IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...

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IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
N O 7 SOMMER 2018
                                                                             ZEITSCHRIFT
                                                                             ZU GEBIETSENTWICKLUNG
                                                                             IN EUROPA

                                                                             BPDEUROPE.COM

                                                                     IN DER STADT
                                                                    VON A NACH B,
                                                                      ÜBER- UND
                                                                    UNTERIRDISCH

TECHNIK IN DER STADT     OPTIMALER MIX          TIJS VAN DEN BOOMEN      BOUWEN, BAUEN!
AUFWERTUNG NEUER         WOHNEN UND             INTELLIGENTER            WIE KÖNNEN DEUTSCHLAND
UND ALTER STADTVIERTEL   ARBEITEN IN MODERNEN   STÄDTEBAU ANSTATT        UND DIE NIEDERLANDE DIE
DURCH DIGITALISIERUNG    MISCHFORMEN            INTELLIGENTER AUTOS!     BAUPRODUKTION STEIGERN?
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bpd MAGAZINE
IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
IMPRESSUM

                                   BPD MAGAZINE 7, 4. JAHRGANG
                                             SOMMER 2018

    BPD Magazine ist eine Veröffentlichung von BPD Europa, IJsbaanpad 1, 1076 CV Amsterdam, Nie-
        derlande. Die Zeitschrift erscheint zweimal pro Jahr in drei Sprachen (Deutsch, Französisch
          und Niederländisch) in begrenzter Auflage für die Geschäftspartner von BPD in Europa.

                                         BPD-REDAKTIONSRAT
                   Jeanne Neuve-Eglise, Angela Vervoorn, Hans Weber, Katharina Zolll

                                       KONZEPT & PRODUKTION
                                       ZB Communicatie & Media
                                              (zb.nl)

                                       GRAFISCHE GESTALTUNG
                                      ZB/Klaas Jan Woudsma bno

                              AN DIESER AUSGABE HABEN MITGEWIRKT
              BCTROKAM, Bertus Bouwman, Tijs van den Boomen, Armelle Desmarchelier,
      Anette Galskjøt, Kees de Graaf, Peter d’Hamecourt, Raymond Heinsius, Mirjam van Immerzeel,
        ITA Translations, Bas Kooman, Malin Kox, Edwin Lucas, María Mendiluce, Claudia Stoldt,
                                       WBCSD, Roline Wierda-Wijs

                                   FOTOGRAFIE & ILLUSTRATIONEN
       Jens Abrahamsson, Dirk Beichert, Rhonald Blommestijn, CDOT, John Fielding, Sergio Grazia,
     Sven Magnus Hanefeld, Ines Heider, iDroneman, Yuri Kozyrev/NOOR, Erik Smits, Dennis Wetzel.

                                                 DRUCK
                               Druckerei Roelofs, Enschede (Niederlande)

               BPD Magazine wird auf ungestrichenem, holzfreiem Offset-Papier gedruckt.

                                            AUFLAGE 10.640

          Das vollständige oder auszugsweise Übernehmen von Artikeln, Fotos und Illustrationen
    aus dieser Zeitschrift ist nur mit Zustimmung der Redaktion und unter Angabe der Quelle gestattet.
          BPD und ZB Communicatie & Media übernehmen keinerlei Haftung für Unrichtigkeiten
                                  und/oder eventuelle Satz- und Druckfehler.

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IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
VORWORT

              FRANZ-JOSEF LICKTEIG                                         JEAN-PHILIPPE BOURGADE
             GESCHÄFTSFÜHRER BPD               WALTER DE BOER                 GESCHÄFTSFÜHRER
            IMMOBILIENENTWICKLUNG              CEO BPD EUROPE                  BPD MARIGNAN

                                        MITEINANDER

An der kurzen Leine halten oder viel Spielraum geben? Sollte die Regierung sich kräftig einmischen oder ist
es besser, lokalen Initiativen von unteren Behörden, Unternehmen, Bürgern und anderen möglichst viel Frei-
raum zu lassen? Diese Fragen stellen sich Gebietsentwicklern und Behörden immer wieder, aber ganz beson-
ders dann, wenn der Wohnungsmarkt stark unter Druck steht.

Und genau das ist jetzt der Fall. Hinzu kommt, dass die Art des Wohnungsbedarfs komplexer denn je ist.
Wir müssen in derselben Umgebung „bouwen/bauen“ (Seite 54), in der sich auch andere dringende gesell-
schaftliche Fragen stellen. Der Klimawandel zwingt uns zur Anpassung von bestehender und neuer Bebauung.
Die Energiewende bringt Herausforderungen mit sich, deren Dimension vielen noch nicht klar ist. Die Digita-
lisierung bietet neue Möglichkeiten, wirft aber zugleich grundlegende Fragen zu Datenschutz und Cybersi-
cherheit auf. Und dann noch das Verkehrsproblem: Wie sichern wir die Erreichbarkeit der Städte
und damit ihre Vitalität und Beliebtheit?

In diesem BPD Magazine setzen wir uns mit einigen dieser Fragen auseinander. Dazu bedienen wir uns
diverser Blickwinkel und verschiedener geografischer Koordinaten. Wir reisen nach Moskau (Seite 24), wo von
oben herab Pläne für den Abriss tausender Mehrfamilienhäuser („Chruschtschowki“) aus den 1950er und
1960er Jahren ausgearbeitet wurden, die anfangs von den Moskowitern verschmäht wurden, inzwischen aber
sehr beliebt sind. Dort wird also mit harter Hand eingegriffen – gegen die Wünsche der Bewohner. Anette
Galskjøt zeigt am Beispiel von Singapur (Seite 80), wie ein strenger Staat sehr wohl mit der Rücksichtnahme
auf die Wünsche der „einfachen“ Bürger zu vereinbaren ist. Und wir untersuchen (Seite 42), wie Nantes,
Toulouse, Stuttgart und Nürnberg das Mobilitätsproblem angehen, teils zusammen mit privatwirtschaftlichen
Partnern. Während der Staat bei diesem Problem oft entschlossen auftreten muss, finden viele Fachleute in
diesem BPD Magazine, dass ein ähnlich rigoroses Eingreifen auf dem Wohnungsmarkt unerwünscht ist.

Es ist also kein Allheilmittel. Wie groß die Not auch ist, jede Situation ist anders. Trotzdem sehe ich in all
diesen Fallbeispielen eine Art gemeinsamen Nenner. Zusammenarbeit – zwischen Entwicklern, Kommunen
und Bürgern – fördert die Kreativität. Es geht darum, die Gemeinsamkeiten zu finden und sie zum Ausgangs-
punkt zu nehmen. Dazu braucht es den Mut, vom eigenen hohen Ross zu steigen. Gebietsentwicklungen,
wo auch immer auf der Welt, gehen leichter, wenn sich Politiker, Planer und Bürger bei der Lenkung und
Ausführung zusammentun. Städte können sich nur dann entfalten, wenn jeder Entfaltungsraum bekommt
und wenn wir miteinander daran bauen.

WALTER DE BOER,
CEO BPD

                                                                                                    bpd MAGAZINE   5
IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
INHALT

    VISION                                                              INSPIRATION

08 TECHNIK FÜR MEHR                                                 42 MOBILITÄT IN WACHSENDEN
   LEBENSQUALITÄT IN DER STADT                                         STÄDTEN IN EUROPA
   Wie können wir die Lebensqualität in der Stadt                      Bauen in der Stadt erfordert eine integrale Mobili-
   verbessern? Wie sorgen wir für den Schutz der                       tätsplanung. Deutsche und französische Städte
   Umwelt und dafür, dass wir in möglichst guter                       gehen mit gutem Beispiel voran, indem der
   Gesundheit alt werden? Die Digitalisierung kann                     Autoverkehr eingeschränkt wird und nachhaltige
   dabei helfen. Elphi Nelissen und Frans Vogelaar                     Verkehrsmittel gefördert werden.
   loten die Möglichkeiten aus.
                                                                    62 VERKEHRSREVOLUTION: DAS
22 EIN HOCH AUF „DUMME“ MOBILITÄT                                      INTERNET ALS HEIMLICHER HELFER
   Tijs van den Boomen hält nichts von Technik, die                    María Mendiluce arbeitet beim World Business
   das Leben in unseren Städten angenehmer macht.                      Council for Sustainable Development (WBCSB) an
   „Keine intelligenten Autos und Smart Cities,                        einem internationalen Programm für nachhaltigen
   sondern lieber intelligenter Städtebau, damit wir                   Verkehr in Städten. Treibende Kraft: das Internet
   uns angenehm durch die Städte bewegen können                        der Dinge in Kombination mit Big Data.
   – zu Fuß oder mit dem Rad.“
                                                                    66 DIE MAGIE DES TUNNELS
34 NEUE WEGE FÜR MEHR                                                  Manchmal ist für einen guten Verkehrsfluss rigo-
   BEZAHLBAREN WOHNRAUM                                                roses Eingreifen nötig: mitten durch die Erde, für
   In vielen deutschen Städten herrscht Wohnungs-                      die schnellste und beste Verbindung von A nach B.
   not, auch in Bremen, Münster und Frankfurt                          Es kann eine atemberaubende Erfahrung sein.
   am Main. Drei in unterschiedlicher Weise Beteiligte
   schildern die Situation und zeigen Lösungs-
   möglichkeiten auf.

80 RUSHHOUR FÜR NACHHALTIGE STADT
   Singapur gilt in vielen Bereichen als Musterbeispiel.
   Bei der Stadtplanung wird nichts dem Zufall
   überlassen, und Nachhaltigkeit spielt dabei eine
   immer wichtigere Rolle.

                          LEBENSQUALITÄT                                                      BOUWEN,
                          IM STADTTEIL                                                        BAUEN!
                          Technik und                                                         Wo gibt es noch
                          Digitalisierung bieten                                              Möglichkeiten zum Bau
                          Perspektiven.                                                       neuer Wohnungen?
                          08                                                                  54

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IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
HINTERGRUND                                            PROJEKTE

24 ABRISSBIRNE DURCH SOWJETBAUTEN                      82 UMBAUPROJEKTE IN STÄDTISCHEN
   Die Moskauer Stadtverwaltung will ganze                GEBIETEN
   7.500 Mehrfamilienhäuser abreißen lassen. Die          Wir spazieren mit Jean-François Danon
   Bewohner sind gegen den Kahlschlag und ihre            und Eric Sanchez durch städtisches Gebiet in
   erzwungene Umsiedlung. Auch Städtebauexperten          Clichy-Batignolles (Paris) und Bordeaux.
   sind nicht begeistert. „Ein umfangreiches Projekt      Was können wir von den Stadtumbauprojekten
   wie dieses erfordert gutes Management, und daran       in Frankreich lernen?
   fehlt es in Russland oftmals noch.“
                                                       88 GUTE MISCHUNG:
54 IMPULS FÜR DIE BAUWIRTSCHAFT                           WOHNEN UND ARBEITEN
   In deutschen und niederländischen Städten              Früher war es völlig normal, über dem eigenen
   zerbricht man sich den Kopf über die dring-            Geschäft zu wohnen. Im heutigen Städtebau
   liche Frage: Wie können wir die Bauproduktion          wurden diese Funktionen gewaltsam voneinander
   steigern, um guten Wohnraum für alle bieten            getrennt. Aber das ändert sich, wie sechs weg-
   zu können? Die Antwort: maßgeschneiderte               weisende Projekte zeigen.
   lokale Lösungen.

                        STADTUMBAU                                            OPTIMALER
                        AUF FRANZÖSISCH                                       MIX
                        Was können wir von                                    Deutsche, niederländische
                        den Stadtumbauprojekten                               und französische Projekte für
                        in Frankreich lernen?                                 Wohnen und Arbeiten.
                        82                                                    88

                                                                                       bpd MAGAZINE        7
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IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
VISION / TEXT EDWIN LUCAS / FOTOS ERIK SMITS

 IN MÖGLICHST
     GUTER
GESUNDHEIT ALT
  WERDEN? DIE
ANTWORT HEISST
DIGITALISIERUNG
Wird das Leben in einem Viertel durch digitale Anwendungen wirklich schöner und besser?
     BPD Magazine sprach mit Elphi Nelissen, Professorin für Building Sustainability an
der Technischen Universität Eindhoven, und mit Frans Vogelaar, Professor für Hybrid Space
an der Kölner Kunsthochschule für Medien. Sie besprachen miteinander die Möglichkeiten
                      der neuen Technik für die Zukunft der Stadt.

                                                                              bpd MAGAZINE   9
IN DER STADT VON A NACH B, ÜBER- UND UNTERIRDISCH - BPD ...
„EINE FORMULIERUNG
                                                WIE ‚DIE FOLGEN
                                                DER DIGITALISIERUNG‘
                                                IST MIR EIGENTLICH
                                                ZU PASSIV. ALS OB
     ALS JOSEPH RATZINGER im April
                                                DIE DIGITALISIERUNG
2005 zu Papst Benedikt XVI. gewählt
wurde, jubelte die begeisterte Menge auf
                                                UNS ÜBERKOMMT“
dem Petersplatz in Rom – so wie bis dahin      ELPHI NELISSEN
üblich. Acht Jahre später, als sein Nach-
folger in sein Amt eingeführt wurde, war
der Platz eine einzige brodelnde Masse von
in die Höhe gestreckten Handys.                Errichtung eines intelligenten Stadtviertels   FRANS VOGELAAR: „Nein, wir können
Das zeigt, was mit neuen Techniken             innerhalb von fünf Jahren. Ein Viertel, in     schon jetzt einiges erkennen. Hier liegt
geschieht: Oft führen sie erst ein schlum-     dem die Digitaltechnik der Verbesserung        beispielsweise mein Handy. Ich weiß auf
merndes Dasein, bevor sie zur vollen Ent-      der Lebensdauer und der Lebensqualität         jeden Fall, dass dieses Gerät nur ein Zwi-
faltung kommen. Danach dauert es noch          dient, indem neue Bauverfahren, neue For-      schenschritt sein wird. Die Technik ent-
eine Weile, bis wir begreifen, wie sehr sie    men der Energiegewinnung und -speiche-         wickelt sich sehr rasch. Der technische
die Welt verändern. Das war bei der Erfin-     rung, neue Verkehrskonzepte und ein            Fortschritt verläuft immer in Zyklen, in
dung des Buchdrucks so, bei der Dampf-         anderer Ansatz bezüglich Sicherheit und        einem immer höheren Tempo. Es wurde
maschine, dem Internet und dem Handy,          Gesundheit angewandt werden. Dieses            viel über Virtual Reality geredet, wobei
und so wird es auch mit selbstfahrenden        neue Viertel, der Brainport Smart District,    man sich als Nutzer in einer virtuellen,
Autos und der Blockchain sein.                 wird im Nachbarort Helmond entstehen.          digitalen Welt bewegt, sowie über
Es ist vielleicht eines der schwierigsten      Dort werden 85 Hektar für etwa 1.500           Augmented Reality, bei der die reale
Dinge: den tatsächlichen Nutzen einer          Wohnungen, Geschäfte und Büros in einem        Umgebung mit digitalen Informationen
technischen Neuerung einzuschätzen.            sehr innovativen Setting reserviert.           vermischt wird. Das sind vielverspre-
Welche Konsequenzen hat das selbst-            Wir fragen den niederländischen Planer         chende Entwicklungen, die immer besser
fahrende Auto für unsere Stadtplanung?         und Architekten Professor Frans Vogelaar       einsetzbar werden. Für mich steht fest,
Führt das Internet wirklich zu „intelligen-    nach seiner Meinung. Vogelaar wohnt            dass die digitale Welt die Stadt immer
ten Städten“ mit deutlich besserer Lebens-     seit 25 Jahren in Deutschland und erregt       mehr und immer schneller verändern
qualität? Das ist noch nicht abzusehen,        mit seinen eigenwilligen und ausgefalle-       wird. Das Wichtigste ist, dass man eine
denn wir stecken noch mittendrin.              nen Entwürfen Aufsehen. Ein Beispiel ist       Vision entwickelt, wie man mit dieser
Die Unvorhersehbarkeit der Zukunft ist         die geplante Begrünung des vielbespro-         zunehmenden Geschwindigkeit umgeht.
jedoch keine Rechtfertigung dafür, sich        chenen Stadtschlosses von Berlin, dem          Wer das versäumt, ist verloren.“
einer Antwort zu entziehen. Wir formu-         Wohnort Vogelaars. Vogelaars Spezialge-        ELPHI NELISSEN: „Eine Formulierung wie
lieren diese in der niederländischen Stadt,    biet ist die gestalterische Forschung zu       ‚die Folgen der Digitalisierung‘ ist mir
die nach Ansicht vieler ein Hotspot tech-      hybriden Räumen, also Orten, an denen          eigentlich zu passiv. Als ob die Digitali-
nischer Innovationen ist: Eindhoven. Die       die reale Welt in Interaktion mit der Welt     sierung uns überkommt. Im Gegenteil, es
Stadt beheimatet erfolgreiche Unterneh-        des Internets, der Bilder und der Kom-         geht darum, selbst die Zügel in die Hand
men wie Philips und den Chipmaschinen-         munikation tritt.                              zu nehmen und die Entwicklungen aktiv zu
hersteller ASML, wird heute aber auch                                                         steuern, ausgehend von der Devise: Was
für ihre vorrangige Rolle bei revolutionärem   Lassen sich die Auswirkungen der               gibt es doch für großartige Dinge, mit
Design, innovativer Forschung und Exi-         Digitalisierung auf den städtischen            denen wir unser Leben besser und schö-
stenzgründungen gerühmt. Hier ergriff          Raum überhaupt schon abschätzen                ner machen können? Eine Veränderung ist
Prof. Ir. Elphi Nelissen, Dekanin der Tech-    oder wird das erst nach längerer               auch erst dann fruchtbar, wenn wir diese
nischen Universität, 2016 die Initiative zur   Zeit möglich sein?                             Veränderung aktiv annehmen. So war es

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bpd MAGAZINE   11
mit dem Handy und so wird es bei jeder       einladen, sich mehr zu bewegen, und das      ohne dass jemand es ausdrücklich ver-
neuen technischen Entwicklung sein.“         auch messen. Das wirkt Einsamkeit ent-       langt hat. Es kommt darauf an, dass die
                                             gegen, fördert die Gesundheit, erleichtert   Technik immer im Dienste der Lebens-
In Helmond versuchen Sie jetzt,              das Leben und führt vielleicht sogar zu      qualität steht. Wir wollen diese Lebens-
einen „Smart District“ zu realisie-          einer inklusiveren Gesellschaft, in der      qualität verbessern und auf längere Sicht
ren. Wird das Leben in einem                 jeder Einzelne seine Chancen auf dem         – wenn das Experiment gelingt – wollen
Viertel durch digitale Anwendungen           Arbeitsmarkt verbessert.“                    wir das dazu entwickelte Instrumentarium
wirklich schöner und besser?                                                              vielleicht sogar exportieren. Denn wir kön-
NELISSEN: „Das wird sich natürlich noch      Es klingt wie eine Utopie und erin-          nen nicht einfach so weitermachen wie
zeigen müssen. Wir wollen dort ein ‚living   nert entfernt an die Ingenieure,             bisher. Wenn die Städte in den aufstre-
Lab‘ errichten, in dem wir das gesamte       die in den 1950er Jahren mit den             benden Ländern im Rest der Welt genauso
vorhandene Wissen der Technischen            besten Absichten große Wohn-                 gestaltet werden, wie wir das in den letzten
Universität Eindhoven und anderer Part-      viertel entwarfen, aber den                  hundert Jahren getan haben, ohne Rück-
ner anwenden, um Lehren daraus zu zie-       Menschen dabei vergaßen.                     sichtnahme auf die Umwelt, enden wir auf
hen. In diesem Brainport Smart District      NELISSEN: „Nein, es geht gerade um den       diesem Planeten in einer Sackgasse.“
werden selbstfahrende Autos fahren. Es       Menschen, nicht um die Technik. Wir
wird Möglichkeiten zur lokalen Energie-      zwingen als Ingenieure niemandem etwas       Woran denken Sie bei „Digital-
erzeugung und für neuartige Gebäude          auf. Wir gehen nur auf die Bedürfnisse der   technik in der Stadt im Dienste
geben, die dem Bedarf an Gemeinschafts-      Menschen ein, die diese selbst oft nicht     des Menschen“?
räumen gerecht werden. Aber wir werden       konkret benennen können. Wir zeigen          NELISSEN: „Ein Beispiel wäre eine einfache
auch versuchen, eine gesunde Umgebung        Möglichkeiten auf. Sie können es mit dem     App, mit der die Nutzer innerhalb eines
zu kreieren, indem wir die Bewohner          iPad vergleichen: Es wurde eingeführt,       Stadtteils Gebrauchsgegenstände tau-
                                                                                          schen oder untereinander verleihen kön-
                                                                                          nen. Durch eine solche App lernt man
                                                                                          auch gleich die Menschen in der eigenen
                                                                                          Nachbarschaft besser kennen. Viele der
                                                                                          Optionen sollen dabei übrigens von den
                                                                                          Bewohnern selbst vorgeschlagen werden.
                                                                                          Sie werden natürlich auch intensiv in die
                                                                                          Planung dieser Gebietsentwicklung einbe-
                                                                                          zogen. Ein Teil der Bewohner stammt aus
                                                                                          Brandevoort, einem benachbarten Viertel,
                                                                                          in dem es viele engagierte Leute gibt. Und
                                                                                          schon vor dem ersten Spatenstich werden
                                                                                          zweifellos wieder neue Techniken auf-
                                                                                          tauchen, die wir auch anwenden werden.“
                                                                                          VOGELAAR: „Ich finde das ungemein inte-
                                                                                          ressant. Vor allem die Kombination aus
                                                                                          realer und digitaler Welt spricht mich an.
                                                                                          Wenn die Bewohner einander durch digitale
                                                                                          Anwendungen besser kennenlernen, wird

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„PRIVATSPHÄRE IST
                                                 EIN KULTURELLER
                                                 BEGRIFF, EIN
                                                 LUXUS, DEN WIR
                                                 UNS ZU EIGEN
sich das auch positiv auf das gegen-
seitige Vertrauen und den Zusammen-
                                                 GEMACHT HABEN“
halt im Viertel auswirken.                      FRANS VOGELAAR

Kritiker werden sagen, dass es eine
Utopie ist, die in eine Dystopie
ausarten kann. Intelligente Zahnbür-
sten, die Daten über das eigene
Gebiss sammeln und der Kranken-
versicherung melden, oder Apps,
die den Eigentümer orten und prü-
fen, ob er sich genügend bewegt,
noch ganz zu schweigen von der
Anfälligkeit des Internets der Dinge:
Der Datenschutz kann schnell
äußerst löchrig sein.“                               FRANS VOGELAAR                            ELPHI NELISSEN
VOGELAAR: „Das ist richtig, dessen muss
                                                     Frans Vogelaar (1955) ist seit    Elphi Nelissen (1959) ist Dekanin der
man sich bewusst sein. Aber gleichzeitig         1998 Professor für Hybrid Space an       Fakultät Bauingenieurwesen und
muss man sich weiterentwickeln, und man            der Kölner Kunsthochschule für      Professorin für Building Sustainability
darf nicht passiv bleiben. Experimentieren        Medien, wo Technik, Wissenschaft          an der Technischen Universität
ist dazu das beste Rezept. Übrigens ist          und Kunst miteinander verbunden        Eindhoven (TU/e). 1983 schloss sie
Experimentierfreude – das kann ich inzwi-         werden. Er ist Gründer des Hybrid      ihr Bauphysikstudium an der TU/e
schen durchaus behaupten – eine typisch          Space Lab, eines Forschungs- und      ab. 1991 gründete sie das Ingenieur-
                                                    Designbüros, das sich mit den         büro Nelissen, das auf Bauphysik,
niederländische Eigenschaft. Ein Living Lab
                                                  Anforderungen auseinandersetzt,             Akustik, Nachhaltigkeit und
wie das in Helmond wird integral angegan-
                                                      die die digitale Welt an die      Installationstechnik spezialisiert ist.
gen. Verschiedenste Disziplinen arbeiten         Gestalter des realen Raumes stellt.         Nelissen, die 2010 den Titel
dann zusammen: der Staat, die Wirtschaft,            Vogelaar studierte Industrie-      weibliche KMU-Unternehmerin des
die Wissenschaft und last but not least die        design an der Design Academy           Jahres gewann, leitet derzeit das
Bewohner. Das ist charakteristisch für die       Eindhoven sowie Architektur an der          vom niederländischen Staat
Niederlande, wir sind eine wenig hierar-           Architectural Association School      eingerichtete Strukturwandelteam
chische Gesellschaft. In Deutschland mit           of Architecture (AA) in London.     zur Förderung der Kreislaufwirtschaft
                                                   Er arbeitete bei Studio Alchymia    im Baugewerbe und ist Mitglied der
seinen viel hierarchischeren Strukturen
                                                       (Allessandro Mendini) in         Taskforce Bauagenda. Bei der TU/e
würde man das erst lang und gründlich
                                                   Mailand sowie für das Office for       initiierte sie das Programm Smart
untersuchen und dann vielleicht das beste         Metropolitan Architecture (OMA)         Cities, mit dem die Theorie in die
Stadtviertel aller Zeiten entwickeln, mit der                in Rotterdam.                  Praxis umgesetzt werden soll.
besten digitalen Technik. Aber so viel Zeit
haben wir wie schon gesagt nicht, dafür
verlaufen die Entwicklungen zu rasant.“

In dem neuen Viertel in Helmond
werden auch selbstfahrende Autos

                                                                                                         bpd MAGAZINE         13
„DURCH GEÄNDERTE
 VERKEHRSSTRÖME
ÄNDERN SICH AUCH
 DIE FAHRTROUTEN
      UND DIE
   INNENSTÄDTE“
      FRANS VOGELAAR

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„WER SEINER
                                                ALTEN NACHBARIN
                                                HILFT, BEKOMMT
                                                VIELLEICHT
                                                MIETNACHLASS“
                                               ELPHI NELISSEN

                                               NELISSEN:   „In dem neuen Stadtviertel         gesagt müssen –, damit das System funk-
                                               wollen wir möglichst schnell mit dem Ein-      tioniert. Um Energie geliefert zu bekom-
                                               satz elektrischer Fahrzeuge experimentie-      men, muss man beispielsweise bestimmte
                                               ren. Das Auto ist dann kein persönlicher       Daten wie den Energieverbrauch und den
                                               Besitz mehr. Das ist in der Tat praktisch,     Energiebedarf freigeben. Darüber hinaus
                                               wenn man älter wird: Man braucht dann          können die Bewohner andere Daten frei-
                                               nicht mehr unbedingt ein eigenes Auto,         willig bereitstellen, um damit einen besse-
                                               und auf Dauer braucht man auch nicht           ren Service, finanzielle Vorteile oder eine
                                               mehr selbst zu fahren. Es steht immer          Art Sammelpunkte zu bekommen. Wer
                                               passender Transport zur Verfügung. Das         seiner alten Nachbarin hilft, bekommt viel-
                                               ist etwas völlig anderes als die klassischen   leicht Mietnachlass oder Marken für eine
zum Einsatz kommen. Was lässt sich             öffentlichen Verkehrsmittel, die sich übri-    kostenlose Auto- oder Fahrradnutzung.“
über die Folgen solcher neuartigen             gens auch stark verändern werden.“
Mobilitätsformen für den urbanen               VOGELAAR: „Ich gehe davon aus, dass die        Und wer das nicht will? Bekommt
Raum sagen?                                    Digitalisierung und Robotisierung großen       er oder sie dann Strafpunkte?
VOGELAAR: „Ich bin mir sicher, dass selbst-    Einfluss auf die Mobilität haben werden.       NELISSEN: „Nein, keine Sorge, aber einen
fahrende Autos und E-Mobilität große           Autos werden autonom, elektrisch und           Vorteil eben auch nicht. Vergessen Sie
Veränderungen mit sich bringen werden.         teilbar. Die sekundären Effekte dieser         nicht: Es geht um ein Labor, eine Ver-
Das fängt schon mit dem Stadtbild an. Der      Veränderungen werden noch größer sein.         suchseinrichtung. Wir werden sehen, wie
Charakter der Verkehrsadern in den Städ-       Durch geänderte Verkehrsströme ändern          viele Bewohner ihre Daten zur Verfügung
ten ändert sich. Sie werden weniger schmut-    sich auch die Fahrtrouten und die Innen-       stellen wollen: Sind es zehn Prozent oder
zig und laut, so dass die Gebäude anders       städte sowie die Hierarchien im Umland.        neunzig? Aber wie dem auch sei, die
zu ihnen orientiert werden können, vor         Das kann sich unter anderem auf die            Unterschiede sind graduell. Wir geben
allem bei Neubauten, aber auch in beste-       Immobilienpreise auswirken.“                   schon jetzt durch unsere Handys unzäh-
henden Vierteln. In einer shrinking Car City                                                  lige Daten preis. Unser Telekommuni-
können Parkplätze aufgehoben werden,           Ein selbstfahrendes Auto ist auch              kationsanbieter weiß, wo wir sind. Google
und Garagen werden auch überflüssig.           wieder eine unerschöpfliche Daten-             stützt sich bei seinen Staumeldungen und
Die Straßen werden gesünder, sicherer,         quelle. Wem gehören diese Daten                Verkehrsinformationen auf Daten aus
lebendiger, grüner. Ich denke, dass selbst-    eigentlich in einer digitalisierten            unseren Smartphones.“
fahrende Autos in spätestens 25 Jahren         Stadt? Und was wird damit getan?               VOGELAAR: „In Deutschland wäre das
Normalität sind. Das ist eine interessante     NELISSEN: „Wir vertreten dabei einen           aufgrund des historischen Hintergrunds,
Entwicklung, wenn man an die parallel dazu     klaren Standpunkt: Die Daten gehören           der deutschen Geschichte, ein sehr heikler
verlaufende Überalterung in Deutschland        den Bewohnern. Sie werden wissen, wel-         Punkt. Die deutsche Kultur ist diesbezüg-
und den Niederlanden denkt.“                   che Daten sie teilen können – oder besser      lich deutlich anders. Das sieht man auch

                                                                                                                  bpd MAGAZINE        17
„IN EINEM NEUEN
    STADTVIERTEL
MÖGLICHST SCHNELL
 MIT ELEKTRISCHEN
    FAHRZEUGEN
 EXPERIMENTIEREN“
       ELPHI NELISSEN

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bpd MAGAZINE   19
unter Jugendlichen und Studierenden: Sie         machen. Ein anderes Beispiel: Funktio-
                                           sind politisch viel kritischer als niederlän-    nieren die neuartigen Gebäude mit ihren
                                           dische Studierende. Das spricht in meinen        Gemeinschaftsräumen wirklich? Nehmen
                                           Augen für Deutschland, für das deutsche          wir an, dass neun von zehn Konzepten gut
                                           Bildungssystem. Aber die Welt steht nicht        aufgenommen werden, dann können wir
                                           still, man muss sich immer wieder Fragen         trotzdem noch von dem zehnten lernen,
                                           stellen. Was bedeutet Datenschutz in             das nicht funktioniert. So könnten wir die
                                           einer digitalen Welt? Die Vorstellung von        Stadt anders und besser analysieren.“
                                           der Privatsphäre geht auf England im 16.
                                           Jahrhundert zurück. Dort wurden durch            Sind die Architekten, Stadtplaner
                                           die Erfindung des Hausflurs Privatbereiche       und Bauunternehmen überhaupt
           INSPIRATION                     geschaffen. Es war der erste private Raum.       für eine solche experimentelle
                                           „Privatsphäre ist ein kultureller Begriff,       Denk- und Arbeitsweise gerüstet?
                                           es ist ein Luxus, den wir uns zu eigen           NELISSEN: „Es ist ein sehr diverses
         FRANS VOGELAAR
                                           gemacht haben. Aber ein solches Konzept          Berufsfeld mit sehr unterschiedlichen
  „Die Bücher von Yuval Noah Harari,       hat nicht ewig Bestand. Es wird von etwas        Haltungen und Standpunkten in Bezug
 Historiker, Philosoph, Futurologe und     Neuem abgelöst werden, beispielsweise            auf Innovationen. Wie bei den meisten
Transhumanist, und dann insbesondere       von einem familiären Privatbereich mit der       Innovationen müssen wir mit den inno-
 Home Deus, das von den Folgen einer       klassischen Privatsphäre und dem öffent-         vativsten Vorreitern beginnen, wonach
 künftigen technologischen Revolution      lichen Raum, in dem man bestimmte                der Rest zweifellos folgen wird oder
handelt, sowie Eine kurze Geschichte der   Daten ganz bewusst teilt und zugleich            folgen müssen wird.“
Menschheit von der Steinzeit bis heute.“   Besitzer der eigenen Daten bleibt.“              VOGELAAR: „Ich bin mir noch nicht so
                                           NELISSEN: „Die Daten werden nicht ein-           sicher, dass sie dafür offen sind. Aber diese
                                           fach so an Unternehmen weitergegeben.            Initiative wird, denke ich, gut zeigen, was
           ELPHI NELISSEN
                                           Wir übertragen sie erst auf eine Plattform       machbar ist und was nicht. Ich weiß, dass
   „Der City Deal Circulaire Stad, eine    und dann stellen wir sie – natürlich ver-        die Niederlande mit derartigen Experi-
 multilaterale Vereinbarung, mit der der   schlüsselt und anonymisiert – Unterneh-          menten führend sind. Das Land ist dies-
niederländische Staat das Programm zur     men zur Verfügung, die anhand der Daten          bezüglich wirklich eines der modernsten
    Förderung der Kreislaufwirtschaft      neue Erkenntnisse gewinnen.“                     der Welt. Und die Niederlande können
 umsetzt. Städte, Ministerien, die Euro-                                                    so etwas gut in die Öffentlichkeit bringen.
   päische Kommission, Institute und       An was für Erkenntnisse ist dabei                Deutschland ist gewiss nicht im Rück-
 die Wirtschaft arbeiten gemeinsam an      zu denken?                                       stand, entwickelt und arbeitet aber gründ-
  mehr Wachstum, Lebensqualität und        NELISSEN: „Nehmen wir zum Beispiel               licher – und dadurch langsamer.
     Innovation im niederländischen        selbstfahrende Autos. Wenn sie sich durch-       Angesichts der fortwährenden digitalen
   und europäischen Städtenetzwerk.“       setzen, stellt sich die Frage, wie viele Autos   Revolution, die wir erleben, könnte die
                                           dann noch nötig sind. Können wir die Flä-        Kombination Deutschland-Niederlande
                                           chen in einem Stadtviertel vielleicht anders     äußerst interessant und vielversprechend
                                           verteilen? Dann wirkt sich die Digitalisie-      sein. Die Niederlande als das Land von
                                           rung unmittelbar auf die Stadtplanung aus.       Leichtigkeit, Innovation und Kommuni-
                                           So wollen wir viel lernen und die gewon-         kation und Deutschland als das Land von
                                           nenen Erkenntnisse allen zugänglich              Solidität und Organisationsstärke.“

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HIGHLIGHTS

   Die Digitalisierung und Robotisierung wird Einfluss auf Mobilität und Stadt-
          planung haben. Autos werden autonom, elektrisch und teilbar.
   Die sekundären Effekte dieser Veränderungen werden aber noch größer sein.
     Zentren verschieben sich. Straßen verändern sich. Städte werden grüner.
                                           •
  Eine technologische Veränderung ist erst dann fruchtbar, wenn die Menschen
                                 sie aktiv annehmen.
                                           •
  Mit einer aufgeschlossenen Haltung zu experimentieren ist die beste Methode,
um die raschen Veränderungen zu untersuchen und auf Herz und Nieren zu prüfen.
                                           •
   In einer digitalisierten Welt müssen Fragen zu Dateneigentum, Privatsphäre
                    und Datenschutz immer neu gestellt werden.

                                                                                  bpd MAGAZINE   21
ILLUSTRATION RHONALD BLOMMESTIJN / NACH EINEM FOTO VON JAN BANNING

PROFIL Tijs van den Boomen wohnt in Amsterdam und ist Journalist und Stadtforscher.
Er schrieb unter anderem die Bücher Asfaltreizen und De mobiele stad.
VISION

                     EIN HOCH AUF „DUMME“ MOBILITÄT

                   Die Technik wird das Wohnen in unseren Städten nicht angenehmer
               machen, im Gegenteil. Wir brauchen keine intelligenten Autos und Smart Cities,
                                     sondern intelligenten Städtebau.

    DIE ZUKUNFT STRAHLT uns entgegen:        den unberechenbaren Menschen im Ver-        everything. Das Auto braucht nicht mehr
Selbstfahrende Autos kommen angefah-         kehr – und entscheiden sich deshalb für     aufzupassen, was um es herum
ren, wenn wir sie brauchen, und fahren       Kontrolle. Waymo, der Autosparte von        geschieht, sondern es „kommuniziert“
danach selbstständig in eine Tiefgarage,     Google, gelang es Ende 2017, mit            zum Beispiel mit Fußgängern (V2P) oder
um sich aufzuladen. Aber welchen Preis       Geofencing geschützte Robotertaxis im       Radfahrern (V2C). Dass diese dann einen
bezahlen unsere Städte dafür? Ein kleiner    normalen Straßenverkehr fahren zu las-      Chip im Helm oder eine fluoreszierende
Ausflug in die Frühzeit des Autos erweist    sen. Der nächste Schritt wird vermutlich    Weste tragen müssen, spricht für sich:
sich als überraschend lehrreich. In sei-     nicht darin bestehen, die Autos in freier   Das Auto muss wissen, wer da läuft
nem Buch Fighting Traffic zeigt der ame-     Wildbahn loszulassen, sondern das Wild      – ein Kind, ein Jogger oder ein ungeübter
rikanische Professor Peter D. Norton, wie    zu zähmen. Denn wer würde ernsthaft         radelnder Tourist. Intelligente Mobilität
die Automobilindustrie die öffentliche       von einem Auto erwarten, dass es einen      verspricht sichere, saubere Straßen mit
Meinung vor dem zweiten Weltkrieg            Fußgänger oder Radfahrer erkennt, wenn      viel weniger Autos, so dass Platz zum
zu einem Umschwung brachte. Nicht            dieser plötzlich an einer unerwarteten      Spielen und Flanieren frei wird. Ob das
das Auto war die Ursache für die vielen      Stelle auftaucht? Das Schlagwort heißt      wahr ist? Das städtische Verkehrsamt
tödlichen Unfälle, sondern das unver-        V2X-Kommunikation: Vehicle to               von San Francisco entdeckte vor Kurzem,
antwortliche Verhalten der Menschen:                                                     dass Uber und Lyft für eine Zunahme der
sowohl das der Fahrer, als auch das                                                      Zahl der Autos gesorgt haben: Die Ein-
unachtsamer Fußgänger, die die Straße                                                    wohner nehmen jetzt für Strecken, die sie
überquerten. Deshalb mussten beide                                                       früher zu Fuß bewältigt haben, ein Taxi.
Gruppen erzogen werden. Vor allem aber        DER NÄCHSTE SCHRITT                        Wir brauchen keine Smart Cities, son-
mussten die Straßen anders gestaltet           IST NICHT, DIE AUTOS                      dern Walkable Cities: feinmaschige,
werden. Das Straßenleben machte Platz           IN FREIER WILDBAHN                       pluriforme Städte, in denen sich Fuß-
für Rennstrecken mit Bürgersteigen und             LOSZULASSEN,                          gänger und Radfahrer gut bewegen kön-
speziellen Fußgängerüberwegen.                  SONDERN DAS WILD                         nen. Das ist nicht nur gesund, sondern
Das selbstfahrende Auto wird zu einer               ZU ZÄHMEN                            sorgt auch für Lebendigkeit, soziale
neuen Verschiebung der Machtverhält-                                                     Kontakte und Interaktion. Und es macht
nisse führen. Die Technologiefirmen                                                      Spaß: Menschen wollen Menschen
wissen ganz genau, wie riskant ein voll-                                                 sehen, wie Jane Jacobs und Jan Gehl
ständig selbstfahrendes Auto ist – bei all                                               bereits wussten, nicht Autos.

                                                                                                            bpd MAGAZINE       23
EIN TYPISCHES,
           5-STÖCKIGES GEBÄUDE
       DER CHRUSCHTSCHOW-ZEIT,
     DAS NACH DEM NEUEN GESETZ
       ABGERISSEN WERDEN SOLL.
                                  © SHUTTERSTOCK

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HINTERGRUND / TEXT PETER D’HAMECOURT / FOTOS YURI KOZYREV/NOOR

  MOSKAU
  WILL ALTE
SOWJET-VIERTEL
  ABREIßEN
                Steht Moskau durch den Abriss von 7.500 Mehrfamilienhäusern
               aus den 1950er und 1960er Jahren eine riesige Umzugswelle von
                 eineinhalb Millionen Menschen bevor? Die eng mit der Politik
            verflochtenen Baukonzerne stehen schon mit ihren Abrissbirnen bereit.
          Zahlreiche Moskowiter widersetzen sich dieser „Vertreibung“ aus ihrer Stadt.
                           Auch Städtebauexperten sind skeptisch.

    DER WELTHIT VENUS aus den 1970er Jahren – von          Mehrfamilienhäuser, die von Wohntürmen aus der Zeit
der niederländischen Popgruppe Shocking Blue – ist in      des Parteivorsitzenden Leonid Breschnew umgeben sind.
Russland noch immer beliebt. Witscheslaw Saromin singt     Als Witscheslaws Mutter vor ein paar Jahren starb, ver-
es mit Leib und Seele. Seine kaum fünfzig Quadratmeter     erbte sie ihm diese Wohnung. Er zog mit seiner Frau und
große Zweizimmerwohnung füllt sich mit seiner warmen,      seinem Sohn ein. Witscheslaw und seine Frau schlafen
ein wenig rauen Stimme. Die Nachbarn kommen zwangs-        im Wohnzimmer. Es fungiert zugleich zur Aufbewahrung
läufig auch in den Genuss von Witscheslaws Privat-         der Audiogeräte und der Gitarren des Musikers sowie als
aufführung, aber es gibt keine Beschwerden. Jeder in der   sein Proberaum. Sein Sohn hat ein eigenes Schlafzimmer
Nachbarschaft kennt den Musiker mit seinem Stoppel-        und die winzige Küche ist der Gemeinschaftsraum, in
bart und seinem Cowboyhut aus schwarzem Leder. Man         dem gegessen und getrunken wird. Witscheslaw ist fest
kann Witscheslaw für Feste und Hochzeiten engagieren.      entschlossen: „Ich gehe hier niemals weg. Nach westlichen
Er gehört zu dieser Siedlung, einer Gruppe fünfstöckiger   Maßstäben leben wir vielleicht nicht auf großem Fuß,

                                                                                                     bpd MAGAZINE      25
aber es ist unsere Welt, unser Besitz. Sie drohen mit einem   die Millionenstadt Moskau an. Die Straßen und Plätze
     Umzug in einen Wohnblock in einem trostlosen Viertel          – also der öffentliche Raum – sollten gesäubert werden.
     am Rand von Moskau. Ich würde noch lieber sterben.“           Gesäubert von hässlichen Reliquien aus der Zeit der
                                                                   Sowjetunion und von den kommerziellen Bauten aus
     GESÄUBERT                                                     den frühen Jahren des Kapitalismus nach dem Fall
     Mit „sie“ ist der Moskauer Bürgermeister Sergej               der Sowjetunion 1991.
     Sobjanin und seine Stadtplaner gemeint. Das Pro-              Die Innenstadt wurde gleich in Angriff genommen. Neue,
     gramm wurde von Beamten der Stadt und der russi-              breite Gehwege mit großen Granitplatten, weniger Platz
     schen Föderation ausgearbeitet. Anfangs waren keine           für Autos, Gebiete für Spaziergänger, Radwege und
     Entwickler daran beteiligt. Im Februar 2017 kündigte          mehr Grün. Die Moskowiter nickten wohlwollend. Für
     der Bürgermeister eine umfassende Sanierung des               die Besucher der Fußball-WM in diesem Sommer ist
     gesamten Gebiets innerhalb der großen Ringstraße um           die russische Hauptstadt perfekt hergerichtet.

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DIE PERSONEN AUF DEN FOTOS SIND NICHT DIE PERSONEN AUS DEM ARTIKEL
                                                                                                                         Moskowiter waren froh, dass sie die deprimierenden
                                                                                                                         Stadtwohnungen verlassen und in fünfstöckige Häuser
                                                                                                                         mit eigener Haustür umziehen konnten – trotz der
                                                                                                                         manchmal nur vierzig Quadratmeter großen Wohnflä-
                                                                                                                         che. Nach der Revolution von 1917 konfiszierte der Staat
                                                                                                                         in den russischen Großstädten, in denen das gehobene
                                                                                                                         Bürgertum wohnte, Wohnraum und verteilte ihn. Fami-
                                                                                                                         lien wohnten in nur einem Zimmer und teilten sich
                                                                                                                         Küche und Bad mit Dutzenden anderer Bewohner.

                                                                                                                         SOZIALE KONTROLLE
                                                                                                                         Über ein halbes Jahrhundert später sind die Mehrfamilien-
                                                                                                                         häuser, die zu fünft oder zu sechst nebeneinander grup-
                                                                                                                         piert sind, zu intimen Wohneinheiten geworden, mit viel
                                                                                                                         Grün und Einrichtungen wie Schulen, Geschäften und der
                                                                                                                         U-Bahn in unmittelbarer Nähe. Gleichzeitig entwickelte
                                                                                                                         sich in diesen Vierteln auch etwas für die Metropole
                                                                                                                         Moskau Untypisches: eine Gemeinschaft mit sozialer
                                                                                                                         Kontrolle. Nachbarn kennen einander. Vor allem nach
                                                                                                                         der Privatisierung der meisten Wohnungen – ab 1991 –
                                                                                                                         machten sich die Eigentümer daran, ihr frisch erworbe-
                  DAS IST NATASHA. VON IHREM
                    BALKON AUS BLICKT SIE AUF
                                                                                                                         nes Eigentum in einen kleinen Palast zu verwandeln, in
                        DIE ALTEN, VERTRAUTEN                                                                            dem jeder Quadratzentimeter genutzt wurde. Die Eröff-
                     MEHRFAMILIENHÄUSER, DIE                                                                             nung von westlichen Baumärkten und von IKEA trug
                  ABGERISSEN WERDEN SOLLEN.                                                                              ebenfalls dazu bei. Das politische System in Russland
                                                                                                                         lässt jedoch nicht viel Spielraum für das Entstehen freier
                                                                                                                         bürgerlicher Gemeinschaften. Es besteht die Gefahr, dass
                                                                                                                         die Machthaber die Stimmung unter den Bürgern wegen
                                                                                                                         eines Mangels an Rückkopplung völlig falsch einschätzen.
Die zweite Phase der Sanierung, die der Bürgermeister                                                                    Die Stadtverwaltung wurde von den Liebeserklärungen
ankündigte, sorgte dagegen bei vielen Moskowitern für                                                                    für die Chruschtschowki, die in den Vierteln ertönten, völ-
Entsetzen statt für Wohlwollen. Die alten, vertrauten,                                                                   lig überrascht. Eine der russischen Zeitungen, die Nowaja
fünfstöckigen Mehrfamilienhäuser passten nicht mehr zu                                                                   Gaseta, tat das, was die Stadtverwaltung schon vorher
einer modernen Metropole und sollten weichen. Tausende                                                                   hätte tun müssen: Sie schickte Reporter in die Viertel und
Mehrfamilienhäuser wären dem Untergang geweiht und                                                                       stellte einer großen Zahl von Bewohnern dieselben Fra-
1,5 Millionen Menschen würden umziehen müssen. Die                                                                       gen. Den Ergebnissen dieser Untersuchung der Zeitung
Mehrfamilienhäuser, um die es geht, tragen den Spitz-                                                                    zufolge wollen viele Bewohner nicht fortziehen, sondern
namen „Chruschtschowki“. Es war nämlich der Partei-                                                                      sind für eine umfassende Renovierung ihrer Mehrfamilien-
chef Chruschtschow, der Ende der 1950er und Anfang                                                                       häuser. Diejenigen, die zur Aufgabe ihrer Wohnung
der 1960er Jahre den Fertig- oder Plattenbau als Lösung                                                                  bereit sind, verlangen eine Ersatzwohnung in dem Bezirk,
für die Wohnungsnot der Nachkriegszeit sah. Die                                                                          in dem sie wohnen – eine Forderung, der nur begrenzt

                                                                                                                                                                    bpd MAGAZINE       27
stattgegeben werden kann. Nur ein paar junge Familien
     mit mehr als zwei Kindern haben keine Einwände gegen
     einen Umzug in ein entlegenes Moskauer Neubauviertel,
     solange sie dort eine bessere Wohnung bekommen.

     ELITE-PREISKLASSE
     Elena Rusakova schätzte die Stimmung im sogenannten
     Juri-Gagarin-Viertel, in dem auch der Musiker Witscheslaw
     wohnt, genau richtig ein. Sie führte den Protest gegen die
     Sanierung an. „Der Bürgermeister argumentierte in der
     althergebrachten Sowjet-Weise: Der Staat weiß, was gut
     für euch ist, also seid folgsam.“ Letzteres verweigerten die
     Bewohner des Gagarin-Viertels, trotz der versprochenen
     größeren, neuen Wohnung in einem weit entfernten Außen-
     viertel von Moskau und der finanziellen Entschädigung
     für die angegebenen Besitztümer. Das Viertel, in dem
     Rusakova wohnt, ist nach dem Helden der Sowjet-Raum-
     fahrt, Juri Gagarin, benannt. Der Kosmonaut ist auf dem
     Platz zu bewundern, der den Zugang zum Viertel bildet: Das
     Dutzende Meter hohe Standbild hat eine dynamische Aus-
     strahlung. Der Held scheint jeden Moment wieder ins All
     zu fliegen. Der Widerstand gegen die Sanierung war in
     diesem Viertel so groß, dass Elena Rusakova und ihre
     Getreuen bei den Stadtteilwahlen alle zwölf Sitze gewannen.
     Die Regierungspartei Einiges Russland musste abziehen.
     Rusakova ist Lehrerin. Sie sah, welche Fehler die Verwaltung
     in ihrem Wohngebiet machte. Sie wurde zur Aktivistin und
     landete dank der „Sanierung“ in der Kommunalpolitik.
     Rusakova nimmt uns mit zum großen Lenin-Boulevard
     am Rande des Viertels. Auf der gegenüberliegenden Seite
     wird gerade ein 30-stöckiges Hochhaus gebaut. „Das ist
     das, wovor sich Leute wie Witscheslaw fürchten. Für den
     Bau dieses Wohnturms wurde ein Teil des Parks hier
     geopfert, was nach dem geltenden Flächennutzungsplan
     gar nicht zulässig war. Wieder ein Wohnturm in der
     Elite-Preisklasse: viel zu teuer und bei der derzeitigen
     wirtschaftlichen Lage unverkäuflich. In dieser Kategorie
     stehen in Moskau etwa eineinhalb Millionen Quadrat-
                                                                    © ISTOCKFOTO.COM

     meter Wohnfläche leer. Es gibt einen Bedarf an bezahl-
     baren Wohnungen für Leute wie Witscheslaw, damit das
     große Zentrum von Moskau sozial im Gleichgewicht

28
„WIEDER EIN WOHNTURM
 IN DER ELITE-PREISKLASSE: VIEL
 ZU TEUER UND BEI DER
 DERZEITIGEN WIRTSCHAFTLICHEN
 LAGE UNVERKÄUFLICH“

                                  bpd MAGAZINE   29
BEWOHNERIN VERA
                                                                                                     IN IHRER KNAPP 50 QUADRAT-
                                                                                                                   METER KLEINEN
                                                                                                         ZWEIZIMMERWOHNUNG.

     bleibt. Die Chruschtschowki sind bezahlbar. Wir brau-        Professor Kraschennikow untersuchte schon in den 1980er
     chen mehr von diesen Häusern, nicht weniger.“                Jahren die Zukunft der Chruschtschowki. Er kam zu dem
                                                                  Schluss, dass die Materialien, die zu Zeiten der Sowjet-
     LEBENSQUALITÄT                                               union verwendet wurden, oft qualitativ schlecht waren.
     Die Bewohner sind von dem geplanten Abriss also wenig        Den Ergebnissen seiner Untersuchung zufolge müsste ein
     begeistert. Was ist die Meinung der Experten für Stadt-      Viertel der Gebäude abgerissen werden, während die rest-
     entwicklung? Die Architekten Prof. Alexej Kraschennikow      lichen 75 Prozent bei einer gründlichen Renovierung erhal-
     und Hiroki Matsuura haben sich auf Urbanisierung             ten bleiben könnten. Die meisten der Gebäude besitzen
     spezialisiert. In einem Punkt sind sie sich einig: Es muss   keinen Keller, der sich für eine Unterbringung haus-
     mit diesen 7.500 Mehrfamilienhäusern etwas geschehen,        technischer Anlagen eignen würde. Die Infrastruktur
     aber das bedeutet nicht zwangsläufig den Abriss und          für Wasser, Strom und Abwasser muss überall moderni-
     die Umsiedlung der Bewohner.                                 siert werden. Ein starkes Gegenargument gegen einen

30
„ICH GEHE HIER NIEMALS WEG.
                  NACH WESTLICHEN MASSSTÄBEN
                  LEBEN WIR VIELLEICHT NICHT
                  AUF GROSSEM FUSS, ABER ES IST
                  UNSERE WELT, UNSER BESITZ“

                 umfassenden Abriss ist, dass man dann in der Stadt         Planung führt.“ Er weist darauf hin, dass die moderne
                 Gebiete erhält, in denen sich ein Lebens- und Wohngefüge   Stadtplanung noch in den Kinderschuhen steckt. „Über-
                 organisch entwickelt hat. Eine bestimmte Wohndichte        all treffe ich junge, engagierte Leute mit guter Ausbil-
                 ist nach Ansicht von Hiroki Matsuura für die Lebens-       dung. Was fehlt, ist die Erfahrung.“ „Und Management“,
                 qualität einer Großstadt entscheidend. Die Neigung, an     fügt Professor Kraschennikow hinzu. „Ein so umfangrei-
                 den Stellen, die nach dem Abriss frei werden, prestige-    ches Projekt erfordert gutes Management, und daran
                 trächtige Hochhäuser zu errichten, trägt dazu nicht bei.   fehlt es in Russland oftmals noch. Das bedeutet bei-
                                                                            spielsweise, dass man die betroffenen Bewohner in die
                 MISSTRAUEN                                                 Planung einbezieht.“ Kraschennikow hofft, dass auf die
                 Matsuura hofft vor allem auch, dass sich die Behörden      Experten gehört wird, die für einen vorläufigen Stopp
                 bei dem Projekt mehr Zeit lassen für sorgfältige Ent-      sind und wollen, dass zum Beispiel erst zwei Viertel als
                 scheidungen. „Die Politik und das Baugewerbe sind in       Pilotprojekt saniert werden: eines, das abgerissen wer-
                 Russland eng miteinander verflochten. Bei der Erweite-     den muss, und eines, das nach einer gründlichen Reno-
                 rung der Stadt zeigt sich, dass das zu einer chaotischen   vierung erhalten bleiben kann.
© SHUTTERSTOCK

                                                                                                                     bpd MAGAZINE      31
Solche Beispiele könnten das Misstrauen der Moskowiter
     gegen die „Sanierung“ vielleicht zerstreuen. Im ungün-
     stigsten Fall gewinnt die Baulobby den Kampf um die
     Chruschtschowki, und die Bürger haben das Nachsehen.
     Matsuura: „Auf Fachleute hören? Das genügt nicht. Die
     Stadtverwaltung wird starr an ihrem Beschluss festhalten,
     alle Chruschtschowki für ein ‚höheres Ziel‘ abzureißen. Wir
     brauchen auch eine andere Haltung und ein anderes Ent-
     scheidungsverfahren. Ganz gleich ob das von oben herab
     geschieht oder durch die Einmischung der Bevölkerung
     – die Hauptsache ist, dass eine analytische Phase kommt,
     in der verschiedene Herangehensweisen miteinander ver-
     glichen werden: ein Viertel, das auf einmal saniert wird,
     und ein anderes, in dem die Sanierung schrittweise erfolgt.“

                               ALEKSEY KRASJENNIKOV

                         Professor Alexej Kraschennikow arbeitet
                           als Experte für Urban Planning and
                               Design am Moskauer Institut
                              für Architektur. Er schrieb unter
                         anderem das Buch Urban Development
                            and Built Environment, das als ein
                          Handbuch für die Herangehensweise
                              bei großräumigen Sanierungs-                   HIROKI MATSUURA
                            projekten in Städten gelten kann.
                             Er ist nicht gegen den Moskauer              Hiroki Matsuura ist Architekt und
                            Sanierungsplan, aber gegen den              Urbanist und einer der Partner von
                            Abriss in großem Stil. Stattdessen        MAXWAN und MASA Architekten. Er
                              empfiehlt Kraschennikow, dem           unterhält für MAXWAN enge Kontakte
                           Managementteil des Projektes mehr              nach Russland und trat auch bei
                                Aufmerksamkeit zu widmen,             verschiedenen Projekten in der russi-
                            um das Vertrauen der Betroffenen            schen Hauptstadt beratend auf. Er
                                        zu gewinnen.                    ist nicht direkt an dem Sanierungs-
                                                                      projekt der Chruschtschowki beteiligt,
                                                                       ist nicht gegen die Modernisierung
                                                                       dieser veralteten Gebäude, hat aber
                                                                    Bedenken bezüglich des Tempos, in dem
                                                                      dies geschieht. Außerdem plädiert er
                                                                     für eine stärkere Beachtung der Wohn-
                                                                          dichte in den Vierteln, in denen
                                                                            die Chruschtschowki stehen.

32
„EIN SO UMFANGREICHES
                               PROJEKT ERFORDERT
                               GUTES MANAGEMENT,
                               UND DARAN FEHLT ES IN
                               RUSSLAND OFTMALS NOCH.
                               DAS BEDEUTET BEISPIELS-
                               WEISE, DASS MAN DIE
                               BETROFFENEN BEWOHNER
                               IN DIE PLANUNG
                               EINBEZIEHT“

     DIESE BEWOHNER MÜSSEN
AUCH DEMNÄCHST IHRE ETAGEN-
       WOHNUNG VERLASSEN.

                                                              HIGHLIGHTS

                                                    Tausende Mehrfamilienhäuser sind
                                                  abbruchreif und 1,5 Millionen Menschen
                                                    sollen in das neue Moskau nördlich
                                                     und südlich der großen Ringstraße
                                                            umgesiedelt werden.
                                                                       •
                                                      Das politische System lässt der
                                                  Entwicklung einer freien Zivilgesellschaft
                                                            nicht viel Spielraum.
                                                                       •
                                                  Ein Viertel der Gebäude müsste abgeris-
                                                   sen werden, die restlichen 75 Prozent
                                                       könnten bei einer gründlichen
                                                       Renovierung erhalten bleiben.
                                 © SHUTTERSTOCK

                                                                             bpd MAGAZINE      33
VISION / INTERVIEW MARKUS HEBER / BILDER (JEWEILS) DIRK BEICHERT, INES HEIDER, SVEN MAGNUS HANEFELD

      NEUE WEGE FÜR
     MEHR BEZAHLBAREN
        WOHNRAUM
               Wohnraum in Deutschland ist knapp. Durch den stetigen Zuzug in den
          Ballungsräumen fehlen Schätzungen zufolge bundesweit bald rund eine Million
           Wohnungen. Doch die Flächen zur Schaffung von neuem Wohnraum werden
                immer rarer. Folgen des wachsenden Bedarfs sind Preissteigerungen
           für Grundstücke und Wohnungen sowie steigende Mieten. Die Städte stehen
               vor großen Herausforderungen: Sie müssen Wege finden, um gezielte
           Stadtentwicklung und bezahlbares Wohnen auch künftig möglich zu machen.
         Ein Kommunalpolitiker, ein Architekt und ein Stadtplaner beleuchten die Situation
             aus verschiedenen Perspektiven und zeigen mögliche Lösungsansätze auf
              – unter anderem am Beispiel der durch Zuzug und Wirtschaftswachstum
                         geprägten Bankenmetropole Frankfurt am Main.

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MIKE JOSEF                         HARTWIG SCHULTHEISS                     FRANK SCHLEGELMILCH

  Mike Josef ist Planungsdezernent             Dipl. Ing. Hartwig Schultheiß,         Strategien zur Stadt- und Raum-
   der Stadt Frankfurt am Main und         Jahrgang 1959, studierte Geogra-          pla­nung sind das Kerngebiet von
zugleich Vorsitzender der Frankfurter         phie und Raumplanung sowie             Frank Schlegelmilch. Nach einem
      SPD. Als Angehöriger einer          Architektur, Hoch- und Städtebau an       Studium der Raumplanung an der
   christlichen Minderheit in seinem         den Universitäten Münster und           Universität Dortmund und Urban
     Geburtsland Syrien kam er als          Stuttgart. Als geschäftsführender      Design an der University of Liverpool
    Vierjähriger nach Deutschland.             Inhaber der hs urban GmbH             erlangte der heute 46-Jährige die
   Der heute 35-Jährige ist Diplom-             begleitet er Entwickler und           Qualifikation zum Fachmann für
  Politologe und war schon in seiner           Kommunen bei ihrer Projekt-          geografische Informationssysteme
  Studienzeit vielfältig ehrenamtlich         implementierung. Die Heraus-            in Hamburg. Schlegelmilch war
    tätig. Dass Politiker mit reichlich   forderungen der Kommunen kennt                  zunächst in verschiedenen
 Gegenwind konfrontiert sind, kennt        Schultheiß aus mehreren Perspek-        Planungsbüros tätig und ist seit 2004
Josef aus eigener Erfahrung. Aktuell       tiven. Nach fünfjähriger Tätigkeit in     Partner beim Stadt- und Regional-
    bestimmt er mit den Planungen           einem Stuttgarter Architekturbüro          planungsbüro BPW Baumgart
für einen neuen Frankfurter Stadtteil        und einer Ausbildung zum Bau-              und Partner in Bremen. Seine
    die Schlagzeilen der regionalen            assessor folgten Stationen als           Tätigkeits­schwerpunkte sind
Tageszeitungen. Diesen Schritt sieht          Planungsdezernent in Gronau           Stadtforschung, Stadtentwicklungs-
 der SPD-Politiker als Notwendigkeit,       und Erkelenz. Ab dem Jahr 2000            planung und Prozessgestaltung.
     um dem stetigen Zuzug nach           war er Beigeordneter und Planungs-        Mit einem Forschungsprojekt zum
Frankfurt an Main gerecht zu werden.        dezernent für Bau, Wirtschaft und       Modell der „Gartenstadt 21“ war er
                                              Marketing in Münster und dort           an der Entwicklung eines neuen
                                                von 2003 bis 2016 auch als           Leitbilds für die Stadtentwicklung
                                           Stadtdirektor allgemeiner Vertreter        in verdichteten Ballungsräumen
                                             des Oberbürgermeisters. Seine             mit einer nachhaltigen Flächen-
                                              Expertise setzt er ehrenamtlich            inanspruchnahme beteiligt.
                                               u.a. als Vorstandsvorsitzender
                                             der StadtBauKultur NRW und im
                                                 Baukunstarchiv NRW ein.

                                                                                                    bpd MAGAZINE       35
EIN NEUER
      STADTTEIL FÜR
       FRANKFURT
         AM MAIN

               Der Frankfurter
      Planungsdezernent Mike Josef
        (SPD) macht sich Gedanken
       um die Entwicklungsfähigkeit
          seiner Stadt und darüber,
            wie sich der Bedarf an
      Wohnraum für den Zuzug von
      mehreren Tausend Menschen
          pro Jahr bewältigen lässt.
         Eine unkonventionelle und
      politisch umstrittene, aber sehr
     interessante Lösung wird aktuell
         diskutiert: Wie wäre es mit
       einem ganz neuen Stadtteil?

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FRANKFURT AM MAIN

1. THESE:                                   Hintergrund dieser komplexen Gemenge-      rund 30 Prozent mietgemindertem
DER WOHNUNGSBEDARF LÄSST                    lage zu entscheiden.“                      Wohnraum bei Neubauprojekten fest-
SICH IN DEN KOMMENDEN ZEHN                                                             zulegen. Die Mietpreisbremse greift hin-
JAHREN VOLLSTÄNDIG DURCH NEUBAU             2. THESE:                                  gegen bei Modernisierungsmaßnahmen
INNERHALB DER STADT DECKEN.                 NUR DURCH NEUBAU AUSSER-                   nicht in dem erforderlichen Maße, wie
                                            HALB DER STADT KANN FÜR VIELE              von der Bundesebene erhofft, sondern
„In Frankfurt am Main ist ein jährlicher    MENSCHEN BEZAHLBARER WOHN-                 läuft ins Leere.“
Zuzug von 10.000 bis 15.000 neuen Ein-      RAUM GESCHAFFEN WERDEN.
wohnern zu verzeichnen. Das heißt, dass                                                3. THESE:
jedes Jahr rund 7.000 neue Wohnungen        „Wir müssen außerhalb der Stadt neuen      DIE ERFORDERLICHE INNERSTÄDTISCHE
entstehen müssten, um den Bedarf an         Wohnraum schaffen, dürfen uns aber         INFRASTRUKTUR HAT IHR KAPAZITÄTS
Wohnraum langfristig zu bedienen. Das       gleichzeitig nicht isoliert betrachten,    MAXIMUM ERREICHT UND KANN
ist schon alleine von den Kapazitäten her   sondern in Absprache mit Umland-           NICHT MEHR MIT DEM BEVÖLKERUNGS-
nicht zu bewerkstelligen, etwa was          kommunen nach Lösungen suchen. Mit         WACHSTUM SCHRITT HALTEN.
Logistik, Handwerker und Bauarbeiter        dem geplanten neuen Stadtteil wollen wir
angeht. Wir können und wollen diesen        keine anonyme Schlafstadt bauen, son-      „Richtig ist, dass wir durch den Zuzug
Zuzug nicht verhindern, sollten jedoch      dern urbane Stadtentwicklung betreiben.    vieler Menschen in unsere Stadt auch
versuchen ihn mitzugestalten. Der           In diesen Zusammenhang gehört auch         einen steigenden Bedarf nach Formen
Zuzug ist für uns ein deutliches Signal,    die Frage nach bezahlbarem Wohnraum.       der Grundversorgung haben. Bei den
dass Frankfurt am Main eine attraktive      Dies ist in erster Linie eine Frage der    wenigen vorhandenen Flächen kommt
Stadt ist – Menschen finden hier ihren      Bodenpreise. Die Grundstückseigentümer     es im gleichen Zusammenhang zu einer
Arbeitsplatz, genießen das urbane und       sind die Profiteure der aktuellen Preis-   Flächenkonkurrenz zwischen Wohnraum,
internationale Lebensgefühl und die         entwicklung. Selbst breite Schichten       Gewerbe und Infrastrukturangeboten.
vielen kulturellen Angebote unserer         sind bald nicht mehr in der Lage, in       Bei allen Planungen von zusätzlichem
Stadt. Die Nachverdichtung und die Ent-     Frankfurt am Main Wohnraum zu              Wohnraum außerhalb der Stadt muss
wicklung von Konversionsflächen stoßen      erwerben oder zu mieten. Mit unseren       deshalb aus meiner Sicht immer die
im Innenstadtbereich bereits an ihre        Instrumenten, beispielsweise der Milieu-   erforderliche Infrastruktur mitgedacht
Grenzen. Uns gehen schlicht die             schutzsatzung, versuchen wir als Stadt,    werden. Dazu gehört auch das Thema
Flächen aus. Ein Entwicklungsschritt        die Bestandsmieten zu erhalten. Auch       Frei- und Grünflächen. Wir sind in
außerhalb der derzeitigen Bebauungs-        Festlegungen in den städtebaulichen        Frankfurt am Main auf unseren soge-
grenzen ist deshalb eine Notwendigkeit.     Verträgen helfen dabei, eine Quote von     nannten Grüngürtel stolz, der allen
Aus diesem Grund diskutieren wir in                                                    Bürgerinnen und Bürgern Frankfurts und
Frankfurt am Main aktuell die Planungen                                                der näheren Umgebung als Erholungs-
für einen ganz neuen Stadtteil, den                                                    und Freizeitraum gilt. Diesen wollen wir
wir in der Nähe bestehender Verkehrs-                „EIN                              langfristig erhalten. Eine konzentrierte
infrastruktur errichten wollen. So können   ENTWICKLUNGSSCHRITT                        Entwicklung im Außenbereich mit einem
wir gleichzeitig einen Anschluss an die        AUSSERHALB DER                          neuen Stadtteil schließt dies nicht aus.
Verkehrswege sicherstellen. Diese                DERZEITIGEN                           Im Gegenteil: Das würde uns langfristig
Planungen sind mit Widerständen kon-         BEBAUUNGSGRENZEN                          helfen, die Randbereiche und den Grün-
frontiert. Hier ist es unsere Aufgabe als          IST EINE                            gürtel um die Stadt Frankfurt am Main
politisch Verantwortliche, vor dem             NOTWENDIGKEIT“                          vor weiteren Eingriffen zu schützen.“

                                                                                                          bpd MAGAZINE       37
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