IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
N O 7 SOMMER 2018 ZEITSCHRIFT ZU GEBIETSENTWICKLUNG IN EUROPA BPDEUROPE.COM IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH TECHNIK IN DER STADT OPTIMALER MIX TIJS VAN DEN BOOMEN BOUWEN, BAUEN! AUFWERTUNG NEUER WOHNEN UND INTELLIGENTER WIE KÖNNEN DEUTSCHLAND UND ALTER STADTVIERTEL ARBEITEN IN MODERNEN STÄDTEBAU ANSTATT UND DIE NIEDERLANDE DIE DURCH DIGITALISIERUNG MISCHFORMEN INTELLIGENTER AUTOS! BAUPRODUKTION STEIGERN?
IMPRESSUM BPD MAGAZINE 7, 4. JAHRGANG SOMMER 2018 BPD Magazine ist eine Veröffentlichung von BPD Europa, IJsbaanpad 1, 1076 CV Amsterdam, Nie- derlande. Die Zeitschrift erscheint zweimal pro Jahr in drei Sprachen (Deutsch, Französisch und Niederländisch) in begrenzter Auflage für die Geschäftspartner von BPD in Europa. BPD-REDAKTIONSRAT Jeanne Neuve-Eglise, Angela Vervoorn, Hans Weber, Katharina Zolll KONZEPT & PRODUKTION ZB Communicatie & Media (zb.nl) GRAFISCHE GESTALTUNG ZB/Klaas Jan Woudsma bno AN DIESER AUSGABE HABEN MITGEWIRKT BCTROKAM, Bertus Bouwman, Tijs van den Boomen, Armelle Desmarchelier, Anette Galskjøt, Kees de Graaf, Peter d’Hamecourt, Raymond Heinsius, Mirjam van Immerzeel, ITA Translations, Bas Kooman, Malin Kox, Edwin Lucas, María Mendiluce, Claudia Stoldt, WBCSD, Roline Wierda-Wijs FOTOGRAFIE & ILLUSTRATIONEN Jens Abrahamsson, Dirk Beichert, Rhonald Blommestijn, CDOT, John Fielding, Sergio Grazia, Sven Magnus Hanefeld, Ines Heider, iDroneman, Yuri Kozyrev/NOOR, Erik Smits, Dennis Wetzel. DRUCK Druckerei Roelofs, Enschede (Niederlande) BPD Magazine wird auf ungestrichenem, holzfreiem Offset-Papier gedruckt. AUFLAGE 10.640 Das vollständige oder auszugsweise Übernehmen von Artikeln, Fotos und Illustrationen aus dieser Zeitschrift ist nur mit Zustimmung der Redaktion und unter Angabe der Quelle gestattet. BPD und ZB Communicatie & Media übernehmen keinerlei Haftung für Unrichtigkeiten und/oder eventuelle Satz- und Druckfehler. 4
VORWORT FRANZ-JOSEF LICKTEIG JEAN-PHILIPPE BOURGADE GESCHÄFTSFÜHRER BPD WALTER DE BOER GESCHÄFTSFÜHRER IMMOBILIENENTWICKLUNG CEO BPD EUROPE BPD MARIGNAN MITEINANDER An der kurzen Leine halten oder viel Spielraum geben? Sollte die Regierung sich kräftig einmischen oder ist es besser, lokalen Initiativen von unteren Behörden, Unternehmen, Bürgern und anderen möglichst viel Frei- raum zu lassen? Diese Fragen stellen sich Gebietsentwicklern und Behörden immer wieder, aber ganz beson- ders dann, wenn der Wohnungsmarkt stark unter Druck steht. Und genau das ist jetzt der Fall. Hinzu kommt, dass die Art des Wohnungsbedarfs komplexer denn je ist. Wir müssen in derselben Umgebung „bouwen/bauen“ (Seite 54), in der sich auch andere dringende gesell- schaftliche Fragen stellen. Der Klimawandel zwingt uns zur Anpassung von bestehender und neuer Bebauung. Die Energiewende bringt Herausforderungen mit sich, deren Dimension vielen noch nicht klar ist. Die Digita- lisierung bietet neue Möglichkeiten, wirft aber zugleich grundlegende Fragen zu Datenschutz und Cybersi- cherheit auf. Und dann noch das Verkehrsproblem: Wie sichern wir die Erreichbarkeit der Städte und damit ihre Vitalität und Beliebtheit? In diesem BPD Magazine setzen wir uns mit einigen dieser Fragen auseinander. Dazu bedienen wir uns diverser Blickwinkel und verschiedener geografischer Koordinaten. Wir reisen nach Moskau (Seite 24), wo von oben herab Pläne für den Abriss tausender Mehrfamilienhäuser („Chruschtschowki“) aus den 1950er und 1960er Jahren ausgearbeitet wurden, die anfangs von den Moskowitern verschmäht wurden, inzwischen aber sehr beliebt sind. Dort wird also mit harter Hand eingegriffen – gegen die Wünsche der Bewohner. Anette Galskjøt zeigt am Beispiel von Singapur (Seite 80), wie ein strenger Staat sehr wohl mit der Rücksichtnahme auf die Wünsche der „einfachen“ Bürger zu vereinbaren ist. Und wir untersuchen (Seite 42), wie Nantes, Toulouse, Stuttgart und Nürnberg das Mobilitätsproblem angehen, teils zusammen mit privatwirtschaftlichen Partnern. Während der Staat bei diesem Problem oft entschlossen auftreten muss, finden viele Fachleute in diesem BPD Magazine, dass ein ähnlich rigoroses Eingreifen auf dem Wohnungsmarkt unerwünscht ist. Es ist also kein Allheilmittel. Wie groß die Not auch ist, jede Situation ist anders. Trotzdem sehe ich in all diesen Fallbeispielen eine Art gemeinsamen Nenner. Zusammenarbeit – zwischen Entwicklern, Kommunen und Bürgern – fördert die Kreativität. Es geht darum, die Gemeinsamkeiten zu finden und sie zum Ausgangs- punkt zu nehmen. Dazu braucht es den Mut, vom eigenen hohen Ross zu steigen. Gebietsentwicklungen, wo auch immer auf der Welt, gehen leichter, wenn sich Politiker, Planer und Bürger bei der Lenkung und Ausführung zusammentun. Städte können sich nur dann entfalten, wenn jeder Entfaltungsraum bekommt und wenn wir miteinander daran bauen. WALTER DE BOER, CEO BPD bpd MAGAZINE 5
INHALT VISION INSPIRATION 08 TECHNIK FÜR MEHR 42 MOBILITÄT IN WACHSENDEN LEBENSQUALITÄT IN DER STADT STÄDTEN IN EUROPA Wie können wir die Lebensqualität in der Stadt Bauen in der Stadt erfordert eine integrale Mobili- verbessern? Wie sorgen wir für den Schutz der tätsplanung. Deutsche und französische Städte Umwelt und dafür, dass wir in möglichst guter gehen mit gutem Beispiel voran, indem der Gesundheit alt werden? Die Digitalisierung kann Autoverkehr eingeschränkt wird und nachhaltige dabei helfen. Elphi Nelissen und Frans Vogelaar Verkehrsmittel gefördert werden. loten die Möglichkeiten aus. 62 VERKEHRSREVOLUTION: DAS 22 EIN HOCH AUF „DUMME“ MOBILITÄT INTERNET ALS HEIMLICHER HELFER Tijs van den Boomen hält nichts von Technik, die María Mendiluce arbeitet beim World Business das Leben in unseren Städten angenehmer macht. Council for Sustainable Development (WBCSB) an „Keine intelligenten Autos und Smart Cities, einem internationalen Programm für nachhaltigen sondern lieber intelligenter Städtebau, damit wir Verkehr in Städten. Treibende Kraft: das Internet uns angenehm durch die Städte bewegen können der Dinge in Kombination mit Big Data. – zu Fuß oder mit dem Rad.“ 66 DIE MAGIE DES TUNNELS 34 NEUE WEGE FÜR MEHR Manchmal ist für einen guten Verkehrsfluss rigo- BEZAHLBAREN WOHNRAUM roses Eingreifen nötig: mitten durch die Erde, für In vielen deutschen Städten herrscht Wohnungs- die schnellste und beste Verbindung von A nach B. not, auch in Bremen, Münster und Frankfurt Es kann eine atemberaubende Erfahrung sein. am Main. Drei in unterschiedlicher Weise Beteiligte schildern die Situation und zeigen Lösungs- möglichkeiten auf. 80 RUSHHOUR FÜR NACHHALTIGE STADT Singapur gilt in vielen Bereichen als Musterbeispiel. Bei der Stadtplanung wird nichts dem Zufall überlassen, und Nachhaltigkeit spielt dabei eine immer wichtigere Rolle. LEBENSQUALITÄT BOUWEN, IM STADTTEIL BAUEN! Technik und Wo gibt es noch Digitalisierung bieten Möglichkeiten zum Bau Perspektiven. neuer Wohnungen? 08 54 6
HINTERGRUND PROJEKTE 24 ABRISSBIRNE DURCH SOWJETBAUTEN 82 UMBAUPROJEKTE IN STÄDTISCHEN Die Moskauer Stadtverwaltung will ganze GEBIETEN 7.500 Mehrfamilienhäuser abreißen lassen. Die Wir spazieren mit Jean-François Danon Bewohner sind gegen den Kahlschlag und ihre und Eric Sanchez durch städtisches Gebiet in erzwungene Umsiedlung. Auch Städtebauexperten Clichy-Batignolles (Paris) und Bordeaux. sind nicht begeistert. „Ein umfangreiches Projekt Was können wir von den Stadtumbauprojekten wie dieses erfordert gutes Management, und daran in Frankreich lernen? fehlt es in Russland oftmals noch.“ 88 GUTE MISCHUNG: 54 IMPULS FÜR DIE BAUWIRTSCHAFT WOHNEN UND ARBEITEN In deutschen und niederländischen Städten Früher war es völlig normal, über dem eigenen zerbricht man sich den Kopf über die dring- Geschäft zu wohnen. Im heutigen Städtebau liche Frage: Wie können wir die Bauproduktion wurden diese Funktionen gewaltsam voneinander steigern, um guten Wohnraum für alle bieten getrennt. Aber das ändert sich, wie sechs weg- zu können? Die Antwort: maßgeschneiderte weisende Projekte zeigen. lokale Lösungen. STADTUMBAU OPTIMALER AUF FRANZÖSISCH MIX Was können wir von Deutsche, niederländische den Stadtumbauprojekten und französische Projekte für in Frankreich lernen? Wohnen und Arbeiten. 82 88 bpd MAGAZINE 7
VISION / TEXT EDWIN LUCAS / FOTOS ERIK SMITS IN MÖGLICHST GUTER GESUNDHEIT ALT WERDEN? DIE ANTWORT HEISST DIGITALISIERUNG Wird das Leben in einem Viertel durch digitale Anwendungen wirklich schöner und besser? BPD Magazine sprach mit Elphi Nelissen, Professorin für Building Sustainability an der Technischen Universität Eindhoven, und mit Frans Vogelaar, Professor für Hybrid Space an der Kölner Kunsthochschule für Medien. Sie besprachen miteinander die Möglichkeiten der neuen Technik für die Zukunft der Stadt. bpd MAGAZINE 9
„EINE FORMULIERUNG WIE ‚DIE FOLGEN DER DIGITALISIERUNG‘ IST MIR EIGENTLICH ZU PASSIV. ALS OB ALS JOSEPH RATZINGER im April DIE DIGITALISIERUNG 2005 zu Papst Benedikt XVI. gewählt wurde, jubelte die begeisterte Menge auf UNS ÜBERKOMMT“ dem Petersplatz in Rom – so wie bis dahin ELPHI NELISSEN üblich. Acht Jahre später, als sein Nach- folger in sein Amt eingeführt wurde, war der Platz eine einzige brodelnde Masse von in die Höhe gestreckten Handys. Errichtung eines intelligenten Stadtviertels FRANS VOGELAAR: „Nein, wir können Das zeigt, was mit neuen Techniken innerhalb von fünf Jahren. Ein Viertel, in schon jetzt einiges erkennen. Hier liegt geschieht: Oft führen sie erst ein schlum- dem die Digitaltechnik der Verbesserung beispielsweise mein Handy. Ich weiß auf merndes Dasein, bevor sie zur vollen Ent- der Lebensdauer und der Lebensqualität jeden Fall, dass dieses Gerät nur ein Zwi- faltung kommen. Danach dauert es noch dient, indem neue Bauverfahren, neue For- schenschritt sein wird. Die Technik ent- eine Weile, bis wir begreifen, wie sehr sie men der Energiegewinnung und -speiche- wickelt sich sehr rasch. Der technische die Welt verändern. Das war bei der Erfin- rung, neue Verkehrskonzepte und ein Fortschritt verläuft immer in Zyklen, in dung des Buchdrucks so, bei der Dampf- anderer Ansatz bezüglich Sicherheit und einem immer höheren Tempo. Es wurde maschine, dem Internet und dem Handy, Gesundheit angewandt werden. Dieses viel über Virtual Reality geredet, wobei und so wird es auch mit selbstfahrenden neue Viertel, der Brainport Smart District, man sich als Nutzer in einer virtuellen, Autos und der Blockchain sein. wird im Nachbarort Helmond entstehen. digitalen Welt bewegt, sowie über Es ist vielleicht eines der schwierigsten Dort werden 85 Hektar für etwa 1.500 Augmented Reality, bei der die reale Dinge: den tatsächlichen Nutzen einer Wohnungen, Geschäfte und Büros in einem Umgebung mit digitalen Informationen technischen Neuerung einzuschätzen. sehr innovativen Setting reserviert. vermischt wird. Das sind vielverspre- Welche Konsequenzen hat das selbst- Wir fragen den niederländischen Planer chende Entwicklungen, die immer besser fahrende Auto für unsere Stadtplanung? und Architekten Professor Frans Vogelaar einsetzbar werden. Für mich steht fest, Führt das Internet wirklich zu „intelligen- nach seiner Meinung. Vogelaar wohnt dass die digitale Welt die Stadt immer ten Städten“ mit deutlich besserer Lebens- seit 25 Jahren in Deutschland und erregt mehr und immer schneller verändern qualität? Das ist noch nicht abzusehen, mit seinen eigenwilligen und ausgefalle- wird. Das Wichtigste ist, dass man eine denn wir stecken noch mittendrin. nen Entwürfen Aufsehen. Ein Beispiel ist Vision entwickelt, wie man mit dieser Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft ist die geplante Begrünung des vielbespro- zunehmenden Geschwindigkeit umgeht. jedoch keine Rechtfertigung dafür, sich chenen Stadtschlosses von Berlin, dem Wer das versäumt, ist verloren.“ einer Antwort zu entziehen. Wir formu- Wohnort Vogelaars. Vogelaars Spezialge- ELPHI NELISSEN: „Eine Formulierung wie lieren diese in der niederländischen Stadt, biet ist die gestalterische Forschung zu ‚die Folgen der Digitalisierung‘ ist mir die nach Ansicht vieler ein Hotspot tech- hybriden Räumen, also Orten, an denen eigentlich zu passiv. Als ob die Digitali- nischer Innovationen ist: Eindhoven. Die die reale Welt in Interaktion mit der Welt sierung uns überkommt. Im Gegenteil, es Stadt beheimatet erfolgreiche Unterneh- des Internets, der Bilder und der Kom- geht darum, selbst die Zügel in die Hand men wie Philips und den Chipmaschinen- munikation tritt. zu nehmen und die Entwicklungen aktiv zu hersteller ASML, wird heute aber auch steuern, ausgehend von der Devise: Was für ihre vorrangige Rolle bei revolutionärem Lassen sich die Auswirkungen der gibt es doch für großartige Dinge, mit Design, innovativer Forschung und Exi- Digitalisierung auf den städtischen denen wir unser Leben besser und schö- stenzgründungen gerühmt. Hier ergriff Raum überhaupt schon abschätzen ner machen können? Eine Veränderung ist Prof. Ir. Elphi Nelissen, Dekanin der Tech- oder wird das erst nach längerer auch erst dann fruchtbar, wenn wir diese nischen Universität, 2016 die Initiative zur Zeit möglich sein? Veränderung aktiv annehmen. So war es 10
bpd MAGAZINE 11
mit dem Handy und so wird es bei jeder einladen, sich mehr zu bewegen, und das ohne dass jemand es ausdrücklich ver- neuen technischen Entwicklung sein.“ auch messen. Das wirkt Einsamkeit ent- langt hat. Es kommt darauf an, dass die gegen, fördert die Gesundheit, erleichtert Technik immer im Dienste der Lebens- In Helmond versuchen Sie jetzt, das Leben und führt vielleicht sogar zu qualität steht. Wir wollen diese Lebens- einen „Smart District“ zu realisie- einer inklusiveren Gesellschaft, in der qualität verbessern und auf längere Sicht ren. Wird das Leben in einem jeder Einzelne seine Chancen auf dem – wenn das Experiment gelingt – wollen Viertel durch digitale Anwendungen Arbeitsmarkt verbessert.“ wir das dazu entwickelte Instrumentarium wirklich schöner und besser? vielleicht sogar exportieren. Denn wir kön- NELISSEN: „Das wird sich natürlich noch Es klingt wie eine Utopie und erin- nen nicht einfach so weitermachen wie zeigen müssen. Wir wollen dort ein ‚living nert entfernt an die Ingenieure, bisher. Wenn die Städte in den aufstre- Lab‘ errichten, in dem wir das gesamte die in den 1950er Jahren mit den benden Ländern im Rest der Welt genauso vorhandene Wissen der Technischen besten Absichten große Wohn- gestaltet werden, wie wir das in den letzten Universität Eindhoven und anderer Part- viertel entwarfen, aber den hundert Jahren getan haben, ohne Rück- ner anwenden, um Lehren daraus zu zie- Menschen dabei vergaßen. sichtnahme auf die Umwelt, enden wir auf hen. In diesem Brainport Smart District NELISSEN: „Nein, es geht gerade um den diesem Planeten in einer Sackgasse.“ werden selbstfahrende Autos fahren. Es Menschen, nicht um die Technik. Wir wird Möglichkeiten zur lokalen Energie- zwingen als Ingenieure niemandem etwas Woran denken Sie bei „Digital- erzeugung und für neuartige Gebäude auf. Wir gehen nur auf die Bedürfnisse der technik in der Stadt im Dienste geben, die dem Bedarf an Gemeinschafts- Menschen ein, die diese selbst oft nicht des Menschen“? räumen gerecht werden. Aber wir werden konkret benennen können. Wir zeigen NELISSEN: „Ein Beispiel wäre eine einfache auch versuchen, eine gesunde Umgebung Möglichkeiten auf. Sie können es mit dem App, mit der die Nutzer innerhalb eines zu kreieren, indem wir die Bewohner iPad vergleichen: Es wurde eingeführt, Stadtteils Gebrauchsgegenstände tau- schen oder untereinander verleihen kön- nen. Durch eine solche App lernt man auch gleich die Menschen in der eigenen Nachbarschaft besser kennen. Viele der Optionen sollen dabei übrigens von den Bewohnern selbst vorgeschlagen werden. Sie werden natürlich auch intensiv in die Planung dieser Gebietsentwicklung einbe- zogen. Ein Teil der Bewohner stammt aus Brandevoort, einem benachbarten Viertel, in dem es viele engagierte Leute gibt. Und schon vor dem ersten Spatenstich werden zweifellos wieder neue Techniken auf- tauchen, die wir auch anwenden werden.“ VOGELAAR: „Ich finde das ungemein inte- ressant. Vor allem die Kombination aus realer und digitaler Welt spricht mich an. Wenn die Bewohner einander durch digitale Anwendungen besser kennenlernen, wird 12
„PRIVATSPHÄRE IST EIN KULTURELLER BEGRIFF, EIN LUXUS, DEN WIR UNS ZU EIGEN sich das auch positiv auf das gegen- seitige Vertrauen und den Zusammen- GEMACHT HABEN“ halt im Viertel auswirken. FRANS VOGELAAR Kritiker werden sagen, dass es eine Utopie ist, die in eine Dystopie ausarten kann. Intelligente Zahnbür- sten, die Daten über das eigene Gebiss sammeln und der Kranken- versicherung melden, oder Apps, die den Eigentümer orten und prü- fen, ob er sich genügend bewegt, noch ganz zu schweigen von der Anfälligkeit des Internets der Dinge: Der Datenschutz kann schnell äußerst löchrig sein.“ FRANS VOGELAAR ELPHI NELISSEN VOGELAAR: „Das ist richtig, dessen muss Frans Vogelaar (1955) ist seit Elphi Nelissen (1959) ist Dekanin der man sich bewusst sein. Aber gleichzeitig 1998 Professor für Hybrid Space an Fakultät Bauingenieurwesen und muss man sich weiterentwickeln, und man der Kölner Kunsthochschule für Professorin für Building Sustainability darf nicht passiv bleiben. Experimentieren Medien, wo Technik, Wissenschaft an der Technischen Universität ist dazu das beste Rezept. Übrigens ist und Kunst miteinander verbunden Eindhoven (TU/e). 1983 schloss sie Experimentierfreude – das kann ich inzwi- werden. Er ist Gründer des Hybrid ihr Bauphysikstudium an der TU/e schen durchaus behaupten – eine typisch Space Lab, eines Forschungs- und ab. 1991 gründete sie das Ingenieur- Designbüros, das sich mit den büro Nelissen, das auf Bauphysik, niederländische Eigenschaft. Ein Living Lab Anforderungen auseinandersetzt, Akustik, Nachhaltigkeit und wie das in Helmond wird integral angegan- die die digitale Welt an die Installationstechnik spezialisiert ist. gen. Verschiedenste Disziplinen arbeiten Gestalter des realen Raumes stellt. Nelissen, die 2010 den Titel dann zusammen: der Staat, die Wirtschaft, Vogelaar studierte Industrie- weibliche KMU-Unternehmerin des die Wissenschaft und last but not least die design an der Design Academy Jahres gewann, leitet derzeit das Bewohner. Das ist charakteristisch für die Eindhoven sowie Architektur an der vom niederländischen Staat Niederlande, wir sind eine wenig hierar- Architectural Association School eingerichtete Strukturwandelteam chische Gesellschaft. In Deutschland mit of Architecture (AA) in London. zur Förderung der Kreislaufwirtschaft Er arbeitete bei Studio Alchymia im Baugewerbe und ist Mitglied der seinen viel hierarchischeren Strukturen (Allessandro Mendini) in Taskforce Bauagenda. Bei der TU/e würde man das erst lang und gründlich Mailand sowie für das Office for initiierte sie das Programm Smart untersuchen und dann vielleicht das beste Metropolitan Architecture (OMA) Cities, mit dem die Theorie in die Stadtviertel aller Zeiten entwickeln, mit der in Rotterdam. Praxis umgesetzt werden soll. besten digitalen Technik. Aber so viel Zeit haben wir wie schon gesagt nicht, dafür verlaufen die Entwicklungen zu rasant.“ In dem neuen Viertel in Helmond werden auch selbstfahrende Autos bpd MAGAZINE 13
„DURCH GEÄNDERTE VERKEHRSSTRÖME ÄNDERN SICH AUCH DIE FAHRTROUTEN UND DIE INNENSTÄDTE“ FRANS VOGELAAR 14
bpd MAGAZINE 15
16
„WER SEINER ALTEN NACHBARIN HILFT, BEKOMMT VIELLEICHT MIETNACHLASS“ ELPHI NELISSEN NELISSEN: „In dem neuen Stadtviertel gesagt müssen –, damit das System funk- wollen wir möglichst schnell mit dem Ein- tioniert. Um Energie geliefert zu bekom- satz elektrischer Fahrzeuge experimentie- men, muss man beispielsweise bestimmte ren. Das Auto ist dann kein persönlicher Daten wie den Energieverbrauch und den Besitz mehr. Das ist in der Tat praktisch, Energiebedarf freigeben. Darüber hinaus wenn man älter wird: Man braucht dann können die Bewohner andere Daten frei- nicht mehr unbedingt ein eigenes Auto, willig bereitstellen, um damit einen besse- und auf Dauer braucht man auch nicht ren Service, finanzielle Vorteile oder eine mehr selbst zu fahren. Es steht immer Art Sammelpunkte zu bekommen. Wer passender Transport zur Verfügung. Das seiner alten Nachbarin hilft, bekommt viel- ist etwas völlig anderes als die klassischen leicht Mietnachlass oder Marken für eine zum Einsatz kommen. Was lässt sich öffentlichen Verkehrsmittel, die sich übri- kostenlose Auto- oder Fahrradnutzung.“ über die Folgen solcher neuartigen gens auch stark verändern werden.“ Mobilitätsformen für den urbanen VOGELAAR: „Ich gehe davon aus, dass die Und wer das nicht will? Bekommt Raum sagen? Digitalisierung und Robotisierung großen er oder sie dann Strafpunkte? VOGELAAR: „Ich bin mir sicher, dass selbst- Einfluss auf die Mobilität haben werden. NELISSEN: „Nein, keine Sorge, aber einen fahrende Autos und E-Mobilität große Autos werden autonom, elektrisch und Vorteil eben auch nicht. Vergessen Sie Veränderungen mit sich bringen werden. teilbar. Die sekundären Effekte dieser nicht: Es geht um ein Labor, eine Ver- Das fängt schon mit dem Stadtbild an. Der Veränderungen werden noch größer sein. suchseinrichtung. Wir werden sehen, wie Charakter der Verkehrsadern in den Städ- Durch geänderte Verkehrsströme ändern viele Bewohner ihre Daten zur Verfügung ten ändert sich. Sie werden weniger schmut- sich auch die Fahrtrouten und die Innen- stellen wollen: Sind es zehn Prozent oder zig und laut, so dass die Gebäude anders städte sowie die Hierarchien im Umland. neunzig? Aber wie dem auch sei, die zu ihnen orientiert werden können, vor Das kann sich unter anderem auf die Unterschiede sind graduell. Wir geben allem bei Neubauten, aber auch in beste- Immobilienpreise auswirken.“ schon jetzt durch unsere Handys unzäh- henden Vierteln. In einer shrinking Car City lige Daten preis. Unser Telekommuni- können Parkplätze aufgehoben werden, Ein selbstfahrendes Auto ist auch kationsanbieter weiß, wo wir sind. Google und Garagen werden auch überflüssig. wieder eine unerschöpfliche Daten- stützt sich bei seinen Staumeldungen und Die Straßen werden gesünder, sicherer, quelle. Wem gehören diese Daten Verkehrsinformationen auf Daten aus lebendiger, grüner. Ich denke, dass selbst- eigentlich in einer digitalisierten unseren Smartphones.“ fahrende Autos in spätestens 25 Jahren Stadt? Und was wird damit getan? VOGELAAR: „In Deutschland wäre das Normalität sind. Das ist eine interessante NELISSEN: „Wir vertreten dabei einen aufgrund des historischen Hintergrunds, Entwicklung, wenn man an die parallel dazu klaren Standpunkt: Die Daten gehören der deutschen Geschichte, ein sehr heikler verlaufende Überalterung in Deutschland den Bewohnern. Sie werden wissen, wel- Punkt. Die deutsche Kultur ist diesbezüg- und den Niederlanden denkt.“ che Daten sie teilen können – oder besser lich deutlich anders. Das sieht man auch bpd MAGAZINE 17
„IN EINEM NEUEN STADTVIERTEL MÖGLICHST SCHNELL MIT ELEKTRISCHEN FAHRZEUGEN EXPERIMENTIEREN“ ELPHI NELISSEN 18
bpd MAGAZINE 19
unter Jugendlichen und Studierenden: Sie machen. Ein anderes Beispiel: Funktio- sind politisch viel kritischer als niederlän- nieren die neuartigen Gebäude mit ihren dische Studierende. Das spricht in meinen Gemeinschaftsräumen wirklich? Nehmen Augen für Deutschland, für das deutsche wir an, dass neun von zehn Konzepten gut Bildungssystem. Aber die Welt steht nicht aufgenommen werden, dann können wir still, man muss sich immer wieder Fragen trotzdem noch von dem zehnten lernen, stellen. Was bedeutet Datenschutz in das nicht funktioniert. So könnten wir die einer digitalen Welt? Die Vorstellung von Stadt anders und besser analysieren.“ der Privatsphäre geht auf England im 16. Jahrhundert zurück. Dort wurden durch Sind die Architekten, Stadtplaner die Erfindung des Hausflurs Privatbereiche und Bauunternehmen überhaupt INSPIRATION geschaffen. Es war der erste private Raum. für eine solche experimentelle „Privatsphäre ist ein kultureller Begriff, Denk- und Arbeitsweise gerüstet? es ist ein Luxus, den wir uns zu eigen NELISSEN: „Es ist ein sehr diverses FRANS VOGELAAR gemacht haben. Aber ein solches Konzept Berufsfeld mit sehr unterschiedlichen „Die Bücher von Yuval Noah Harari, hat nicht ewig Bestand. Es wird von etwas Haltungen und Standpunkten in Bezug Historiker, Philosoph, Futurologe und Neuem abgelöst werden, beispielsweise auf Innovationen. Wie bei den meisten Transhumanist, und dann insbesondere von einem familiären Privatbereich mit der Innovationen müssen wir mit den inno- Home Deus, das von den Folgen einer klassischen Privatsphäre und dem öffent- vativsten Vorreitern beginnen, wonach künftigen technologischen Revolution lichen Raum, in dem man bestimmte der Rest zweifellos folgen wird oder handelt, sowie Eine kurze Geschichte der Daten ganz bewusst teilt und zugleich folgen müssen wird.“ Menschheit von der Steinzeit bis heute.“ Besitzer der eigenen Daten bleibt.“ VOGELAAR: „Ich bin mir noch nicht so NELISSEN: „Die Daten werden nicht ein- sicher, dass sie dafür offen sind. Aber diese fach so an Unternehmen weitergegeben. Initiative wird, denke ich, gut zeigen, was ELPHI NELISSEN Wir übertragen sie erst auf eine Plattform machbar ist und was nicht. Ich weiß, dass „Der City Deal Circulaire Stad, eine und dann stellen wir sie – natürlich ver- die Niederlande mit derartigen Experi- multilaterale Vereinbarung, mit der der schlüsselt und anonymisiert – Unterneh- menten führend sind. Das Land ist dies- niederländische Staat das Programm zur men zur Verfügung, die anhand der Daten bezüglich wirklich eines der modernsten Förderung der Kreislaufwirtschaft neue Erkenntnisse gewinnen.“ der Welt. Und die Niederlande können umsetzt. Städte, Ministerien, die Euro- so etwas gut in die Öffentlichkeit bringen. päische Kommission, Institute und An was für Erkenntnisse ist dabei Deutschland ist gewiss nicht im Rück- die Wirtschaft arbeiten gemeinsam an zu denken? stand, entwickelt und arbeitet aber gründ- mehr Wachstum, Lebensqualität und NELISSEN: „Nehmen wir zum Beispiel licher – und dadurch langsamer. Innovation im niederländischen selbstfahrende Autos. Wenn sie sich durch- Angesichts der fortwährenden digitalen und europäischen Städtenetzwerk.“ setzen, stellt sich die Frage, wie viele Autos Revolution, die wir erleben, könnte die dann noch nötig sind. Können wir die Flä- Kombination Deutschland-Niederlande chen in einem Stadtviertel vielleicht anders äußerst interessant und vielversprechend verteilen? Dann wirkt sich die Digitalisie- sein. Die Niederlande als das Land von rung unmittelbar auf die Stadtplanung aus. Leichtigkeit, Innovation und Kommuni- So wollen wir viel lernen und die gewon- kation und Deutschland als das Land von nenen Erkenntnisse allen zugänglich Solidität und Organisationsstärke.“ 20
HIGHLIGHTS Die Digitalisierung und Robotisierung wird Einfluss auf Mobilität und Stadt- planung haben. Autos werden autonom, elektrisch und teilbar. Die sekundären Effekte dieser Veränderungen werden aber noch größer sein. Zentren verschieben sich. Straßen verändern sich. Städte werden grüner. • Eine technologische Veränderung ist erst dann fruchtbar, wenn die Menschen sie aktiv annehmen. • Mit einer aufgeschlossenen Haltung zu experimentieren ist die beste Methode, um die raschen Veränderungen zu untersuchen und auf Herz und Nieren zu prüfen. • In einer digitalisierten Welt müssen Fragen zu Dateneigentum, Privatsphäre und Datenschutz immer neu gestellt werden. bpd MAGAZINE 21
ILLUSTRATION RHONALD BLOMMESTIJN / NACH EINEM FOTO VON JAN BANNING PROFIL Tijs van den Boomen wohnt in Amsterdam und ist Journalist und Stadtforscher. Er schrieb unter anderem die Bücher Asfaltreizen und De mobiele stad.
VISION EIN HOCH AUF „DUMME“ MOBILITÄT Die Technik wird das Wohnen in unseren Städten nicht angenehmer machen, im Gegenteil. Wir brauchen keine intelligenten Autos und Smart Cities, sondern intelligenten Städtebau. DIE ZUKUNFT STRAHLT uns entgegen: den unberechenbaren Menschen im Ver- everything. Das Auto braucht nicht mehr Selbstfahrende Autos kommen angefah- kehr – und entscheiden sich deshalb für aufzupassen, was um es herum ren, wenn wir sie brauchen, und fahren Kontrolle. Waymo, der Autosparte von geschieht, sondern es „kommuniziert“ danach selbstständig in eine Tiefgarage, Google, gelang es Ende 2017, mit zum Beispiel mit Fußgängern (V2P) oder um sich aufzuladen. Aber welchen Preis Geofencing geschützte Robotertaxis im Radfahrern (V2C). Dass diese dann einen bezahlen unsere Städte dafür? Ein kleiner normalen Straßenverkehr fahren zu las- Chip im Helm oder eine fluoreszierende Ausflug in die Frühzeit des Autos erweist sen. Der nächste Schritt wird vermutlich Weste tragen müssen, spricht für sich: sich als überraschend lehrreich. In sei- nicht darin bestehen, die Autos in freier Das Auto muss wissen, wer da läuft nem Buch Fighting Traffic zeigt der ame- Wildbahn loszulassen, sondern das Wild – ein Kind, ein Jogger oder ein ungeübter rikanische Professor Peter D. Norton, wie zu zähmen. Denn wer würde ernsthaft radelnder Tourist. Intelligente Mobilität die Automobilindustrie die öffentliche von einem Auto erwarten, dass es einen verspricht sichere, saubere Straßen mit Meinung vor dem zweiten Weltkrieg Fußgänger oder Radfahrer erkennt, wenn viel weniger Autos, so dass Platz zum zu einem Umschwung brachte. Nicht dieser plötzlich an einer unerwarteten Spielen und Flanieren frei wird. Ob das das Auto war die Ursache für die vielen Stelle auftaucht? Das Schlagwort heißt wahr ist? Das städtische Verkehrsamt tödlichen Unfälle, sondern das unver- V2X-Kommunikation: Vehicle to von San Francisco entdeckte vor Kurzem, antwortliche Verhalten der Menschen: dass Uber und Lyft für eine Zunahme der sowohl das der Fahrer, als auch das Zahl der Autos gesorgt haben: Die Ein- unachtsamer Fußgänger, die die Straße wohner nehmen jetzt für Strecken, die sie überquerten. Deshalb mussten beide früher zu Fuß bewältigt haben, ein Taxi. Gruppen erzogen werden. Vor allem aber DER NÄCHSTE SCHRITT Wir brauchen keine Smart Cities, son- mussten die Straßen anders gestaltet IST NICHT, DIE AUTOS dern Walkable Cities: feinmaschige, werden. Das Straßenleben machte Platz IN FREIER WILDBAHN pluriforme Städte, in denen sich Fuß- für Rennstrecken mit Bürgersteigen und LOSZULASSEN, gänger und Radfahrer gut bewegen kön- speziellen Fußgängerüberwegen. SONDERN DAS WILD nen. Das ist nicht nur gesund, sondern Das selbstfahrende Auto wird zu einer ZU ZÄHMEN sorgt auch für Lebendigkeit, soziale neuen Verschiebung der Machtverhält- Kontakte und Interaktion. Und es macht nisse führen. Die Technologiefirmen Spaß: Menschen wollen Menschen wissen ganz genau, wie riskant ein voll- sehen, wie Jane Jacobs und Jan Gehl ständig selbstfahrendes Auto ist – bei all bereits wussten, nicht Autos. bpd MAGAZINE 23
EIN TYPISCHES, 5-STÖCKIGES GEBÄUDE DER CHRUSCHTSCHOW-ZEIT, DAS NACH DEM NEUEN GESETZ ABGERISSEN WERDEN SOLL. © SHUTTERSTOCK 24
HINTERGRUND / TEXT PETER D’HAMECOURT / FOTOS YURI KOZYREV/NOOR MOSKAU WILL ALTE SOWJET-VIERTEL ABREIßEN Steht Moskau durch den Abriss von 7.500 Mehrfamilienhäusern aus den 1950er und 1960er Jahren eine riesige Umzugswelle von eineinhalb Millionen Menschen bevor? Die eng mit der Politik verflochtenen Baukonzerne stehen schon mit ihren Abrissbirnen bereit. Zahlreiche Moskowiter widersetzen sich dieser „Vertreibung“ aus ihrer Stadt. Auch Städtebauexperten sind skeptisch. DER WELTHIT VENUS aus den 1970er Jahren – von Mehrfamilienhäuser, die von Wohntürmen aus der Zeit der niederländischen Popgruppe Shocking Blue – ist in des Parteivorsitzenden Leonid Breschnew umgeben sind. Russland noch immer beliebt. Witscheslaw Saromin singt Als Witscheslaws Mutter vor ein paar Jahren starb, ver- es mit Leib und Seele. Seine kaum fünfzig Quadratmeter erbte sie ihm diese Wohnung. Er zog mit seiner Frau und große Zweizimmerwohnung füllt sich mit seiner warmen, seinem Sohn ein. Witscheslaw und seine Frau schlafen ein wenig rauen Stimme. Die Nachbarn kommen zwangs- im Wohnzimmer. Es fungiert zugleich zur Aufbewahrung läufig auch in den Genuss von Witscheslaws Privat- der Audiogeräte und der Gitarren des Musikers sowie als aufführung, aber es gibt keine Beschwerden. Jeder in der sein Proberaum. Sein Sohn hat ein eigenes Schlafzimmer Nachbarschaft kennt den Musiker mit seinem Stoppel- und die winzige Küche ist der Gemeinschaftsraum, in bart und seinem Cowboyhut aus schwarzem Leder. Man dem gegessen und getrunken wird. Witscheslaw ist fest kann Witscheslaw für Feste und Hochzeiten engagieren. entschlossen: „Ich gehe hier niemals weg. Nach westlichen Er gehört zu dieser Siedlung, einer Gruppe fünfstöckiger Maßstäben leben wir vielleicht nicht auf großem Fuß, bpd MAGAZINE 25
aber es ist unsere Welt, unser Besitz. Sie drohen mit einem die Millionenstadt Moskau an. Die Straßen und Plätze Umzug in einen Wohnblock in einem trostlosen Viertel – also der öffentliche Raum – sollten gesäubert werden. am Rand von Moskau. Ich würde noch lieber sterben.“ Gesäubert von hässlichen Reliquien aus der Zeit der Sowjetunion und von den kommerziellen Bauten aus GESÄUBERT den frühen Jahren des Kapitalismus nach dem Fall Mit „sie“ ist der Moskauer Bürgermeister Sergej der Sowjetunion 1991. Sobjanin und seine Stadtplaner gemeint. Das Pro- Die Innenstadt wurde gleich in Angriff genommen. Neue, gramm wurde von Beamten der Stadt und der russi- breite Gehwege mit großen Granitplatten, weniger Platz schen Föderation ausgearbeitet. Anfangs waren keine für Autos, Gebiete für Spaziergänger, Radwege und Entwickler daran beteiligt. Im Februar 2017 kündigte mehr Grün. Die Moskowiter nickten wohlwollend. Für der Bürgermeister eine umfassende Sanierung des die Besucher der Fußball-WM in diesem Sommer ist gesamten Gebiets innerhalb der großen Ringstraße um die russische Hauptstadt perfekt hergerichtet. 26
DIE PERSONEN AUF DEN FOTOS SIND NICHT DIE PERSONEN AUS DEM ARTIKEL Moskowiter waren froh, dass sie die deprimierenden Stadtwohnungen verlassen und in fünfstöckige Häuser mit eigener Haustür umziehen konnten – trotz der manchmal nur vierzig Quadratmeter großen Wohnflä- che. Nach der Revolution von 1917 konfiszierte der Staat in den russischen Großstädten, in denen das gehobene Bürgertum wohnte, Wohnraum und verteilte ihn. Fami- lien wohnten in nur einem Zimmer und teilten sich Küche und Bad mit Dutzenden anderer Bewohner. SOZIALE KONTROLLE Über ein halbes Jahrhundert später sind die Mehrfamilien- häuser, die zu fünft oder zu sechst nebeneinander grup- piert sind, zu intimen Wohneinheiten geworden, mit viel Grün und Einrichtungen wie Schulen, Geschäften und der U-Bahn in unmittelbarer Nähe. Gleichzeitig entwickelte sich in diesen Vierteln auch etwas für die Metropole Moskau Untypisches: eine Gemeinschaft mit sozialer Kontrolle. Nachbarn kennen einander. Vor allem nach der Privatisierung der meisten Wohnungen – ab 1991 – machten sich die Eigentümer daran, ihr frisch erworbe- DAS IST NATASHA. VON IHREM BALKON AUS BLICKT SIE AUF nes Eigentum in einen kleinen Palast zu verwandeln, in DIE ALTEN, VERTRAUTEN dem jeder Quadratzentimeter genutzt wurde. Die Eröff- MEHRFAMILIENHÄUSER, DIE nung von westlichen Baumärkten und von IKEA trug ABGERISSEN WERDEN SOLLEN. ebenfalls dazu bei. Das politische System in Russland lässt jedoch nicht viel Spielraum für das Entstehen freier bürgerlicher Gemeinschaften. Es besteht die Gefahr, dass die Machthaber die Stimmung unter den Bürgern wegen eines Mangels an Rückkopplung völlig falsch einschätzen. Die zweite Phase der Sanierung, die der Bürgermeister Die Stadtverwaltung wurde von den Liebeserklärungen ankündigte, sorgte dagegen bei vielen Moskowitern für für die Chruschtschowki, die in den Vierteln ertönten, völ- Entsetzen statt für Wohlwollen. Die alten, vertrauten, lig überrascht. Eine der russischen Zeitungen, die Nowaja fünfstöckigen Mehrfamilienhäuser passten nicht mehr zu Gaseta, tat das, was die Stadtverwaltung schon vorher einer modernen Metropole und sollten weichen. Tausende hätte tun müssen: Sie schickte Reporter in die Viertel und Mehrfamilienhäuser wären dem Untergang geweiht und stellte einer großen Zahl von Bewohnern dieselben Fra- 1,5 Millionen Menschen würden umziehen müssen. Die gen. Den Ergebnissen dieser Untersuchung der Zeitung Mehrfamilienhäuser, um die es geht, tragen den Spitz- zufolge wollen viele Bewohner nicht fortziehen, sondern namen „Chruschtschowki“. Es war nämlich der Partei- sind für eine umfassende Renovierung ihrer Mehrfamilien- chef Chruschtschow, der Ende der 1950er und Anfang häuser. Diejenigen, die zur Aufgabe ihrer Wohnung der 1960er Jahre den Fertig- oder Plattenbau als Lösung bereit sind, verlangen eine Ersatzwohnung in dem Bezirk, für die Wohnungsnot der Nachkriegszeit sah. Die in dem sie wohnen – eine Forderung, der nur begrenzt bpd MAGAZINE 27
stattgegeben werden kann. Nur ein paar junge Familien mit mehr als zwei Kindern haben keine Einwände gegen einen Umzug in ein entlegenes Moskauer Neubauviertel, solange sie dort eine bessere Wohnung bekommen. ELITE-PREISKLASSE Elena Rusakova schätzte die Stimmung im sogenannten Juri-Gagarin-Viertel, in dem auch der Musiker Witscheslaw wohnt, genau richtig ein. Sie führte den Protest gegen die Sanierung an. „Der Bürgermeister argumentierte in der althergebrachten Sowjet-Weise: Der Staat weiß, was gut für euch ist, also seid folgsam.“ Letzteres verweigerten die Bewohner des Gagarin-Viertels, trotz der versprochenen größeren, neuen Wohnung in einem weit entfernten Außen- viertel von Moskau und der finanziellen Entschädigung für die angegebenen Besitztümer. Das Viertel, in dem Rusakova wohnt, ist nach dem Helden der Sowjet-Raum- fahrt, Juri Gagarin, benannt. Der Kosmonaut ist auf dem Platz zu bewundern, der den Zugang zum Viertel bildet: Das Dutzende Meter hohe Standbild hat eine dynamische Aus- strahlung. Der Held scheint jeden Moment wieder ins All zu fliegen. Der Widerstand gegen die Sanierung war in diesem Viertel so groß, dass Elena Rusakova und ihre Getreuen bei den Stadtteilwahlen alle zwölf Sitze gewannen. Die Regierungspartei Einiges Russland musste abziehen. Rusakova ist Lehrerin. Sie sah, welche Fehler die Verwaltung in ihrem Wohngebiet machte. Sie wurde zur Aktivistin und landete dank der „Sanierung“ in der Kommunalpolitik. Rusakova nimmt uns mit zum großen Lenin-Boulevard am Rande des Viertels. Auf der gegenüberliegenden Seite wird gerade ein 30-stöckiges Hochhaus gebaut. „Das ist das, wovor sich Leute wie Witscheslaw fürchten. Für den Bau dieses Wohnturms wurde ein Teil des Parks hier geopfert, was nach dem geltenden Flächennutzungsplan gar nicht zulässig war. Wieder ein Wohnturm in der Elite-Preisklasse: viel zu teuer und bei der derzeitigen wirtschaftlichen Lage unverkäuflich. In dieser Kategorie stehen in Moskau etwa eineinhalb Millionen Quadrat- © ISTOCKFOTO.COM meter Wohnfläche leer. Es gibt einen Bedarf an bezahl- baren Wohnungen für Leute wie Witscheslaw, damit das große Zentrum von Moskau sozial im Gleichgewicht 28
„WIEDER EIN WOHNTURM IN DER ELITE-PREISKLASSE: VIEL ZU TEUER UND BEI DER DERZEITIGEN WIRTSCHAFTLICHEN LAGE UNVERKÄUFLICH“ bpd MAGAZINE 29
BEWOHNERIN VERA IN IHRER KNAPP 50 QUADRAT- METER KLEINEN ZWEIZIMMERWOHNUNG. bleibt. Die Chruschtschowki sind bezahlbar. Wir brau- Professor Kraschennikow untersuchte schon in den 1980er chen mehr von diesen Häusern, nicht weniger.“ Jahren die Zukunft der Chruschtschowki. Er kam zu dem Schluss, dass die Materialien, die zu Zeiten der Sowjet- LEBENSQUALITÄT union verwendet wurden, oft qualitativ schlecht waren. Die Bewohner sind von dem geplanten Abriss also wenig Den Ergebnissen seiner Untersuchung zufolge müsste ein begeistert. Was ist die Meinung der Experten für Stadt- Viertel der Gebäude abgerissen werden, während die rest- entwicklung? Die Architekten Prof. Alexej Kraschennikow lichen 75 Prozent bei einer gründlichen Renovierung erhal- und Hiroki Matsuura haben sich auf Urbanisierung ten bleiben könnten. Die meisten der Gebäude besitzen spezialisiert. In einem Punkt sind sie sich einig: Es muss keinen Keller, der sich für eine Unterbringung haus- mit diesen 7.500 Mehrfamilienhäusern etwas geschehen, technischer Anlagen eignen würde. Die Infrastruktur aber das bedeutet nicht zwangsläufig den Abriss und für Wasser, Strom und Abwasser muss überall moderni- die Umsiedlung der Bewohner. siert werden. Ein starkes Gegenargument gegen einen 30
„ICH GEHE HIER NIEMALS WEG. NACH WESTLICHEN MASSSTÄBEN LEBEN WIR VIELLEICHT NICHT AUF GROSSEM FUSS, ABER ES IST UNSERE WELT, UNSER BESITZ“ umfassenden Abriss ist, dass man dann in der Stadt Planung führt.“ Er weist darauf hin, dass die moderne Gebiete erhält, in denen sich ein Lebens- und Wohngefüge Stadtplanung noch in den Kinderschuhen steckt. „Über- organisch entwickelt hat. Eine bestimmte Wohndichte all treffe ich junge, engagierte Leute mit guter Ausbil- ist nach Ansicht von Hiroki Matsuura für die Lebens- dung. Was fehlt, ist die Erfahrung.“ „Und Management“, qualität einer Großstadt entscheidend. Die Neigung, an fügt Professor Kraschennikow hinzu. „Ein so umfangrei- den Stellen, die nach dem Abriss frei werden, prestige- ches Projekt erfordert gutes Management, und daran trächtige Hochhäuser zu errichten, trägt dazu nicht bei. fehlt es in Russland oftmals noch. Das bedeutet bei- spielsweise, dass man die betroffenen Bewohner in die MISSTRAUEN Planung einbezieht.“ Kraschennikow hofft, dass auf die Matsuura hofft vor allem auch, dass sich die Behörden Experten gehört wird, die für einen vorläufigen Stopp bei dem Projekt mehr Zeit lassen für sorgfältige Ent- sind und wollen, dass zum Beispiel erst zwei Viertel als scheidungen. „Die Politik und das Baugewerbe sind in Pilotprojekt saniert werden: eines, das abgerissen wer- Russland eng miteinander verflochten. Bei der Erweite- den muss, und eines, das nach einer gründlichen Reno- rung der Stadt zeigt sich, dass das zu einer chaotischen vierung erhalten bleiben kann. © SHUTTERSTOCK bpd MAGAZINE 31
Solche Beispiele könnten das Misstrauen der Moskowiter gegen die „Sanierung“ vielleicht zerstreuen. Im ungün- stigsten Fall gewinnt die Baulobby den Kampf um die Chruschtschowki, und die Bürger haben das Nachsehen. Matsuura: „Auf Fachleute hören? Das genügt nicht. Die Stadtverwaltung wird starr an ihrem Beschluss festhalten, alle Chruschtschowki für ein ‚höheres Ziel‘ abzureißen. Wir brauchen auch eine andere Haltung und ein anderes Ent- scheidungsverfahren. Ganz gleich ob das von oben herab geschieht oder durch die Einmischung der Bevölkerung – die Hauptsache ist, dass eine analytische Phase kommt, in der verschiedene Herangehensweisen miteinander ver- glichen werden: ein Viertel, das auf einmal saniert wird, und ein anderes, in dem die Sanierung schrittweise erfolgt.“ ALEKSEY KRASJENNIKOV Professor Alexej Kraschennikow arbeitet als Experte für Urban Planning and Design am Moskauer Institut für Architektur. Er schrieb unter anderem das Buch Urban Development and Built Environment, das als ein Handbuch für die Herangehensweise bei großräumigen Sanierungs- HIROKI MATSUURA projekten in Städten gelten kann. Er ist nicht gegen den Moskauer Hiroki Matsuura ist Architekt und Sanierungsplan, aber gegen den Urbanist und einer der Partner von Abriss in großem Stil. Stattdessen MAXWAN und MASA Architekten. Er empfiehlt Kraschennikow, dem unterhält für MAXWAN enge Kontakte Managementteil des Projektes mehr nach Russland und trat auch bei Aufmerksamkeit zu widmen, verschiedenen Projekten in der russi- um das Vertrauen der Betroffenen schen Hauptstadt beratend auf. Er zu gewinnen. ist nicht direkt an dem Sanierungs- projekt der Chruschtschowki beteiligt, ist nicht gegen die Modernisierung dieser veralteten Gebäude, hat aber Bedenken bezüglich des Tempos, in dem dies geschieht. Außerdem plädiert er für eine stärkere Beachtung der Wohn- dichte in den Vierteln, in denen die Chruschtschowki stehen. 32
„EIN SO UMFANGREICHES PROJEKT ERFORDERT GUTES MANAGEMENT, UND DARAN FEHLT ES IN RUSSLAND OFTMALS NOCH. DAS BEDEUTET BEISPIELS- WEISE, DASS MAN DIE BETROFFENEN BEWOHNER IN DIE PLANUNG EINBEZIEHT“ DIESE BEWOHNER MÜSSEN AUCH DEMNÄCHST IHRE ETAGEN- WOHNUNG VERLASSEN. HIGHLIGHTS Tausende Mehrfamilienhäuser sind abbruchreif und 1,5 Millionen Menschen sollen in das neue Moskau nördlich und südlich der großen Ringstraße umgesiedelt werden. • Das politische System lässt der Entwicklung einer freien Zivilgesellschaft nicht viel Spielraum. • Ein Viertel der Gebäude müsste abgeris- sen werden, die restlichen 75 Prozent könnten bei einer gründlichen Renovierung erhalten bleiben. © SHUTTERSTOCK bpd MAGAZINE 33
VISION / INTERVIEW MARKUS HEBER / BILDER (JEWEILS) DIRK BEICHERT, INES HEIDER, SVEN MAGNUS HANEFELD NEUE WEGE FÜR MEHR BEZAHLBAREN WOHNRAUM Wohnraum in Deutschland ist knapp. Durch den stetigen Zuzug in den Ballungsräumen fehlen Schätzungen zufolge bundesweit bald rund eine Million Wohnungen. Doch die Flächen zur Schaffung von neuem Wohnraum werden immer rarer. Folgen des wachsenden Bedarfs sind Preissteigerungen für Grundstücke und Wohnungen sowie steigende Mieten. Die Städte stehen vor großen Herausforderungen: Sie müssen Wege finden, um gezielte Stadtentwicklung und bezahlbares Wohnen auch künftig möglich zu machen. Ein Kommunalpolitiker, ein Architekt und ein Stadtplaner beleuchten die Situation aus verschiedenen Perspektiven und zeigen mögliche Lösungsansätze auf – unter anderem am Beispiel der durch Zuzug und Wirtschaftswachstum geprägten Bankenmetropole Frankfurt am Main. 34
MIKE JOSEF HARTWIG SCHULTHEISS FRANK SCHLEGELMILCH Mike Josef ist Planungsdezernent Dipl. Ing. Hartwig Schultheiß, Strategien zur Stadt- und Raum- der Stadt Frankfurt am Main und Jahrgang 1959, studierte Geogra- planung sind das Kerngebiet von zugleich Vorsitzender der Frankfurter phie und Raumplanung sowie Frank Schlegelmilch. Nach einem SPD. Als Angehöriger einer Architektur, Hoch- und Städtebau an Studium der Raumplanung an der christlichen Minderheit in seinem den Universitäten Münster und Universität Dortmund und Urban Geburtsland Syrien kam er als Stuttgart. Als geschäftsführender Design an der University of Liverpool Vierjähriger nach Deutschland. Inhaber der hs urban GmbH erlangte der heute 46-Jährige die Der heute 35-Jährige ist Diplom- begleitet er Entwickler und Qualifikation zum Fachmann für Politologe und war schon in seiner Kommunen bei ihrer Projekt- geografische Informationssysteme Studienzeit vielfältig ehrenamtlich implementierung. Die Heraus- in Hamburg. Schlegelmilch war tätig. Dass Politiker mit reichlich forderungen der Kommunen kennt zunächst in verschiedenen Gegenwind konfrontiert sind, kennt Schultheiß aus mehreren Perspek- Planungsbüros tätig und ist seit 2004 Josef aus eigener Erfahrung. Aktuell tiven. Nach fünfjähriger Tätigkeit in Partner beim Stadt- und Regional- bestimmt er mit den Planungen einem Stuttgarter Architekturbüro planungsbüro BPW Baumgart für einen neuen Frankfurter Stadtteil und einer Ausbildung zum Bau- und Partner in Bremen. Seine die Schlagzeilen der regionalen assessor folgten Stationen als Tätigkeitsschwerpunkte sind Tageszeitungen. Diesen Schritt sieht Planungsdezernent in Gronau Stadtforschung, Stadtentwicklungs- der SPD-Politiker als Notwendigkeit, und Erkelenz. Ab dem Jahr 2000 planung und Prozessgestaltung. um dem stetigen Zuzug nach war er Beigeordneter und Planungs- Mit einem Forschungsprojekt zum Frankfurt an Main gerecht zu werden. dezernent für Bau, Wirtschaft und Modell der „Gartenstadt 21“ war er Marketing in Münster und dort an der Entwicklung eines neuen von 2003 bis 2016 auch als Leitbilds für die Stadtentwicklung Stadtdirektor allgemeiner Vertreter in verdichteten Ballungsräumen des Oberbürgermeisters. Seine mit einer nachhaltigen Flächen- Expertise setzt er ehrenamtlich inanspruchnahme beteiligt. u.a. als Vorstandsvorsitzender der StadtBauKultur NRW und im Baukunstarchiv NRW ein. bpd MAGAZINE 35
EIN NEUER STADTTEIL FÜR FRANKFURT AM MAIN Der Frankfurter Planungsdezernent Mike Josef (SPD) macht sich Gedanken um die Entwicklungsfähigkeit seiner Stadt und darüber, wie sich der Bedarf an Wohnraum für den Zuzug von mehreren Tausend Menschen pro Jahr bewältigen lässt. Eine unkonventionelle und politisch umstrittene, aber sehr interessante Lösung wird aktuell diskutiert: Wie wäre es mit einem ganz neuen Stadtteil? 36
FRANKFURT AM MAIN 1. THESE: Hintergrund dieser komplexen Gemenge- rund 30 Prozent mietgemindertem DER WOHNUNGSBEDARF LÄSST lage zu entscheiden.“ Wohnraum bei Neubauprojekten fest- SICH IN DEN KOMMENDEN ZEHN zulegen. Die Mietpreisbremse greift hin- JAHREN VOLLSTÄNDIG DURCH NEUBAU 2. THESE: gegen bei Modernisierungsmaßnahmen INNERHALB DER STADT DECKEN. NUR DURCH NEUBAU AUSSER- nicht in dem erforderlichen Maße, wie HALB DER STADT KANN FÜR VIELE von der Bundesebene erhofft, sondern „In Frankfurt am Main ist ein jährlicher MENSCHEN BEZAHLBARER WOHN- läuft ins Leere.“ Zuzug von 10.000 bis 15.000 neuen Ein- RAUM GESCHAFFEN WERDEN. wohnern zu verzeichnen. Das heißt, dass 3. THESE: jedes Jahr rund 7.000 neue Wohnungen „Wir müssen außerhalb der Stadt neuen DIE ERFORDERLICHE INNERSTÄDTISCHE entstehen müssten, um den Bedarf an Wohnraum schaffen, dürfen uns aber INFRASTRUKTUR HAT IHR KAPAZITÄTS Wohnraum langfristig zu bedienen. Das gleichzeitig nicht isoliert betrachten, MAXIMUM ERREICHT UND KANN ist schon alleine von den Kapazitäten her sondern in Absprache mit Umland- NICHT MEHR MIT DEM BEVÖLKERUNGS- nicht zu bewerkstelligen, etwa was kommunen nach Lösungen suchen. Mit WACHSTUM SCHRITT HALTEN. Logistik, Handwerker und Bauarbeiter dem geplanten neuen Stadtteil wollen wir angeht. Wir können und wollen diesen keine anonyme Schlafstadt bauen, son- „Richtig ist, dass wir durch den Zuzug Zuzug nicht verhindern, sollten jedoch dern urbane Stadtentwicklung betreiben. vieler Menschen in unsere Stadt auch versuchen ihn mitzugestalten. Der In diesen Zusammenhang gehört auch einen steigenden Bedarf nach Formen Zuzug ist für uns ein deutliches Signal, die Frage nach bezahlbarem Wohnraum. der Grundversorgung haben. Bei den dass Frankfurt am Main eine attraktive Dies ist in erster Linie eine Frage der wenigen vorhandenen Flächen kommt Stadt ist – Menschen finden hier ihren Bodenpreise. Die Grundstückseigentümer es im gleichen Zusammenhang zu einer Arbeitsplatz, genießen das urbane und sind die Profiteure der aktuellen Preis- Flächenkonkurrenz zwischen Wohnraum, internationale Lebensgefühl und die entwicklung. Selbst breite Schichten Gewerbe und Infrastrukturangeboten. vielen kulturellen Angebote unserer sind bald nicht mehr in der Lage, in Bei allen Planungen von zusätzlichem Stadt. Die Nachverdichtung und die Ent- Frankfurt am Main Wohnraum zu Wohnraum außerhalb der Stadt muss wicklung von Konversionsflächen stoßen erwerben oder zu mieten. Mit unseren deshalb aus meiner Sicht immer die im Innenstadtbereich bereits an ihre Instrumenten, beispielsweise der Milieu- erforderliche Infrastruktur mitgedacht Grenzen. Uns gehen schlicht die schutzsatzung, versuchen wir als Stadt, werden. Dazu gehört auch das Thema Flächen aus. Ein Entwicklungsschritt die Bestandsmieten zu erhalten. Auch Frei- und Grünflächen. Wir sind in außerhalb der derzeitigen Bebauungs- Festlegungen in den städtebaulichen Frankfurt am Main auf unseren soge- grenzen ist deshalb eine Notwendigkeit. Verträgen helfen dabei, eine Quote von nannten Grüngürtel stolz, der allen Aus diesem Grund diskutieren wir in Bürgerinnen und Bürgern Frankfurts und Frankfurt am Main aktuell die Planungen der näheren Umgebung als Erholungs- für einen ganz neuen Stadtteil, den und Freizeitraum gilt. Diesen wollen wir wir in der Nähe bestehender Verkehrs- „EIN langfristig erhalten. Eine konzentrierte infrastruktur errichten wollen. So können ENTWICKLUNGSSCHRITT Entwicklung im Außenbereich mit einem wir gleichzeitig einen Anschluss an die AUSSERHALB DER neuen Stadtteil schließt dies nicht aus. Verkehrswege sicherstellen. Diese DERZEITIGEN Im Gegenteil: Das würde uns langfristig Planungen sind mit Widerständen kon- BEBAUUNGSGRENZEN helfen, die Randbereiche und den Grün- frontiert. Hier ist es unsere Aufgabe als IST EINE gürtel um die Stadt Frankfurt am Main politisch Verantwortliche, vor dem NOTWENDIGKEIT“ vor weiteren Eingriffen zu schützen.“ bpd MAGAZINE 37
Sie können auch lesen