jugend-            Aktivitäten sind ein fester Bestandteil des Angebots.
gruppe treffen sie auf andere, die in einer ähnlichen         Dabei lernen sich die Jugendlichen besser kennen und
Situation sind. Das Angebot ist geschaffen worden für         entdecken Ressourcen. Für einige ist das Formulieren
Jugendliche, die eher wenig betroffen sind von einer          in der Alltagssprache eine ständige Herausforderung.
Beeinträchtigung und sich deshalb Gruppen mit stärker         Kreativ-künstlerische Ausdrucksformen sind leicht zu-
Betroffenen nicht zugehörig fühlen, die aber merken,          gängliche Alternativen, bieten Entspannung, Anregung
dass sie anders sind als Jugendliche ohne Beeinträch-         und vergnügliche Erlebnisse. Die sozialen Spielregeln,
tigung. In der JuGru fühlen sie sich aufgehoben. Bald         die in der Gruppe geübt werden, sind nützlich für die Zu-
soll schon eine zweite Gruppe entstehen, damit die            kunft, für den Weg in ein möglichst selbständiges Leben.

     Die Jugendgruppen sind offen für 4 bis 10 Jugend­        also CHF 30.- pro Treffen. Kosten für Kinobesuche
     liche mit einer leichten geistigen Beeinträchtigung      und ähnliches kommen dazu und werden von den
     aus Basel oder Umgebung (1 Gruppe für 13-18jäh­          Teilnehmenden selber getragen. Das Angebot wird
     rige / 1 Gruppe für junge Erwachsene ab 18). Die         vom Verein JuGru getragen, der sich aus Spenden
     professionelle Leitung garantiert, dass die Teilneh­     und Zuwendungen finanziert.
     menden mit ihren unterschiedlichen Stärken und
     Schwächen verstanden werden und dass ein kons­             Projekt- und Gruppenleitung, Anmeldung und
     truktiver Umgang in der Gruppe gepflegt wird. Sie          Information:
     gibt auch kreativ-künstlerische Inputs. Je selbstän­       Annatina Strub
     diger die Jugendlichen werden, umso mehr wird die          061 423 15 33 / 076 423 38 05
     Leitung zur Assistenz im Hintergrund. Für die Teil­        annatina.strub@bluewin.ch
     nehmenden kostet die Gruppe CHF 10.- pro Stunde,           www.villablu.ch

18          handicapforum Nr. 1 | 2018
Beiträge

40 Jahre Freizeitzentrum insieme Basel
«Wir machen Freizeit» - öffentliche Veranstaltungen besuchen, wandern, zusammen kochen und zusammen
essen, basteln, musizieren, Filme schauen… All das und vielmehr bietet das Freizeitzentrum seit 40 Jahren
für Menschen mit einer geistigen Behinderung in und um Basel an.

Das Gefühl eine Art Familie zu sein… Vor dem Freizeitzentrum in Basel                                             Bild: zVg

Dieses Jahr feiern wir das 40-jährige Bestehen unse-             werden. Bei einem Apéro werden unsere Gäste unter-
res Freizeitzentrums (FZZ). Es ist ein Begegnungsort.            halten und verpflegt. Auch übers Jahr hindurch wer-
Ausgehend von den Ideen und Wünschen der FZZ-Be-                 den wir kleine Zeichen setzen: So wurde schon beim
suchenden plant und realisiert das FZZ-Team das Pro-             Januarprogramm ein Jubiläums-Aufkleber beigelegt.
gramm. Dies beinhaltet kulturelle, gesellschaftliche,            Weitere Jubiläumsartikel folgen, so zum Beispiel ein
gestalterische, kulinarische, musische und sportliche            Kugelschreiber, eine Tasse und Gummibärli. Zum Jubi-
Aktivitäten.                                                     läum haben wir ein neues T-Shirt kreiert. Auf diesem
Mit viel Pioniergeist und Mithilfe von Eltern Betroffener        steht wieder unser bewährter Slogan «Wir machen
startete das Freizeithaus im Jahr 1978 an der Schwarz-           Freizeit». Dieses beliebte T-Shirt ist in schwarz, rot
waldallee. Damals war es überhaupt nicht selbstver-              und weiss bereits erhältlich. Diverse Grössen können
ständlich, dass es für Menschen mit einer Behinderung            im FZZ anprobiert werden. Für unsere treuen Helfe-
Freizeitaktivitäten und Bildungsangebote gab. 20 Jahre           rinnen und Helfer, welche seit Jahren das feste Team
später stand ein grosser Umzug bevor, da wir nicht               unterstützen, wird es im Sommer einen gemütlichen
länger an der Schwarzwaldallee bleiben konnten. Die              Helferanlass geben.
Räumlichkeiten an der Landskronstrasse mussten je-               In all diesen Jahren hat sich einiges verändert; die El-
doch zuvor renoviert und umgestaltet werden, da diese            tern zogen sich langsam zurück. Die Kinder von damals
Lokalität bis anhin eine Metzgerei war. 1998 konn-               sind erwachsen und selbständiger geworden. Inzwi-
ten wir dann einziehen und unsere Programme in den               schen gibt es sogar schon eine Seniorengruppe, bei
neuen, farbigen und grosszügigeren Räumlichkeiten                der es Teilnehmer dabei hat, welche bereits schon vor
anbieten. Der Name wechselte von Freizeithaus zu                 vierzig Jahren ins Freizeithaus kamen. Mit den Themen
Freizeitzentrum. Im oberen Stock des Gebäudes be-                Integration und Inklusion hat sich auch das Program-
findet sich das Büro, was viele Vorteile mit sich bringt.        mangebot etwas verändert, und die Teilnehmenden
Seit Beginn profitieren jährlich rund zweihundert Teil-          können sich einbringen. Das Gefühl eine Art Familie
nehmende von unseren abwechslungsreichen Frei-                   zu sein blieb jedoch über all die Jahre bestehen, und
zeitangeboten. Dies soll gefeiert werden! Am Samstag,            dieses Gefühl möchten wir auch in Zukunft pflegen.
27. Oktober wird in der Voltahalle bei einem grossen                                                         Urs Nichele
öffentlichen Fest auf unser Jubiläum angestossen. Es
wird diverse Darbietungen geben, wo auch ein Teil                   Mehr über uns zu erfahren ist auf:
unserer Freizeitzentrum-Besucher miteinbezogen                      www.insieme-basel.ch

                                                                                      handicapforum Nr. 1 | 2018        19
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