Interkultureller Austausch in der italienischen Migrationsliteratur
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Interkultureller Austausch in der italienischen Migrationsliteratur Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts an der Karl-Franzens-Universität Graz vorgelegt von Sabrina OBERERLACHER am Institut für Romanistik Begutachter: Univ.-Prof. Dr.phil. Steffen Schneider Graz, 2020
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre hiermit eidesstattlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne Benutzung anderer als der angegebenen Hilfsmittel angefertigt habe. Die aus fremden Quellen direkt oder indirekt übernommenen Gedanken sind als solche kenntlich gemacht. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen Prüfungskommission vorgelegt und auch nicht veröffentlicht. Graz, 2020 _____________________________ Sabrina Obererlacher 2
Danksagung Ich danke meinen Betreuer Univ.-Prof. Dr.phil. Steffen Schneider, der bei Fragen stets ein offenes Ohr hatte und mir mit Ratschlägen und Tipps zur Seite stand. Vielen Dank für die unkomplizierte und motivierende Betreuung. Besonderer Dank gilt meiner Familie, die mich während meiner Studienzeit immer unterstützt hat und für mich da war. Auch in schwierigen Zeiten half sie mir mit lieben und aufmunternden Worten weiter. Danken möchte ich auch meinem Freund, der mich vor allem in den letzten Monaten immer wieder ermutigt und mich vom Stress abgelenkt hat. Zu guter Letzt möchte ich noch meinen Studienkolleginnen und Freundinnen danken, die mir eine wunderschöne Studienzeit bereitet haben, die ich nie mehr vergessen werde. 3
Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ............................................................................................................................ 6 2. Einführung in den Begriff Kultur und Klärung der Begriffe Interkulturalität, Transkulturalität und Multikulturalität ............................................................................... 8 2.1 Interkulturalität ........................................................................................................... 9 2.2 Transkulturalität ....................................................................................................... 12 2.2.1 Ist unsere Kultur wirklich transkulturell? Kritische Betrachtung des Begriffs Transkulturalität .................................................................................................. 13 2.3 Multikulturalität ....................................................................................................... 16 3. Was versteht man unter Migrationsliteratur? .................................................................... 17 3.1 Warum und für wen schreiben die AutorInnen? ...................................................... 22 3.2 Migrationsliteratur vs. italienische Literatur mit Migrationsthematik ..................... 24 4. Italien als interkulturelles Land? ....................................................................................... 25 5. Analyse der Romane auf ihre Interkulturalität ................................................................. 28 5.1 Pap Khouma: einer der ersten Autoren von Migrationsliteratur in Italien ............... 29 5.1.1 Politische und gesetzliche Situation zu Zeiten Pap Khoumas .............................. 29 5.1.2 Pap Khoumas erster Roman: Io, venditore di elefanti.......................................... 30 5.1.3 Pap Khoumas letzter Roman: Noi italiani neri. Storie di ordinario razzismo ..... 35 5.2 Amara Lakhous: sprachliches Ausnahmetalent und Vorbild für Interkulturalität... 40 5.2.1 Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio – Einblick in Roms multikulturelle Gesellschaft und Amedeo als Vermittler zwischen zwei Welten 41 5.2.2 Divorzio all’islamica a viale Marconi – Einblick in zwei Kulturen .................... 52 5.3 Laila Wadia .............................................................................................................. 57 5.3.1 Amiche per la pelle – großartige Freundschaften trotz kultureller Unterschiede. 58 5.3.1.1 Shanti Kumars interkulturelle Kompetenz ................................................... 63 5.3.2 Come diventare italiani in 24 ore......................................................................... 66 5.4 Igiaba Scego ............................................................................................................. 73 5.4.1 La mia casa è dove sono – Geschichte zwischen zwei Welten ............................ 73 4
5.4.2 Erzählung Salsicce (Pecore nere) – Kulturzugehörigkeit auf Essensebene......... 78 5.5 Sumaya Abdel Qader................................................................................................ 81 5.5.1 Porto il velo, adoro i Queen. Nuove italiane crescono. ....................................... 82 6. Zusammenfassung und abschließende Reflexion................................................................. 87 Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 89 5
1. Einleitung Migration ist ein Thema, das schon seit einigen Jahren nicht nur Italien, sondern ganz Europa betrifft. Die Gesellschaft wandelt sich zunehmend. Das Ziel des Zusammenlebens von Einwandernden und Einheimischen ist der Wandel zu einer offenen, toleranten, von interkulturellem Austausch geprägten Gesellschaft. Bereits seit den 1990er Jahren wird der Begriff Interkulturalität verwendet, um eine welt- und kulturoffene Gesellschaft zu beschreiben (vgl. Elberfeld 2012:40). Das Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen sollte entstehen und sich im besten Fall zu einem Miteinander entwickeln, in dem das ‚Fremdsein‘ zw. ‚Anderssein‘ akzeptiert wird und man gegenseitig voneinander profitieren kann, sei es von Traditionen, Einstellungen oder Lebensweisen. Doch in der Realität handelt es sich häufig um eine Wunschvorstellung, denn wenn zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, sind Konflikte und Uneinigkeiten keine Seltenheit. Migration ist nur möglich, wenn alle Beteiligten offen mit der Situation umgehen und Änderungen akzeptieren. Die nachfolgende Masterarbeit behandelt das Thema der Migration in der Literatur und den interkulturellen Austausch bzw. die Interkulturalität darin. Im Laufe der Arbeit werden verschiedene Texte von Amara Lakhous, Pap Khouma, Igiaba Scego, Laila Wadiaund Sumaya Abdel Qader analysiert. Spätestens seit den Migrationsbewegungen der letzten Jahre haben wir uns alle – wenn auch oft unbewusst – mit der Bedeutung von Kultur, Identität und Heimat auseinandergesetzt. Die AutorInnen – selbst ImmigrantInnen – beschäftigen sich in ihren Romanen mit dem Thema der Migration und dessen Folgen, Umständen und Entwicklungen. In den letzten 40 Jahren ist Italien zum zweitgrößten Einwanderungsland Europas geworden, nach einem Jahrzehnt massiver Auswanderung (vgl. Einaudi 2010:o.S). Der Ausländeranteil der Gesamtbevölkerung stieg innerhalb von ca. 20 Jahren von 0,9% im Jahr 1989 auf 7,1% im Jahr 2007 – der Prozentsatz hat sich bis heute noch weiter erhöht. Der Klimawandel, der Mangel an sauberem Wasser und ausreichender Nahrung sowie Kriege und Terror haben dazu geführt, dass Italien zweifelsohne vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland geworden ist, auch wenn sich die junge akademische Generation aufgrund von Arbeitslosigkeit immer noch gezwungen sieht, sich im Ausland eine Arbeit zu suchen (vgl. Baumann 2018:3). Das Migrationsthema meint viel mehr als Flüchtlingswellen, denn es beinhaltet auch soziale, wirtschaftliche, politische und vor allem gesellschaftliche und kulturelle Themen. Die Gesellschaft verändert sich zunehmend zu multikulturellen und mehrsprachigen Kulturen (vgl. Baumann 2018:4) und diese Gesellschaft bzw. gesellschaftliche Umstrukturierung wird auch in den Romanen ersichtlich. Besonders soll die Interkulturalität in den Werken und der 6
Austausch zwischen Eigen- und Fremdkultur beleuchtet werden. Mit der Analyse der Romane soll die These „Die Romane sind weitestgehend interkulturell geprägt und gehen eindeutig über einen multikulturellen Austausch hinaus“ bestätigt werden. Aufgrund der Aktualität der Migration wird das Thema der Interkulturalität als sehr relevant eingeschätzt. Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem theoretischen Gegenstand der Fragestellung. Es wird versucht, eine angemessene Definition von Interkulturalität und den damit eng verbundenen Begriffen Transkulturalität und Multikulturalität zu finden sowie deren Unterschiede herauszuarbeiten. Der nächste Punkt behandelt das Thema der Migrationsliteratur in Italien und beschreibt seine Entstehung und Entwicklung von den Anfängen bis heute. Zudem wird der Unterschied zwischen AutorInnen der Migrationsliteratur und italienischen AutorInnen, die das Migrationsthema behandeln, veranschaulicht. Der Hauptteil der Arbeit beschäftigt sich mit der Analyse der Romane. Es wird sowohl kurz das Leben der AutorInnen als auch der Inhalt der Werke beleuchtet. Bei der Analyse wird anhand von Zitaten der interkulturelle Austausch bzw. die dargestellte Interkulturalität herausgearbeitet und näher betrachtet. Ziel der Arbeit ist eine ausführliche Analyse der ausgewählten Romane und die Untersuchung nach ihrer Interkulturalität. Zudem sollen im Zuge der Analyse weitere Fragen beantwortet werden wie beispielsweise: Für wen schreiben die AutorInnen? Richten sich die Romane an ein bestimmtes Publikum? Schreiben die AutorInnen, um aufzuklären, als Therapie oder für andere MigrantInnen bzw. für schon Eingewanderte? Welche Städte wählen die AutorInnen in ihren Romanen und warum? Wie sieht das literarische Ich die italienische Kultur und wie wird diese in den Romanen dargestellt? Handelt es sich bei den Romanen um Autobiographien bzw. enthalten sie autobiografische Elemente? Gibt es einen Unterschied zu den Anfängen der Migrationsliteratur und der Migrationsliteratur von heute? Abschließend werden die Ergebnisse der Analysen prägnant zusammengefasst und reflektiert. 7
2. Einführung in den Begriff Kultur und Klärung der Begriffe Interkulturalität, Transkulturalität und Multikulturalität Kultur kann auf verschiedene Arten verstanden werden und besteht aus diversen Unterbegriffen. Es ist ein interdisziplinärer Begriff, mit dem sich viele ForscherInnen aus den unterschiedlichsten Bereichen beschäftigen. Auch in der Literaturwissenschaft ist Kultur von großer Bedeutung, vor allem im Zusammenhang mit Migrationsliteratur. Ab Mitte der 20er Jahre wurden verschiedene Bezeichnungen und Theorien entwickelt, um dem sich ständig ändernden Kulturbegriff gerecht zu werden. Eine exakte Definition, die auch allen Unterbegriffen von Kultur gerecht wird, ist aufgrund bestehender Divergenzen zwischen den diversen Auffassungen von Kultur kaum bis gar nicht möglich (vgl. Yousefi & Braun 2011:10). Spätestens seit den Migrationsbewegungen der letzten Jahre haben wir uns alle – wenn auch oft unbewusst – mit der Bedeutung von Kultur, Identität und Heimat auseinandergesetzt. Der Kulturbegriff hat sich ohne Zweifel seit den Flüchtlingswellen geändert und die Schwierigkeit einer angemessenen Definition wird noch größer und problematischer (vgl. Baumann 2018:3). In Alltagssituationen – zurückgehend auf das 19. Jahrhundert, in dem von Hoher Kultur gesprochen wurde – begegnet man dem Begriff Kultur oft im Zusammenhang mit Kunst und Bildung, d.h. aus menschlicher Erzeugung entstandenen Produkten bzw. Gegenständen (vgl. Baumann 2018:4). Klar ist, dass der Mensch eine besondere und zentrale Rolle in Verbindung mit Kultur einnimmt. Der Mensch wird als Lebewesen in eine bestimmte Kultur hineingeboren und sozialisiert, die dann sein Handeln, sein Denken, seine Werte, die Sprache usw. beeinflusst und prägt. Wir können folgend in den meisten Fällen selbst entscheiden, ob wir uns mit den Werten ‚unserer‘ Kultur identifizieren können oder nicht. Die Kultur beeinflusst uns ständig in unserem Denken, Handeln, Fühlen und wirkt sich somit auch auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen sowie infolgedessen auf unsere Kommunikation aus (vgl. Yousefi & Braun 2011:11). Johann Gottfried Herder hat bereits Ende des 18. Jahrhundert das Konzept der Einzelkultur konstruiert, welches die nachfolgenden Jahrzehnte auch prägte (vgl. Welsch 1997:67). Diese Kulturauffassung Herders resultiert in drei Prinzipien: Gleichartigkeit der Gesellschaft, Assimilation und Abgrenzung. Herder geht also davon aus, dass fremde bzw. verschiedenartige Kulturen niemals in Kontakt treten, sprich sich vielmehr nach dem sogenannten „Kugelprinzip“ – wird nachfolgend erklärt – voneinander wegstoßen und somit auf keinem Fall ein Austausch stattfinden kann (vgl. Baumann 2018:6). Dass dieses 8
Verständnis von Kultur schon lange nicht mehr den heutigen kulturellen Erkenntnissen gerecht wird, ist schon lange bekannt. In der heutigen Zeit mit all den Veränderungen und Umschwüngen in der Gesellschaft, entsprechen diese Auffassungen von Kultur nicht mehr der Aktualität und Wirklichkeit. Dieser Meinung ist auch Dieter Senghaas, der meint, man solle sich immer vor Augen führen, dass Kulturen verschiedenster Art niemals homogene Gruppen seien, sondern das Innere einer Kultur aus zahlreichen Diversitäten bzw. Subkulturen zusammengesetzt sei (vgl. Yousefi & Braun 2011:25). Um der hybriden Kultur zu entsprechen, sind aufgrund der Kulturveränderungen im Laufe der letzten Jahre neue Begriffe entstanden. Dazu zählen Multikulturalität, Interkulturalität und Transkulturalität. Das Konzept von Interkulturalität wird bei der Analyse von großer Relevanz sein. Die AutorInnen beschreiben in ihren Romanen kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen bzw. die Anfänge der Kulturumschwünge, wie beispielsweise der Autor Pap Khouma. Die Divergenzen können häufig auch zu Konflikten führen. Jeder Mensch bzw. jede Kultur hat eine andere Lebens- und Denkauffassung und durch das Aufeinandertreffen verschiedener Denk- und Lebenseinstellungen kann es zu einem erfolgreichen Austausch kommen oder ein Konflikt kann entstehen. Um später die Zusammenhänge besser verstehen zu können, wird nachfolgend versucht, die wichtigsten Begriffe der Arbeit zu definieren. Die relevanten Begriffe für die Beantwortung der Fragestellung sind Interkulturalität, Transkulturalität und Multikulturalität. 2.1 Interkulturalität Der Begriff Interkulturalität wird Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund der weltweiten Migrationswellen immer präsenter. Obwohl der Begriff oft als moderne Erneuerung gesehen wurde, ist er in Wirklichkeit schon seit Jahrtausenden Teil der Menschheit. Der Mensch setzt sich schon seit der Völkerwanderung mit dem ‚Fremden‘ auseinander. Dabei haben sich verschiedene Völker vermischt und untereinander ausgetauscht. Daher gibt es keine homogene Gesellschaft, weil unsere Welt immer schon interkulturell geprägt war. Sowohl der übergeordnete Kulturbegriff als auch der Unterbegriff Interkulturalität können unterschiedlich definiert werden. Interkulturalität kann nach Yousefi & Braun (2011:7) folgend gesehen werden: als „Ende des Kolonialismus, eine Folge der Migrationswelle, eine Beziehung zwischen mehr als zwei Kulturen, Voraussetzungen einer dritten gemeinsamen Kultur, eine Folge der Globalisierung oder als ein Denk- und Lebensweg“. Eine genaue Definition von 9
Interkulturalität, die auf alle Bereiche zutrifft, ist nur schwer bzw. gar nicht möglich (ebd.). Ganz allgemein betrachtet versteht man unter Interkulturalität meist das Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Kulturen, bei denen es aufgrund kultureller Unterschiede zum gegenseitigen Austausch und in manchen Fällen auch zur gegenseitigen Beeinflussung kommt. Yousefi & Braun (2011:29) verstehen unter „interkulturell […] einen Raum, indem ein Austauschprozess stattfindet, durch den Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund miteinander in Kontakt treten“. Kultureller Hintergrund meint in dieser Definition die Religionszugehörigkeit, die Sprache, Rechtssysteme innerhalb einer Kultur und unterschiedliche Denk- und Lebensauffassungen. Wichtig ist auch, dass Interkulturalität keine Grenzen festlegt und es sich um ein dynamisches, d.h. veränderbares System handelt. Relevant hierbei ist, und dies betont auch Baumann (2018:9), dass es sich trotzdem noch um eine homogene abgegrenzte Kultur handelt, auch wenn ein Austauschprozess stattfindet. Dies unterscheidet Interkulturalität von Transkulturalität, bei der es zu einer Vermischung kommt und die Kultur nicht mehr homogen abgrenzbar ist. Das Verstehen des Fremden ist für das Konzept der Interkulturalität besonders relevant. Verstehen beinhaltet den Wunsch nach Verständigung, das Miteinander-in-Kontakt-Treten (vgl. Wierlacher 2003:258). Der Begriff Interkulturalität bedingt ein besonderes Bewusstsein für die Eigenkultur, was auch cultural awareness genannt wird, das Überschreiten der kulturellen Grenzen und die dabei entstehende potentielle Chance eines kulturellen Dialoges und Austausches (ebd.). Somit sind der Austauschprozess und das gegenseitige Beeinflussen zweier Kulturen besonders relevant, denn erst dadurch kann Interkulturalität entstehen. Lasatowicz (1999:22) sieht Interkulturalität als ein zukunftsoffenes Konzept, in dem beim Aufeinandertreffen zweier Kulturen erst eine Beziehung bzw. Verbindung entstehen muss und nicht schon im Vorhinein vorhanden ist. Doch nur weil sich diverse Kulturen innerhalb einer Gesellschaft befinden, heißt dies nicht automatisch, dass es zur Vermischung kommt. Manchmal bestehen die Kulturen getrennt nebeneinander und treten nicht bis kaum in Kontakt, wie es beim Konzept der Multikulturalität der Fall ist. Im Zusammenhang mit Interkulturalität wird auch oft der Begriff „dritte Ordnung“ (Wierlacher 2003:261) gesehen. Wierlacher beschreibt in seinem Artikel dieses Konzept, welches bei Überschneidungssituationen von zwei Kulturen entsteht. Es handelt sich nicht um die Kombination beider beteiligten Kulturen, sondern es soll eine völlig neue, „dritte Ebene“ (ebd.) entstehen, in der eine interkulturelle Kommunikation stattfinden kann. Um die Kommunikation zu sichern, brauchen die Beteiligten die Fähigkeit der interkulturellen Kompetenz, welche es schafft, in „kooperativer Erkenntnisarbeit“ (ebd.:262) einen 10
gemeinsamen Nenner bzw. einen gemeinsamen Dialog zu schaffen (vgl. Wierlacher 2003:261f). Wenn dies der Fall ist, kann ein reziproker Verständnisvorgang entstehen, der dann das kulturelle Miteinander verschiedener Kulturen ermöglicht. Bei der Analyse der Texte wird versucht, die kulturellen Aspekte des Miteinanders und des Austausches herauszuarbeiten sowie darzulegen. Wierlacher beschreibt die „dritte Ordnung“ wie folgt: „Die gemeinsame Mitte kann als dritte Ordnung indes nur da gedeihen, […] wo die Rede von der Mitte sich nicht auf eine bloße Ortsbestimmung beschränkt, sondern das Dazwischen auch als Blickwinkel verstanden und akzeptiert wird, unter dessen Sicht gedacht und gehandelt wird; wenn also die beteiligten Personen ein deutliches Wissen um ihre eigenkulturelle Verankerung erworben haben, Andere und Fremde mitzudenken vermögen und zu kooperativer Erkenntnisarbeit bereit sind, nachdem sie sich aus den Extremen ethnozentrischer Selbstdefinition oder Zugehörigkeitsentwürfe gelöst haben, sich einander in ihrem Selbstwert ernstnehmen und dieses Ernstnehmen partnerschaftliches Vertrauen schafft“ (Wierlacher 2003:262). Diese Überlegungen gehen auf Homi K. Bhabhas Konzept des „Third Space“ zurück. Man geht davon aus, dass sich Kulturen in einem dritten Raum, der sich zwischen den Kulturen befindet, austauschen. Hierbei handelt es sich aber nicht um einen geografischen Raum, sondern vielmehr um einen symbolisch geprägten, hybriden Ort, an dem ein kultureller Austausch stattfinden kann (vgl. Pellegrino 2018:38f). Erst durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen wird einem die eigene kulturelle Identität richtig bewusst und kann sich auch mit der des Gegenübers auseinandersetzen. Beim Aufeinandertreffen setzt man sich vor allem mit dem Denken und den Vorstellungen der anderen Person auseinander, ohne jedoch vorschnell irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Hierbei kommt es aber im ersten Schritt nicht darauf an, mit der anderen Kultur einer Meinung zu sein und sich anzupassen, sondern sie bewusst wahrzunehmen und zu akzeptieren. Wichtig ist, dass man sich seiner eigenen Kultur bzw. Identität bewusstwird, erst dann kann man die fremde Kultur auch verstehen und es kann ein kultureller Austausch entstehen. Das Fremde kann immer besser verstanden werden und wird nach und nach vertraut(er), wodurch dann im letzten Schritt auch die Integration der Fremdkultur in die Eigenkultur ermöglicht wird (ebd.:46). Natürlich zeigen sich im Konzept der Interkulturalität auch Schwächen. Wolfgang Welsch geht in seinem Artikel auf die Grenzen von Interkulturalität ein und greift dabei das Kugelprinzip von Herder wieder auf: „Das Konzept der Interkulturalität geht ebenfalls weiterhin von der alten Kugelvorstellung aus und ist dann bemüht, einen interkulturellen Dialog in Gang zu bringen, der zu einem gegenseitigen Verstehen zwischen den im Ansatz als hochgradig verschieden, ja inkommensurabel angesehenen Kulturen führen 11
soll […] Weil die Interkulturalisten die Kulturen von Grund auf als Kugeln konzeptualisieren, kaprizieren sie sich auf das Verstehen eines ‚Anderen‘, von dem sie zugleich annehmen, dass es ob seiner Inkommensurabilität eigentlich nicht verstanden werden könne – so das die Erfolgslosigkeit des Unternehmens schlicht aus der Verfehltheit und Widersprüchlichkeit der Ausgangsvorstellung resultiert“ (Welsch 2010:39-44). Es zeigt sich also durch dieses Zitat, dass auch der Interkulturalitätsbegriff sein Limit hat und an seine Grenzen kommt. Welsch sieht zwar die Möglichkeit eines Austausches, jedoch werden die kulturellen Unterschiede nicht einfach gelöscht und am Ende steht trotz allem die ‚Andersartigkeit‘ im Vordergrund (vgl. Baumann 2018:9f). Für Welsch sind Interkulturalität und Multikulturalität inadäquate Begriffe, um den Wandel der zeitgenössischen Kultur treffend zu beschreiben (vgl. Baumann 2018:10). Er geht daher auf den Begriff der Transkulturalität zurück, welcher im nächsten Kapitel behandelt wird. 2.2 Transkulturalität Im Vergleich mit Interkulturalität und Multikulturalität versteht die Transkulturalität Kulturen nicht als einheitliche, klar voneinander abgrenzbare Einheiten. Durch die zunehmende Globalisierung ist es möglich, dass sich Kulturen immer stärker vernetzen und vermischen und dadurch eine ganz neue Kultur und Gesellschaft entsteht. Der Begriff Transkulturalität lehnt also Herders Kugelprinzip ab und geht von einer Vermischung der Kulturen aus. Welsch schlägt deshalb den Begriff der Transkulturalität vor, der die Realität der heutigen Gesellschaft widerspiegeln soll. Er beschreibt, dass sich Kulturen heutzutage verändern und eine ‚neue Form angenommen‘ haben. Es existieren aufgrund von Mischungen und Durchdringungen keine Kulturgrenzen mehr (vgl. Welsch 1997:71). Wolfgang Welsch (1997:75) beschreibt mit dem Konzept der Transkulturalität eine Gesellschaft, die über Ausgrenzung des Fremden hinausgeht und sich mit dem Vermischen diverser Kulturen beschäftigt. Wichtig bei diesem Konzept ist vor allem das Grenzdenken von Eigenem und Fremden aufzuheben und eine Vermischung und Vernetzung anzustreben. Hier werden also das Kugelmodell von Herder und die damit entstehenden Kulturgrenzen abgelehnt und es wird versucht, zwei oder mehrere Einzelkulturen zusammenzuführen und eine neue Gemeinschaft zu bilden. Baumann fasst Transkulturalität sehr gut im folgenden Zitat zusammen: 12
„Damit stellt Transkulturalität das Ergebnis eines Jahrhunderte alten und im Zeitalter der Globalisierung drastisch beschleunigten Prozess dar, der ein zunehmend verzweigtes Netz von externen Verflechtungen und interner kultureller Hybridisierung unserer Gesellschaft und Kollektive zur Folge hat, deren Grundbaustein das Individuum ist.“ (Baumann 2018:10f) Der Mensch und die zunehmende weltliche Vernetzung sind Grundvoraussetzungen, damit Transkulturalität entstehen kann. Welsch ist sich bewusst, dass es schwierig sein kann, das alte Kulturdenken aufzugeben und sich Neuem zu öffnen, doch sieht er darin ein besonders großes Potenzial, mentale kulturelle Grenzen abzulegen und von Divergenzen profitieren zu können. Durch das Vernetzen und Vermischen von Elementen aus der Eigen- und Fremdkultur können Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser erkannt werden. Kulturen sind dynamische Konstrukte und aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und Globalisierung einem ständigen Wandel ausgesetzt (vgl. Welsch 1997:78). Welsch (2010:46) geht davon aus, dass sich in Zukunft das Konzept der Transkulturalität noch weiter ausbauen wird und sich besonders junge bzw. neue Generationen damit auseinandersetzen werden, denn kulturelle Divergenzen werden zunehmend zur Realität, sei es in den Medien, in den Städten oder auch im Beruf. 2.2.1 Ist unsere Kultur wirklich transkulturell? Kritische Betrachtung des Begriffs Transkulturalität Welsch unterscheidet innerhalb des Begriffs Transkulturalität eine Makroebene und eine Mikroebene. Die Makroebene wirft den Blick auf die Gesellschaft, wohingegen die Mikroebene das Individuum selbst in einer Gesellschaft beleuchtet (vgl. Welsch 1997:71f). Welsch geht in der Makroebene davon aus, dass die Kulturen der heutigen Zeit sehr stark miteinander verbunden und vernetzt sind. Bestimmte Lebensformen, die früher beispielsweise einem bestimmten Land oder einer Nation zugeteilt wurden, treffen nun auch auf andere Kulturen zu. Die kulturellen Überschneidungen sind auf Migrationsprozesse, weltweit übergreifende Kommunikationssysteme und ökonomische Vernetzungen sowie Abhängigkeiten zurückzuführen (vgl. Welsch 1997:71). Die Folge dieser Verflechtungen ist das Auftreten verschiedenster Probleme in diversen Kulturen (vgl. ebd.:72), beispielsweise nennt Welsch hier beispielsweise die Menschenrechtsdiskussionen, feministische Bewegungen oder das immer größer werdende ökologische Bewusstsein der Menschheit. Heutige Kulturen sind allgemein durch Vernetzungen charakterisiert und es wird davon ausgegangen, dass es generell nichts Fremdes mehr gibt, beispielsweise aufgrund von Kommunikationstechniken, die fast 13
jeder/jedem den Zugang zu jeglichen Informationen – egal auf welchem Teil der Erde – ermöglichen. Welsch geht weiter und behauptet sogar, es gäbe auch nichts Eigenes mehr. Die Echtheit der Kulturen wird nur noch mit volkstümlichen Bräuchen verbunden und dies wird oft nur als simuliert betrachtet (ebd.). Wie schon oben erwähnt ist die Transkulturalität auch mit der Mikroebene, d.h. mit dem Individuum selbst verschränkt. Welsch geht davon aus, dass jeder Mensch verschiedenste kulturelle Wurzeln und Verbindungen in sich trägt (ebd.). Es gibt demnach keinen reinen bzw. keine reine ItalienerIn oder ÖsterreicherIn mehr. Menschen sind „kulturelle Mischlinge“ (Welsch 2010:30). Hier nimmt Welsch Bezug auf heutige SchriftstellerInnen sowie auch auf AutorenInnen von Migrationsliteratur, welche sich nicht mehr mit einer Heimat identifizieren, sondern durch verschiedene kulturelle Einflüsse in der Literatur geprägt worden sind, beispielsweise italienische, französische, deutsche, chinesische, englische Literatur. Somit sehen sie sich selbst als transkulturelle Menschen/Gebilde/Gefüge. Besonders relevant in diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen nationaler Identität und kultureller Identität (vgl. Welsch 1997:73). Nur weil ein Mensch eine bestimmte Nationalität hat, muss er sich nicht zwingend dieser Nation zugehörig fühlen. Dieser Ansicht ist nichts entgegenzusetzen. Die Rolle der Identität wird auch bei den ProtagonistInnen in den Romanen immer wieder thematisiert und hängt eng mit dem Kulturthema zusammen. Nach Welsch war unsere Kultur bereits in der Geschichte transkulturell. Betrachtet man beispielsweise die Geschichte Europas genauer, erkennt man, dass vor Jahrtausenden eine Vermischung verschiedenster Völker stattgefunden hat. In der Kunstgeschichte ist die Vernetzung besonders evident: die Stile wurden länder- und nationenübergreifend verwendet, wobei viele Kunstwerke vor allen Dingen außerhalb der Heimat entstanden sind (vgl. Welsch 1997:74). Doch handelt es sich hierbei nicht vielmehr um einen interkulturellen Austausch? Müsste unsere Kultur dann nicht in ganz Europa – einfach gesagt – gleich sein, wenn es schon vor Jahrtausenden Transkulturalität gab? Fakt ist, dass sich auch innerhalb Europas und vor allem weltweit betrachtet, die Kultur trotz alledem unterscheidet. Auch wenn die heutige Vorstellung der Kultur in den aktuellen Studien, aber auch schon bei Welsch (1997), auf Transkulturalität zurückgeführt wird, ist es meist eine Wunschvorstellung, die in der Realität wahrscheinlich nicht immer zutrifft. Es handelt sich um ein theoretisches, zukunftsorientiertes Konzept, welches in der heutigen Zeit noch nicht überall angewendet wird. Sogar Welsch, der die veraltete, kugelartige Kulturvorstellung kritisiert, lässt dieses Konzept der Kultur in der Transkulturalität nicht los, ohne dass überhaupt beschrieben wird, wie transkulturelle Kulturen aussehen oder definiert werden (vgl. Ikud 2011). Klar ist, dass unsere Gesellschaft ständig wandelt, doch ob es sich um eine transkulturelle Kultur handelt, ist in Frage zu stellen. Im 14
Verständnis der meisten Menschen herrscht noch immer die Vorstellung von unterschiedlichen Kulturen und deren Abgrenzung zueinander (ebd.). Beim Konzept der Transkulturalität werden oft die unaufhebbaren Grenzen übersehen, bei Begegnungen interindividueller, aber auch zwischenmenschlicher Art, und bei Personen, die unter diversen kulturellen Voraussetzungen aufeinandergetroffen sind. Nach Yousefi & Braun (2011:109) ist es zwar möglich, Unterschiede durch eine Idealvorstellung auszublenden, in der Realität sind sie aber offensichtlich erkennbar. Nehmen wir doch ein simples Beispiel der Ankunft eines Menschen in einem fremden Land: Vor allem am Anfang suchen sich die Zugewanderten Gleichgesinnte und treten nicht sofort mit der anderen Kultur in Kontakt. Meist haben sie es auch schwer, sich gut zu integrieren, und auch die Gastgeberkultur ist nicht sofort bereit, sich den neuen kulturellen Veränderungen anzupassen. Besonders im ländlichen Bereich ist das Zusammenleben mit fremden Kulturen meist gar nicht vorhanden bzw. wenn dieses vorhanden ist, ist es immer mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, da die Eigenkultur nicht mit der Fremdkultur vermischt werden will. Oder ein weiteres Beispiel: Legen Menschen, wie z.B. Asiaten ihre Kultur ab, nur weil sie in ein neues Land gezogen sind? In einigen Jahren wird sich die Kultur vielleicht zu einer transkulturellen Kultur entwickelt haben, doch noch ist es zu früh, von Transkulturalität zu sprechen. Man kann davon ausgehen, dass sich die Gesellschaften innerhalb Europas sicher ein wenig einander angepasst hat, doch vergleicht man beispielsweise Europa mit China oder einem anderen asiatischen Land, wird man schnell feststellen, dass die Länder in kultureller Hinsicht sehr weit voneinander entfernt sind. Kommen beispielsweise Chinesen oder Inder nach Europa, fällt die Integration, Anpassung oder Vermischung weitaus schwieriger, da die Kulturen von Grund auf verschieden sind. Ein/e ÖsterreicherIn findet sich in Italien sicher schneller zurecht als ein/e ChineseIn. Und genau hier liegt der Unterschied zwischen dem Konzept der Transkulturalität, der Multikulturalität und dem Konzept der Interkulturalität: Interkulturalität strebt nicht nach einer Homogenisierung der Kultur oder einer Assimilation und auch nicht nach einer Integration. Es geht vielmehr darum, die Situationen und Verhältnisse zwischen zwei Kulturen interkulturell neu zu betrachten, d.h. diverse Einstellungen und Überzeugungen zweier Kulturen aufgrund von kulturellen Differenzen gegenseitig zu verstehen und zu akzeptieren, um einen interkulturellen Austausch zu ermöglichen (vgl. Yousefi & Braun 2011:109). Ramona Pellegrino beschäftigt sich in ihrem Artikel über Transkulturalität mit Theorien, Entwicklungen und weiterer Kritik. Sie beschreibt vor allem drei Aspekte, die häufig in Verbindung mit Transkulturalität kritisiert werden. Der erste Punkt beschäftigt sich mit dem 15
Versuch eine neue Auffassung von Kultur zu finden. Doch am Ende wird man trotzdem auf den traditionellen Begriff von Kultur zurückgeführt. Dieses Problem sieht auch Welsch und bezeichnet diesen Aspekt als widersprüchlich, da Transkulturalität für die Inexistenz von Einzelkulturen steht, dennoch greift der Begriff wieder auf das ‚alte‘ Kulturkonzept zurück (vgl. Pellegrino 2018:47). Kulturen sollten nach Welsch neu verfasst werden, indem auf die ständige Veränderung und Entwicklung – dem heutigen Verständnis von Kultur – eingegangen wird (vgl. ebd.:48). Der zweite Punkt beschäftigt sich mit der oft nicht angemessenen Verwendung des Begriffs in verschiedenen Bereichen. Ram Adhar Mall, Philosoph, weist darauf hin, dass der Begriff für den Bereich der Naturwissenschaften sehr passend scheint, jedoch in Gesellschafts- und Geisteswissenschaftsbereich wären Begriffe wie interkulturell aufgrund von grundlegenden wichtigen Grundkenntnissen zutreffender, da sie zum Verständnis beitragen. Natürlich ist es etwas unpassend, einen Bereich als nur transkulturell oder interkulturell zu bezeichnen, doch Konzepte der Interkulturalität und Multikulturalität bestehen noch immer und sind sehr aktuell. Der dritte Punkt kritisiert häufig die Aufhebung von Ungleichmäßigkeit, kulturellen Hierarchien und Machtverteilungen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Dies bedingt nicht sofort deren Verschwinden, sondern diese müssen einen anderen Zugang finden (ebd.). Im Zusammenhang mit dieser Masterarbeit ist es daher passender, von Interkulturalität zu sprechen als von Transkulturalität, vor allem im geisteswissenschaftlichen und somit auch dem literaturwissenschaftlichen Bereich. In den relativ aktuellen Romanen wird die Zunahme der multikulturellen Gesellschaft und deren Bereitschaft zum Austausch behandelt, jedoch kann dabei von Vermischung, Vernetzung und der Entstehung einer neuen Kultur bzw. Transkulturalität noch nicht die Rede sein. Betrachtet man aber die mehrsprachigen AutorInnen selbst, die alle in ihrer Zweitsprache Italienisch schreiben und oftmals zwei Kulturen bzw. Identitäten in sich tragen, ist es sicher angemessen, von transkulturellen Individuen zu sprechen (vgl. ebd.:54). 2.3 Multikulturalität Multikulturalität bezieht sich auf die sozialen Strukturen einer Organisation oder Gesellschaft. Im Sinne der Multikulturalität wird davon ausgegangen, dass verschiedene Nationalitäten und Identitäten in derselben Gesellschaft koexistieren, eine Verschmelzung bzw. Vermischung der diversen Kulturen aber ausbleibt (vgl. Kazancigil 1999:22). 16
Weltweit gibt es nur 10% aller Länder, die man als homogen bezeichnen kann (vgl. Kazancigil 1999:21). Diese Zahl ist beträchtlich – höchstwahrscheinlich heute noch kleiner – und beweist die sich immer mehr verändernde Gesellschaft zu einer multikulturellen, interkulturellen oder sogar transkulturellen Kultur. Aufgrund von Flüchtlingswellen und Migrationen der letzten Jahrhunderte kann man, nicht nur innerhalb Europas, von einer multikulturellen europäischen Identität bzw. Kultur sprechen (ebd.:22). Auf den ersten Blick wirkt das Konzept der Multikulturalität relativ plausibel und gut anwendbar, da es sich mit unterschiedlichen Kulturen innerhalb einer Gesellschaft beschäftigt und somit versucht, die alte Kulturauffassung zu umgehen, doch nach Welsch steht es trotz alledem noch mit dem traditionellen Kulturbegriff in Verbindung (vgl. Welsch 1997:69). Multikulturalität betrachtet die Vielfalt unterschiedlicher Kulturen trotz des Zusammenlebens in ein und derselben Gesellschaft als homogene Konstrukte und verfolgt somit das alte bzw. traditionelle Kulturverständnis. Welsch sieht genau darin die Kritik und das Problem am Konzept (ebd.). Durch Anwendung des Konzeptes kann zwar Akzeptanz und Toleranz entstehen, doch kommt es aufgrund der Grenzen niemals zu einer Verflechtung und einem Austausch der unterschiedlichen Kulturen und Lebensformen (ebd.:70). Genau diese Grenzen sind nach Welsch (ebd.) die Grundlage dieses Kulturkonzepts. Leider können dadurch auch einige Probleme entstehen. Nicht selten kommt es vor, dass sich die unterschiedlichen Gruppen, aufgrund des homogenen Daseins ignorieren, voneinander abgrenzen und sogar bekämpfen. Am Beispiel der USA, wo die Gettoisierung gang und gäbe ist, sieht man dies deutlich. Das Multikulturalitätskonzept ist zwar auf den ersten Blick eine tolle Möglichkeit, unterschiedliche Gruppen und Kulturen innerhalb einer Gesellschaft zu beschreiben, doch leider ist diese Ansichtsweise heutzutage keinesfalls mehr aktuell und sollte überdacht werden. Vielmehr kann man die heutige Kultur als interkulturell oder transkulturell beschreiben, denn die Kulturen sind schon lange keine homogenen, kugelhaften Gebilde mehr, sondern haben sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend vermischt und ausgetauscht (ebd.). 3. Was versteht man unter Migrationsliteratur? Immigration ist eines der sozialen Phänomene mit den größten Auswirkungen für Italien in den letzten Jahrzehnten. Im Jahr 2019 beträgt die Anzahl der in Italien regulär lebenden AusländerInnen nach Istat 5,25 Millionen und somit ca. 8,7% der Gesamtbevölkerung (Istat 17
2019). Betrachtet man die Ausführungen von Enaudi Luca im Jahr 2007 (er bezieht sich auf die Statistik von Istat aus dem Jahr 2005), hat sich der Anteil der Ausländer um ca. 2,5 Millionen Menschen erhöht. Immigration stellt in Italien ein eher neues Phänomen dar, da es meist aufgrund von sozialen Problemen und Arbeitslosigkeit als Auswanderungsland und nicht als Einwanderungsland gesehen wurde. Der immer höher werdende Anteil der AusländerInnen in Italien ist nicht das Ergebnis einer plötzlichen und unvorhersehbaren Veränderung, sondern einer über die Jahre entstandenen Entwicklung der heutigen Zeit. Der Beginn der Immigration in Italien und somit auch der Migrationsliteratur kann ab Mitte der 90er Jahre angesetzt werden (vgl. Enaudi 2007:V). Italien wird im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern relativ spät zum Einwanderungsland und deshalb ist der Beginn der italophonen Migrationsliteratur im Vergleich mit anderen europäischen Ländern auch später anzusiedeln, ist aber deshalb nicht weniger bedeutsam für die italienische Kultur. Gründe für den Anstieg von ZuwandrerInnen ist erstens das starke wirtschaftliche Wachstum in Italien zwischen 1950 und 1980, wodurch die Nachfrage nach immigrierten ArbeiterInnen steigt, welche zwar im Vergleich zu deren Herkunftsländern mehr verdienen, jedoch liegt der Lohn weit unter den italienischen Standards (vgl. Enaudi 2007:51). Es kann eine steigende Tendenz von Auswanderungen aus Entwicklungsländern in den 90er Jahren festgestellt werden. Meist sind die Menschen auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach der Entkolonialisierung (ebd.). Vor allem afrikanische MigrantInnen erreichen Italien über das Mittelmeer häufig infolge von wirtschaftlichen und politischen Problemen in ihren Heimatländern. Durch die Einwanderungen ist eine Literatur entstanden, die sich besonders in den Anfangsjahren mit illegaler Einwanderung, kultureller und religiöser Alterität beschäftigt (vgl. Von Kulessa 2013:58). Im Analyseteil, beispielsweise im Werk Io, venditore di elefanti von Pap Khouma, werden diese Gründe und der schwierige Weg des Protagonisten beleuchtet. Er war einer der ersten immigrierten Schriftsteller und veröffentlichte zusammen mit dem Co-Autoren Oreste Pivetta seinen ersten Roman Io, venditore di elefanti im Jahr 1990. Anfänglich war die italienische Migrationsliteratur eher in männlicher Hand und stark autobiographisch geprägt. Da der Fokus in diesem Abschnitt nicht auf der Entwicklung des Begriffs liegt, soll hier nur kurz darauf eingegangen werden. Armando Gnisci (2003:8) war der erste italienische Forscher, welcher sich mit italienischsprachiger Literatur beschäftigte und der das Konzept der letteratura della migrazione prägte: „Tale poetica porta a riconoscere come ‘letteratura della migrazione‘ quella prodotta da autori che scrivono in una lingua (nazionale) diversa da quella della fonte della propria provenienza […]“. Raffaele Taddeo hingegen hat den Begriff letteratura nascente gewählt und unterscheidet zwischen Texten der frühen 90er, 18
welche in Zusammenarbeit mit einem Co-Autoren geschrieben wurden, und Texte ab Mitte der 90er, welche sich sichtlich weiterentwickelt hatten und in sprachlicher Hinsicht schon völlig autonom waren. In den letzten Jahren hat sich der Begriff zu letteratura italofona weiterentwickelt und basiert auf dem linguistischen Aspekt fern von Beurteilungen (vgl. Von Kulessa 2013:59). Darüber hinaus kommen in der italienischen Literatur auch noch Begriffe wie letteratura di testimonianza und letterature impegnata zum Vorschein (vgl. ebd.:61), welche aber hier nicht weiter ausgeführt werden. Der Begriff letteratura della migrazione bzw. Migrationsliteratur wird in dieser Arbeit bevorzugt, da er die Thematik der Migration, dessen Wichtigkeit und den Einfluss auf unsere Gesellschaft besser hervorhebt und sowohl die Anfänge des Genres als auch die Gegenwartsliteratur impliziert. Literatur nimmt vor allem in Verbindung mit Migration und ‚Fremd-Sein‘ eine relevante Rolle ein. Sie gibt uns als LeserInnen die Möglichkeit, sich mit dem ‚Fremden‘ auseinanderzusetzen und eventuell auch andere Sichtweisen zu verstehen. Sie lässt uns über unsere Beziehungen, unsere Bildung und unsere Erziehung auf eine ganz besondere Art und Weise reflektieren. Es handelt sich also bei Migrationsliteratur nicht nur um reine Literatur, vielmehr wird sie zu einem eigenständigen literarischen Bereich und vermittelt dem/der LeserIn einen bedeutenden sozialen Wert. Tatsächlich handelt es sich um migrationsliterarische Werke, die die Fähigkeit besitzen, einen neuen Weg bzw. eine neue Richtung einer wechselseitige – und nicht einseitigen – Begegnung zwischen EinwanderInnen und Einheimischen zu produzieren (vgl. Camilotti 2010a:12). Aber wer sind nun diese „nuovi volti“, wie Camilotti (ebd.) sie nennt, der zeitgenössischen italienischen Migrationsliteratur? Die Protagonisten sind Männer und Frauen, die in ihren Herkunftsländern nicht zwingenderweise SchriftstellerInnen waren, welche aber, als sie nach Italien immigriert sind, mit dem Schreiben von Prosa und Poesie begonnen haben. Zu den Anfängen der Migrationsliteratur, d.h. am Beginn der 90er Jahre, handelte es sich meist um autobiografische Texte, die häufig mit Hilfe italienischer SchriftstellerInnen oder JournalistInnen geschrieben wurden (ebd.). Das literarische Phänomen war anfangs auf das Thema der Migration beschränkt bzw. der schwierige Weg nach Italien wurde beschrieben, jedoch mit einer Besonderheit: Die zugewanderten Personen entschieden sich dafür, ihre Lebensgeschichte und Erlebnisse nicht in ihrer Muttersprache zu verfassen, sondern wählten sofort die italienische Sprache, also eine Sprache, die für die meisten dieser SchriftstellerInnen neu war und von Grund auf erlernt werden musste. Das Benutzen der italienischen Sprache gilt als ein Charakteristikum der italienischen Migrationsliteratur, da, verglichen mit anderen europäischen Staaten, wie 19
beispielsweise Deutschland, die neuen SchriftstellerInnen erst nach zwei Generationen das Deutsche als Literatursprache wählten (vgl. Camilotti 2010a:13). Nach Camilotti wurde die frühzeitige Verwendung der italienischen Sprache durch das Mitwirken von italienischen Co- AutorInnen begünstigt, welche aber einerseits aufgrund der sprachlichen Autonomie der nichtitalienischen AutorInnen und andererseits aufgrund der Gefahr des Positionsmissbrauchs der italienischen AutorInnen immer mehr verschwanden. Klar ist jedoch, dass sich die Präsenz von Co-AutorInnen positiv bei der Suche nach einem geeigneten Verlagshaus auswirkte. Die Co-AutorInnen hatten aber nicht nur die Aufgabe der SchriftstellerInnen, sondern mussten auch andere Aktivitäten ausüben, wie beispielsweise BetreuerIn, OrganisatorIn, ÜbersetzerIn oder sie halfen bei der Verbreitung des Romans (vgl. Amodeo 2013:28). Die neue ‚Gattung‘ wird immer aktiver und nimmt so an Bedeutung zu, trotzdem blieben die meisten AutorInnen unbekannt, weil viele Texte von kleinen unbekannten Verlagen gedruckt wurden und die Möglichkeit für Druck und Ausbreitung eher gering war. Aufgrund der Unbekanntheit wurden sie zudem oft nur an Straßenecken verkauft und waren für die italienische Literatur eher unbedeutend (vgl. Amodeo 2013:31). Heute hat sich die Situation geändert und auch größere Verlage beschäftigen sich mit Migrationsliteratur. Enaudi beispielsweise hat mehrere Werke von Amara Lakhous und Laila Wadia veröffentlicht. Eine genaue Bezeichnung oder Klassifikation der AutorInnen ist nicht möglich, dies kann auf die Verschiedenartigkeit der Hintergründe der AutorInnen zurückgeführt werden (vgl. Comberiati 2010:257). Oft bezeichnet man MigrationsautorInnen auch als SchrifstellerInnen della seconda generazione. Das Konzept der zweiten Generation ist in der Soziologie nicht leicht zu identifizieren, zumal es Probleme in der Literatur gibt. Einige stammen aus ausländischen oder gemischten Familien, sind aber in Italien geboren, andere wiederum sind nach Italien gekommen, noch bevor sie das Schulalter erreichten, oder jene, die die ersten Schuljahre sowohl in Italien als auch im Herkunftsland absolviert haben. Dann gibt es wiederum welche, die ihr Studium im Herkunftsland und in ihrer Muttersprache absolviert haben und erst nachher nach Italien gekommen sind (ebd.). Man kann also sagen, dass es verschiedene Zugänge bzw. Beziehungen zum Ankunftsland gibt und kaum eine Geschichte der anderen gleicht. Dass das Genre der Migrationsliteratur nicht einem bestimmten Schema oder einer bestimmten Erzählform folgt, zeigen die unterschiedlichen Erzählformen der Romane. Einerseits gibt es zwar zahlreiche Romane, die keine spezielle Form aufweisen, doch andererseits kann man auch viele unterschiedliche Erzählweisen erkennen. Beispielsweise gibt es Texte, die durch eine nicht lineare Erzählform, eine polyphone Teststruktur, unterschiedliche Textarten oder den Verweis auf verschiedene geografische Räume gekennzeichnet sind (vgl. 20
Amodeo 2013:28). Auch in den analysierten Romanen können diverse Erzählformen festgestellt werden, wie beispielsweise in den Romanen von Amara Lakhous und Igiaba Scego, dessen Texte sich durch eine polyphone Erzählform auszeichnen, oder aber auch Laila Wadia, die einerseits eine traditionelle Erzählform wählt, aber auch einen Roman in Tagebuchform veröffentlicht hat. Betrachtet man das Genre genauer, so zeigt sich, dass Migration und Fremd-Sein einerseits von großer Bedeutung, andererseits aber auch Themen ganz anderer Art sind (ebd.). Natürlich haben sich die Themen auch im Laufe der Zeit verändert. So stand die Migrationsthematik zu den Anfängen der Migrationsliteratur im Vordergrund, während sich das Genre heute mit Themen wie Integration, Beziehung zur Kultur (Eigen- und Fremdkultur), Stereotype, Vorurteile, Probleme oder Rassismus beschäftigt. Der Wert der Herkunftskultur oder die Beziehung zur Eigenkultur können sehr unterschiedlich behandelt werden. Die Herkunftskultur wird oft idealisiert, problematisiert oder ambivalent dargestellt oder thematisiert (ebd.). Bei der Migrationsliteratur wird das oben beschriebene Konzept des dritten Raumes bzw. der dritten Ordnung (siehe Kapitel 2.1) angewendet. Die Werke der AutorInnen werden sehr oft dem Konzept des dritten Raumes bzw. des Zwischenraumes zugeschrieben, weil sie einen Kultur- und Sprachwechsel vollziehen, welcher es unmöglich macht, sie eindeutig der einen oder anderen Kultur zuzuschreiben, vor allem dann, wenn die Romane sowohl auf Italienisch als auch in der Sprache ihres Herkunftslandes geschrieben sind. Um den Sprachen und Kulturen der AutorInnen gerecht zu werden, wird der Begriff Hybridität bevorzugt (vgl. Pellegrino 2018:40). Man kann eine Inszenierung der ethnischen Komponente, wie in unserem Fall der Italianität, beobachten (vgl. Amodeo 2013:29). Die AutorInnen beschäftigen sich häufig mit Fragen der Identität und Zugehörigkeit. Fühle bzw. sehe ich mich als ItalienerIn? Kann ich mich eher der Eigen- oder der Fremdkultur zuordnen oder sehe ich mich als eine Mischung aus beiden Kulturen? Da sie häufig zwischen ihrer Muttersprache und – in unserem Fall – Italienisch wechseln, ist eine ständige Auseinandersetzung mit der eigenen Identität und das Nachdenken über die Bedeutung von Heimat erforderlich. Um den Konflikt zwischen der Eigen- und Fremdkultur zu vermeiden, versuchen die AutorInnen, ihre verlorene Heimat, Kultur und Sprache im ‚Dazwischen‘, d.h. im dritten Raum, zu finden. Der dritte Raum dient den SchriftstellerInnen auch als einzige Möglichkeit ihre Kreativität auszuüben (ebd.). Bei vielen AutorInnen erscheint der Herkunftsort als Ort der Nostalgie oder als Kultur, die auch nach der Migration das Leben der ProtagonistInnen prägt, weil Bräuche, Gewohnheiten oder auch die Essenskultur erhalten bleiben (vgl. Amodeo 2013:29). In einigen Fällen hat die Herkunftssprache einen dekorativen 21
Charakter (ebd.:30), wie wir später bei den Analysen noch sehen werden, indem zum Beispiel bestimmte Dinge, die es in der Fremdkultur nicht gibt, in der Herkunftssprache benannt werden, da es vielleicht einfach keine passende Übersetzung gibt oder die italienische Übersetzung der Bedeutung des Wortes nicht gerecht werden würde. Das Verwenden der Herkunftssprache zeigt uns als LeserInnen auch, dass die Eigenkultur noch immer eine wichtige Rolle im Leben der AutorInnen bzw. der ProtagonistInnen spielt (ebd). Schon hier kann man erkennen, dass die Auswahl der Sprache bzw. die Sprachbenutzung einen relevanten Teil der Migrationsliteratur ausmacht. Es soll hier aber nicht nur um die Suche nach Besonderheiten in der Migrationsliteratur gehen, sondern es sollen insbesondere auch Gründe dargelegt werden, warum die AutorInnen schreiben und was sie damit bewirken wollen. 3.1 Warum und für wen schreiben die AutorInnen? Die AutorInnen von Migrationsliteratur richten sich mit ihren Geschichten, Romanen und Texten ohne Zweifel an die Gesellschaft, in der die AutorInnen selbst leben. Sie zeigen, wie sich die Gesellschaft verändert und geben den LeserInnen die Möglichkeit, die Welt durch die Augen Anderer zu sehen, zu reflektieren und schließlich besser verstehen zu können, indem sie eine neue Perspektive annehmen und Sensibilität schaffen. Die Literatur soll dabei helfen, den Menschen die Angst vor unvermeidbaren gesellschaftlichen Veränderungen zu nehmen (vgl. Camilotti 2010a:14). Außerdem dient das Schreiben dazu, die ungetrübte Realität von EinwanderInnen in Italien darzustellen und den Menschen somit die Möglichkeit eines besseren Verständnissen für das ‚Fremde‘ zu geben. Natürlich wirkt sich die Gattung nach Camilotti (ebd.) auch positiv auf das Verschriftlichen anderer schwieriger gesellschaftlicher, aber aktueller Themen aus, da sich das Verständnis der Menschen öffnet und somit Akzeptanz ermöglicht wird. Nach Laila Wadia sind die AutorInnen der Migrationsliteratur besonders wichtig für den Dialog zwischen den Kulturen. Dank ihnen kann eine Sensibilisierung in der Fremdkultur stattfinden (vgl. Camilotti 2010b:37). Es handelt sich also um den Austausch zwischen verschiedenen unterschiedlichen Menschen, in dem die italienische Gesellschaft durch ‚fremde‘ Augen gesehen und auch beschrieben wird – eine neuartige Umkehr von Sichtweisen wird ermöglicht. Die Reflexionen, Gedanken, Ängste und Überlegungen der ProtagonistInnen in den Texten der 22
Migrationsliteratur, die meist metaphorischer Natur sind, veranlassen die LeserIn dazu, ihren stabilen Standpunkt, welcher sich nun zu ändern scheint, in Frage zu stellen (ebd.). Es handelt sich dabei um das ‚Fremde‘, welches stets im Mittelpunkt steht und somit als Objekt fungiert, nicht umgekehrt. Selbst in Werken, die sich nicht mit der italienischen Gesellschaft, sondern mit den Ländern der EinwanderInnen beschäftigen, werden Geschichten aus einer nicht europäischen Sichtweise erzählt. Es geht also immer darum, dass das ‚Fremde bzw. Andere‘ und dessen Geschichte, Gedanken oder Reflexionen im Vordergrund stehen. Migrationsliteratur weist in gewisser Weise auf eine Öffnung zu einem weltoffenen, kontaktfreudigen Zusammenleben hin und lehnt vor allem den Reduktionismus ab (vgl. Camilotti 2010a:14). Die Texte können auch für die in Italien eingewanderten Personen eine Hilfe sein, da sie sich verstanden fühlen und eventuell eine neue Sichtweise auf die italienische und für sie fremde Kultur bekommen. Die AutorInnen finden im Schreiben eine Möglichkeit gehört zu werden – trotz literarischer Fiktion, da sie das Wort ergreifen und eine eigene Version ihrer Geschichte erzählen können. Das Ergreifen des Wortes hat hier nach Camilotti (2010:16) einen symbolischen Wert, da den EinwanderInnen oft die Möglichkeit genommen wird, etwas zu sagen und gehört zu werden, da sie aus Ländern kommen, deren Geschichte häufig von Unterdrückung und Unterwerfung geprägt ist. Einfach gesagt: Die AutorInnen haben mit dem Schreiben von Texten und Romanen eine Möglichkeit gefunden, ihre ganz persönliche Geschichte bzw. ihre Erfahrungen mit Migration – auch wenn sie fiktiv sind – zu erzählen und weiterzugeben. Dies führt sehr oft zu einem besseren Selbstverständnis und zu Selbstakzeptanz, denn MigrantInnen stehen zahlreichen Schwierigkeiten gegenüber, wodurch es auch zu Konflikten mit der eigenen Persönlichkeit kommen kann (ebd.) Dies kann vor allem den ZuwanderInnen helfen, sich mit ihrer neuen Situation und der neuen Kultur zurecht zu finden, aber auch für die italienische Gesellschaft eine Möglichkeit sein, das ‚Fremde‘ besser zu verstehen und sich in die Lage von EinwanderInnen hineinzuversetzen und somit Empathie und Akzeptanz zu erzeugen. Sich mit einer Erzählung zu identifizieren, um sie sich zu eigen zu machen, bedeutet, Prozesse, Lebensweisen und Geschichten zu verstehen und in Erfahrung bringen, was Romane – und in diesem Fall Migrationsromane – meist in effektiver und veranschaulichender Weise schaffen (ebd.). Die Romane, die im zweiten Teil analysiert werden, heben diese Elemente besonders hervor und machen die Literatur zu einem Instrument von tiefem Bewusstsein sowie zu einer Gelegenheit für LeserInnen, Geschichte und fremde Länder aus einer anderen Perspektive zu betrachten. 23
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