IN ST. MICHAELIS - Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg
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IN ST. MICHAELIS 30. Juni bis 1. September 2021 mittwochs 19 Uhr Einlass 18.30 Uhr EIN RAUM – VIER ORGELN 30. Juni 2021 Jörg Endebrock St. Michaelis Hamburg 6 7. Juli 2021 Susanne Rohn Erlöserkirche Bad Homburg 10 14. Juli 2021 Sebastian Küchler-Blessing Essener Dom 14 21. Juli 2021 Johannes Zeinler Wien 18 28. Juli 2021 Henry Fairs Universität der Künste Berlin 22 4. August 2021 Gerhard Gnann Hochschule für Musik Mainz 26 11. August 2021 Wolfgang Zerer Hochschule für Musik und Theater Hamburg 30 18. August 2021 Mona Rozdestvenskyte St. Johann Bremen 34 25. August 2021 Peter Van de Velde Kathedrale Antwerpen 38 1. September 2021 Jörg Endebrock St. Michaelis Hamburg 42 2 3
Liebe Musikfreunde, herzlich willkommen zum diesjährigen Orgelsommer in St. Michaelis! In zehn Orgelkonzerten mit Organisten und Orga- nistinnen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern können Sie erleben, wie der einzigartige, lichtdurchflutete Raum von St. Michaelis mit seiner großartigen Orgelanlage, die zu den größten und vielseitigsten in Deutschland gehört, eine faszinie- rende Symbiose eingeht. Vom Zentralspieltisch auf der Nordempore aus kann man drei unserer vier Orgeln zu einer symphonischen Großorgel zusam- menfügen und gemeinsam anspielen: die Große Orgel über dem Eingang, die Konzertorgel auf der Nordempore sowie das Fernwerk, das im Dachstuhl der Kirche steht und nur durch das Schallloch in der Mitte der Decke mit dem Kirchraum verbunden ist und erstaunliche sphärische Effekte ermöglicht. Im Jahr 2010 wurde das jüngste Instrument in dieses Ensemble eingefügt: die Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel auf der Süd- empore, gewidmet dem zweitältesten Bach-Sohn, der viele Jah- re in St. Michaelis wirkte und in der Krypta der Kirche begraben liegt. Dieses Instrument ist als einzige der vier Orgeln ungleich- schwebend gestimmt und deshalb nicht mit den anderen Orgeln zusammen spielbar. Durch ihre Platzierung auf der sogenannten »Kaiserloge« ist sie im Raum aber wunderbar präsent, fasziniert durch Klangschönheit und Durchsichtigkeit und ist prädestiniert für kammermusikalische Musik der Barockzeit. Sie dürfen sich auf ein breites Spektrum an Orgelliteratur und Interpretationen freuen. Werke bekannter Komponisten treten in den Dialog mit neuen Kompositionen und zu Unrecht vergesse- nen Schätzen vergangener Jahrhunderte. Breiten Raum nehmen in den Programmen auch die diesjährigen Jubilare ein: Wir gedenken unter anderem des 400. Todestages von Jan Pieterszoon Sweelinck, des 100. Todestages von Camille Saint-Saëns und des 50. Todestages von Marcel Dupré. Ein herz- licher Dank gilt an dieser Stelle auch der Internationalen Rhein- berger-Gesellschaft, die das achte Konzert des Orgelsommers durch eine großzügige Spende fördert. Ich wünsche Ihnen viele erhebende und anregende Hörerlebnis- se in den zehn Konzerten des Orgelsommers! Ihr 4 5
Mittwoch, 30. Juni 2021 · 19 Uhr Oskar Fredrik Lindberg gehört zu den bedeutendsten Kompo- nisten Schwedens. Er studierte am Konservatorium seiner Hei- matstadt Stockholm, wo er später auch als Professor wirkte. Er hinterließ ein umfangreiches kompositorisches Schaffen von Eröffnungskonzert mehr als 400 Werken, darunter eine Oper nach Texten von Sel- ma Lagerlöf. Seine Orgelsonate aus dem Jahre 1924 erhält ihren Charme von vielen »Skandinavismen«, typischen harmonischen Jörg Endebrock St. Michaelis und melodischen Wendungen aus der nordischen Volksmusik, wie wir sie auch aus Edvard Griegs Kompositionen kennen. Die Sonate ist sehr orchestral angelegt und bezaubert durch viele Zentralspieltisch lyrische Farben in den Mittelsätzen und eine dramatische und virtuose Energie in den Ecksätzen. Der heutzutage fast unbekannte niederländische Komponist Oskar Fredrik Lindberg (1887–1955) Gerard Bunk war zu seiner Zeit einer der berühmtesten und Sonate g-Moll op. 23 gefragtesten Orgelvirtuosen. Er wirkte an der Reinoldikirche in I. Marcia elegiaca Dortmund, in der eine der damals größten deutschen Orgeln II. Adagio stand, gebaut von der Firma Walcker mit 105 Registern. III. Alla Sarabanda Die »Variationen«, die heute auf dem Programm stehen, sind IV. Finale (Allegro con brio) eines der attraktivsten Werke Bunks und wurden auch von den Zeitgenossen sehr gerühmt. So schrieb z. B. Charles-Marie Widor: »…habe Ihre Variationen mit größtem Interesse gelesen – Gerard Bunk (1888–1958) Wissenschaft, Einheit und Tiefe – Tausend Glückwünsche«. Nach einer machtvoll-dramatischen Einleitung erklingt das The- Einleitung, Variationen und Fuge über ein ma der Variationen sehr leise in tiefer Lage und schält sich erst altniederländisches Volkslied op. 31 langsam heraus. Es ist das alte Volkslied »Hoe groot, o Heer«, ein Freiheitslied gegen die spanische Unterdrückung im 16. Jahr- hundert. Joseph-Ermend Bonnal (1880–1944) 3 œ œ œ # œ . # œj Paysages Euskariens & 2 œ œ œ ˙. œ œ œ œ œ . œj œ œ œ œ œ œ (Landschaften des Baskenlandes) .. j & ˙. œ œ œ œ . œj œ œ œ # œ œ . œ œ œ œ œ I. La vallée du Béhorleguy, au matin (Morgenstimmung im Tal von Béhorleguy) j II. Le berger d’Ahusquy (Der Hirte von Ahusquy) & œ. œ œ œ œ œ ˙. œ œ œ #œ. j œ œ œ œ œ ˙. #œ œ III. Cloches dans le ciel (Glocken im Himmel) Es entspinnen sich nun sieben Variationen: I. die Melodie wird eingehüllt von einer sanften Bewegung aus Achtelnoten II. reizvolle Rhythmik durch gleichzeitiges Erklingen von Triolen und Duolen III. eine Art »Fandango« mit spanisch angehauchter Rhythmik, vermutlich eine Anspielung auf den Liedtext IV. die Melodie erklingt in der Trompete des Pedals, darüber schichten sich Akkordblöcke 6 7
V. eine sphärische Variation mit dem Register »Voix célèste« (Himmlische Stimme) VI. eine virtuos-toccatenhafte Variation, die, obwohl sie ein- stimmig ist, doch den Eindruck von Mehrstimmigkeit er- zeugt. Bunk schreibt als Vortragsbezeichnung »volante« (da- hinfliegend) VII. Variation als eine Art Schreittanz Bunk greift nun zurück auf die Musik der Einleitung, die in eine Schlussfuge überleitet. Nach einer mächtigen Steigerung wird das Werk beschlossen und gekrönt von der Liedmelodie im Klang der vollen Orgel. Foto © Michael Zapf Joseph-Ermend Bonnal stammte aus Bordeaux und war 21 Jahre lang Direktor des Konservatoriums in Bayonne im französischen Baskenland, bevor er seine Karriere als Organist an der berühm- ten Orgel von St. Clothilde in Paris beendete. Sein bedeutends- tes Orgelwerk ist der Zyklus »Landschaften des Baskenlandes«, der von einer tiefen Liebe zu den saftig-grünen Tälern und majes- tätischen Bergen dieses Landstrichs Zeugnis ablegt. Wundervoll, wie Bonnal im ersten Stück das besondere morgendliche Licht, Jörg Endebrock das sich sanft im Frühnebel bricht, einfängt und nachzeichnet. wurde Anfang 2020 als Kantor und Organist an die Hamburger Im zweiten Satz erklingt zunächst eine bukolische Schalmeien- Hauptkirche St. Michaelis berufen und leitet dort mit dem Chor melodie, die Bonnal kunstvoll weiterspinnt und in immer neue St. Michaelis einen der renommiertesten Chöre Norddeutsch- impressionistische Harmonien kleidet. lands. Neben der Pflege eines breiten Repertoires von Monte- Der letzte Satz »Glocken im Himmel« ist eine Liebeserklärung verdi bis Martin setzt er mit den jährlichen Aufführungen des an die Bergkette der Pyrenäen, die sich majestätisch am Hori- Weihnachtsoratoriums, der Matthäuspassion von Bach und des zont erhebt und deren Gipfel wie gigantische Glocken im Himmel Brahms-Requiems lange Hamburger Traditionen fort. aufgehängt zu sein scheinen. Entsprechend herrscht hier eine Endebrock wurde 1970 in Osnabrück geboren und studierte ev. Glockenmotivik vor, im rauschenden Geläut stürmt das Stück Kirchenmusik (A) in Hamburg sowie Orgel als Stipendiat des voran. In der Mitte des Satzes beruhigt sich das Geschehen und »Deutschen akademischen Austauschdienstes« in Paris bei es übernimmt eine ausdrucksstarke Melodie, die in ihrer Gestalt Susan Landale. Im Jahr 1999 schloss er das Aufbaustudium mit einem gezackten Berg nachempfunden zu sein scheint, bevor einem »Prix d’éxcellence« sowie einem »Prix de virtuosité avec der rauschende Beginn wieder aufgenommen und zu einem félicitations« ab. überwältigenden Schluss geführt wird. Eine der glanzvollsten Er war Preisträger bei den Internationalen Orgelwettbewerben und virtuosesten Toccaten der gesamten Orgelliteratur! von Haarlem sowie Paris. Schon während seiner Studienzeit sammelte er wichtige Erfahrungen in renommierten Chören, Jörg Endebrock u. a. im Chor des NDR. Von 1999 bis 2008 war er Kantor der Christuskirche Freiburg, von 2008 bis 2019 verantwortete er die vielfältige Musik an der Lutherkirche Wiesbaden und leitete den Bachchor Wiesbaden. Als Konzertorganist übt er eine rege Konzerttätigkeit in Deutsch- land und seinen europäischen Nachbarländern aus. Rundfunk- aufnahmen beim NDR, SWR, Deutschlandradio und bei Radio France sowie zahlreiche CD-Einspielungen runden das Bild sei- ner künstlerischen Tätigkeit ab. 8 9
Mittwoch, 7. Juli 2021 · 19 Uhr Jan Pieterszoon Sweelinck, dessen 400. Todestages wir in die- sem Jahr gedenken, war zu seiner Zeit eine Art »Superstar« auf Susanne Rohn Erlöserkirche Bad Homburg der Orgel. Viele der norddeutschen Organisten seiner Zeit pilger- ten zu ihm in die »Oude Kerk« nach Amsterdam, um sich unter- weisen zu lassen. Deshalb trug er auch den Beinamen »deutscher Organistenmacher«. Interessanterweise war Sweelinck nicht bei Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel der Kirche, sondern beim Magistrat der Stadt als Organist ange- stellt: die calvinistische Reformation hatte keine Verwendung für Organisten, denn im Gegensatz zu Martin Luther in Deutschland Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621) war Johannes Calvin der Musik gegenüber sehr misstrauisch Ricercar in a eingestellt. So kam es, dass Sweelinck täglich Konzerte auf der Orgel für die Bürger der Stadt gab. Meist improvisierte er über Fitzwilliam Virginal Book (frühes 17. Jahrhundert) bekannte und beliebte Liedmelodien oder beeindruckte die Zu- Vier Tänze hörer mit seinen kunstvollen und überaus virtuosen Kompositio- - William Byrd (1543–1623): Galliarda nen. Vermutlich ist auch das Ricercar so entstanden. - Anonymus (England, 16. Jhd.): Alman Auch in England war Sweelinck offenbar sehr berühmt, denn - Martin Peerson (ca. 1572–1650): Alman viele seiner Kompositionen finden sich im »Fitzwilliam Virginal - Peter Philips (ca. 1560–1628): Galliarda Book«, der mit annähernd 300 Kompositionen umfangreichsten Sammlung der Cembalo-Musik des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts in England. Sie wurde vermutlich vom Kompo- nisten Francis Tregian (1574–1619) zusammengestellt. Fast alle Zentralspieltisch großen Komponisten der elisabethanischen Zeit und der Epoche Jakobs I. sind hier mit verschiedenen Tänzen und anderen kunst- vollen Kompositionen vertreten, die einen lebhaften Eindruck Franz Liszt (1811–1886) von der populären Musik dieser Zeit vermitteln. Fantasie und Fuge über Im Jahre 1849 schrieb Franz Liszt unter dem Eindruck der Pariser »Ad nos, ad salutarem undam« Erstaufführung der Oper »Der Prophet« von Giacomo Meyerbeer drei »Illustrationen« für Klavier, die sein stetes Interesse an al- lem Neuen bezeugen. Die Oper, die den religiösen Fanatismus und Furor der »Wiedertäufer« in Münster in den 1530er Jahren zum Inhalt hat, scheint ihn sehr bewegt zu haben, denn im fol- genden Jahr erweiterte er diese ersten Klavierskizzen zu einem monumentalen Fresko, von dem Saint-Saëns beeindruckt sagte, es sei das »außergewöhnlichste Stück, das je für Orgel kompo- niert worden ist«. Liszt legt dem Werk den Choral der Wiedertäufer »Ad nos ad salutarem undam« zugrunde. Daraus entwickelt er monothema- tisch ein großartiges Werk, das fast wie eine Sinfonie in einem Satz wirkt und aus drei Teilen besteht: ein zentrales Adagio wird umrahmt von einer einleitenden Fantasie und einer krönenden Fuge. Die Fantasie wurde Vorbild für seine h-Moll-Klaviersonate und auch für die Sonate über den 94. Psalm von Julius Reubke. Jörg Endebrock 10 11
Foto © privat Susanne Rohn, geboren in Waldshut am Hochrhein, studierte evangelische Kir- chenmusik in Freiburg im Breisgau sowie Orgel und Cembalo als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Toulouse. Ihr Aufbaustudium Orgel (Solistendiplom) in Basel (bei Guy Bovet) und ihr Aufbaustudium Dirigieren in Freiburg (bei Hans Michael Beuerle und Peter Gülke) schloss sie jeweils mit Auszeichnung ab. Seit 1998 ist Susanne Rohn Kantorin der Erlösergemeinde in Bad Homburg. Mit drei herausragenden Instrumenten (histori- sche Sauer-Orgel von 1908, Bach-Orgel von Gerald Woehl 1990, Orgelpositiv von Bernhard Fleig 2008) sowie zwei leistungsfähi- gen Chören gestaltet sie dort ein reichhaltiges und anspruchs- volles Musikprogramm, das über die Grenzen der Stadt hinaus in der ganzen Region Beachtung findet. Susanne Rohn nahm erfolgreich an nationalen und internationa- len Orgelwettbewerben teil und gibt regelmäßig Orgelkonzerte. Nach Lehraufträgen für Orgel und Dirigieren an verschiedenen Musikhochschulen war sie von 2006 bis 2009 als Professorin für Chorleitung an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf tätig. Seit Oktober 2011 lehrt sie Dirigieren an der Johannes- Gutenberg-Universität in Mainz. 12 13
Mittwoch, 14. Juli 2021 · 19 Uhr Vielschichtig ist das Programm des heutigen Abends ineinander verbunden: Die prachtvolle Toccata in d BuxWV 155 von Diete- Sebastian Küchler-Blessing Essener Dom rich Buxtehude ist ein geradezu idealtypisches Beispiel einer mehrteiligen norddeutschen Form. Diese war inspiriert von den wiederentdeckten rhetorischen Lehren der Antike und ori- entiert sich im Aufbau an deren Lehren einer guten Rede: zum Große Orgel einen sind einzelne Figuren gestisch gedacht und auszuführen, zum anderen sollten sich freie Abschnitte wie das anfängliche, den gesamten Tonraum vorstellende Exordium abwechseln mit Dieterich Buxtehude (1637–1707) streng kontrapunktisch durchgeführten Teilen. In der Propositio Toccata d-Moll BuxWV 155 bzw. Narratio, hier der ersten Fuge, wird das Thema der gedach- ten Rede dargestellt. Ganz klassisch stellt dann eine Confutatio das eben Formulierte in Frage (musikalisch realisiert mit unver- Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel muteten harmonischen und rhythmischen Entwicklungen), bevor eine zweite Fuge als Confirmatio die Bestätigung der Hauptthese des gedachten Redners verkörpert. Eine rauschende Conclusio Johann Sebastian Bach (1685–1750) schließlich setzt einen machtvollen Schlusspunkt hinter dieses Concerto a-Moll nach Vivaldi BWV 593 grandiose Werk. I. ohne Satzbezeichnung Johann Sebastian Bach galt als sehr guter Streicher, und so ver- II. Adagio wundert sein Interesse an den Instrumentalkonzerten Vivaldis III. Allegro nicht. Die Übertragung des Concerto a-moll aus Vivaldis L’Estro armonico (»die harmonische Eingebung«), ist meisterhaft gelun- gen: Bach vermag es, einen »orgelgemäßen« Satz zu schreiben und gleichzeitig die violinistischen und bei diesem hochvirtuo- Zentralspieltisch sen Werk fast schon artistischen Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Johann Sebastian Bach Etwas missverständlich ist der Titel des folgenden Werkes Toc- Toccata und Fuge E-Dur BWV 566 cata und Fuge E-Dur BWV 566: Man erwartet dabei automatisch ein zweiteiliges Werk, in dem Präludium und Fuge ganz klar César Franck (1822–1890) voneinander getrennt sind, so wie es bei Bachs großen Meis- Choral III a-Moll terwerken der späten Jahre üblich ist. Hier führt der zweiteilige Titel allerdings in die Irre: dieses vermutlich in Bachs Arnstädter Zeit entstandene Frühwerk nimmt eindeutig die überkommene Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) norddeutsche Form auf und ist, ähnlich wie die eingangs gehörte Adagio für Glasharmonika KV 356 Toccata von Buxtehude, fünfteilig – es ist, wenn man so möchte, Bachs Hommage an Buxtehude. Sebastian Küchler-Blessing (*1987) Wie eine Binsenweisheit klingt, dass die choralgebundenen Wer- Improvisation über zwei gegebene Themen ke Bachs überkommene evangelische Choräle samt ihrem Text (-gehalt) vertonen. Dieses Wissen wurde nach Frankreich erst wieder eingebracht durch Albert Schweitzer, der etwa Charles- Marie Widor so einen völlig neuen Erkenntnishorizont erschloss, zu einem Zeitpunkt allerdings, zu dem César Franck längst den Folgen eines schweren Unfalls erlegen war – diesen sicheren Tod vor Augen schrieb er drei Choräle ungemeiner Ausdruckskraft, 14 15
die als Hommage an Bach gedacht waren: der heute erklin- gende dritte Choral a-moll führt Motivik des Präludiums a-moll BWV 543 zusammen mit einem »Bach-Choral«, einem durch Franck frei komponierten Satz, der nach einer großen Cantilene in einem Finale mit großer Meisterschaft mit der anfänglichen Motivik kombiniert wird: ein Schwanengesang selten erlebter Tragik! Sebastian Küchler-Blessing Foto © privat Sebastian Küchler-Blessing, der Essener Domorganist, ist seit 2014 verantwortlich für die Orgelmusik in Liturgie und Konzert an der Kathedralkirche des Ruhrbistums. Er konzertiert bis an den Ural und persischen Golf in Konzerthäusern und Kathedralen wie Elbphilharmonie und Kölner Dom sowie bei den großen Klassikfestivals. Von Publi- kum und Fachwelt auch als Improvisator und Kammermusiker geschätzt, ist Sebastian Küchler-Blessing Bachpreisträger des Leipziger Bach-Wettbewerbs, gewann den Mendelssohn-Preis und den 1. Preis der Internationale Orgelwoche Nürnberg. Er wur- de mit dem Publikumspreis der Festspiele Mecklenburg-Vorpom- mern und dem Arthur Waser-Preis des Luzerner Sinfonieorches- ters ausgezeichnet. Von Sontraud Speidel, Christoph Bossert, Martin Schmeding und Zsigmond Szathmáry ausgebildet, wurde er von der Deutschen Stiftung Musikleben, der Jürgen-Ponto- Stiftung und der Mozart-Gesellschaft Dortmund gefördert. Be- reits als Schüler wurde er in die Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen. Sebastian Küchler-Blessing unterrich- tete an der Freiburger Musikhochschule und lehrt Orgel und liturgisches Orgelspiel/Improvisation an der Robert-Schumann- Hochschule Düsseldorf. Im Jahr 2020 erschien unter dem Namen »Jubilissimo« eine CD mit Werken für Blechbläser und Orgel von Enjott Schneider, zu der ein Blechbläserensemble um Reinhold Friedrich im Essener Dom musizierte. 16 17
Mittwoch, 21. Juli 2021 · 19 Uhr »Der Hörer steht dieser Chaconne gegenüber wie einer elemen- taren Erscheinung, welche in ihrer unbeschreiblichen Großar- Johannes Zeinler Wien tigkeit begeisternd wirkt und zugleich schwindelerregend und sinnverwirrend. Der überflutende Gestalten-Reichtum, aus weni- gen kaum bemerkbaren Quellen sich ergießend, verrät sowohl die genaueste Kenntnis der Violintechnik als die absoluteste Zentralspieltisch Herrschaft über eine Phantasie, wie sie kolossaler wohl niemals ein Künstler besessen hat. […] Wer die musikalischen Gedanken einmal abstract betrachtet, wird glauben, das Instrument müs- Johann Sebastian Bach (1685–1750) se bersten und brechen unter dieser riesigen Wucht, und vieles Chaconne d-Moll davon würde sicherlich den Klangmassen der Orgel und des Or- aus der 2. Partita für Violine solo BWV 1004 chesters gewachsen sein.« Transkription für Orgel von Arno Landmann Inspiriert durch diesen Abschnitt aus Phillip Spittas Bach-Biogra- fie, transkribierte Arno Landmann die monumentale Chaconne Thomas Lacôte (*1982) etwa 200 Jahre nach ihrer Entstehung für Orgel. Dabei handelte er im Sinne Bachs, der selbst auch einige seiner Kompositionen Phteggomai (2017) für Violine in Orgelstücke umarbeitete. Von seiner Zeit geprägt, hüllt Landmann das Werk allerdings in einen spätromantischen, orchestralen Mantel und präsentiert eine wertvolle Auseinander- Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel setzung mit diesem bedeutenden Meisterwerk. Thomas Lacôte zählt als Nachfolger Olivier Messiaens an der Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) Kirche La Trinité zweifelsohne zu den interessantesten Musi- kerpersönlichkeiten der heutigen Pariser Szene. An die fran- Andante F-Dur KV 616 zösische Tradition anknüpfend, entdeckt er mithilfe intensiver »für eine Walze in eine kleine Orgel« musikwissenschaftlicher Forschung und Experimentierfreudig- keit auf beeindruckende Weise neue Klangwelten. Das zentrale Element von »Phteggomai« bildet das bis heute über Jahrhun- Zentralspieltisch derte für französische Orgeln typische »Grand Cornet«. Sein markanter Klang diente zu Beginn vor allem als Verstärkung für die im Diskant schwächeren Zungenregister und kam prinzipiell Charles-Marie Widor (1844–1937) nur im Ensemble zum Einsatz. Deshalb wird dieses Register übli- Symphonie Romane op. 73 cherweise erst ab dem c1 gebaut, was auch dem Ausgangspunkt I. Moderato von »Phteggomai« entspricht. Ein weiteres wichtiges Element in II. Choral dieser Komposition ist der Raum, welcher im Allgemeinen ein III. Cantilène wesentliches Element beim Musizieren darstellt. Dieses Stück IV. Final bindet bewusst die Akustik des Raumes ein und konzentriert sich somit auf das Verklingen von Tönen und deren Charakteris- tik. Dabei wird unter anderem ganz subtil versucht, den Nachhall durch spezielle Kompositions- und Spieltechniken zu beleben bzw. zu verzerren, ohne dass man zusätzliche Töne wahrnimmt. Obwohl etliche Briefe über Mozarts Begeisterung für die Orgel berichten und er sie als den »König aller Instrumente« bezeich- nete, sind uns aus seiner Feder kaum originale Stücke erhalten. Als Glücksfall können es Organisten bezeichnen, dass Mozart drei zauberhafte Werke für die damals beliebten Flötenuhren 18 19
komponierte. Dabei handelt es sich um mit Pfeifen ausgestatte- te mechanische Automaten, die zu bestimmten Zeiten Musik von einer Walze wiedergaben. Nachdem der Klang dieser Flötenuh- ren dem Orgelklang am nächsten ist, bedienen sich Organisten gerne dieser Stücke. Im Gegensatz zu den beiden teils drama- tischen bzw. heroischen Fantasien in f-Moll, hat das Andante in F-Dur einen sehr lieblichen, entzückenden Charakter in Form eines Rondos. Die »Symphonie Romane« ist Charles-Marie Widors zehnte und letzte Orgelsymphonie und wurde der romanischen Basilika Saint-Sernin in Toulouse gewidmet. Als Thema dient das Oster- graduale »Haec dies«, welches die gesamte Symphonie prägt. ## 4 œ œ œ œ œ œ œ œ œ œ . œ #œ œ œ œ ˙ J & 4 J Foto © privat Nach einer kurzen, frei einleitenden Geste erklingt im Moderato sogleich das Thema, das im Laufe des Stückes durch die Stim- men wandert und am Höhepunkt des Satzes in Doppelpedal- Johannes Zeinler spielweise erklingt. Der zweite Satz Choral bringt das Thema Als Gewinner des 1. Preises beim Internationalen Orgelwett- zunächst in Form eines strengen Satzes, welcher sich sodann bewerb in St. Albans 2015 und des »Grand Prix de Chartres« 2018 in einer freieren Textur mit einer solistischen Oberstimme und zählt der österreichische Organist, Cembalist und Kirchenmusi- Imitationen in der Begleitung auflöst. In weiterer Folge tritt ein ker zu den erfolgreichsten Nachwuchsorganisten seiner Gene- freies Thema hinzu, welches durch eine Arpeggio-Begleitung in ration. Ihm gelang es als Erstem, bei beiden prestigeträchtigen der linken Hand getragen und vom Hauptthema im Pedal unter- Wettbewerben als Sieger hervorzutreten. mauert wird. Die Cantilène entfernt sich mit ihrem elegant freien Sein Studium absolvierte er an der Universität für Musik und dar- Klarinettensolo am weitesten vom »Haec dies« und lässt Anklän- stellende Kunst Wien in Orgel bei Pier Damiano Peretti und Klaus ge an die Ostersequenz »Victimae paschali« vermuten. Das Final Kuchling, in Klavier bei Christiane Karajev sowie in Kirchenmu- ist eine typische französische Orgeltoccata, welche mithilfe ihrer sik. Während eines einjährigen Studienaufenthaltes in Toulouse motorischen Bewegungen den Osterjubel noch einmal versinn- erhielt er wichtige Impulse im französischen Repertoire von bildlicht. Michel Bouvard, Jan Willem Jansen (Orgel) und Yasuko Bouvard (Cembalo). Das Masterstudium führte ihn an die Hochschule für Johannes Zeinler Musik und Theater Hamburg, wo er sich im Bereich der Alten Musik bei Wolfgang Zerer (Orgel) und Menno van Delft (Cemba- lo, Clavichord, Kammermusik) weiterbildete. Im Rahmen dieses Studiums fand eine enge Zusammenarbeit mit dem Prins Claus Conservatorium in Groningen statt, wo er weitere Anregungen durch Theo Jellema (Orgel und Improvisation) und durch Johan Hofmann (Cembalo) erhielt. Seine Engagements führten ihn bereits an das Kings College Cambridge, in die Bavokerk Haarlem, die Hauptkirche St. Jaco- bi Hamburg, das Stift Klosterneuburg, die Basilika St-Sernin in Toulouse, die Kathedrale von Poitiers, die Kirche Ste-Croix in Bordeaux, die Kathedrale Notre Dame de Paris, die Philharmo- nie Essen, das Mariinsky Theater St. Petersburg und den Wiener 20 21
Mittwoch, 28. Juli 2021 · 19 Uhr Mitte der 1840er Jahre litt Robert Schumann unter einer Le- bens- und Schaffenskrise und war von schweren Depressionen Henry Fairs Universität der Künste Berlin heimgesucht. Studien des »Wohltemperierten Klaviers« und der »Kunst der Fuge« seines erklärten Vorbilds Johann Sebasti- an Bach sind Schumanns »täglich Brod« und helfen ihm in der schwierigen Phase. Im Jahr 1845 findet sich jene denkwürdige Zentralspieltisch Notiz in Schumanns Tagebuch, dass sich »eine ganz andere Art zu componiren zu entwickeln begonnen« habe und die Werke nun nicht mehr am »subjektiven Clavier« entstünden, sondern Johannes Brahms (1833–1897) er von nun an »alles im Kopf zu erfinden und ausarbeiten« wolle. Präludium und Fuge a-Moll WoO 9 Ein gänzlich anderer Kompositionsprozess also, in den sich sein »Herzlich tut mich erfreuen« aus op. 122 op. 56 sinnvoll einfügt. Die »Studien« übertitelten Werke sind in Wahrheit lyrische Preziosen, die zwar für den Pedalflügel konzi- piert wurden, aber auch auf der Orgel wundervoll klingen. Schumann steckte auch den jungen Johannes Brahms mit seiner Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel Bach-Begeisterung an. Präludium und Fuge in a-Moll stammen aus der Zeit, in der Brahms im Haus der Schumanns ein und aus Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788) ging und sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie eigenwillig »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« BWV Anh. 73 er die alten Formen mit seiner hochexpressiven Klangsprache verschmilzt. Die Choralvorspiele op. 122 sind dagegen kurz vor Brahms’ Tod entstanden. Er bearbeitet darin vornehmlich Chorä- Johann Gottfried Müthel (1728–1788) le, die sich mit den letzten Dingen befassen. Brahms nimmt sich Fantasia F-Dur dabei die schlichten Choralvorspiele aus Bachs Orgelbüchlein zum Vorbild. Auch der zweitälteste Bachsohn Carl Philipp Emanuel beschäf- Konzertorgel tigte sich immer wieder mit dem Werk seines Vaters. Das be- kannte schlichte Choralvorspiel »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« aus dem »Orgelbüchlein« des Vaters erweitert der Sohn durch Robert Schumann (1810–1856) expressive Vor- und Zwischenspiele und verstärkt dadurch er- aus: Studien für den Pedalflügel op. 56 heblich den Affekt. II. Mit innigem Ausdruck Auch Johann Gottfried Müthel ist eng mit dem Namen Johann III. Etwas schneller Sebastian Bach verbunden. Er stammte aus Mölln, wo sein Vater als Organist tätig war und wurde einer der letzten Schüler Bachs, in dessen Haushalt er auch wohnte. Auch wenn Bach bereits drei Zentralspieltisch Monate nach seinem Eintreffen verstarb, konnte sich Müthel als Kopist des schon erblindeten Meisters intensiv mit dessen Schaffen auseinandersetzen. Mit Carl Philipp Emanuel Bach ver- Edward Elgar (1857–1934) band ihn eine lebenslange Brieffreundschaft. Sonata G-Dur op. 28 Müthel gilt als ein Hauptvertreter des »Sturm und Drang« in der I. Allegro maestoso Musik. Es gelang ihm dabei, einen neuen, expressiven Persön- II. Allegretto lichkeitsstil zu entwickeln. Daniel Schubart bezeichnete seine III. Andanto espressivo Musik als »dunkel, finster, eigensinnig und unbeugsam gegen IV. Presto (comodo) den Modegeschmack seiner Zeitgenossen.« Und über seine Spieltechnik: »Kenner, die ihn spielen hörten, können nicht ge- nug die Leichtigkeit bewundern, mit der er sich über Gebirge von Schwierigkeiten hinwegsetzt.« 22 23
Edward Elgar ist heute vor allem als Komponist prachtvoller romantischer Orchestermusik bekannt, gleichwohl war auch er ein großer Verehrer Bachs. Er orchestrierte unter anderem eini- ge von Bachs Orgelwerken auf so ungemein originelle Weise für großes Orchester, dass auch heutige Bach-Puristen ihre Freude daran haben können. In seiner Orgelsonate finden sich allerdings kaum Spuren baro- cker Vorbilder. Vielmehr ist das Werk ausgesprochen orchestral Foto © privat konzipiert und nutzt dabei die Möglichkeiten der spätroman- tischen symphonischen Orgel effektvoll. Die Sonate entstand 1895 als Auftrag von Hugh Blair, Kathedralorganist von Worces- ter, kurz bevor Elgar seinen Durchbruch als Komponist der »Enig- ma-Variationen« hatte. Es ist ein raffiniertes Werk von großzügi- gen Proportionen, weitgreifend, aber ohne Längen, wunderbar volltönend und hervorragend adaptiert für das Instrument Orgel. Henry Fairs Der erste Satz, in Sonatenform konzipiert, eröffnet mit einem wurde in Hereford (GB) geboren, dort erhielt er seine früheste festlichen, noblen, typischen Elgar-Thema im 3⁄4-Takt. Das zweite musikalische Ausbildung als Chorsänger am Leominster Priory Thema ist kontrastierend dazu melodisch ausschwingend nach und studierte am Birmingham Conservatoire, wo er mit den Art eines »Lied ohne Worte«. Kunstvoll dialogisieren nun beide höchsten Auszeichnungen abschloss. Ein Stipendium der Coun- Themen miteinander. tess of Munster Trust ermöglichte ihm ein Aufbaustudium in Pa- Der zweite Satz »Intermezzo« ist vermutlich die Umarbeitung ei- ris, Köln und Wien. Prägende Lehrer waren David Saint, Thierry nes früher entstandenen Werkes für Cello und Klavier. Die sonore Mechler, Susan Landale, David Sanger und Michael Radulescu. Melodie in der linken Hand kontrastiert dabei mit den aparten Neben seinem Wirken als Lehrer betreibt Henry Fairs eine rege Girlanden der rechten Hand. Konzerttätigkeit, die ihn zu Festivals und Instrumenten in aller Der ausdrucksstarke dritte Satz weist auf die langsamen Sätze Welt führt. Fairs ist ebenso regelmäßig als Jurymitglied bei in- des Violinkonzerts und der Sinfonien voraus und ist von großer ternationalen Orgelwettbewerben tätig. Studierende seiner Or- Poesie und Klangschönheit. Der letzte Satz ist wiederum in der gelklasse gingen als Preisträger aus zahlreichen internationalen Sonatenform konzipiert. Ein energiegeladenes Hauptthema und Wettbewerben hervor und wirken nun auf bedeutenden Stellen Passagen lyrischen Charakters wechseln sich effektvoll ab, bevor in Kirche und Hochschule. das Werk einem virtuosen Ende entgegenstürmt. Henry Fairs ist mehrfacher Preisträger internationaler Orgelwett- bewerbe: u. a. in Odense (DK), Chartres (FR), St Albans (GB) und Jörg Endebrock Paris (FR). Zahlreiche Aufnahmen für den Rundfunk liegen vor. Von 2005 bis 2020 wirkte Henry Fairs am »Royal Birmingham Conservatoire« (GB), 2018–2020 war er zudem Gastprofessor an der Musikhochschule Leipzig. Seit 2014 ist er als »Visiting Pro- fessor« an der University of St Andrews (Schottland) tätig. Seit dem Wintersemester 2020/2021 ist Henry Fairs Professor für künstlerisches Orgelspiel an der Universität der Künste Berlin. 24 25
Mittwoch, 4. August 2021 · 19 Uhr Der Leipziger Spätromantiker Sigfrid Karg-Elert schöpfte aus dem reichhaltigen Schatz des protestantischen Chorals immer Gerhard Gnann Hochschule für Musik Mainz wieder erstaunliche Inspiration. In seinem op. 65 bearbeitet er insgesamt 66 Choräle auf einfallsreiche und ganz und gar neuar- tige Art und Weise. »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« ist eine feurig dahinstürmende Toccata, in deren Klangrausch immer wie- Zentralspieltisch der die Melodie des Chorals in langen Notenwerten auftaucht. Wie der Name »Symphonischer Choral« schon andeutet, wird der Choral »Ach bleib mit deiner Gnade« im op. 87 deutlich um- Sigfrid Karg-Elert (1877–1933) fangreicher bearbeitet. Karg-Elert führt hier nach dem Vorbild »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« aus op. 65 der Reger’schen Choralfantasien den Choral mehrfach durch und Symphonischer Choral deutet den Text der einzelnen Strophen dabei aus. »Ach bleib mit deiner Gnade« op. 87, 1 Der venezianische Komponist Baldassare Galuppi galt als der berühmteste Opernkomponist seiner Zeit. In Zusammenarbeit mit Carlo Goldoni erneuerte er die »Opera buffa« und beeinfluss- Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel te so die weitere Entwicklung der Gattung entscheidend mit. Ob- wohl Galuppi nur in diesem Bereich musikhistorische Bedeutung erlangte, ist auch sein Werk für Tasteninstrumente beachtens- Baldassare Galuppi (1706–1785) wert. Es sind meist eher kleine Stücke, die sich zwischen Scarlatti aus: Sonata in D und Haydn einordnen lassen. Diese durchaus anspruchsvollen Adagio – Allegro Sonaten und Divertimenti zeigen eigenständigen Charakter und vermeiden eine allzu kurzatmige Melodieführung. Er selbst be- nannte als wichtigste Elemente guter Musik »vaghezza, chiarez- za e buona modulazione« (Anmut, Klarheit und schöner Tonfall). Zentralspieltisch Die Fantasie und Fuge c-Moll gehört zweifellos zu den schönsten Werken, die Carl Philipp Emanuel Bach für die Orgel hinterlas- Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788) sen hat. Der heftig-pathetische und düstere Charakter der Fanta- Fantasia con Fuga c-Moll H 103 sie wird durch herausfordernde Septakkorde und kühne Modula- tionen erreicht. Die Akkorde werden immer wieder unterbrochen von dramatischen, rezitativischen Passagen. Der vierstimmigen Robert Schumann (1810–1856) Fuge liegt ein schroffes Thema zugrunde, das sich jedem Forma- aus: Studien für den Pedalflügel op. 56 lismus verweigert. Ein Werk wie dieses, in dem das überkomme- IV. Innig ne musikalische Erbe mit neuen und frischen Gedanken belebt V. Nicht zu schnell wird, lässt uns bedauern, dass CPE Bach nur so wenige Werke der Orgel gewidmet hat. Sigismund Ritter von Neukomm (1778–1858) Mitte der 1840er Jahre litt Robert Schumann unter einer Le- Grand Dramatic Fantasia bens- und Schaffenskrise und war von schweren Depressionen Konzert am See, unterbrochen von einem Donnerwetter heimgesucht. Studien des »Wohltemperierten Klaviers« und der »Kunst der Fuge« seines erklärten Vorbilds Johann Sebasti- Louis Vierne (1870–1937) an Bach sind Schumanns »täglich Brod« und helfen ihm in der schwierigen Phase. Auf dem damals neuartigen »Pedalflügel« Allegretto op. 1 konnte er auch die Orgelwerke Bachs studieren. Die »Studien« aus: Symphonie Nr. 6 op. 59 übertitelten Werke op. 56 sind in Wahrheit lyrische Preziosen, V. Final die zwar für den Pedalflügel konzipiert wurden, aber auch auf der Orgel wundervoll klingen. 26 27
Sigismund Ritter von Neukomm war Komponist, Pianist, Diplo- mat und wurde auch der Spionage verdächtigt. Er war ein Schü- ler Michael Haydns, später ein enger Mitarbeiter Joseph Haydns und ein großer Verehrer Mozarts. In vielen Ländern der Welt tä- tig, war er zum Beispiel von 1804 bis 1808 Kapellmeister in Sankt Petersburg und von 1816 bis 1821 in Rio de Janeiro. Die meiste Zeit lebte er jedoch in Paris. Sein großes Vorbild Mozart lernte er nie kennen, war aber Kla- vierlehrer von dessen Sohn Carl Thomas Mozart. Die Grand Dramatic Fantasia ist ein zauberhaftes Werk, das ei- nen unbeschwerten Tag in der freien Natur, unterbrochen von einem schweren Gewittersturm, musikalisch beschreibt, eine Naturschilderung, wie sie damals ausgesprochen beliebt war Foto © privat (man denke nur an Beethovens 6. Symphonie mit dem Titel »Pas- torale«). Hinreißend die Modernität, mit der er das einsetzende Gewitter in Klang umsetzt. Zuletzt zwei Werke des Organisten der Pariser Kathedrale »Notre-Dame«, Louis Vierne. Der fast blinde Komponist zählt neben Charles-Marie Widor zu den herausragendsten Vertretern Gerhard Gnann der französischen Orgelsymphonik. Es ist reizvoll, sein erstes wurde 1962 in Bad Buchau geboren und studierte Orgel, Cem- und letztes veröffentlichtes Orgelwerk nebeneinanderzustellen: balo und Kirchenmusik in Freiburg, Amsterdam und Basel. Zu das liebliche Allegretto op. 1 und das furiose Final seiner letzten seinen Lehrern zählten Ludwig Doerr, Ton Koopman, Ewald Kooi- Sinfonie. In diesem Satz herrscht pure Ausgelassenheit. So tän- man und Guy Bovet. Er war mehrfach Preisträger bei internatio- zerisch, so rhythmisch kraftvoll hört man Vierne in seiner Musik nalen Wettbewerben, u. a. 1988 in Brügge, 1992 beim Schweizer sonst selten. Besonders wirkungsvoll ist der Schluss: außer- Orgelwettbewerb und gewann 1993 den Großen Preis »Dom zu ordentlich schwierig zu spielende schnelle Tonleitern im Pedal Speyer«. führen zu einer virtuos mitreißenden Schluss-Apotheose des Von 1994–1997 war er Bezirkskantor der Erzdiözese Freiburg mit gewaltigen Werks. Dienstsitz in Münstertal. In dieser Eigenschaft begründete er die Reihe »Konzerte in St. Trudpert«. 1997 wurde Gerhard Gnann als Jörg Endebrock Professor für künstlerisches Orgelspiel an die Hochschule für Musik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen. Er ist dort zugleich Leiter der Abteilung Kirchenmusik/Orgel. 2003 wurde er mit dem Preis der Johannes Gutenberg-Universität für exzellente Leistungen in der Lehre ausgezeichnet. 2012–2015 war Gerhard Gnann Domorganist am Freiburger Münster und künstlerischer Leiter der dortigen Orgelkonzerte. Als ausübender Künstler, Juror bei internationalen Wettbewer- ben sowie als Pädagoge ist er im In- und Ausland gefragt. Als Dozent von Meisterkursen ist er regelmäßig in Italien, Polen, Norwegen, Dänemark, Frankreich und der Schweiz zu Gast. Des Weiteren hat er mit CD-Aufnahmen bei Labels wie audite, hänssler Classic, organum, coviello classic u. a. auf sich aufmerk- sam gemacht. Gnann wurde mehrfach mit Schallplattenpreisen ausgezeichnet – zuletzt 2013 mit dem »ECHO Klassik« – sowie 2015 für die CD »arranging bach« auf den Orgeln des Freiburger Münsters. 28 29
Mittwoch, 11. August 2021 · 19 Uhr Einige Präludien und Fugen Johann Sebastian Bachs sind in zeitgenössischen Quellen mit einem Trio als Mittelsatz über- Wolfgang Zerer liefert. Möglicherweise spiegelt dies eine liturgische Praxis der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Zeit wider (Präludium am Beginn des Gottesdienstes, Trio sub communione, Fuge als Nachspiel). Im heutigen Konzert wurde in Anlehnung daran eine etwas ungewöhnliche Zusammenstellung gewählt: das Präludium (BWV 541) wird mit der Fuge eines ande- Große Orgel ren Werkes (BWV 550) kombiniert, dazwischen erklingt das Trio über den Choral »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« aus den sogenannten 18 Leipziger Chorälen. Alle drei Werke sind von ei- Johann Sebastian Bach (1685–1750) ner »sprühenden Vitalität« geprägt und die Tonart G-Dur drückt Präludium G-Dur BWV 541/1 in der Barockzeit in besonderer Weise Freude aus. Trio super Georg Muffats »Apparatus musico-organisticus« wurde 1690 pu- »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« BWV 655 bliziert. Die Sammlung vereinigt die beiden in der damaligen Zeit Fuge G-Dur BWV 550/2 besonders populären Stile (italienisch und französisch) zu einem sog. »vermischten Stil«. Die 5-teilige Toccata tertia ist dafür ein besonders schönes Beispiel: nach einer italienisch geprägten Einleitung folgen eine Canzona, ein ruhiger Mittelteil im soge- Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel nannten »stile di durezze e ligature« und eine 2-teilige franzö- sische Fugue. Georg Muffat (1653–1704) Johann Sebastian Bach hat zahlreiche Werke sowohl anderer Toccata tertia Komponisten (z. B. von Antonio Vivaldi) als auch eigene Kom- aus: Apparatus musico-organisticus positionen (Kantatensätze, Concerti) für Orgel übertragen. Ein besonderes Beispiel dafür ist die Fuge in d-Moll (BWV 539): die Vorlage dafür stammt aus der Partita für Violine solo (BWV 1001). Johann Sebastian Bach Es ist beeindruckend, wie Bach das typische Streicher-Idiom auf Fuge d-Moll BWV 539/2 die Orgel mit deren spezifischen Möglichkeiten überträgt. Die »Messe de la Pentecôte« (Pfingstmesse) von Olivier Messiaen ist 1950 entstanden. Der 2. Teil (»Les choses visib- Zentralspieltisch les et invisibles« – die sichtbaren und die unsichtbaren Dinge/ Nizänisches Glaubensbekenntnis) ist der umfangreichste und vielfältigste Satz daraus. Die verschiedenen Abschnitte sind sehr Olivier Messiaen (1908–1992) kontrastreich gestaltet und einige Charakteristika seien kurz be- »Les choses visibles et invisibles« nannt: Verwendung von Hindu-Rhythmen, dunkle Registrierun- (Die sichtbaren und die unsichtbaren Dinge) gen (Kampf gegen die Finsternis und ihre Mächte), helle Farben, aus: »Messe de la Pentecôte« (Pfingstmesse) Vogelstimmen, Nachahmung von Wassertropfen u. a. Messiaen hat sich selbst zu diesem Werk geäußert: »Das Un- César Franck (1822–1890) sichtbare ist die Domäne des Heiligen Geistes: ›der Geist der Grande Pièce Symphonique op. 17 Wahrheit, den die Welt nicht fassen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt‹ (Johannes-Evangelium). Das Leben, dem die Gnade verborgen ist, vermutet die Wohnung des Heiligen Geistes in der gläubigen Seele.« 30 31
Berühmt ist César Francks emphathische Äußerung über die Orgel: sie »ist mein Orchester«. Diese orchestral-symphonische Ausrichtung hat sicher besonders Gültigkeit für sein 1863 ent- standenes Werk »Grande pièce symphonique«. Es markiert den Beginn der französischen Orgelsymphonik der Spätromantik. Dieses Werk (von enormer Ausdehnung) ist nicht in mehrere Ein- zelsätze aufgeteilt, sondern in einem »großen Wurf« konzipiert, bei dem die einzelnen Formteile nahtlos aufeinander folgen: Foto © privat langsame Einleitung (Andantino serioso), Hauptsatz (Allegro non troppo e maestoso), langsamer Satz (Andante), Scherzo (Allegro), Kombination der einzelnen Teile und abschließende Fuge. Manche Parallelen und gegenseitige Inspirationen gibt es im symphonischen Werk von Franz Liszt und insbesondere in den Werken von Francks Freund Charles Henri Valentin Alkan, dem Wolfgang Zerer, das Werk gewidmet ist. geboren 1961 in Passau, erhielt seinen ersten Orgelunterricht vom Passauer Domorganisten Walther Schuster. Ab 1980 stu- Wolfgang Zerer dierte er in Wien (Orgel bei Michael Radulescu, Cembalo bei Gordon Murray, Dirigieren bei Karl Österreicher sowie Kirchen- musik). Weitere Studien führten ihn nach Amsterdam (Cembalo bei Ton Koopman) und nach Stuttgart (Kirchenmusik/Orgel bei Ludger Lohmann). Er war Preisträger verschiedener Orgelwettbewerbe (u. a. in Brügge und Innsbruck). Nach Lehraufträgen in Stuttgart und Wien wurde er 1989 auf eine Professur für Orgel an die Hoch- schule für Musik und Theater Hamburg berufen. Seit 1995 ist er als Gastdozent am Prins Claus Conservatorium Groningen/Niederlande tätig, seit Oktober 2006 lehrt er als Dozent für Orgel an der Schola Cantorum in Basel/Schweiz. Konzerte, Kurse, Jurytätigkeit und Aufnahmen führten ihn in die meisten Länder Europas, nach Israel, Nord- und Südamerika, Japan, China und Südkorea. 32 33
Mittwoch, 18. August 2021 · 19 Uhr Eine Wiener Attraktion gegen Ende des 18. Jahrhunderts war das von Joseph Graf Deym eingerichtete Kuriositätenkabinett, Mona Rozdestvenskyte Bremen in dem Plastiken und Wachsfiguren zu sehen waren, während zugleich Spieluhren und -automaten für musikalische Unterma- lung sorgten. Im Winter 1790/91 beauftragte Graf Deym Wolf- gang Amadeus Mozart, mehrere Stücke für diese Flötenuhren Große Orgel zu schreiben. Mozarts f-Moll-Fantasie diente als Trauermusik für Feldmarschall Laudon, Maria Theresias erfolgreichsten General, Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) dessen Wachsfigur stündlich mit der Musik Mozarts geehrt wur- Fantasie f-Moll KV 608 de, die dessen stürmisches Leben eindrucksvoll illustriert. Jan Pieterszoon Sweelinck war der berühmteste Organist sei- ner Zeit. In der Oude Kerk in Amsterdam spielte er täglich für die Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel wohlhabenden Bürger der Stadt kleine Konzerte, vermutlich die ersten öffentlichen Orgelkonzerte überhaupt. Hier improvisierte Jan Pieterszoon Sweelinck (1562–1621) er über bekannte und beliebte Melodien oder spielte Komposi- Fantasia Chromatica SwWV 258 tionen wie die ausdrucksstarke »Fantasia chromatica«. Johann Sebastian Bach gilt als größter Meister der klassischen Johann Sebastian Bach (1685–1750) Fuge, einer der strengsten und komplexesten Formen der Musik. Fantasie c-Moll BWV 562 Die große Anzahl seiner Fantasien zeigt aber, dass er genauso den freien, expressiven Ausdruck liebte. Die c-Moll Fantasie ist ein sehr konzentriertes und etwas in sich Zentralspieltisch gekehrtes Werk. Es sind die ausdrucksstarke Dichte des Satzes, die zunehmende innere Spannung, vor allem aber die schmerz- Josef Gabriel Rheinberger (1839–1901) lich-lyrische Harmonik, die den Reiz der Komposition ausma- chen. Sonate Nr. 12 Des-Dur op. 154 I. Phantasie Josef Gabriel Rheinberger darf wohl neben Mendelssohn als II. Pastorale einer der wichtigsten Komponisten der Gattung »Orgelsonate« III. Introduktion und Fuge im 19. Jahrhundert gelten. Nicht weniger als 20 Sonaten schuf er ab 1875. Rheinberger konzipierte sie eher für den Konzertsaal als für die Kirche, denn im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden Camille Saint-Saëns (1835–1921) immer mehr Orgeln in Konzertsäle eingebaut und man bedurfte Danse macabre adäquater nichtkirchlicher Werke für diesen Rahmen. Die einzel- Transkription: E. H. Lemare nen Sätze der Sonaten sind meist inspiriert von barocken for- malen Vorbildern und tragen wie auch im Falle der 12. Sonate Max Reger (1873–1916) barocke Titel. Rheinberger füllt diese barocken »Gefäße« jedoch Fantasie über den Namen B-A-C-H op. 46 mit seiner sanft-lyrischen, mitunter leicht süßlichen, aber immer meisterhaften hochromantischen Tonsprache. Der englische Orgelvirtuose Edwin Lemare galt als der virtuo- Dieses Konzert wird freundlicherweise gefördert von der seste Konzertorganist seiner Zeit. Ende des 19. Jahrhunderts Internationalen Josef Gabriel Rheinberger-Gesellschaft. verbrachte er die meiste Zeit auf Reisen und machte sich durch seine Arrangements bekannter Orchesterwerke in einer Zeit vor Erfindung der Schallplatte und des Radios enorm verdient um die Verbreitung der damals modernen und fortschrittlichen Mu- sik. Hochvirtuos und gekonnt ist denn auch sein Arrangement 34 35
der 1875 entstandenen Tondichtung »Danse macabre« (Toten- tanz) von Camille Saint-Saëns. Bei der Uraufführung 1875 in Paris traf das Werk auf wenig En- thusiasmus, wurde später gar ausgepfiffen, möglicherweise, weil das Publikum das Spiel der »diabolischen« Sologeige mit ihrer auf Es umgestimmten E-Saite als unsauber missverstand. Innerhalb von zehn Jahren jedoch erlangte das Werk so große Bekanntheit, dass Saint-Saëns sich in seinem »Karneval der Tie- Foto © privat re« ironisch selbst daraus zitierte. »Seb. Bach ist für mich Anfang und Ende aller Musik, auf ihm ruht und fußt jeder wahre Fortschritt!« Mit diesen programmati- schen Worten beginnt Max Reger seine Antwort auf die 1905 von einer Zeitschriftenredaktion gestellte Rundfrage »Was ist mir Jo- hann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?«. Ein- Mona Rozdestvenskyte drucksvolles Zeugnis dieser Bach-Verehrung legte er bereits mit wurde 1994 in Moskau geboren. 2012 begann sie mit dem Stu- der im Jahr 1900 komponierten und veröffentlichten grandiosen dium der Kirchenmusik an der Hochschule für Musik Detmold, Bach-Hommage ab, seinem wohl bekanntesten Orgelwerk: Fan- an der sie 2018 ihren Master und 2020 den Master Solist Orgel tasie und Fuge über B-A-C-H (im heutigen Konzert erklingt nur bei Prof. Martin Sander absolviert hat. Seit Oktober 2020 stu- die Fantasie). Was bei anderen seiner Kompositionen irritieren diert sie in der Meisterklasse von Prof. Martin Schmeding an der mag, die komplexe Harmonik, die Weitschweifigkeit, das schein- Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Barthol- bare Umherirren von einem wie zufällig erhaschten Ruhepunkt dy« Leipzig. zum nächsten, das ist hier durch das omnipräsente B-A-C-H-Mo- Weitere künstlerische Impulse erhielt sie bei Meisterkursen mit tiv verklammert und verhilft dem Werk zu einer bemerkenswer- Olivier Latry, Wolfgang Zerer, Arvid Gast, Michael Radulescu, ten Geschlossenheit. Hans-Ola Ericsson, Ben van Oosten, Guy Bovet, Jaroslav Tuma Reger widmete die Komposition Josef Rheinberger, der sich an- und Bine Bryndorf. gesichts der hochexpressiven Modernität aber vorsichtig-kri- Mona Rozdestvenskyte war Preisträgerin bei zahlreichen natio- tisch zur Fantasie geäußert haben soll. nalen und internationalen Wettbewerben: u. a. erhielt sie 1. Prei- se beim VII. internationalen M. K. Ciurlionis-Orgelwettbewerb in Jörg Endebrock Vilnius, bei der Northern Ireland International Organ Competi- tion, beim internationalen Orgelwettbewerb Fugato in Bad Hom- burg, 3. Preis beim Orgelwettbewerb in Saint-Maurice (Schweiz, 2018), beim Orgelwettbewerb in Korschenbroich und den Preis der Rheinberger-Gesellschaft beim Rheinberger-Orgelwettbe- werb in Vaduz. Sie konzertierte unter anderem in der Dresdner Frauenkirche, in der Lorenzkirche in Nürnberg, im Dom zu Paderborn, im Mozarte- um Salzburg, im ORF-Sendehaus in Wien, in Westminster Abbey, in der St. Thomas Church 5th Avenue in New York City, im Rigaer Dom sowie an weiteren Orten in Deutschland, der Schweiz, Po- len, den baltischen Staaten, Spanien und England. Von 2017 bis 2021 war Mona Rozdestvenskyte als Kirchenmusi- kerin im Pastoralverbund Bad Driburg tätig. Seit Februar 2021 ar- beitet sie als Regionalkantorin an der Propsteikirche St. Johann in Bremen. 36 37
Mittwoch, 25. August 2021 · 19 Uhr Carl Philipp Emanuel Bachs Orgelsonaten stehen immer noch im Schatten des »übermächtigen« Vaters. So schrieb etwa Peter Van de Velde Kathedrale Antwerpen der Bach-Biograph Forkel fast entschuldigend: »Diese Orgel- Solos sind für eine Prinzessin gemacht, die kein Pedal und keine Schwierigkeiten spielen konnte, ob sie sich gleich eine schöne Orgel mit zwei Clavieren und Pedal machen ließ und Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel gerne darauf spielte.« Die Pedallosigkeit der Werke dürfte al- lerdings weniger an den fehlenden Fähigkeiten der Prinzessin Amalia von Preußen gelegen haben, sondern am Wandel des Carl Philipp Emanuel Bach (1714–1788) Musikgeschmacks, und auch die technischen Anforderungen Sonata A-Dur H 85 sind durchaus beträchtlich. Kennzeichnend für den Stil des zweit- I. Allegro assai ältesten Bach-Sohnes ist der häufige, oft abrupte Wechsel der II. Poco adagio Affekte. Sein wichtigstes Anliegen war ein starker Gefühlsaus- III. Allegro druck. Der Interpret sollte aus der Seele oder aus der Empfin- dung heraus die Finger gleichsam »reden« lassen, um die Zuhö- rer »in Leidenschaft zu versetzen«. Zentralspieltisch Das gewaltige Werkpaar »Präludium und Fuge e-Moll« BWV 548 zählt zu den späten großen Orgelwerken Johann Sebastian Bachs, entstanden vermutlich um das Jahr 1730, als Bach im Ze- Johann Sebastian Bach (1685–1750) nit seiner Kompositionskunst stand. Souverän werden hier die Präludium und Fuge e-Moll BWV 548 Gattungen »Präludium und Fuge« und »Konzert« miteinander Fassung von Karl Straube verschmolzen. Vor allem die Fuge überrascht durch äußerst vir- tuos-konzertierendes Laufwerk, das einzigartig sogar in Bachs Naji Hakim (*1955) Orgelwerk dasteht. Schon Bachs Biograph Philipp Spitta erkann- Sinfonia in honore sancti Ioannis Baptistae te Ende des 19. Jahrhunderts, »dass die hergebrachten Bezeich- nungen nicht mehr ausreichen«, so dass man das Werkpaar I. Ut queant laxis »eine zweisätzige Orgelsymphonie nennen müsste, um unsrer II. Ecce agnus Dei Zeit eine richtige Vorstellung von ihrer Größe und Gewalt nahe III. In Spiritu et Igni zu legen«. Der berühmte Thomasorganist Karl Straube richtete Bachs Werke Anfang des 20. Jahrhunderts für die orchestralen Camille Saint-Saëns (1835–1921) Großorgeln seiner Zeit ein, wobei der symphonische Charakter Poco Adagio dieses Werkes noch einmal besonders unterstrichen wird. aus: Sinfonie für Orchester und Orgel op. 78 Die Orgelsinfonie »zu Ehren Johannes des Täufers« des fran- arrangiert für Orgel solo von Emile Bernard zösisch-libanesischen Organisten Naji Hakim entstand im Jahr 1997 für die »Church of St. John the Baptist« in Newcastle/Eng- Marcel Dupré (1886–1971) land. Ihr liegt folgendes Programm zugrunde: Prélude et Fugue en si-majeur op. 7 Nr. 1 1. Satz: »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Berei- tet den Weg des Herrn!« (Lukas 3, 4) Variationen über den gregorianischen Hymnus zu Ehren Johan- nes des Täufers »Ut queant laxis«. 2. Satz: »Siehe, das ist Gottes Lamm, das hinwegnimmt die Sün- de der Welt.« (Johannes 1, 29) Der Satz basiert auf einem baskischen »Agnus Dei«. 38 39
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