Impact Free Impact Free 39 - August 2021 - Hochschuldidaktisches Journal - Gabi Reinmann

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Impact Free Impact Free 39 - August 2021 - Hochschuldidaktisches Journal - Gabi Reinmann
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   Impact Free
   Hochschuldidaktisches Journal

   Impact Free 39 – August 2021
   HAMBURG

IMPACT FREE 39 (August 2021)         Schmidt & Vohle
Impact Free Impact Free 39 - August 2021 - Hochschuldidaktisches Journal - Gabi Reinmann
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Impact Free
Was ist das?
Impact Free ist eine Publikationsmöglichkeit für hochschuldidaktische Texte,
-   die als Vorversionen von Zeitschriften- oder Buch-Beiträgen online ge-
    hen, oder
-   die aus thematischen Gründen oder infolge noch nicht abgeschlossener
    Forschung keinen rechten Ort in Zeitschriften oder Büchern finden, oder
-   die einfach hier und jetzt online publiziert werden sollen.

Wer steckt dahinter?
Impact Free ist kein Publikationsorgan der Universität Hamburg. Es handelt
sich um eine Initiative, die allein ich, Gabi Reinmann, verantworte, veröffent-
licht auf meinem Blog (http://gabi-reinmann.de/).
Herzlich willkommen sind Gastautoren, die zum Thema Hochschuldidaktik
schreiben wollen. Texte von Gastautorinnen können dann natürlich auch in de-
ren Blogs eingebunden werden.

Und was soll das?
Impact Free war gedacht als ein persönliches Experiment. Falls zu wenige
Texte über einen gewissen Zeitraum zusammengekommen wären, hätte ich das
Vorhaben wieder eingestellt. Dem ist aber nicht so, sodass ich Impact Free bis
auf Weiteres fortsetze. Inzwischen sind die Texte auch über die Staats- und
Universitätsbibliothek Hamburg hier erreichbar.
In diesem Journal mache ich in Textform öffentlich, was mir wichtig erscheint:
(a) Gedanken, bei denen ich so weit bin, dass sie sich für mehr als Blog-Posts
eignen, (b) Texte, die aus diversen Gründen noch nicht geeignet sind für andere
Publikationsorgane, (c) Texte, die in Reviews abgelehnt wurden oder infolge
von Reviews so weit hätten verändert werden müssen, dass es meinen Inten-
tionen nicht mehr entspricht, (d) Texte mit hoher Aktualität, für welche andere
Publikationswege zu langsam sind, (e) inhaltlich passende Textbeiträge von
anderen Autorinnen. Genderschreibweise und Textlänge sind bewusst variabel
und können frei gewählt werden.

Kontaktdaten an der Universität Hamburg:
Prof. Dr. Gabi Reinmann
Universität Hamburg
Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL)
Leitung | Professur für Lehren und Lernen an der Hochschule

Schlüterstraße 51 | 20146 Hamburg

reinmann.gabi@googlemail.com
gabi.reinmann@uni-hamburg.de
https://www.hul.uni-hamburg.de/
http://gabi-reinmann.de/

IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                      Schmidt & Vohle
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MATHEMATIK-VORLESUNGEN                                            nur wenig Interaktion mit den Studierenden
                                                                  statt – Angebote zur Beantwortung offener Fra-
NEU DENKEN:                                                       gen zur letzten Vorlesung werden selten ge-
VOM DIDAKTISCHEN DESIGN                                           nutzt. Zudem lernen viele Studierende häufig
                                                                  nach dem Bulimie-Prinzip: Erst vor der Prüfung
ZU DESIGN-BASED RESEARCH                                          eignen sie sich den „Stoff“ in kurzer Zeit an,
                                                                  was zum Bestehen ausreicht, aber wenig nach-
MARTIN SCHMIDT & FRANK                                            haltiges Wissen erzeugt. Gerade fest verankerte
                                                                  Wissensstrukturen sind aber für das weitere
VOHLE                                                             Studium der Mathematik entscheidend.
                                                                  Aus dieser allgemeinen Unzufriedenheit heraus
                                                                  ist der Wunsch entstanden, ein Vorlesungskon-
1. Ausgangslage und Zielsetzung                                   zept zu entwickeln, welches mehr Rückfragen,
                                                                  Feedback und Interaktion zwischen Professor2
In den Corona-Jahren 2020/2021 ist die Virtua-                    und Studierenden zur Förderung des Verstehens
lisierung der Lehre an deutschen Hochschulen                      zulässt und es den Studierenden ermöglicht,
zur flächendeckenden Praxis geworden. Unter                       Einfluss auf die Auswahl der Aufgaben der
dem Stichwort der Hybrid-Lehre werden unter-                      Übung zu nehmen. Anknüpfend an frühere Ar-
schiedliche Modelle zusammengefasst, die vor                      beiten zur technologiegestützten Lehre
allem – aber nicht nur – die „neue“ Präsenz                       (Schmidt & Söhngen, 2012) suchte Schmidt
durch Videokonferenzen beschreiben. Diese                         eine überfachliche Kooperation mit dem wis-
werden durch Zuschaltung von Seminaraktivi-                       senschaftsnah arbeitenden Mediendidaktiker
täten vor Ort an den Hochschulen sowie syn-                       Vohle, der mit seinem Beratungsschwerpunkt
chrone und asynchrone Aktivitäten zur Hyflex-                     auf hybride und videobasierte Lehr-Lern-Sze-
Lehre ausgebaut, was maximale Flexibilität                        narien bei der didaktischen Neuausrichtung hel-
verspricht, aber auch Kritiker auf den Plan ruft                  fen kann.
(vgl. Reinmann, 2021).
Im Fach Mathematik der Universität Trier sieht                    2. Entwurf und Entwicklung
es nicht anders aus als im Rest der Republik.
                                                                  In mehreren Sitzungen wurde zunächst daran
Seit dem Sommersemester 2020 bietet Martin
                                                                  gearbeitet, Spezifika von Mathematikvorlesun-
Schmidt seine Vorlesungen via ZOOM an, d.h.,
                                                                  gen gemeinsam zu rekonstruieren: Worauf
er hat die Kreidetafel des Hörsaals1 gegen den
                                                                  kommt es (insbesondere in der Mathematik) an?
geteilten Screen seines Tablets ausgetauscht.
                                                                  Was sind die besonderen Hürden bei der Ver-
Währenddessen versuchen seine Studierenden
                                                                  mittlung bzw. Aneignung? Von den vielfältigen
am Heimrechner, das Gesagte und Gezeigte
                                                                  didaktischen Optionen wurde schnell der
nachzuvollziehen und mittels Mitschrift für die
                                                                  Schwerpunkt „Interaktion“ zwischen Lehren-
eigene Nachbearbeitung zu dokumentieren.
                                                                  den und Lernenden als relevant identifiziert. Ein
Sein Assistent Dennis Kreber bietet außerdem
                                                                  wesentlicher Grund hierfür ist der Status Quo,
in jeder Vorlesungswoche eine Übung an, in
                                                                  in dem Studierende während der Vorlesung we-
welcher der abstrakte Vorlesungsstoff in Aufga-
                                                                  gen des hohen Zeitdrucks (es wird 90 Minuten
ben angewendet und offene Fragen mit Studie-
                                                                  am Stück gelesen) fast keine Chance haben, ihr
renden diskutiert werden. Nach 15 Vorlesungs-
                                                                  Nichtverstehen zu verbalisieren und zur Diskus-
wochen finden dann die Prüfungen in der an-
                                                                  sion zu stellen. Vor diesem Hintergrund bestand
schließenden vorlesungsfreien Zeit statt. Auch
                                                                  das Hauptziel darin, den Studierenden die Mög-
vor Corona sah die Lehrorganisation nicht an-
                                                                  lichkeit zu geben, ihr Nichtverstehen für den
ders aus; auch hier gab es 15 Vorlesungswochen
                                                                  Professor und für sich selbst zu „bookmarken“,
– nur im „analogen Hörsaal“ in Kombination
                                                                  ohne die quantitative Effizienz der bisherigen
mit Übungen im Seminarraum.
                                                                  Lehrform zu verringern.
Schmidt ist mit dieser Form der Lehre schon seit
längerem unzufrieden. In der Vorlesung findet

1                                                                 2
  Die in diesem Hochschulbegriff manifestierte Rollenver-           Bei dieser Rolle verbleiben wir für den Rest des Artikels
teilung wird noch zentraler Gegenstand der folgenden Ge-          in der maskulinen Form, da sie sich durchgängig auf die
danken sein.                                                      bei diesem Projekt durchführende und männliche Lehrper-
                                                                  son bezieht.

IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                                             Schmidt & Vohle
[2]

Das didaktische Konzept sah fünf Veränderun-
gen im Sinne des didaktischen Designs vor                      4. Die Studierenden können in der Vorlesung
(Reinmann, 2015), aus denen neue Interaktions-                    oder danach durch Kurzkommentare Wün-
formen entwickelt wurden:                                         sche formulieren, zu welchen Stellen und
1. Die in ZOOM stattfindende Vorlesung wird                       Themen der Vorlesung sie Hilfen (Übungs-
   aufgezeichnet, um Studierenden die Video-                      aufgaben, Diskussion, etc.) in der nachgela-
   konserve zur individuellen Nachbereitung                       gerten Übung oder der folgenden Vorle-
   zur Verfügung zu stellen. Hierdurch können                     sung haben möchten.
   die Studierenden sowohl synchron als auch                   5. Der Professor erhält durch die visuellen
   zusätzlich asynchron an der Vorlesung teil-                    Tags (im Idealfall) eine Übersicht zu denje-
   nehmen.                                                        nigen Stellen der Vorlesung, an denen Stu-
2. Innerhalb der Videovorlesung erhalten die                      dierende viele Fragen haben. Mit dieser In-
   Studierenden die Möglichkeit, mittels einer                    formation kann sich der Professor auf die
   App visuelle „Livetags“3 mit Ampelfarben                       folgende Vorlesung vorbereiten, indem er
   und Kurzkommentaren zu vergeben, um                            wiederholend auf Kernprobleme eingeht.
   Fragen oder andere Anmerkungen zeit-
                                                               In Abbildung 2 (nächste Seite) wird die Hybrid-
   markengenau in den Vorlesungsmitschnitt
                                                               bzw. Blended-Learning-Struktur mit den Opti-
   einzubinden.
                                                               onen zur Förderung von Interaktion deutlich:
3. Die Videoaufzeichnung mit den zeitmarken-                   Die in der Vorlesung gesetzten Tags und Kom-
   genauen und personalisierten Livetags bzw.                  mentare „landen“ im Vorlesungsmitschnitt. Sie
   Kommentaren der Studierenden wird auf ei-                   dienen den Studierenden als Nachbearbeitungs-
   ner Online-Umgebung4 zur Verfügung ge-                      anker, dem Assistenten zur gezielten Auswahl
   stellt (vgl. Abbildung 1); Studierende kön-                 von Übungen und dem Professor zur besseren
   nen sich die Videos mit ihren Anmerkungen                   Vorbereitung auf die nächste Vorlesung.
   jederzeit ansehen und diese zu vollständigen
   Videokommentaren ausarbeiten.

                        Abb. 1: Videoplayer mit visuellen Tags (Ampel) und Kommentare

3                                                              4
 Erstmals eingesetzt in der Trainerausbildung der Bas-          edubreak®Campus, eine Online-Videoumgebung mit
ketball-Bundesliga; siehe https://www.face-                    Schwerpunkt Social Video Learning bzw. kollaborative
book.com/Ghostthinker/videos/livetagging-mit-der-edu-          Videoannotation (Abruf 07.08.2021; https://ghostthin-
breakapp/549402465263770/                                      ker.de/de/social-video)

IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                                       Schmidt & Vohle
[3]

                                   Abb. 2: Struktur des Lehr-Lern-Szenarios

                                                            Vorlesungsmonat (April) zehn bis 20 Kom-
3. Erprobung und Evaluations-                               mentare zu finden sind, reduzieren sich diese
   maßnahmen                                                im zweiten Vorlesungsmonat (Mai) auf ein
                                                            bis vier und im dritten und vierten Vorle-
Das didaktische Konzept für Vorlesung und
                                                            sungsmonat (Juni und Juli) auf null.
Übung wurde im Sommersemester 2021 im
Rahmen der turnusmäßig angebotenen Vorle-                 − Ergebnisse zur Nutzung: Aufgrund der ge-
sung „Nichtlineare Optimierung“ erprobt und                 ringen Kommentierung haben die Studieren-
lief über 15 Vorlesungswochen (inklusive Ein-               den nur vereinzelnd die Chance zu einer ver-
führung) mit bis zu 30 eingeloggten Studieren-              tiefenden Weiterverarbeitung der Tags und
den technisch störungsfrei. Vorlesung (und                  Kommentare genutzt. Da keine bis sehr we-
Übung) wurden mittels ZOOM abgehalten, die                  nige Fragen mittels Tags und Kommentie-
Vorlesung mittels App kommentiert und das Er-               rung gestellt wurden, konnte der Professor
gebnis auf der Online-Videoplattform zur Do-                nicht, wie angestrebt, Einblick in Verständ-
kumentation und Weiterverarbeitung bereitge-                nisschwierigkeiten und Fragen erhalten, um
stellt. Das Entwicklungsteam traf sich ab Se-               sie in der folgenden Vorlesung aufzugreifen.
mesterstart in regelmäßigen Abständen von ein               Die Studierenden befürworten zwar deutlich
bis zwei Wochen, um aktuelle Erfahrungen,                   die Idee des Taggings und der Kommentie-
vorläufige Bewertungen und mögliche Nach-                   rung der Videos, nutzen sie aber (paradoxer-
steuerungen zu diskutieren. Nach Ende des                   weise) kaum. Großen Anklang fand dagegen
Sommersemesters wurde der Kurs von Seiten                   durchweg die Bereitstellung der Vorlesung
der Universität mit einem Online-Fragebogen                 in Videoform zur asynchronen und individu-
evaluiert, der zwar keine spezifischen Fragen zu            ellen Nachbereitung.
der hier skizzierten Lehrinnovation enthielt,             Insgesamt liegen die Ergebnisse damit weit hin-
aber dennoch einige Informationen hierzu im               ter den Erwartungen, die sich das Entwick-
offenen Antwortteil beinhaltete.                          lungsteam gesetzt hatte. Vor allem das Kern-
Um spezifischere Rückmeldung zu erhalten,                 ziel, mehr Interaktion zwischen Professor und
wurden seitens des Assistenten informelle Dis-            Studierenden zu schaffen, wurde nicht erfüllt.
kussionen mit den Studierenden im Übungsteil              Es ist aber auch festzustellen, dass das Entwick-
durchgeführt. Zudem erhielten wir ohne Auf-               lungsteam bei der Umsetzung des Konzepts viel
forderung zum Teil sehr detaillierte und reflek-          gelernt hat – insbesondere über diejenigen Fa-
tierte persönliche Einschätzungen und Optimie-            cetten von Mathematikvorlesungen (und -übun-
rungsideen von Studierenden in schriftlicher              gen), die bisher möglicherweise zu wenig gese-
Form. Vor diesem Hintergrund entschieden wir              hen wurden: nämlich die nur schwach kulti-
uns gegen einen zusätzlichen Fragebogen oder              vierte Frage- und Beteiligungskultur der Studie-
eine systematische Befragung, da der erwartete            renden und die sozio-psychologischen und di-
zusätzliche Erkenntnisgewinn gering erschien.             daktischen Voraussetzungen, Mathematik ge-
                                                          meinsam „im Dialog“ verstehen zu wollen und
4. Diskussion der Ergebnisse und                          zu können.
   Erfahrungen                                            Zu Beginn wurde im Entwicklungsteam immer
                                                          wieder die Vermutung geäußert, dass die Stu-
Die vorläufigen Ergebnisse der Evaluation las-            dierenden mit der Livekommentierung überfor-
sen sich wie folgt zusammenfassen:                        dert sein könnten, was unterschiedliche Evalua-
− Technologische Ergebnisse: Die Auswer-                  tionsdaten bestätigen. Gleichzeitig selber mit-
  tung der Videos ergab, dass die Studierenden            zuschreiben und in der App zu kommentieren,
  sehr wenige Tags und Kommentare pro Vor-                scheint aufgrund der zu realisierenden geteilten
  lesung getätigt haben. Während im ersten                Aufmerksamkeit kaum möglich. Zudem ist

IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                              Schmidt & Vohle
[4]

beim Live-Zuhören und -Zusehen in der Vorle-                  Zunächst haben wir uns dazu entschieden, das
sung schwer zu bestimmen, wann genau (Zeit-                   aktuelle Konzept des Livetaggings der Vorle-
punkt) was im Detail (Qualität) nicht verstan-                sung fallen zu lassen, weil aus unserer Sicht
den wird.                                                     kleinschrittige Verbesserungen des Konzepts
                                                              keine signifikante Verbesserung des Outputs
Neben dieser sicher relevanten kognitiven
                                                              verspricht. Stattdessen wollen wir die schon zu
Komponente ist aber auch eine sozio-psycholo-
                                                              Beginn der Kooperation diskutierte (aber da-
gische Komponente immer wieder im informel-
                                                              mals wieder verworfene) Möglichkeit des In-
len Feedback der Studierenden zutage getreten:
                                                              verted Classroom als Basiskonzept heranziehen
Die nachvollziehbare Angst, die eigene Unwis-
                                                              und diese mit den Potenzialen von Tagging und
senheit bzw. das eigene Nichtverstehen vor ei-
                                                              Videokommentierung verbinden. Der Kernge-
ner Gruppe von Mitstudierenden und dem Pro-
                                                              danke beim Inverted-Classroom-Konzept be-
fessor offen zu äußern – und in diesem Fall so-
                                                              steht darin, die Vorlesungsinhalte als Video-
gar offen und bleibend zu dokumentieren. So-
                                                              konserve zur individuellen Vorbereitung vorab
wohl während einiger Feedbackrunden im Rah-
                                                              online anzubieten, um die dadurch freiwer-
men der Vorlesung und Übung als auch in bila-
                                                              dende Zeit der „Vorlesung“ für die Beantwor-
teralem E-Mail-Feedback an den Professor
                                                              tung und gemeinsame Bearbeitung von Fragen
wurde als zentraler Grund angegeben, die Tag-
                                                              zur Vorlesung zu nutzen.
ging-Funktion der App nicht zu nutzen, da eben
diese Tags nicht anonym, sondern für die ge-                  Dieses Grundprinzip (vgl. Zeaiter & Hantke,
samte Lerngruppe einsehbar sind. In diesem                    2020) möchten wir nun um die Potenziale der
Kontext wird außerdem häufig betont, dass die                 Videokommentierung erweitern.5 Aktuell sind
Vorlesungssituation in der Mathematik als sol-                folgende Veränderungen des didaktischen De-
che nicht geeignet sei, um direkt Fragen zu stel-             signs geplant:
len, da der Stoff „eh nicht direkt verstanden
                                                              − Die Studierenden bekommen die Möglich-
wird“ und zuerst zuhause in Ruhe nachgearbei-
                                                                keit, die zur Verfügung gestellten Vorle-
tet werden muss, um sich selbst in die Lage zu
                                                                sungsvideos „ohne Zeitdruck“ mit Video-
versetzen, sinnvolle Fragen zu stellen. Dies
                                                                kommentaren zu versehen, um ihre Fragen
spricht sehr deutlich für eine zeitliche Entzer-
                                                                und Anmerkungen zum Ausdruck zu brin-
rung von formaler Wissensaneignung einerseits
                                                                gen oder sich einen persönlichen Videobo-
und der Diskussion um dieses Wissen oder der
                                                                okmark für die eigene Weiterverarbeitung zu
Klärung etwaiger verbleibender Verständnisfra-
                                                                setzen. Während Fragen an den Professor
gen andererseits – ein Aspekt, der im nächsten
                                                                mit der Ampelfarbe „gelb“ zu kennzeichnen
Kapitel zur Anpassung der Ziele und dem Neu-
                                                                sind, können persönliche Videobookmarks
entwurf der kommenden Vorlesungen wieder
                                                                mit „grün“ markiert werden (Bauer, Meissl-
aufgegriffen wird.
                                                                Eggard, Vohle & Szucsich, 2019). Letztere
                                                                sollen nur für den jeweiligen Studenten oder
5. Anpassung Ziele und Neu-                                     die jeweilige Studentin sichtbar sein.
   entwurf                                                    − In der Vorlesung wird der Professor die In-
Die Erkenntnisse aus verschiedenen Evalua-                      halte weder wiederholen noch zusammen-
tionsquellen sind aktuell Ausgangspunkt für ein                 fassen. Zweck der Vorlesung ist, Fragen und
Re-Design des didaktischen Konzepts, was                        Problemstellen zu identifizieren und mit
auch mit einer Neujustierung der Ziele einher-                  dem Professor ins Gespräch zu kommen
geht. Während im ersten Durchlauf eine Ver-                     bzw. Vorlesungsinhalte zu reflektieren.
stärkung der Interaktion unter Beibehaltung der               − Mit dieser Neuausrichtung der Vorlesung
klassischen Vorlesung als Hauptziel definiert                   ergibt sich auch eine Neugestaltung der
wurde, soll jetzt die Vorstellung von dem, was                  Übung. Diese besteht nicht mehr nur darin,
„Vorlesung“ bedeutet, im buchstäblichen Sinne                   allgemeine Aufgaben zu rechnen, sondern
„auf den Kopf“ gestellt werden, so dass der                     anhand der identifizierten Problemstellen in
Hörsaal zum Besprechungs- und Diskussions-                      Bezug auf den Stoff gezielt Vertiefungen
saal wird.                                                      und praktische Umsetzungen anzubieten.
                                                                Die Idee ist damit auch, dass Vorlesung und

5 Erste Inverted-Classroom-Erfahrungen mit Videoanno-
tation in der Mathematik-Lehre wurden 2016 gemeinsam
mit Christian Spannagel, PH Heidelberg, gesammelt.

IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                                 Schmidt & Vohle
[5]

  Übung besser verzahnt werden, wobei die                     Literatur
  Rückmeldungen der Studierenden via Vi-
  deokommentar als Hilfe herangezogen wer-                    Bauer, R., Meissl-Eggard, G, Vohle, F. &
  den.                                                        Szucsich, P. (2019). How to encourage reflec-
                                                              tive practice with the help of collaborative video
− Zu überlegen ist ferner, inwiefern die Prü-
                                                              annotation: Social Video Learning in Teacher
  fung die Vertiefungen aus Vorlesung und
                                                              Education. In A. Reid (Ed.), Marginalia in mod-
  Übung aktiv aufgreift, da es von entschei-
                                                              ern learning contexts (pp. 133-165). Hershey,
  dender Bedeutung ist, dass Lernprozess und
                                                              PA: IGI Global.
  Prüfung einen engen Bezug haben. Kurzum:
  Wer bei der kontinuierlichen und reflexiven                 Reinmann, G. (2015). Studientext Didaktisches
  Vorbereitung aktiv mitmacht, muss gestei-                   Design. Hamburg.
  gerte Chancen auf ein gutes Prüfungsergeb-                  Reinmann, G. (2020). Ein holistischer Design-
  nis haben.                                                  Based Research-Modellentwurf für die Hoch-
                                                              schuldidaktik. Educational Design Research, 4
6. Dokumentation für Fach-                                    (2), Article 30.
   community und Studierende                                  Reinmann, G. (2021). Präsenz-, Online- oder
Der vorliegende Artikel hat den Zweck, die bis-               Hybrid-Lehre? Auf dem Weg zum post-pande-
herigen Überlegungen, Vorgehensweisen und                     mischen Teaching as Design. Impact Free 37.
die ersten Ergebnisse knapp zusammenzufassen                  https://gabi-reinmann.de/wp-content/up-
und zeitnah zu publizieren. Dieser Artikel in der             loads/2021/07/Impact_Free_38.pdf
Open-Access-Zeitschrift „Impact Free“ steht                   Schmidt, M. & Söhngen, M. (2012). Web 2.0-
damit der hochschuldidaktischen Community                     basiertes E-Learning in der Trainerausbildung.
für ein kritisches Feedback zur Verfügung.                    Leistungssport, 3, 24-29.
Ebenso soll der Artikel den beteiligten Studie-
                                                              Zeaiter, S. & Handke, J. (2020). Inverted Class-
renden mit der Bitte zugesendet werden, eigene
                                                              room - Past, Present & Future: Kompetenzori-
Reflexionen zu ihren Erfahrungen beizusteuern
                                                              entiertes Lehren und Lernen im 21. Jahrhun-
und damit ihre Rolle bei der Konzeption und
                                                              dert. Tectum Wissenschaftsverlag.
Überarbeitung ihres eigenen Lehrangebots zu
stärken. Die Überlegung dabei ist, dass der Ar-
tikel das Thema Lehrinnovation und die Erwar-
tungen anders „rahmt“ als ein einfacher Frage-                Angaben zu den Autoren
bogen und die Studierenden nicht als Konsu-                   Prof. Dr. Martin Schmidt: Universität Trier,
mentInnen, sondern als MitentwicklerInnen ih-                 Fachbereich IV – Mathematik, Universitätsring
rer Lehre angesprochen werden.                                15, 54296 Trier.
Die Ausarbeitung des neuen didaktischen De-                   E-Mail: martin.schmidt@uni-trier.de
signs und die Umsetzung sind für das Winterse-                Web: https://martinschmidt.squarespace.com
mester 2021/2022 geplant. Sieht man sich die
schon in diesem Artikel verwendete konzeptio-                 Dr. Frank Vohle: Ghostthinker GmbH (CEO,
nelle Rahmung von Zielsetzung, Entwurf, Ent-                  Circle Innovation / F&E), Hunoldsberg 5,
wicklung, Erprobung und Analyse (vgl. Rein-                   85150 Augsburg.
mann, 2021) an, dann liegt eine theoretische Er-              E-Mail: frank.vohle@ghostthinker.de
weiterung und Ausarbeitung in Richtung De-                    Web: https://ghostthinker.de
sign-Based Research nahe.6 Mit diesem Ziel vor                Web: https://frank.vohle.de
Augen wollen wir im nächsten Zyklus vermehrt
den theoretischen Hintergrund einbinden, was
hier aus Platzgründen nicht geschehen ist.

6Eine Einreichung in der DBR-Zeitschrift EDeR ist für
2022 geplant.

IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                                   Schmidt & Vohle
[6]

Bisher erschienene Impact Free-Artikel                 nahmen für forschendes Lernen in einem De-
                                                       sign-Based Research-Projekt zu Student Crowd
Gumm, D. & Hobuß, S. (2021). Hybride Lehre
                                                       Research. Impact Free 25. Hamburg.
– Eine Taxonomie zur Verständigung. Impact
Free 38. Hamburg.                                      Reinmann, G. (2020). Wissenschaftsdidaktik-
                                                       Spielend ins Gespräch kommen. Impact Free
Reinmann, G. (2021). Präsenz-, Online- oder
                                                       24. Hamburg.
Hybrid-Lehre? Auf dem Weg zum post-pande-
mischen Teaching as Design. Impact Free 37.            Reinmann, G. (2019). Forschungsnahe Curricu-
Hamburg.                                               lumentwicklung. Impact Free 23. Hamburg.
Reinmann, G. (2021). Prüfungstypen, -formate,          Reinmann, G. (2019). Lektüre zu Design-Based
-formen oder -szenarien? Impact Free 36. Ham-          Research – eine Textsammlung. Impact Free
burg.                                                  22. Hamburg.
Reinmann, G. (2021). Hybride Lehre – ein Be-           Reinmann, G., Schmidt, C. & Marquradt, V.
griff und seine Zukunft für Forschung und Pra-         (2019). Förderung des Übens als reflexive Pra-
xis. Impact Free 35. Hamburg.                          xis im Hochschulkontext – hochschuldidakti-
                                                       sche Überlegungen zur Bedeutung des Übens
Reinmann, G. & Vohle, F. (2021). Vom Reflex            für Brückenkurse in der Mathematik. Impact
zur Reflexivität: Chancen der Re-Konstituie-
                                                       Free 21. Hamburg.
rung forschenden Lernens unter digitalen Be-
dingungen. Impact Free 34. Hamburg.                    Langemeyer, I. & Reinmann, G. (2018). „Evi-
                                                       denzbasierte“ Hochschullehre? Kritik und Al-
Herzberg, D. & Joller-Graf, K. (2020). For-            ternativen für eine Hochschulbildungsfor-
schendes Lernen mit DBR: eine methodologi-
                                                       schung. Impact Free 20. Hamburg.
sche Annäherung. Impact Free 33. Hamburg.
                                                       Reinmann, G. (2018). Was wird da gestaltet?
Weißmüller, K.S. (2020). Lehren als zentrale           Design-Gegenstände in Design-Based Research
Aufgabe der Wissenschaft: Drei Thesen zu
                                                       Projekten. Impact Free 19. Hamburg.
Ideal und Realität. Impact Free 32. Hamburg.
                                                       Reinmann, G. (2018). Entfaltung des didakti-
Reinmann, G. (2020). Präsenz – (K)ein Garant           schen Dreiecks für die Hochschuldidaktik und
für die Hochschullehre, die wir wollen? Impact         das forschungsnahe Lernen. Impact Free 18.
Free 31. Hamburg.                                      Hamburg.
Tremp, P. & Reinmann, G. (Hrsg.) (2020). For-          Klages, B. (2018). Utopische Figurationen
schendes Lernen als Hochschulreform? Zum
                                                       hochschulischer Lehrkörper – zum transforma-
50-Jahr-Jubiläum der Programmschrift der
                                                       torischen Potenzial von Utopien am Beispiel
Bundesassistentenkonferenz. Impact Free 30             kollektiver Lehrpraxis an Hochschulen. Impact
(Sonderheft). Hamburg.                                 Free 17. Hamburg.
Reinmann, G. (2020). Universitäre Lehre in ei-         Burger, C. (2018). Weiterbildung für diversi-
ner Pandemie – und danach? Impact Free 29.             tätssensible Hochschullehre: Gedanken und
Hamburg.                                               erste Ergebnisse. Impact Free 16. Hamburg.
Weißmüller, K.S. (2020). Zwei Thesen zum               Reinmann, G. (2018). Strategien für die Hoch-
disruptiven Potenzial von OER für öffentliche
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Hochschulen. Impact Free 28. Hamburg.
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                                                       stand. Impact Free 14. Hamburg.
Free 27. Hamburg.
                                                       Reinmann, G. (2017). Empirie und Bildungs-
Reinmann, G., Vohle, F., Brase, A., Groß, N. &         philosophie – eine analoge Lektüre. Impact
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                                                       Free 13. Hamburg.
Konzept und seine Möglichkeiten. Impact Free
26. Hamburg.                                           Reinmann, G. (2017). Universität 4.0 – Gedan-
                                                       ken im Vorfeld eines Streitgesprächs. Impact
Reinmann, G., Brase, A., Jänsch, V., Vohle, F.
                                                       Free 12. Hamburg.
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IMPACT FREE 39 (August 2021)                                                          Schmidt & Vohle
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IMPACT FREE 39 (August 2021)                            Schmidt & Vohle
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