Impact Free Impact Free 27 - April 2020 - Journal für freie Bildungswissenschaftler - Gabi Reinmann
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[0] Impact Free Journal für freie Bildungswissenschaftler Impact Free 27 – April 2020 HAMBURG IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[0] Impact Free Was ist das? Impact Free ist eine Publikationsmöglichkeit für hochschuldidaktische Texte, - die als Vorversionen von Zeitschriften- oder Buch-Beiträgen online ge- hen, oder - die aus thematischen Gründen oder infolge noch nicht abgeschlossener Forschung keinen rechten Ort in Zeitschriften oder Büchern finden, oder - die einfach hier und jetzt online publiziert werden sollen. Wer steckt dahinter? Impact Free ist kein Publikationsorgan der Universität Hamburg. Es handelt sich um eine Initiative, die allein ich, Gabi Reinmann, verantworte. Es handelt sich um eine Publikationsmöglichkeit für freie Wissenschaftler, veröffentlicht auf meinem Blog (http://gabi-reinmann.de/). Herzlich willkommen sind Gastautoren, die zum Thema Hochschuldidaktik schreiben wollen. Texte von Gastautoren können dann natürlich auch in deren Blogs eingebunden werden. Und was soll das? Impact Free ist ein persönliches Experiment. Es kann sein, dass ich hier nur wenige Texte veröffentliche, es kann sein, dass es mehr werden; und vielleicht mag sich auch jemand mit dem einen oder anderen Text anschließen. Es würde mich freuen. Ich möchte hier Gedanken, die mir wichtig erscheinen, in Textform öffentlich machen: Gedanken, bei denen ich so weit bin, dass sie sich für mehr als für Blog-Posts eignen, Gedanken, die ich nicht anpassen möchte an Anforderun- gen von Gutachtern und Herausgebern – in einer Textform, bei der ich kein Corporate Design und keine sonstigen Formal-Vorgaben (Genderschreib- weise, Textlänge) beachten muss. Einfach frei schreiben – und das auch noch, ohne an irgendeinen Impact zu denken! Kontaktdaten an der Universität Hamburg: Prof. Dr. Gabi Reinmann Universität Hamburg Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL) Leitung | Professur für Lehren und Lernen an der Hochschule Schlüterstraße 51 | 20146 Hamburg reinmann.gabi@googlemail.com gabi.reinmann@uni-hamburg.de https://www.hul.uni-hamburg.de/ http://gabi-reinmann.de/ IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[1] WEM GEHÖRT DIE Schon seit den Klassikern der Kritischen Theo- rie, spätestens seit Habermas‘ „Theorie des ÖKONOMISCHE BILDUNG? Kommunikativen Handelns“ (Habermas, 1981), DIE PROBLEMATISCHE beschäftigen sich Sozialwissenschaftler*innen LEITKULTUR DER mit den Gefahren des ökonomischen Imperialis- mus, mit der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN (Habermas, 1981) durch die Verwertungslogik AUS HOCHSCHUL- UND MEDIEN- des Marktes. Wo eine auf individueller Nutzen- maximierung basierende Managementlogik in DIDAKTISCHER PERSPEKTIVE sozial bedeutsame Institutionen eindringt, lohnt es sich, genau hinzuschauen und begründet ab- MARC CASPER zuwägen. Dabei gehört es zu den liebsten Frei- zeitbeschäftigungen westlicher Intellektueller, herauszustellen, was genau den Neoliberalis- mus kennzeichnet und welche eklatanten Män- Ein fragwürdiges Paradigma der gel er hat – ohne in der Regel jedoch zu nen- „Wirtschaftlichkeit“ nenswerten Alternativen zu kommen (frei nach Harari, 2017, S. 269). Während ich mich gedanklich auf dieses Essay einlassen wollte, eskalierte die Corona-Pande- So finden sich auch für die Hochschullehre zu- mie, auch in Deutschland. Hamsterkäufer ma- nächst diverse Mängel- und Widerspruchslis- chen Toilettenpapier zur Mangelware, die rele- ten, beispielsweise in Glogers Buch „Betriebs- vanten Finanzindizes fliegen Sturz und in links- wirtschaftsleere“ (sic!) (Gloger, 2016 ), in Ana- ökologischen Foren wird diskutiert, inwieweit lysen volkswirtschaftlicher Lehrbücher und sich die Krisensituation als „Möglichkeitsfens- ökonomisch-akademischer Rhetorik insbeson- ter“ (vgl. Kingdon, 2011; Nill et al., 2005) her- dere von Graupe (2013, 2014, 2016) und in ausstellt – als Zeitraum, in dem Problembe- zahlreichen studentischen Initiativen, allen vo- wusstsein, politische Möglichkeiten und hand- ran dem „Netzwerk Plurale Ökonomik“, das in lungswillige Interessensvertretungen derart zu- Frankreich noch vielsagender als „Post-autisti- sammentreffen, dass nachhaltige Kurswechsel sche Ökonomie“ bekannt ist1. Diese kritischen möglich sind. Im Kreuzfeuer der Kurswechsel- Stimmen prangern gemeinsam an, dass der sehnsucht steht dabei, wie so oft, der neoliberale mainstream der Wirtschaftswissenschaft zu ein- Spätkapitalismus – den ich hier aus gegebenem seitig sei, ideologisierend, dabei zu abstrakt und Anlass aus einer Hochschul- und Mediendidak- weltfremd (was wiederum als Teil der ideologi- tischen Perspektive betrachten möchte. schen Verschleierung gewertet wird), und aus didaktischer Sicht mindestens langweilig und Durch Phänomene wie die Corona-Krise wird uninspiriert, wenn nicht gar schädlich für die offensichtlich, wie abhängig wir Menschen sind freiheitliche Entwicklung der Lernenden. Kurz: – ja, auch von funktionierenden (Super-)Märk- Das Etikett „Ökonomische Bildung“ scheint re- ten, aber vielmehr noch von sozialen (Infra-) gelmäßig ein Schwindeletikett zu sein, frech Strukturen, von Allmenden und Solidarität, und über Erziehungs- und Indoktrinationsanliegen nun so spürbar: von funktionierenden Gesund- der ökonomischen Eliten geklebt. heits- und Bildungssystemen. Diese lassen sich durch marktliberale Steuerung vielleicht in eini- Auf der anderen Seite gibt es die Avantgardis- gen Bereichen optimieren, insgesamt jedoch ten, die sich als Scholarship of Teaching and zeigt die flächendeckende Überforderung dieser Learning (= SoTL) (Huber, 2014) verstehen Systeme, dass eine Gesellschaft gut daran tut, und sich seit Jahrzehnten um eine zumindest ihr Gesundheitssystem nicht an betriebswirt- hochschuldidaktische Öffnung und Professio- schaftlicher Gewinnmaximierung auszurichten nalisierung der Wirtschaftswissenschaften be- (und damit konsequent zu privatisieren und/o- mühen. Doch es bleibt bei einer avantgardisti- der grenzwertig zu finanzieren) – sondern eben schen Randerscheinung, wie Hoyt und an der Gesundheit. McGoldrick aus einer Rückschau von 50 Jahren des Journal of Economic Education schließen: „We must acknowledge that lecture is still the 1 https://www.plurale-oekonomik.de/netzwerk-plu- rale-oekonomik/ (24.03.2020) IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[2] dominant pedagogic practice in economics [...]” beruft. Was sind diese Leitideen, verdichtet: die (Hoyt & McGoldrick, 2019, 188), und mit „lec- Leitkultur der neoliberalen Ökonomik, und wie ture“ ist dort nicht wertfrei das klassische, aber drückt sie sich im universitären Lehren und Ler- prinzipiell sehr vielseitige soziale Format der nen aus? Was sind ihre Leitmedien und wie sind Vorlesung gemeint, sondern die als „Chalk and sie didaktisch einzuschätzen? Ich gehe beiden Talk“ (Becker & Watts, 1996) bekanntgewor- Fragen nach und erläutere zuerst zur ersten dene und oft kritisierte Praxis des asymmetri- Frage, nach der Leitkultur der Ökonomik, drei schen, von den ‚Hörenden‘ völlig unbeein- Aspekte des Neoliberalismus, die laut Hellger- druckten, Vorrechnens und Vortragens als or- mann (2018, S. 20-22) besonders relevant für thodox-kanonisch anerkannter Modelle und Pädagog*innen sind: Marktglauben, Klassen- ‚Einsichten‘ der mathematikverliebten neoklas- kampf und Gouvernementalität. sischen Ökonomik. Dieses unpädagogische Do- zieren hat andernorts Wagenschein auf den Der Neoliberalismus zeichnet sich zunächst Punkt gebracht: „Sie [die ‚Chalk and Talk‘-Do- dadurch aus, eines (!) von vielen existierenden zierenden, MC] zeigen sich lieber als Sieger ökonomischen Theoriegebäuden ins Zentrum denn als Sucher. So haben sie es schwer, gute seines Denkens zu setzen, und zwar den mit ne- Lehrer zu werden. Sie deduzieren gern, denn da oklassischen mathematischen Modellen ge- kann, wenn alles stimmt, keiner widersprechen stützten uneingeschränkten Glauben an die Ef- und jeder ‚kann folgen‘. Er wird nur gefragt fizienz von Märkten. Dieser Glaube ist uneinge- ‚Kommen Sie mit?‘, und nicht ‚Fällt Ihnen zu schränkt insofern, dass die neoliberale Ökono- dem Problem etwas ein?‘ Er gewöhnt sich ab zu mik jede reale Ineffizienz, jedes tatsächliche fragen: ´Wie sind Sie darauf gekommen?´“ ‚Marktversagen‘, nicht den eigentlichen Markt- (Wagenschein 2013, S. 127). mechanismen selbst zuspricht, sondern äußeren Faktoren. Auch wenn es empirisch de facto Diese „Kommen Sie mit?“-Haltung habe ich keine perfekten Märkte gibt, so folgt der Neoli- selbst als Student an zwei verschiedenen Hoch- beralismus dem Credo, Märkte wären perfekt, schulen sowie als Lehrender in unterschied- wenn nicht: Menschen irrational handeln wür- lichsten Konstellationen als prägendes Merk- den, den Markt aus Machtinteressen manipulie- mal wirtschaftswissenschaftlicher Studien- ren würden oder staatliche, regulierende Ein- gänge erlebt. Da ich das als sehr unbefriedigend griffe den Markt ‚stören‘ würden. Besonders erlebe, diskutiere ich seit jeher in verschiedenen das letzte Argument hat zum Siegeszug dieses Fach-Communities (z. B. der GSÖBW2) mit, Denkstils beigetragen: In Opposition zu den über Gründe, Entwicklungslinien und Alterna- wirtschaftstheoretischen und -politischen Leit- tiven. Hier möchte ich nun aus einer hochschul- ideen der Nachkriegszeit, insbesondere des und mediendidaktischen Perspektive beleuch- Keynesianismus3 und des Wohlfahrtstaates, ten, was es mit dieser „Kommen Sie mit?“-Hal- setzten sich seit den 70er und 80er Jahren Stim- tung des Neoliberalismus auf sich hat und wie men durch, die eine staatliche ‚Einmischung‘ in man ihr als gestaltungsinteressierte*r Leh- die ‚Wirtschaft‘ auf ein absolutes Minimum re- rende*r begegnen kann. Dabei folge ich einem duzieren wollten. Politisch vertreten von kon- bildungsphilosophischen Ansatz im Sinne servativen Staatsoberhäuptern wie Reagan und Reinmanns: „Die Bildungsphilosophie rekon- Thatcher, akademisch vertreten insbesondere struiert und reflektiert bestehende Zwecke und von Radikalliberalen wie Friedman4 und von Ziele, sie analysiert und kritisiert künftige Zwe- Hayek (2011) forderte diese ‚neue Liberalisie- cke und Ziele und strebt dabei an, Welterkennt- rung‘ vor allem Privatisierungen, Deregulie- nis und Selbstdeutung zu verbinden“ (Rein- rung (insbesondere der Finanzwirtschaft) und mann 2015, S. 183). zunehmende ‚Eigenverantwortung der Bürger‘ – sprich: einen Rückbau des Sozialstaates. Pädagogisch relevante Aspekte des Auch wenn dies in den Bestsellern der ökono- Neoliberalismus mischen Lehrbücher5 heute kaum bis nicht (und „Kommen Sie mit?“ ist ein Ausdruck von Füh- wenn, dann ideologisch verzerrt) thematisiert rung, von Autorität, die sich auf klare Leitideen 2 5 https://soziooekonomie-bildung.eu/ (25.03.2020) allen voran Samuelson und Nordhaus (2005) so- 3 zentral Keynes (2002) wie Mankiw und Taylor (2008) 4 beispielhaft für den hier diskutierten Denkstil Friedman (2007) IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[3] wird, so wird aus der Ideengeschichte und Ak- Ressourcen haben, der ihnen zugeschobenen teursdynamik des Neoliberalismus sehr deut- Verantwortung gerecht zu werden. Doch eine lich, dass es sich hierbei um ein evolutionisti- Marktwirtschaft braucht eine Marktgesell- sches, elitäres Programm handelt: Es mag sein, schaft; diese braucht einen Marktmenschen, der dass freie Menschen freie Märkte erzeugen, ständige Selbstoptimierung und Konkurrenz- aber andersherum gilt dies empirisch nicht (Pi- verhalten praktiziert; der tatsächlich glaubt, ketty, 2016). Freie Märkte führen nicht ‚gesetz- also verinnerlicht hat, dass sich jeder vom Tel- mäßig‘ zu freien Menschen, da kein realer lerwäscher zum Millionär hocharbeiten kann – Markt tatsächlich ‚frei‘ im Sinne der neoklassi- auch wenn offensichtliche Barrieren und Büro- schen Theorie ist. Ein unregulierter realer kratien dies de facto verhindern. Der Neolibera- Markt führt in der Regel zu Kapitalakkumula- lismus ist, in dieser kulturellen Dimension, eine tion (was kritischen Ökonom*innen seit den systemische Form von Gewalt, die auf einer Analysen von Marx bewusst ist), sprich: Die Vielzahl von Symbolsystemen (Markenimages, Reichen werden reicher, die Armen ärmer, denn Statussymbole, Kunstformen), Regeln, Institu- ‚Geld zieht Geld an‘ und ‚Macht zieht Macht tionen und leerer Wohlstandsversprechen be- an‘. Solange Macht- und Ohnmachtsge- ruht, deren subtiler machtasymmetrischer Geist fühle/-ängste zum Repertoire der menschlichen sich mit einem einfachen Gleichnis illustrieren Erfahrung gehören (Sedlácek & Tanzer, 2017), lässt: „Da es dem König aber wenig gefiel, dass und solange es Skaleneffekte in der Produktion sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlas- gibt, sind unregulierte Märkte eben nicht frei, send, sich querfeldein herumtrieb, um sich sondern Spielwiesen der bereits Besitzenden. selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, Dies führt zum zweiten pädagogisch relevanten schenkte er ihm Wagen und Pferd. 'Nun Aspekt des Neoliberalismus nach Hellgermann: brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen', waren Neoliberalismus ist de facto ein Ausdruck von seine Worte. 'Nun darfst du es nicht mehr', war Klassenkämpfen, bzw. von Macht(erhal- deren Sinn. 'Nun kannst du es nicht mehr', deren tungs)kämpfen der besitzenden Eliten. Dies Wirkung“ (Anders, 2010, S. 97). wurde u. a. von Harvey (2011) historisch aufge- arbeitet, der die Reagan- und Thatcher-Ära als Ökonomische Bildung zwischen den konservative Konterrevolution rekonstruierte: Polen der Hochschuldidaktik Die damaligen ökonomischen Eliten sahen sich von den antiautoritären Bewegungen der 68er, Eine totalitäre Markttheorie, verdeckter ökono- von durch die zunehmende Globalisierung un- mischer Klassenkampf und strukturelle Gewalt berechenbar werdenden Wirtschaftskrisen und durch Gouvernementalität, „verinnerlichte Re- von der Ent-Kolonialisierung in ihrer Vorherr- gierung“, sind also drei pädagogisch relevante schaft bedroht. Es sollte einleuchten, dass z. B. Aspekte des Neoliberalismus, denn sie enttar- Deregulierungen der Kapitalmärkte vor allem nen ihn als hegemoniale Ideologie mit erziehe- den Menschen etwas nützen, die überhaupt über rischem Charakter – als dehumanisierende Ten- Kapital verfügen, und dass eine umfassende Er- denz, der sich eine kritisch-emanzipatorische ziehung zur Selbstverantwortung vor allem im Bildung6 entgegenstellen müsste. Der Paradig- Sinne derjenigen Menschen ist, die schon der- menwechsel zum Neoliberalismus führte aller- maßen privilegiert sind, dass sie nicht auf die dings auch dazu, dass es in den Wirtschaftswis- Solidarität anderer angewiesen sind. senschaften heute eine klare hegemoniale Leit- kultur (einen mainstream) und ein damit ver- Diesen letzten von Hellgermanns Punkten habe bundenes Bewusstsein „orthodoxer“ und „hete- ich nun schon mehrfach vorweggenommen: Die rodoxer Ökonomik“ (Lawson, 2006) gibt, an systematische Erziehung zur Selbstverantwor- Hochschulen ebenso wie an vor- und nachgela- tung mag sich auf den ersten Blick gut als eman- gerten Bildungsinstitutionen. Ich möchte das zipatorisches, antiautoritäres Anliegen argu- bislang diskutierte nun mit Bezug auf Hubers mentieren lassen, doch im Kontext des Neolibe- (1983) Pole der Hochschuldidaktik beleuchten, ralismus nimmt sie eine Form „verinnerlichter die ich in eigenen Arbeiten wie folgt visuali- Regierung“ an, im Sinne des Begriffs der Gou- siere (Casper, in Druck): vernementalität, wie ihn Foucault (2009) ge- prägt hat. Es ist zynisch, an die Eigenverantwor- tung von Menschen zu appellieren, die keine 6 im Sinne Klafkis (2007) und Blankertz‘ (1982) IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[4] Abb 1: Pole der Hochschuldidaktik (Casper, in Druck; angelehnt an Huber, 1983 und Reetz, 1984) Hochschulisches Lehren und Lernen bezieht Kanon erschöpfen – es könnte nicht allein da- sich laut Huber, in stets dynamischen Konstel- rum gehen, Studierende zu überzeugten Spezia- lationen, auf die drei Pole Praxis, Wissenschaft listen des neoklassischen Denkstils zu (v)erzie- und Person. Diese Pole stehen sowohl zueinan- hen. Vielmehr müssten ökonomische Phäno- der in einem Spannungsverhältnis, als auch in mene und realweltliche Probleme das Curricu- sich. So bewegt sich der Praxisbezug universi- lum strukturieren und Studierenden die Mög- tärer (Aus-)Bildung zwischen den Polen der be- lichkeit geben, aus einer Vielzahl methodischer ruflichen Verwertbarkeit (hier: neoliberal-kon- Perspektiven zu wählen (siehe „Plurale Ökono- forme Marktgängigkeit) und der gesellschaftli- mik“!) und selbständig Lösungen (oder zumin- chen Praxis (hier womöglich: einer Überwin- dest Alternativen) zu erarbeiten – eben wie im dung neoliberaler Machtasymmetrien und öko- obigen Wagenschein-Zitat, nicht mehr nur nomisch verfestigter struktureller Gewalt). Da- „mitkommen“, sondern „selbst etwas dazu den- hinter verbirgt sich die ultimative curriculare ken“. Statt sich disziplinär zu spezialisieren und Leitfrage: Wozu sollen Studierende eines wirt- zu verengen, würde ein durch Phänomene und schaftswissenschaftlichen Studiengangs letzt- Probleme strukturiertes Studium wohl eher „un- lich ermächtigt werden? Zur teilnehmenden Af- diszipliniert denken lehren“ (Hedtke, 2020). firmation oder zur kritisch-konstruktiven Mit- Das lässt sich in die sogenannten „21st century und Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhält- skills“ und ihre „4K“ (Trilling & Fadel, 2009) nisse? Und falls „ja“ zu beidem: Wie kann eine übersetzen: Kollaboration, Kommunikation, solche Dialektik gelingen, individuell wie ge- Kritisches Denken und Kreativität. sellschaftlich? Ich bin aus eigener Erfahrung davon überzeugt, dass eine derartige übergeord- Schauen wir auf den letzten von Hubers Polen, nete Zielklärung unter Ökonomik-Lehrenden die sich bildende, freiwerdende Person, so derzeit nur in Ausnahmefällen stattfindet, aber scheinen die „4K“ auch für die individuelle Ent- maßgeblich zur Qualität der Lehre beitragen wicklung deutlich liberaler im ursprünglichen würde, zumindest in einem bildungstheoreti- Sinne des Wortes zu sein, als es das Credo des schen Sinne. Neoliberalismus verspricht. Die neoklassische Modellfigur des nutzenmaximierenden Homo Dies hätte schließlich maßgebliche Implikatio- oeconomicus hat schließlich ganz andere, ma- nen für die beiden weiteren hochschuldidakti- thematisch einfacher zu modellierende K’s: schen Pole. Der wissenschaftliche Bezug einer Konkurrenz, Kontrolle, Konformität und Kapi- auf Aufklärung und Transformation angelegten tal. Ein Blick in meine eigene Erfahrung und ökonomischen (Hochschul-)Bildung könnte sich dann nicht im „orthodoxen“ neoliberalen IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[5] die, laut einschlägigem Diskurs7 weiterhin gän- men und einprägen, Fragen der Lehrperson be- gige, Praxis wirtschaftswissenschaftlicher Bil- antworten“ (Tulodziecki et al., 2010, S. 112) er- dungsgänge zeigt leider, dass deren Zwecke und möglicht – eigene Fragen entwickeln, kreatives Ziele in der Regel den K’s des Neoliberalismus und kritisches Denken werden hingegen syste- verpflichtet sind. Derartige Angebote ‚Ökono- matisch unterdrückt. Die mit dem Lehrbuchfo- mischer Bildung verstehen sich dann als Hu- kus zusammenhängenden kognitiven Prozesse mankapital-Dienstleistungen oder Kompetenz- sind im Sinne von Anderson und Krathwohl Zulieferer der Privatwirtschaft, die sich im „war (2001) weitaus anspruchsloser als solche, die for talents“ (Busold, 2019) befindet. Wo sich mit den transformativen „21st century skills“ Bildungsangebote am Markt orientieren, verfal- verbunden werden – was keinesfalls heißt, dass len sie schließlich selbst in ein Produktionspa- derartiges Lernen nicht viel anstrengender, weil radigma: So schnell und günstig so viele und fremdbestimmter, ist, als es bei höheren kogni- brauchbare Absolventen wie möglich hervor- tiven Prozessstufen der Fall wäre. Kurz: Eine bringen, „business-school-as-business-model“ auf ein (!) Textbuch als einziges (!) Leitmedium (Benton et al., 2018, S. 15). Und in diesem Ge- beschränkte Lehrveranstaltung schafft Text- schäftsmodell gibt es einen zentralen, nicht zu buchzombies mit Scheuklappen, keine gebilde- unterschätzenden Produktionsfaktor: das Lehr- ten Persönlichkeiten. Sie fördert höchstens die buch. „4K“ des Neoliberalismus, oder, wie Giacomo Casanova gesagt haben soll: „Man sollte sich Alte und neue Leitmedien des vor Menschen hüten, die nur ein Buch gelesen Neoliberalismus haben.“ Wie ich schon anmerkte, ist „Chalk and Talk“ Es mag eine Zeit gegeben haben (kurz nach Er- weiterhin die Leitmethode Ökonomischer findung des Buchdrucks wohl), als die Text- Hochschullehre, insbesondere in Einführungs- buchtotalität den höchsten technischen Mög- kursen, die auch massenweise von Studierenden lichkeiten entsprach. Mit den heute verfügbaren ‚anderer‘ Fächer besucht werden (Graupe, vielfältigen Medien ist sie jedoch nicht alterna- 2013). Vor dem Hintergrund meiner bisherigen tivlos und keinesfalls als Leitidee einer Ökono- Ausführungen sind diese Veranstaltungen mischen Bildung zumutbar. Mit den Möglich- „Kleinlabore kultureller Indoktrination“ (Cohn, keiten insbesondere des Web 2.0 können z. B. 1998, S. 23) des Neoliberalismus. Dies wird Rollentrennungen wie die zwischen Autor und noch deutlicher, wenn man den Gegenstand des Rezipient aufgehoben werden (Tulodziecki et „Chalk and Talk“ mediendidaktisch betrachtet: al., 2010, 109), diverse Good-Practice-Bei- Das in Einführungskursen ‚vermittelte‘ Wissen spiele studentischer ökonomischer Blogs und entstammt in der Regel den oben genannten interaktiver Seminare belegen dies pragmatisch Bestseller-Lehrbüchern. Dieser „stick-to-the- (Hoyt & McGoldrick, 2019). Der „stick-to-the- textbook-approach“ (Benton et al., 2018, S. 15) textbook-approach“ ist mediendidaktisch ist auch deshalb weit verbreitet, weil er hoch in- schließlich nur noch vertretbar, wenn er bewusst centiviert ist: Die textbuchbasierte Lehre lässt eingesetzt wird, um entsprechende ‚Bildungs‘- sich mit wenig Aufwand durchführen, die Do- Anliegen zu verfolgen. Wer neoliberal-hegemo- zenten brauchen kaum hochschuldidaktische nial indoktrinieren will, kann dies mit einem Qualifikation; curriculare Entscheidungen, Ma- Textbuch-basierten Lehrmittelkonzept sehr ef- terialaufbereitung, teils bis hin zur Prüfungsge- fizient tun. Wer hingegen höhere Prozesse an- staltung, werden standardisiert ‚outgesourced‘. strebt und Lehre als emanzipatorisches Bil- Das Lehrbuch ist ein unheimlich effizienzstei- dungsangebot gestalten will, muss sich auf gernder Produktionsfaktor – ökonomisch be- komplexere und partizipativere (Mayrberger, trachtet. Betrachten wir es jedoch pädagogisch, 2013) Medienkonzepte einlassen, in denen die wird deutlich, dass der „stick-to-the-textbook- Beziehung zwischen den Lernenden und deren approach“ ein reines „Lehrmittelkonzept“ individuelle Stimmen gezielt medial gestärkt (Tulodziecki et al., 2010, S. 112) darstellt und werden. als Lernaktivitäten vornehmlich „rezeptives Für gestaltungsorientierte Lehrende gilt also, im und reaktives Lernen, Informationen aufneh- Sinne einer „gestaltungsorientierten Mediendi- daktik“ (Kerres 2008, S. 120): Medien sind als 7 zum Einstieg: https://www.bwpat.de/ausgabe/35 (29.03.2020) und Engartner et al. (2018) IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
[6] Mittel im ursprünglichen Sinn des Wortes zu bestimmen und zu verantworten und die geeig- verstehen. Sie sind als Werkzeuge von zuvor be- neten Werkzeuge (oder ‚Medien‘) zu wählen, stimmten Bildungsanliegen her zu denken, zu um diese Mitgestaltung zu realisieren – nicht wählen und zu gestalten; nicht als Selbstzweck nur, aber auch, für Lehrende. oder als gesetztes, unreflektiertes geheimes Curriculum (Margolis, 2001) (wie im Falle ei- Literatur ner Ökonomik als Lehrbuchwissenschaft). Wenn vom Bildungsanliegen her gedacht wird, Anders, G. (2010). Die Antiquiertheit des Men- so lassen sich insbesondere digitale Medien für schen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten ein breites Spektrum kognitiver Prozesse einset- industriellen Revolution. München: C.H. Beck. zen, wie der Diskurs um das SAMR-Modell Anderson, L. W.; Krathwohl, D. R. (Eds.) (Hamilton et al., 2016) und seine Anwendungs- (2001), A taxonomy for learning, teaching, and möglichkeiten entlang der Anderson und assessing. A revision of Bloom's Taxonomy of Krathwohl-Taxonomien verdeutlicht. Dieser educational objectives. New York: Longman. Diskurs zeigt jedoch auch, dass digitale Medien Becker, W. E. & Watts, M. (1996). Chalk and wiederum kein Allheilmittel sind: Auch sie talk: A national survey on teaching undergradu- können zum Selbstzweck verkommen oder als ate economics. The American Economic Re- Werkzeuge für anspruchslose und bildungsphi- losophisch fragwürdige Prozesse eingesetzt view, 86 (2), S. 448-453. werden. Benton, M., Casper, M., Karner, S. & Tafner, G. (2018). Materialism, subjective happiness and Eine hegemoniale Ideologie lässt sich schließ- epistemic beliefs of students of economics in lich auch digital predigen. Auch wenn die de- Hamburg, Graz and Bangkok: A cross cultural zentrale Struktur des Internets grundsätzlich study and discussion regarding economics edu- neue und höhere Formen der Partizipation er- cation. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspäda- möglicht, als es z. B. das neoliberale Leitme- gogik – online (35). dium des Fernsehens zur Zeit der Reagan-Pro- paganda zuließ, so steht auch das Internet heute Blankertz, H. (1982). Die Geschichte der Päda- an einem demokratischen Scheitelpunkt. Die er- gogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. höhte Komplexität und Menge verfügbarer Da- Wetzlar: Büchse der Pandora. ten macht uns immer abhängiger von ordnenden Busold, M. (Hrsg.) (2019). War for Talents. Er- Algorithmen – und wer diese Algorithmen steu- folgsfaktoren im Kampf um die Besten. Berlin: ert, erhält dadurch ungeahnte Deutungshoheiten Springer Gabler. (vgl. Stalder, 2017; Harari, 2017). Die persona- lisierte Werbung von Google oder Amazon ist Casper, M. (in Druck). Gedeih-Räume so- nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sich zio*ökonomischer Hochschullehre. Zur Innen- neoliberale Logik in Digitalität ausdrückt. architektur einer lebendigen Wirtschaftsdidak- Wenn sie nicht gezielt partizipativ (mit-)gestal- tik. In L. Bäuerle, H. Hantke, L.-M. Schröder & tet wird, so mündet auch die Digitalisierung J. Urban (Hrsg.), Wirtschaft neu denken. Erfah- schließlich in weitere Formen der Gouverne- rungen aus der pluralen sozio*ökonomischen mentalität, oder wie Deleuze es vorwegnahm: Hochschullehre. Wiesbaden, Springer VS. in eine technokratisch verstärkte „Kontrollge- Deleuze, G. (2014). Unterhandlungen. 1972 - sellschaft“ (Deleuze, 2014). Denn „gerade in 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp. der zunehmenden Verbreitung von Computern erkennt Deleuze eine neue Qualität von Herr- Engartner, T. Fridrich, C. & Graupe, Ss (Hrsg.) schaft. Technologie verbinde eine wachsende (2018). Sozioökonomische Bildung und Wis- soziale und wirtschaftliche Komplexität mit zu- senschaft. Entwicklungslinien und Perspekti- nehmenden Handlungsmöglichkeiten der Men- ven. Wiesbaden: Springer. schen. Diese nutzten sie gleichwohl, um sich Foucault, M. (Hrsg.) (2009). Geschichte der willentlich und bewusst in das gesellschaftliche Gouvernementalität. Frankfurt am Main: Suhr- und kapitalistische Ganze einzufügen“ (Schrei- kamp. ner, 2018, S. 69). Es bleibt wohl unabhängig von den zeitgenössischen Medien eine stete Friedman, M. (2007). The social eesponsibility Aufgabe, sich bewusst zwischen Anpassung of business is to increase its profits. The New und Veränderung zu verorten, den Grad der York Times Magazine, September 13, 1970. Mitgestaltung immer wieder neu individuell zu Copyright @ 1970 by The New York Times Company. Reprinted by permission of The New IMPACT FREE 27 (April 2020) Casper
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