Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter

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Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
28. Jahrgang Nr. 209 April 2020

       AU s S E N S E I T E R
   D R                  D A S K Ö L N E R STR A S S E N M A G A Z   IN

                                                                              Foto: Ingo Pertramer
                                  Kein Stillstand

            GREGOR                      VRINGS-                     THEES
            GOG                         TREFF                       UHLMANN
Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
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Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
INHALT

                       Vorwort                                                           Inhalt
                       Liebe Leserinnen und Leser,                                       Schwerpunkt: Vagabunden

                                                                                                                          4          Interview – Thees
                       mehr als fünf Jahre ist es her, dass der Sänger Thees Uhlmann
                       seine Sing-Stimme erhob. Jetzt ist sein gefeiertes Album „Jun-                                                Uhlmann über die
                       kies und Scientologen“ erschienen, mit dem er gerade durch
                                                                                                                                     Schwere seines
                       Europa tourt und – by the way – auch die Toten Hosen auf
                                                                                                                                     neuen Albums
                       ihrer Tour begleitet. Der ehemalige Tomte-Sänger ist nur noch
                       unterwegs, dafür genießt er den „späten Ruhm“ sehr.
                                                                                                                                     und die Leichtig-
                       Doch: „So hoch war der Preis noch nie“, verrät der Künstler,
                                                                                                                                     keit des Seins
                       der inzwischen auch Vater einer Tochter ist, in Berlin lebt und
                       doch in ganz Europa zu Hause ist.                                 Foto: Ingo Pertramer

                                                             Fahrende Leute, Vaga-
Foto: Anemone Träger

                                                             bunden, Berber – was
                                                             sind das für Leute, die
                                                             sich – manchmal sogar
                                                                                                                                                 8
                                                                                                                    „Was ich geschrieben
                                                             ganz bewusst – für ein
                                                                                                                      habe, gehört dir.“
                                                             Leben „on the road“ ent-
                                                                                                                 Gregor Gog in Majdanek
                                                             scheiden? Gregor Gog                                                                             Illustration: Bea Davies
                                                             beispielsweise      galt
                                                             schon in der Weimarer       Vorwort       ................................................................... 3
                       Christina Bacher traf Thees Uhlmann
                       vor einer Lesung in Köln              Republik als „König der     Interview: Thees Uhlmann ........................................ 4-7
                                                             Vagabunden“, Anar-
                                                                                         Gregor Gog: „König der Vagabunden“                     ........................ 8-11
                       chist, Bürgerschreck. Gleichzeitig war er Chefredakteur des
                       Vorläufers aller Straßenzeitungen und Organisator des „Ers-       Vagabundenkongress 2020 .......................................... 12
                       ten Internationalen Vagabundenkongresses“.                        Spuren der Armut             ................................................. 14-15
                       Ein Comic zeichnet nun seine politische Biografie und damit
                                                                                         20 Jahre Malgruppe im Vringstreff ................................. 16
                       einen fast vergessenen Teil deutscher Sozial- und Bewegungs-
                       geschichte nach. Wir haben darin geblättert.                      Gutes Projekt          ...........................................................    17
                                                                                         Cartoon | Kolumne             .................................................... 18
                       „Nur kein Stillstand“ lautet unsere Devise im April!
                                                                                         Lothars Marsch           ........................................................     19
                       Ein Hoch auf die Vagabunden!
                                                                                         Aus den Einrichtungen .......................................... 20-21
                       Ihre                                                              In eigener Sache ....................................................... 22
                                                                                         Buchtipps ............................................................... 23

                       Christina Bacher
                                                                                         Abo | Impressum ...................................................... 24
                                                                                         Kulturtipp        ..............................................................     25
                                                                                         Vorschau       ................................................................      25
                                                                                         Service: Adressen           .................................................   26-27

                                                                                         Öffnungszeiten: OASE e.V. Kontakt- und Beratungsstelle
                                                                                         Montag und Freitag: 9.00 – 13.00 Uhr
                                                                                         Dienstag und Donnerstag: 9.00 – 16.00 Uhr
                                                                                         Mittwoch: nach Terminvereinbarung

                                                                                                                                                                                         3
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VAGABUNDEN

                              „Ich wollte nie die
                                  Welt verändern“
                               Mehr als fünf Jahre ist es her, dass der Sänger
                               Thees Uhlmann seine Sing-Stimme erhob. Jetzt ist
                               sein gefeiertes Album „Junkies und Scientologen“
                               (Grand Hotel van Cleef) erschienen, mit dem er gera-
                               de durch Europa tourt und – by the way – auch die
                               Toten Hosen auf ihrer Tour begleitet. Der ehema-
                               lige Tomte-Sänger hat in der Zwischenzeit
                               einen erfolgreichen Roman geschrie-
                               ben, die Autobiografie von Bruce
                               Springsteen eingesprochen, ein
                               komplettes Album geschrieben
                               und wieder in die Tonne
                               gekloppt. „So hoch war der Preis
                               noch nie“, verrät der Künstler
                               im Gespräch mit Christina Bacher
                               und redet ganz offen über spä-
                               ten Ruhm, Brüche im Leben und
                               die neue Gelassenheit,die – mit
                               Verlaub – unglaublich gut zu
                               seiner neuen Frisur passt.

                               VON CHRISTINA BACHER
       Foto: Ingo Pertramer

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Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
VAGABUNDEN

D
        RAUSSENSEITER: Herzlichen Glück-         te mir da vor-werfen, dass ich mich mit       Nest im Landkreis Cuxhaven. Und dann
        wunsch zum Erfolg deines neuen           solchen Songs neu erfunden habe. Oder         hatte ich eben – im Nachhinein betrachtet
        Albums „Junkies und Scientologen“,       dass ich zu offen bin in meiner Kunst, mich   – gut 25 Jahre lang Zeit zu üben. Und das
mit dem du dieses Jahr auf großen Festivals      in meinen Texten plötzlich auch an die        war enorm wichtig. Jeder 27-Jährige will
tourst, nachdem du die Plattencharts im          dunklen Plätze des Lebens traue. Das          doch heute sofort die große Karriere
Sturm erobert hast. Man könnte meinen,           kannte man so vielleicht nicht von mir.       machen. Auch, wenn ich das nachvollzie-
dass sich die fünfjährige künstlerische Schaf-   Aber mal ganz ehrlich: Ich lehne es ab,       hen kann, bin ich froh, dass es bei mir –
fenspause gelohnt hat. Dabei warst du ja         dass Künstler normal und berechenbar          übrigens ähnlich wie bei Marcus Wie-
gar nicht untätig in der Zwischenzeit. Man       sein müssen. Meine erste Aufgabe als          busch und Sven Regener – aus irgendei-
hört, du hast weiterhin wie der Teufel Lieder    Künstler ist es doch nicht, erfolgreich zu    nem Grund anders gelaufen ist: Es ist
geschrieben und sie dann tatsächlich alle        sein, sondern da hinzugehen, wo sich zwi-     wirklich wunderschön, dass ich mit 46 so
wieder in die Tonne gekloppt. Stimmt das?        schenmenschliche Phänomene abspielen.         berühmt bin wie noch nie. Heute sind
Thees Uhlmann: Ja, so war das tatsächlich.       Meinetwegen auch menschliche Tragödi-         Rockbands ja oft zwischen 25 und 35 Jah-
Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich            en. Den Blick dafür zu schärfen und sich      re alt, powern sich aus, lösen sich auf, weil
keine Verbindung mehr zu den Songs hat-          dabei selbst auch mal zurücknehmen zu         irgendjemand keinen Bock mehr hat und
te, die ich geschrieben habe. Vielleicht         können, das ist eine Art von Gelassenheit,    wenige Jahre später ist von dem ganzen
hätte ich da mehr auf mich hören sollen          die ich erst an mir entdecken musste.         Ruhm und Geld nichts mehr übrig. Da ist
und nach dem Schreiben meines Buches                                                           es doch viel lustiger, wenn das umgekehrt
„Sophia, der Tod und ich“ mal eine Pause         DRAUSSENSEITER: Du stammst aus dem            passiert: Denn das ist normalerweise im
machen sollen. Aber irgendwie dachte ich,        kleinen Ort Hemmoor in Niedersachsen und      Rock’n’Roll gar nicht vorgesehen. Wenn
es muss sofort weitergehen. Es gibt offen-       hast bereits zu Schulzeiten angefangen,       bei anderen die Karrieren schon vorbei
bar ein künstlerisches Grundgefühl, das          Musik zu machen. Unter anderem wegen          sind, lege ich los. Und das genieße ich gera-
man nicht ignorieren sollte. Auch thema-         deiner Band Tomte, die du 1994 gegründet      de sehr. Und: Ich glaube, dass mein Gehirn
tisch habe ich mich zu der Zeit als Mensch       hast, hast du schließlich dein Lehramtsstu-   inzwischen so gefestigt ist, dass ich den
in eine ganz neue Richtung entwickelt.           dium aufgegeben, um weiterhin nur noch        Rummel ganz gut aushalten kann.
Während ich in meinen Songs immer noch           Musik zu machen. Was bedeutet dir das,        Ein großer Vorteil, wenn man ein so unste-
die ganz großen Themen angepackt habe,           dass du jetzt – mit 46 Jahren – sowohl als    tes Künstlerleben führt und heute mal
habe ich mich in Wirklichkeit eher für die       Buchautor als auch als Solokünstler eine      hier ist und morgen dort.
kleinen, greifbaren Dinge des Lebens inte-       größere Wertschätzung bekommst als je
ressiert. Je älter ich werde, desto mehr         zuvor?                                        DRAUSSENSEITER: Aber je berühmter man
möchte ich mich offenbar an Dingen abar-         Thees Uhlmann: Eigentlich habe ich mit        ist, desto mehr hat man vielleicht auch eine
beiten, die ganz konkret sind. Mal ganz          Musik machen angefangen, weil mir ein-        Vorbildfunktion als Künstler. Viele Bands,
davon abgesehen, dass ich mich seit fünf         fach unfassbar langweilig war in meinem       wie beispielsweise die von dir sehr geschätz-
Jahren nicht mehr verliebt habe. Warum
sollte ich also darüber singen? Momentan
sind mir beispielsweise meine Freunde                     Sie ist die Frau, die ich nach HipHop-Videodrehs nach Hause fahre
vielleicht wichtiger, überlege ich dann.                  Und sie fragt mich müde: „Warum hast du keine Tattoos?“
                                                          Die umgedrehte Kamera des Handys als Schminkspiegel
                                                          „Warum bist du nicht tätowiert?“
DRAUSSENSEITER: Deshalb also dann zum
                                                          Ich sag: „Ich bin so hart geworden in all der Zeit
Beispiel ein Lied über einen Mann, der Frau-
                                                          In meinem Herzen ist seit Jahren nichts mehr passiert
en nach Hiphop-Videodrehs nach Hause                      Die Farbe ist einfach an meiner Haut abgeplatzt
fährt? Ist der neue Thees Uhlmann ein Fla-                Deswegen bin ich nicht tätowiert“
neur und Beobachter von Alltagsszenen?                    Sie sagt: „Es ist gut wie du schweigst, es ist gut wie du fährst
Thees Uhlmann: Vielleicht. Nimm den                       Du siehst aus, als ob du lieber alleine wärst“
Song „Junkies und Scientologen“, nach                     Ich hab‘ die Antwort vergessen, weil mich selten jemand fragt
dem ja auch das neue Album benannt ist.                   Aber ich fahr‘ uns jetzt nochmal eine Runde um die Stadt
Darin geht es ja wirklich von der größten                 Das ist das, was wir tun
Ordnungseinheit Gott bzw. Kirche bis hin                  Müde und benommen
zur kleinsten Mikroeinheit – Freund-                      Das ist das, was wir tun
                                                          Um über die Runden zu kommen
schaft. Ich zähle darin Namen von Freun-
den auf, die keiner kennt. Gut, man könn-                 Aus: „Ich bin der Fahrer, der die Frauen nach HipHop-Videodrehs nach Hause fährt“

                                                                                                                                               5
Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
VAGABUNDEN

                                 Christina Bacher traf
                           Thees Ullmann vor seiner
                               Lesung aus dem Buch
                          „Die toten Hosen“, das im
                             Kiepenheuer & Witsch-
                               Verlag erschienen ist.

    ten Toten Hosen, nutzen ihre Konzerte, um
    politische Statements zu verbreiten und vor
    ihren Fans Haltung zu zeigen. Wie ist da
    dein Anspruch?
    Thees Uhlmann: Natürlich bin auch ich

                                                          Foto: Anemone Träger
    ein politischer Mensch und habe eine eige-
    ne Meinung. Aber – und das habe ich
    schon häufiger gesagt – ich sehe mich
    nicht in dieser Tradition von Bands, bei
    denen die politische Agitation total in der
    DNA verankert ist und auch zur Bühnen-
    präsenz gehört. Ich würde es fast als Frevel         müssen und lange über das Angebot nach-        spricht. Bis heute sind wir befreundet – das
    gegenüber den Toten Hosen oder Bands                 gedacht. Diese Band hat mich, wie keine        alles verdanke ich meiner Kölner Zeit.
    wie Feine Sahne Fischfilet empfinden, die            andere, mehr als 30 Jahre meines Lebens
    sich da seit Jahren an der politischen Front         begleitet und mich musikalisch sehr            DRAUSSENSEITER: Du hast ja nach deinem
    engagieren, wenn ich ab und zu mal von               geprägt. Mein allererstes Konzert war ein      abgebrochenen Studium zunächst in der
    der Bühne herunter ein schlaues Statem-              Hosen-Konzert! Und plötzlich hat es mich       Altenpflege gearbeitet und dich dann als
    ent loslassen würde. Das käme mir vor wie            selbst interessiert, mein Leben zu erzählen    Künstler durchgeschlagen. Dabei hast du
    so ein PR-Gag, eine miese Marketing-                 und die Toten Hosen dabei in den Fokus         nicht nur rosige Zeiten erlebt und – so habe
    Aktion. Und ich bin mir ziemlich sicher,             zu nehmen. Das Ganze ist mir fast ein          ich jedenfalls gelesen – sogar mal Besuch
    dass ich damit sowieso rein gar nichts               bisschen peinlich, weil es sich wie der        von einem Gerichtsvollzieher gehabt. Hast
    bewirken würde. Mein Weg ist da ein                  bekannte amerikanische Traum anfühlt.          du deshalb vielleicht auch eine Vorstellung
    anderer. Ich versuche, meine Kunst so gut            Der Deal, auf den ich mich einlassen konn-     davon, wie es sich anfühlt, wenn sich die
    zu machen, wie es irgendwie geht. Ich                te, lautete: Ich schreibe das Buch, die Band   Abwärtsschraube zu drehen beginnt und
    möchte die Menschen einladen, daran                  liest das Manuskript und kann es komplett      man beispielsweise obdachlos wird, wie vie-
    teilzuhaben. Und wenn sie verstehen, dass            ablehnen – dann erscheint es auch nicht.       le unserer Straßenzeitungsverkäufer?
    sie auf meinen Konzerten die besseren                Das haben sie aber nicht getan. Und letz-      Thees Uhlmann: Ja und nein. Grundsätz-
    Geschichten, die schöneren Gedichte und              tens nach einer Lesung aus dem Buch            lich hat Geld in meinem Leben nie eine
    die interessanteren Menschen kennenler-              haben sie mich tatsächlich gefragt, ob ich     große Rolle gespielt, ich kann damit ein-
    nen als beispielsweise bei AfD-Kundge-               sie auf der „Ohne Strom“-Tour begleiten        fach nichts anfangen. Ich weiß, dass ich als
    bungen, dann habe ich mein Ziel erreicht.            möchte. Ich werde sie also im August auf       Altenpfleger damals 100 D-Mark schwarz
    Ich glaube nämlich fest daran, dass viele            der Waldbühne in Berlin und auf der            verdient habe. Dann hört es auch schon
    Menschen, die rechtsradikale Parteien                Loreley Freilichtbühne wiedersehen.            auf mit der Einschätzung, was jemals so
    wählen, kein politisches, sondern ein psy-                                                          reingekommen und rausgegangen ist. Ich
    chisches Problem mit sich herumtragen.               DRAUSSENSEITER: Du hast ja eine Zeit lang      hatte nie teure Hobbys. Ich besitze kein
    Denen geht es nicht gut. Man sollte ihnen            in Köln gelebt und hier studiert. Wie erin-    Auto. So bin ich immer irgendwie über die
    bunte, farbenfrohe Alternativen bieten.              nerst du dich an diese Zeit vor 20 Jahren?     Runden gekommen. Dafür hatte ich
                                                         Thees Uhlmann: Ich habe zwei Jahre in          immer schon Probleme damit, meine Brie-
    DRAUSSENSEITER: Dennoch hast du – par-               Köln gelebt. Im Nachhinein kommt mir           fe zu öffnen. Ich weiß also, was passiert,
    allel zum neuen Album – gerade ein neues             diese Zeit so unglaublich reich und voll       wenn du die Post einfach ungeöffnet lie-
    Buch vorgestellt, das quasi eine Hommage             vor, als wären es fünf Jahre gewesen. Allei-   gen lässt. Dann kommt tatsächlich irgend-
    an die Toten Hosen darstellt, deren Fan du           ne schon der unlimitierte Zugang zu Kon-       wann der Gerichtsvollzieher. Der hat sich
    bereits als Junge warst und in deren Vorpro-         zerten, den ich aus der Provinz ja nicht       übrigens ziemlich gewundert, dass ich die
    gramm du in diesem Sommer auftreten                  kannte. Ich lernte plötzlich Leute kennen,     ausstehenden Rechnungen sofort begli-
    wirst. Was für ein Ritterschlag! Wie kam es          die mir ähnlich waren oder die mich inte-      chen habe, als er danach fragte. Und natür-
    denn dazu?                                           ressierten. Unter anderem habe ich in          lich erinnere ich mich noch gut an Zeiten,
    Thees Uhlmann: Es ist ja nicht meine Idee            dieser Zeit Linus Volkmann kennenge-           in denen ich keine Krankenversicherung
    gewesen, dieses Buch zu schreiben. Ich               lernt und ich konnte das erst gar nicht        hatte und mir mein Freund Marcus
    wäre niemals so vermessen gewesen, das               glauben, dass es einen Menschen wie ihn        Wiebusch Pizza gebacken hat, weil ich
    vorzuschlagen. Ich wurde von meinem                  gibt. Ich hatte zuvor noch nie jemanden        nichts zu essen im Haus hatte. Aber: Ich
    Verlag gefragt, habe erst einmal schlucken           getroffen, der eine so eigene Sprache          habe auch damals keine wirklich existen-

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Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
VAGABUNDEN

                                                     Wärst du nur zu mir gekommen
                                                     Hättest mich gefragt
                                                     Eine Gallenblase ist nicht wichtig
                                                     Nur der nächste Tag
                                                     Wir grüßen dich, Avicii
zielle Not empfunden, sondern – im Rück-             Mit der Faust fest erhoben
blick betrachtet – den Lebensstil eines              Spiel noch einen Song
Künstlers auch ein bisschen zelebriert.              Alles Gute kommt von oben
                                                     Du wartest auf die Liebe
                                                     Und ich auf das letzte Bier
DRAUSSENSEITER: Du bist ja heute selbst
                                                     Der Platz am Tresen neben mir bleibt heute leider leer
Vater einer 14-jährigen Tochter. Welche
                                                     Eine gute letzte Reise, zum Abschied leise winken
Werte möchtest du ihr mitgeben?                      Elektronische Musik kann man sich so selten schön trinken
Thees Uhlmann: Ich möchte ihr vor allem
das Gefühl geben, dass sie sich bei mir              Aus: „Avicii“

sicher fühlt. Und dass sie es mir immer
sagen kann, wenn es ihr nicht gut geht.
Meine Tochter hat mich schon häufiger           schon besser als vorher. Warum? Weil er       Thees Uhlmann: Ich möchte mich weiter-
gefragt, wie man auf der Straße landet und      seine Furcht vor Sanktionen überwunden        hin selbst spüren. Als Künstler ist es mir
wie man aus so einer Situation wieder           hat. Davor habe ich einen großen Respekt.     gerade nicht vergönnt, ein normales
rausfindet. Wir wohnen ja in Berlin, da         Scham und Angst entstehen ja nur durch        Leben zu führen – ich meine damit ein
gehört Armut mit zum Stadtbild. Ehrlich         die diffuse Angst vor Sanktionen. Und         bürgerliches Leben, das ja viele anstreben.
gesagt, empfinde ich die Kreuzberger            wenn man sich erstmal traut, über seine       Und dennoch mag ich mein Leben, so, wie
manchmal als sehr pseudo-liberal und            Probleme zu sprechen, ist das ein guter       es jetzt ist, sehr. Und ich möchte mir die
hippiemäßig verpeilt, im Sinne von „jeder,      erster Schritt, sich in Zukunft wieder mehr   Erkenntnis bewahren: Mal ist das Leben
so wie er will“, dass die ihre direkte Umge-    zuzutrauen.                                   gut und mal ist es schlecht. Mit diesem
bung mit all diesen Problemen noch nicht                                                      Wissen kann ich sehr gelassen in die
mal mehr wahrnehmen. Niemand scheint            DRAUSSENSEITER: Apropos Zukunft: Was          Zukunft schauen. Relativ neu ist für mich
etwas dagegen zu unternehmen, dass es           wünschst du dir? Auch und gerade, wenn        auch, dass ich dieses Streben nach Glück
immer mehr Junkies gibt. Exkremente in          der Erfolg anhält?                            komplett aufgegeben habe. Und das
den U-Bahn-Stationen, Spritzen auf dem                                                                            macht mich tatsäch-
Bahnsteig, Heroinrauchen nachmittags                                                                              lich glücklicher – so
um drei auf Parkbänken – alles egal.                                                                              absurd    es   klingt.
                                                      Danke für die Angst
Manchmal denke ich, ich habe in Berlin                                                                            Überhaupt finde ich,
                                                      Die mich noch manchmal überkommt
inzwischen mehr offene Beine gesehen als              Ist es wirklich sicher                                      dass das Leben durch
mein Großvater im Ersten Weltkrieg. Aber              Dass alles wiederkommt?                                     den drohenden Tod
scheinbar ist das allen egal. Die Stadt freut         Was ich übers Leben weiß                                    automatisch immer
sich, dass es sich auf Kreuzberg beschränkt,          Weiß ich aus „Stand by me“                                  ein bisschen sexyer
die Kreuzberger freuen sich, dass sie das             Ich hab‘ ein‘ Hund, der „Cujo“ heißt                        wird. Und das sind
als tolerant wahrnehmen.                              Und mein Auto heißt „Christine“                             doch phantastische
                                                      Wenn du schreiben kannst, dann schreibe                     Aussichten.
DRAUSSENSEITER: Im Grunde ist das ja auch             Wenn du singen kannst, dann sing
die Botschaft deines Songs über den schwe-
                                                      Und wenn du nicht mehr weiter weißt                         DRAUSSENSEITER:
                                                      Frag Stephen King
dischen Musiker Avicii, der sich mit 28 Jah-                                                                      Herzlichen Dank
ren das Leben nahm. Trotz seines großen               Aus: „Danke für die Angst“                                  fürs Gespräch.
Erfolgs und seines Reichtums hat er es nicht
geschafft, über sein psychisches Tief hinweg-
zukommen. Offenbar hatte er da nieman-
den, an den er sich wenden konnte …                                                      lll   INFO
Thees Uhlmann: Ja, darum handelt dieser
                                                                                         Thees Uhlmann - Junkies und Scientologen
Song. Selbst, wenn die Kacke am Dampfen
                                                                                         Label: Grand Hotel Van Cleef / Indigo
ist, kann man Hilfe von irgendwoher
                                                                                         Erscheinungsdatum: 20. September 2019
bekommen, davon bin ich überzeugt. Und                                                   erhältlich als CD, Vinyl, Digital Download
ganz ehrlich: Wenn mir jemand erzählt,
dass er an einer psychischen Erkrankung
leidet oder das Konto mal wieder leer ist,
finde ich diesen Menschen automatisch

                                                                                                                                            7
Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
VAGABUNDEN

                         „Wo der Bürger
                         aufhört, beginnt
                         das Paradies“
                         „König der Vagabunden“, Anarchist, Bürgerschreck, Chefredak–
                         teur des Vorläufers aller Straßenzeitungen, Organisator des
                         „Ersten Internationalen Vagabundenkongresses“ - Gregor Gog
                         ist in der Weimarer Republik so prominent wie gefürchtet.
                          Ein Comic zeichnet nun seine politische Biografie und damit
                                  einen fast vergessenen Teil deutscher Sozial- und
                                       Bewegungsgeschichte nach.

                                             VON BASTIAN PÜTTER, ILLUSTRATIONEN: BEA DAVIES,
                                             FOTOS: BERTHOLD LEIBINGER STIFTUNG,
                                            FRITZ-HÜSER-INSTITUT

                                        E
                                             s ist die Zeit   tischen Biografie. „Gog ist spätestens wäh-
                                             der gesell-      rend des Ersten Weltkrieges mit anarchis-
                                             schaftlichen     tisch gesinnten Matrosen zusammenge-
                                   Transformationen,          kommen und hat dort einen illegal
                               der Revolutionen und der       organisierten Lesezirkel besucht“, sagt
                              Menschheitskatastrophen         Patrick Spät, Autor des soeben im
                            in Europa, in die Gregor Gogs     Avant-Verlag erschienenen Comics „König
                         Lebensspanne fällt. 1891 in          der Vagabunden“. „Ab da war er, um es
                     Schwerin an der Warthe (heutiges         kurz zu machen, Anarchist.“
                  Skwierzyna in West-Polen) geboren und         Mehrmals steht Gog wegen Anstiftung
                 in einfachen Verhältnissen aufgewachsen,     zur Meuterei und der Verbreitung antimi-
                 ist Gogs Biografie selbst geprägt von        litaristischer Propaganda vor Militärge-
                  Umbrüchen und Richtungswechseln,            richten, wird in „Irrenhäuser“ eingewie-
                    von kurzem Ruhm – und von Leid und        sen, nierenkrank durch
                      Entbehrungen bis zum frühen Tod         die Haft wird er 1917 als
                       im sowjetischen Hinterland 1945.       „dauernd      kriegsun-
                          Eigentlich will Gog nur die Welt    brauchbar“ entlassen. 1918
                         sehen. Mit 19 zu alt zum Anheu-      beteiligt er sich am Kieler
                         ern auf Handelsschiffen, geht er     Matrosenaufstand und
                          zur Kriegsmarine und wird 1914      wandert nach dem
                           unfreiwillig zum Kriegsteilneh-    Scheitern der Revolu-
                            mer - der Beginn seiner poli-     tion ins schwäbische

8
Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
VAGABUNDEN

Gregor Gog (1891–1945), Matrose, Gärtner und   Hans Tombrock (1895–1966), Zeichner und Maler   Jo Mihaly (1902–1989), Tänzerin, Schauspielerin
Schriftsteller                                                                                 und Dichterin

Bad Urach. Die „Kommune am Grünen
Weg“ ist Anziehungspunkt für Anarchis-
ten, Kommunisten, Künstler, Proto-Hip-
pies, Lebensreformer, Wanderprediger.

Herberge für alle
Der Comic zeigt Gog mit seiner Frau Anni
Geiger-Gog, mit dem Dichter und Rätere-
publikaner Erich Mühsam, mit dem Wan-
derprediger und „Vater der Alternativbe-
wegungen“ Gusto Gräser und dem späte-
ren DDR-Hymnendichter und -Kulturmi-
nister Johannes R. Becher in einer Art
libertärem Paradies. Gog verlässt es, weil
er die Wanderschaft und die praktische
Politik den neochristlichen Heilslehren
vorzieht. Unterwegs lernt er den Dort-
munder Maler Hans Tombrock und die
Tänzerin und Dichterin Jo Mihaly kennen.
Die „Tippelschwester“ mit dem angenom-
menen Roma-Namen wird viele Gedichte
für Gogs Zeitschrift „Der Kunde“ schrei-
ben. Ihre Bücher werden von den Nazis
1933 verboten und verbrannt.
  Tombrock war 1920 im Kampf gegen
den Kapp-Putsch mit der Roten Ruhrar-
mee in Dortmund einmarschiert und hat-
te dafür bis 1924 im Gefängnis gesessen.
Seitdem war er auf Wanderschaft und
lebte vom Verkauf seiner Zeichnungen.
Wie Mihaly und Gog gelang ihm 1933 die
Flucht in die Schweiz. Im späteren schwe-
dischen Exil lernte er Bertolt Brecht ken-
nen und arbeitete mit ihm zusammen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete er

                                                                                                                                                 9
Kein Stillstand - GREGOR - Draussenseiter
VAGABUNDEN

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                                                                                                                und -buchautorin, 1924 Heirat mit Gregor Gog.
                                                                                                                Nach der Scheidung 1934 kümmerte sie sich weiter
                                                                                                                um Gogs Sohn Gregor jr. aus erster Ehe, der am 3.
     Vagabunden-Kunstausstellung, Pfingsten 1929 in Stuttgart. Hans Tombrock (2. von li.) und Gregor Gog (r.)   Januar 1963 verstarb.

     die „Schule für Bildende und Angewand-                 uns ein weiterer Motivationspunkt, diesen           es durch die Polizeisperren. Ein großer
     te Kunst Dortmund“, bevor er 1949 in die               Comic zu machen“, sagt Patrick Spät. „Wir           Erfolg und ein weiterer Popularitätsschub
     DDR übersiedelte. Tombrocks Nachlass                   schätzen Produktionen wie ‚Babylon Ber-             für den „König der Vagabunden“. Sogar
     wird wie der Gregor Gogs und vieler Pro-               lin‘, aber der Fokus liegt sehr oft auf die-        in einem Stummfilm spielt Gog gemein-
     tagonisten der Vagabundenbewegung im                   sem bürgerlichen Glanz-und-Glamour-Le-              sam mit Tombrock.
     Dortmunder Fritz-Hüser-Institut gepflegt.              ben, was wirklich toll, aufregend und
       „Ich mag Tombrocks Arbeiten sehr“,                   progressiv ist“, sagt Spät. „Was jedoch             Barbarei und Wirkung
     sagt Bea Davis, die den „König der Vaga-               häufig unter den Tisch fällt, ist das massi-        Was dann folgt, ist der vielleicht drastischs-
     bunden“ gezeichnet hat. „Seine Zeichnun-               ve soziale Elend, das in Deutschland und            te Bruch im Leben Gregor Gogs. Auf einer
     gen sind ja sehr schwarz und rau in ihrer              Europa herrschte. Das zu zeigen, buch-              Reise in die Sowjetunion im Juli 1930 wird
     Ausarbeitung. Ich habe mit einem Pin-                  stäblich zu zeigen, weil es ja ein Comic ist,       aus dem Antiautoritären, dem Anarchis-
     selstift gearbeitet, der sehr feine und sehr           lag uns sehr am Herzen.“                            ten ein Parteikommunist, der mit der
     genaue Linien macht, die aber auch eher                   1927 gründet Gregor Gog die „Interna-            grundlegend gewendeten Straßenzeitung
     rau und nicht so kontrolliert sind. Viel-              tionale Bruderschaft der Vagabunden“.               „die Vagabunden in eine Reservearmee
     leicht spiegelt sich das nicht so in meiner            Patrick Spät: „Die Haltung der Bruder-              des kämpfenden Proletariats zu verwan-
     Arbeit, aber ich wurde sehr durch ihn ins-             schaft war: Wir erwarten überhaupt nichts           deln“ trachtet. Viele bisherige Weggefähr-
     piriert.“                                              mehr vom Staat. Wir wollen keine Hilfe,             ten wenden sich enttäuscht und irritiert
                                                            die ohnehin nicht kommt, und wenn doch              ab.
     Generalstreik ein Leben lang                           verbunden mit Repressalien ist. Wir orga-             Gog hatte früh geahnt, was eine Macht–
     Im vom Hüser-Institut herausgegebenen                  nisieren uns zur Selbsthilfe.“ Kurz darauf          übernahme der Nazis bedeuten würde.
     Sammelband zur „Epoche der Vagabun-                    wird Gog Chefredakteur der Zeitschrift              Wenige Wochen nach der Machtübernah-
     den“ beschreiben die Autoren die Wan-                  „Der Kunde“. „Die Straßenzeitung liefer-            me der Nazis wird er festgenommen,
     derschaft, auf der nun auch Gregor Gog                 te Lebens- und Überlebenstipps, empfahl             kommt ins KZ und wird gefoltert. Unter
     ist, als „ein Pendeln zwischen Reflexion               Kunstausstellungen und Begegnungsorte,              abenteuerlichen Umständen gelingt ihm
     und Widerstand, Arbeitslosigkeit und                   denn allein die physische Begegnung ist             Heiligabend 1933 die Flucht in die
     Arbeitsverweigerung, zwischen Entwurze-                sehr wichtig, wenn es darum geht, sich zu           Schweiz. In seinem Tagebuch schreibt er:
     lung und Aufbruch, Isolation und Frei-                 organisieren“, sagt Patrick Spät. Und in            „Die Landstraße verlor sich im Dschungel
     heit“; das alles radikalisiert durch die               der Tat entwickeln sich Vagabundenaben-             faschistischer Barbarei (…). Konzentrati-
     Armut in den vorgeblich Goldenen Zwan-                 de, bis schließlich an Pfingsten 1929 zum           onslager, Zwangsarbeit und Prügel: Die
     zigern. In Folge der Weltwirtschaftskrise              „Ersten Internationalen Vagabundenkon-              deutsche Bourgeoisie hat uns das schon
     wuchs die Zahl der Obdachlosen von                     gress“ in Stuttgart aufgerufen wird. Die            immer gewünscht.“ Über Paris gelangt er
     70.000 auf 450.000 an. „Dass momentan                  Behörden reagieren fast panisch, die Medi-          in die Sowjetunion, wo er schwerkrank
     so etwas wie die Wiederentdeckung der                  enresonanz ist international und feindse-           unter immer schwierigeren Bedingungen
     Weimarer Republik stattfindet, war für                 lig. Rund 600 TeilnehmerInnen schaffen              lebt. Einen Suizidversuch 1945 überlebt

10
VAGABUNDEN

er, stirbt aber zwei Wochen später in
Taschkent.
  „Die Jahre des Leidens im sowjetischen
Exil haben wir im Comic ausgespart, für
uns stand die Bruderschaft und auch die
Wende zum Kommunisten im Vorder-
grund“, sagt Patrick Spät. „Wir haben die
Geschichte mit der Flucht vor den Nazis
in die Schweiz gerahmt, denn das war uns
wichtig. Obdachlose, Vagabunden und
,Landstreicher‘ werden als Opfergruppe
der Nationalsozialisten bis heute weitge-
hend ignoriert.“
  Und was bleibt sonst von Gregor Gog?
„Bei allen Widersprüchen war er eine gute
Person mit einem klaren Blick auf die
Welt“, sagt Bea Davis. „Und mit der Pers-
pektive auf heute: Ich sehe seinen Mut
nicht. Diese Gesellschaft ist so informiert,
aber trotzdem so stumm. So kommt es mir
vor. Gogs Ansatz, auf den Staat ,zu pfeifen‘
erscheint extrem. Aber schaue ich die
Regierungen der Welt an, denke ich mir
schon: Wir machen das besser selbst.“ Pat-
rick Spät: „Gog hat für eine Zeit erfolg-
reich vermocht, Obdachlose, Vagabunden,
Ausgeschlossene zusammenzuführen und
zu organisieren. Das verdient Bewunde-
rung.“

lll    INFO

Bea Davies, geboren 1990 in Italien, ist freie
Illustratorin und Comiczeichnerin in Berlin.
Sie studierte in New York und Berlin und
zeichnete unter anderem für das ehemalige
Berliner Straßenmagazin Strassenfeger.
Patrick Spät, geboren 1982 in Mannheim, ist
Journalist, unter anderem für Spiegel Online
und Zeit Online, und Buchautor. Für „König
der Vagabunden“ wurde er gemeinsam mit
Bea Davis als Finalist des Comicbuchpreises
                  der Berthold Leibinger Stif-
                   tung ausgezeichnet.

                   Patrick Spät, Bea Davies:
                   Der König der Vagabun-
                    den. Gregor Gog und sei-
                    ne Bruderschaft. Avant,
                    160 Seiten, 25,-€, ISBN
                     978-3-96445-015-9

                                                              11
VAGABUNDEN

                                                                                                                                           FOTO/GRAFIK: UNTER DRUCK
     Die Renaissance der Vagabunden
     Ein Kongreß in Berlin wird im August zum Treffpunkt für alle, die
     wandelbar bleiben wollen – sich selbst und der Gesellschaft zuliebe

     I
         n Kooperation mit dem Obdachlo-        sionen berücksichtigen und einen           zelung bekämpfen, um mit einer kon-
         senverein Unter Druck - Kultur von     Raum für Solidarität, Austausch und        struktiven Sichtweise das Leben auf der
         der Straße e.V. und einem Netzwerk     Selbstorganisation schaffen.               Straße zu beleuchten. (or)
     aus Einzelpersonen realisieren wir den     Wir wollen Menschen zusammenbrin-
     Vagabundenkongress 2020. Das Pro-          gen, die auf der Straße leben, die kei-
     jekt wird gefördert durch Aktion           nen festen Wohnsitz haben, die mate-
     Mensch. Im Rahmen des Kongresses,          riell in ihrer Existenz bedroht sind, um   lll    INFO
     der im August 2020 in Berlin stattfinden   gemeinsam Strategien gegen Verdrän-
                                                                                           Der Vagabundenkongress findet vom 22.-
     wird, möchten wir durch künstlerische      gung, Diskriminierung und Ausgren-
                                                                                           23.8.2020 in Berlin statt. Das Projekt von
     und soziokulturelle Aktivitäten Ideen      zung zu entwickeln. Auch sprechen wir      Unter Druck – Kultur von der Straße e.V. wird
     für eine bessere Zukunft entwickeln, in    diejenigen an, die aufgrund selbstbe-      gefördert von der Aktion Mensch. Der Kon-
     der die mobilen Lebensformen ihren         stimmter Entscheidung nicht sesshaft       gress versteht sich als Diskussionsforum für
     Platz haben, ohne ständig in ihrer Exis-   sind, umherziehen und sich für alter-      Einzelpersonen, Kollektive, Bündnisse oder
     tenz bedroht zu werden.                    native Wohn- und Lebensentwürfe            Projekte, die daran interessiert sind, Woh-
                                                                                           nungslosigkeit abzuschaffen und sozialer
     Wir möchten mit dem Kongress das           entschieden haben. Mit dem Kongress
                                                                                           Ungerechtigkeit den Kampf anzusagen.
     Thema Wohnungslosigkeit aus ver-           wollen wir die Vielfalt an mobilen
     schiedenen Perspektiven und Aus-           Lebensformen zusammenbringen,              Mehr darüber unter:
     gangspunkten betrachten, alle Dimen-       gemeinsam die Isolation und Verein-         https://vaga2020.de

12
IN DUNKELHEIT

                13
SPUREN DER ARMUT

     Das Haus Im Ferkulum 29
     (früher 15) in der Kölner
     Südstadt heute. An dieser
     Stelle befand sich einst das
     Marthastift.

14
SPUREN DER ARMUT

                         Marthastift Köln –
                         vom Mädchen zur Magd
                         „Wir wollen stellenlosen und dienstsuchenden Mägden einen
                         zeitweiligen, billigen, vor den Versuchungen der Großstadt schüt-
                         zenden Aufenthalt gewähren und sodann heranwachsenden
                         Mädchen in den praktischen Arbeiten des häuslichen Lebens
                         unterrichten und also zu einem selbständigen Broderwerb (sic)
                         befähigen.“ (Aus dem Jahresbericht des Marthastifts/1888)

                         VON IRENE FRANKEN

                         E
                              nde des 19. Jahrhunderts bildeten       übernahm ein Komitee aus Unterneh-           Irene Franken, geboren 1952 in Düsseldorf,
                              Dienstmädchen die größte Migrati-       mern und Juristen die Verwaltung und         ist Historikerin, Publizistin und Mitbegründe-
                              onsgruppe Deutschlands überhaupt!       später die Vereins Gründung.                 rin des Kölner Frauengeschichtsvereins.
                         Immer mehr Mädchen und junge Frauen            Wurde anfangs nur ein kleines Heim für     Im Jahre 2017 wurde sie mit der Alternativen
                         vom Land waren aus Armut gezwungen,          10-12 Mädchen intendiert, wurde dann         Ehrenbürgerschaft in Köln ausgezeichnet.
                         sich einen Arbeitsplatz als Magd oder        doch für 24.000 Mark ein großes Haus
                         Köchin in der Stadt zu suchen. Hier arbei-   erworben. Das Kölner Marthastift –
                         teten sie für ihre Aussteuer und hatten in   benannt nach einer Zeitgenossin von
                         der Regel vor, in die Heimat zurückzukeh-    Jesus, die ihn in ihrem Haushalt bewirtete
                         ren. Unzählige Mädchen kamen zunächst        - eröffnete 1865 seine Pforten. Standort
                         ohne Perspektive im Bahnhof an – viele       war ein Viertel mit vielen Fabriken mit
                         Kölner Fabriken warben die billigen, weil    Frauenarbeitsplätzen, die Südstadt. Im
                         ungelernten Arbeitskräfte sofort an und      Ferkulum 15 (später war es Hausnummer
                         machten den Haushalten Konkurrenz,           29) lautete die Adresse.
                         denn in der Industrie war zumindest am         Das Heim diente einerseits als soge-
                         Sonntag und nachts arbeitsfrei.              nannte Mägdeausbildungsstätte, dazu
                           1863 entwickelten rund 30 begüterte        nahm man Aufträge an, an denen die jun-
                         Kölnerinnen des Evangelischen Frauen-        gen Frauen im Haus Waschen, Bügeln und
                         vereins die Idee, ein Heim zu gründen, in    Nähen übten – ein Bleichplatz war ja vor-
                         dem die neu Zugezogenen den Umgang           handen. Zudem bestand die Möglichkeit,
                         mit kostbaren Textilien erlernen konnten.    Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen.
                         Viele evangelische Damen hatten geklagt,     Dem Heim wurde schließlich eine Stellen-
                         die Provinzmädchen hätten nur sehr           vermittlung angedockt durch die zahlrei-
                         geringe Kenntnisse in Hausarbeit, auch       che junge Frauen in den Kölner Arbeits-
                         fehle es ihnen an einer positiven Haltung    markt vermittelt werden konnten. Man
                         zum Dienen. Da großbürgerliche Frauen        weiß, dass 1889 schon insgesamt 4.230
                         wie sie keine juristischen Ämter anneh-      Frauen vorübergehend oder über einen
FOTO: CHRISTINA BACHER

                         men konnten und kaum Fähigkeiten hat-        längeren Zeitraum das Marthastift als
                         ten, mit größeren Summen umzugehen,          Sprungbrett zu nutzen wussten.

                                                                                                                                                                    15
GUTES PROJEKT

             20 Jahre Malgruppe
             im Vringstreff
             Maria und Attila malen seit 20 Jahren in der Malgruppe. Ingrid
             Bahß durfte den Hobby-Künstlern mit ihrer Kamera mal über
             die Schulter schauen und bei der Arbeit ein paar Fragen stellen.

     W      ie habt ihr die Malgruppe entdeckt?
            Wir kamen 1999 kurz nach der
     Eröffnung in den Vringstreff. Kurze Zeit
                                                     chen Lebens- und Arbeitswelten. Zwei- bis
                                                     dreimal im Jahr arbeiten wir zu vorgege-
                                                     benen Themen, um die Arbeiten dann in
                                                                                                    lassen hat. Man darf nicht vergessen, dass
                                                                                                    die meisten von uns ein Talent mitbringen,
                                                                                                    das aber selten gefördert wurde. Jeder gibt
     später wurde die Malgruppe von Uli Rich-        einer Ausstellung im Vringstreff zu zeigen.    in unserer Gruppe an Offenheit und Kre-
     ter angeboten. Wir waren von Anfang an          Nicht selten stehen wir dann staunend vor      ativität, was er kann.
     dabei. Seit September 2019 ist es Marion        unseren Arbeiten und sind stolz, uns der
     Schmidt.                                        Öffentlichkeit vorstellen zu können. Die       Was bedeutet euch beiden das künstlerische
                                                     Besucher des Vringstreffs haben die Mög-       Tun?
     Was bedeutet euch die Malgruppe?                lichkeit, unsere Ausstellung zu sehen. Die     Künstlerisches Tun bedeutet eine Freiheit
     Die Malgruppe hat uns von Beginn an viel        Einladungen und das Plakat werden von          für uns, die uns vor vielen Zwängen
     bedeutet; daran hat sich nichts geändert.       Nicole van Achten und unserer Leiterin         bewahrt. Die Malerin Renate Friedländer
     Wir treffen uns, arbeiten an unseren                Marion Schmidt gestaltet und ver-          hat unser künstlerisches Talent erkannt
     Bildern und erzählen dabei.                                schickt; wir helfen beim Ver-       und uns ermutigt, zu malen. Bei ihr haben
     Das Miteinander schätzen                                        teilen mit. Nicole und         wir gelernt, wie wir eine Bildidee verwirk-
     wir sehr. Jeder bringt                                            Marion kümmern sich          lichen können. Später haben wir unser
     sein eigenes Tempera-                                               dann auch um die           Können in Kursen bei der Malerin Petra
     ment mit. Auf diese                                                  Auf hängung        der    Rodewald vervollkommnet. Wir verbrin-
     Weise lernen wir uns                                                  Arbeiten. Und auch       gen einen großen Teil unserer Zeit zu
     kennen und schät-                                                     auf der Website des      Hause mit dem Malen. Bei schönem Wet-
     zen. Es gibt ein Wir-                                                 Vringstreffs wird auf    ter bietet sich auch der Garten an. Maria
     Gefühl in unserer                                                    die   Ausstellungen       liebt es, neben Blumen auch Landschaften
     Gruppe, eine Offenheit                                             aufmerksam gemacht.         zu malen, bei Attila sind es die Natur, Mee-
     für den anderen. Als wir                                         Die Eröffnung der Aus-        reslandschaften, aber auch Bilder mit
     die Ausstellung zum Thema                                    stellung ist schließlich der      Menschen. Wenn Zeit bleibt, besuchen wir
                                            Sonnenblumen
     Karneval vorbereitet haben, war        von Maria Erdik    Höhepunkt für uns. Neben dem         eine Ausstellung im Museum. Dabei
     ich erst einmal zögerlich. Doch                           kreativen Miteinander im Mal-        haben es uns die Impressionisten beson-
     dann sind Arbeiten entstanden, mit denen        kurs unterstützen wir uns gegenseitig,         ders angetan, Emil Nolde zum Beispiel.
     ich jetzt zufrieden bin. Attila hat ein sehr    wenn es nötig ist. Als Jürgen gestorben ist,
     schönes Karnevalsbild gemalt, das dann          kamen auch Mitglieder der Malgruppe zur
                                                                                                    lll    INFO
     auch für die Einladung und das Plakat           Beerdigung. Ich habe eine kleine Anspra-
     verwendet wurde.                                che gehalten und gesagt: „Lieber Jürgen,
                                                                                                     Offene Malgruppe Vringstreff
                                                     male weiterhin Bilder, die leuchten, damit
                                                                                                    Vringstreff e.V., Im Ferkulum 42, 50678 Köln
     Was ist das Besondere an der Malgruppe im       wir dieses Leuchten im Abendrot sehen
                                                                                                                                                   FOTOS: INGRID BAHSS

                                                                                                    Jeden Mittwoch von 14 bis 17 Uhr.
     Vringstreff?                                     können.“ In der Karnevalsausstellung ist
     In unserer Malgruppe begegnen sich              ein unvollendetes Bild von Irmela zu            https://vringstreff.de/mahlzeit-
     KünstlerInnen aus völlig unterschiedli-         sehen, die uns vor Kurzem für immer ver-         freizeit/malgruppe/

16
GUTES PROJEKT

Die Freikonzerte des Vereins „Yehudi Menuhin Live
Music Now“ finden in sozialen Einrichtungen wie
Seniorenhäusern, Hospizen, Haftanstalten oder
Krankenhäusern statt.

„Jacques
Offenbach“
im Haus
Stipendiaten des Vereins „Yehudi
Menuhin Live Music Now“ spielten
                                                      D     ie stadtweiten Feierlichkeiten
                                                            anlässlich des letztjährigen Jacques
                                                      Offenbach-Jahres machten neben den gro-
                                                                                                    gen ist ein wertvoller Prozess, der durch
                                                                                                    solche Aktionen gefördert wird“, sagte die
                                                                                                    Leiterin des Sozialdienstes.
für Bewohner des Johanniter-Stift                     ßen Hallen und Konzertsälen auch in klei-
                                                      neren Locations halt, so etwa im Poller       Musik, die bewegt
VON THOMAS DAHL
                                                      Johanniter-Stift. Stipendiaten des gemein-    „Oh, ich liebe Musik. Vor allem, wenn es
                                                      nützigen Vereins „Yehudi Menuhi Live          heitere Klänge sind. Das Konzert ist eine
                                                      Music Now“ präsentierten auf zwei Celli       willkommene Abwechslung, da ich und
                                                      im Rahmen des 45-minütigen Auftritts          auch viele meiner Mitbewohner nicht
                                                      Auszüge aus dem Schaffen des Operet-          mehr so gut zu Fuß sind“, berichtete Erika
                                                      ten-Erfinders, darunter die „Barcarolle“      Zomm. Die 84-Jährige lebt seit 2013 in der
                                                      aus dem weltberühmten Tanz „Cancan“.          Stätte auf der Jakob-Kneip-Straße und
                                                      Darüber hinaus boten die Studenten der        begrüßte das Engagement der Musiker
                                                      Musikhochschule Köln ihren Zuhörern           sowie des Vereins: „Klasse, dass es so was
                                                      Melodien von George Bizet, Franz Haydn        gibt! Ich bin sicher nicht die Einzige hier,
                                                      und Felix Mendelsohn. Die eintrittslosen      die sich auf solche Veranstaltungen schon
                                                      Konzerte in verschiedensten sozialen Ein-     Tage vorher freut. Früher bin ich auch
                                                      richtungen ermöglichen seit 18 Jahren         gerne in die Oper gegangen. Heute dudelt
                                                      Konzerterlebnisse für Menschen, die           dafür bei mir das Radio jeden Tag vom
                                                      öffentliche Veranstaltungen, etwa in der      Morgen bis in den Abend“, sagt die Rent-
                                                      Philharmonie oder im Gürzenich, auf-          nerin lachend.
                                                      grund der Lebensumstände nicht mehr             Nach einer kurzen Vorstellung des Pro-
                                                      besuchen können. Die Künstler treten          jekts durch Live Music Now-Koordinato-
                                                      ohne Gage auf. Für die geförderten Nach-      rin Barbara Molineus-Gallhöfer gewan-
                                                      wuchstalente ergibt sich die Chance, regel-   nen Roger Morelló Ros und Javier Huerta
                                                      mäßig vor Publikum auftreten zu können.       Gimeno an den Violincelli schnell die
                                                      Die Finanzierung der Tätigkeiten erfolgt      Sympathien der mehr als 40 Zuhörer im
                                                      durch Spenden und Mitgliedsbeiträge.          Saal. Das aus Spanien stammende „Offen-
                                                      Jährlich organisiert der Verein in Köln und   bach Cello-Duo“ äußerte sich vor dem
                                                      Region 120 bis 150 Konzerte.                  Auftritt über die Besonderheit der Kon-
                                                        „Das ist eine wichtige Gelegenheit für      zertreihe: „Es ist sehr bereichernd für uns
                                                      unsere Bewohner, Unterhaltung mit Emo-        als Künstler, solch eine Nähe und eine
                                                      tionen zu vereinen. Durch die bekannten       Direktheit zum Publikum zu erleben. In
                                                      Klänge der klassischen Werke werden           den großen Konzertsälen ist das kaum
                                                      nicht selten lang verschüttete Erinnerun-     möglich. Man spürt auch förmlich, wie die
                                                      gen freigelegt, beispielsweise an einen       Musik die Menschen bewegt und Gefühle
                                                      Tanzabend in der Jugend oder einen            freisetzt. Das ist unbeschreiblich und
                                                      Opernbesuch“, erklärte Haus-Mitarbeite-       unglaublich motivierend auch für uns
Javier Huerta Gimeno (l.) und Roger Morelló Ros
spielten für die Bewohner des Johanniter-Stift auf.   rin Kathrin Kaczmarzyk. „Die Auseinan-        Musiker“, so Roger Morelló Ros.
FOTOS: T. DAHL                                        dersetzung mit biographischen Erfahrun-        www.livemusicnow-koeln.de

                                                                                                                                                   17
CARTOON | CLAYD

                                                                                                                                                                            VON HEIKO SAKURAI

                            Liebe Freunde,
                                            oft werden Frauchen und ich auf       engen Gänge bis sie einen Platz für gut befin-      passiert und sie will das nie wieder erleben.
                                                Vorträge eingeladen. Da steht     det, wo auch ich mich lang machen kann.             Deshalb ist sie auch immer schnell wieder
                                                   sie dann an so einem lan-      Meistens ist es so ein Vierertisch. Da mache ich    zurück. Wenn der Zug länger an einem Bahnhof
                                                    gen Stiel – Mikrofon heißt    es mir unter dem Sitz gemütlich. Manchmal           hält, geht sie mit mir kurz raus. Das klappt alles
                                                    das wohl – und spricht vor    kommen Leute zu uns und beschweren sich.            schon ganz gut. Aber am Schönsten ist immer
                                                    anderen Menschen. Ich lie-    Eigentlich müsste ich wohl im Zug einen Maul-       die Ankunft. Da geht es nämlich meistens mit
                                                   ge meist daneben, passe auf    korb tragen, weil ich eine bestimmte Größe          dem Auto weiter. Im Auto kann ich wenigstens
                                                sie auf und höre zu. So weit so   habe. Frauchen nimmt mir meist eine Maul-           aus dem Fenster schauen. Im Zug geht das nicht
                                            gut. Aber wegen dieser Vorträge       schlaufe mit. Auch sonst ist sie gut vorbereitet.   so einfach. Und für den Schoß bin ich zu groß.
                                   müssen wir oft mit der Bahn fahren. Und        Wenn ich Durst habe, schaue ich sie an und sie      Darum fahre ich lieber mit dem Auto – stressfrei,
                            dafür wiederum sehr früh aufstehen. Das mag           weiß, dass ich Wasser haben möchte. Für sich        mit schön vielen Pausen.
                            ich gar nicht. Aber der Zug wartet ja nicht, sagt     selbst hat sie natürlich Kaffee mit. Sie sagt, im                  Von unterwegs grüßt euer Clayd
                            Frauchen. Auch doof: Auf dem Gleis ist es total       Zug will sie auf nichts verzichten.
FOTO: NICOLE HOMBURG

                            laut, überall sind Menschen. So ein Gewusel.          Wenn sie mal zur Toilette muss, fragt sie immer
                                                                                                                                      lll     Hallo, ich bin Clayd aus Rumänien. Von dort
                            Wenn der Zug kommt, hilft mein Dosenöffner            einen netten Menschen in der Nähe, ob er auf
                                                                                                                                      bin ich zu meinem Frauchen, der DRAUSSENSEITER-Ver-
                            mir die Stufen hoch, oder sie hebt mich einfach       mich aufpasst. Sie hat große Angst, jemand          käuferin Kölsche Linda, gezogen. In meiner Kolumne
                            gleich ganz rein. Drinnen laufen wir durch die        könnte mich klauen. Das ist ja schon einmal         erzähle ich, was ich so alles in meinem Alltag erlebe.

                       18
BERICHT

Lothars Marsch
Von Honzrath bis Körprich: 21,7 km –
4 Stunden, 20 Minuten Laufzeit

Mittwoch, 16. Mai 2018

Gerade habe ich in Honzrath die Kneipp-        So bleibt mir Merzig in guter Erinnerung.
anlage für Füße und Waden genutzt. Heu-        Amen. Nach dem Ort geht es schnell in
te Morgen hat es noch viel geregnet. Kurz      die Höhe Richtung Merchingen. Ich ver-
vor acht Uhr konnte ich aber aufbrechen.       suche heute noch bis Schmelz oder Rich-
Diesmal hatten nachts nur eine Schabe          tung Tholey zu kommen. Noch hält das
und drei Schnecken meine Nähe gesucht.         Wetter und die Wolken machen das Lau-
Beim Aufstehen musste ich sehr vorsichtig      fen angenehm.
sein, um kein Tier zu verletzen. In Merzig       Um halb sieben stoppt mich das Wetter
habe ich mir Wasser und ein Brötchen mit       dann doch in Körprich. Außerdem habe
Lyoner geholt. Fehlt nur noch ein Kaffee.      ich den Weg nach Schmelz verpasst. So
                                                                                             FOTO: CHRISTINA BACHER

Die nächste Bäckerei will 1,90 Euro für        hatte ich mich nach Nalbach, an der B269,
die kleine Tasse haben. Das ist mir zu viel.   verirrt! Aber die B269 ist sogar noch bes-
Ich frage mich durch, ob ich irgendwo          ser, denn sie führt durch Tholey und endet
Kaffee für 1 Euro bekomme. Endlich ent-        bei Bernkastel-Kues an der Mosel. Ich
decke ich ein bekanntes Symbol - Tchibo.       laufe weiter nach Nohfelden, wo ich die
Leider ist es nur ein Shop ohne Kaffeeaus-     B269 wieder erreiche. Es ist kurz vor sie-
schank.                                        ben Uhr. In drei Stunden kommt hier der
  Doch die Betreiberin macht mir an            einzige und zugleich letzte Bus vorbei. Da
ihrer Vorführmaschine einen Gratiskaffee.      kann ich ja gleich hier nächtigen.           Am 5. Juli 2016 bricht Lothar zum ersten
                                                                                            Mal auf und läuft von Köln nach Ham-
                                                                                            burg über Schleswig bis nach München
                                                                                            – fast 2.000 Kilometer.
                                                                                            Seit diesem Tag lebt er auf der Straße
                                                                                            und hält sich, wenn er mal nicht unter-
                                                                                            wegs ist, im Kölner Stadtteil Zollstock
                                                                                            auf. Den „Aufbruch“ nutzt der gelernte
                                                                                            Maschinenbau-Ingenieur ganz im
                                                                                            wörtlichen Sinn: „Nicht in Altem ver-
                                                                                            harren, sondern Neues ergründen.“
                                                                                            Seit 2018 ist Lothar beim DRAUSSENSEITER
                                                                                            und auch als Stadtführer der Sozialen
                                                                                            Stadtrundgänge dabei.

                                                                                            Karte
                                                                                            openstreetmap.org
                                                                                            opendatacommons.org
                                                                                            creativecommons.org

                                                                                                                                           19
AUS DEN EINRICHTUNGEN

                    Letzte Runde!
                   P   lattenpolizist Burkhard Jahn dreht seine letz-
                       ten Runden über die Plätze und Straßen der
                   Innenstadt. Nach Ostern ist Schluss mit Dienst,
                   er geht in den Ruhestand. Am Veilchendienstag
                   hat er sich im Gubbio bei der Obdachlosenseel-
                   sorge verabschiedet und sich den Segen für die
                   kommende Zeit geholt.

                                                                          Band of Plenty – Acoustic-Band mit Spaß an der Freud   FOTO: DANIEL STEH

                                                                          JECKE ENTERN BAD MÜNSTEREIFELS SCHMUCKSTÜCK

                                                                          Steinsmühle-Thekenmäd-
                   Burkhard Jahn arbeitete zuletzt 12 Jahre im Bereich
                   Dom/Hauptbahnhof als Streifenpolizist, Netz-           chen sind keine Sünderlein
                   werkvertreter und Interessenvermittler. In seinem
                   Ruhestand möchte er sich verstärkt um seine
                   Familie kümmern, ganz viel lesen und auch mög-
                                                                          S  o ein schmuckes Etablissement hat „Loss mer singe“ wohl selten
                                                                             gesehen: das Landgasthaus Steinsmühle in Bad Münstereifel
                                                                          beherbergte erstmalig „Mönster sing met“ und hatte sich beein-
                   lichst oft seine alten Wirkstätten um den Dom          druckend herausgeputzt. Und alle, die gekommen waren, bereuten
                   herum besuchen. Er will sich z.B. regelmäßig           ihr Kommen nicht, sondern genossen das Ambiente und die tolle
                                                                          Verpflegung durch die fleißigen Thekenmädchen (und -jungen),
                   davon überzeugen, dass das Püppi-Bild am
                                                                          denen mit Eldorados Tagessieg mal wieder ein kleines Denkmal
                   Gulliver gut sichtbar bleibt. Schutzmann Jahn          gesetzt wurde. Alle waren mit Herz und Seele und mit Ohr und
                   blickt mit großer Dankbarkeit und Freude auf die       Mund dabei.
                   Arbeit im Milieu und mit den vielen engagierten          Die neuen Lieder wurden begierig aufgenommen und mitgesun-
                                                                          gen. Miljös „Liebesleed“ – die Hommage an die vielen kölschen
                   Menschen und Kooperationspartnern zurück. Er
                                                                          Evergreens, die selber das Zeug zum Evergreen hat – wurde sogar
                               sagt: „Ich habe hier richtig tolles köl-   a capella weitergesungen und regelrecht zelebriert. Am Ende lang-
                                  sches Zusammenstehen erlebt. In         te es für Miljö (punktgleich mit Kasallas „Pommes und Champag-
                                   diese Kreise aufgenommen wor-          ner“) für Platz 3 ganz knapp hinter Brings „Sünderlein“, zum dem
                                                                          im großen Saal der Steinsmühle noch genug Platz zum Tanzen
                                   den zu sein, ist eine unschätzbare
FOTOS: PRIVAT

                                                                          gefunden wurde, und Eldorados „Verlieb Dich nie“ auf Platz 1.
                                  Anerkennung und ein großes                In der Auszählpause demonstrierte der Sieger des „Kölsche Musik
                                   Glück. Ich wünsche mir, dass die       Bänd Kontest“ 2018, Band of Plenty, dass sie absolut keine Eintags-
                                     Hilfseinrichtungen und Ämter         fliege darstellen. Die 6 Jungs zeigten unter dem Kronleuchter, dass
                                      weiterhin vertrauensvoll und        mit ihnen auch in Zukunft zu rechnen ist – vor allem mit dem
                                                                          neuen Song „Wie Kölle klingk (1000 Leeder)“, aber auch z.B. mit
                                         konstruktiv zusammenarbei-
                                                                          dem aktuellen Hit „Einer jeiht noch“.
                                         ten und den Leitspruch von         Band of Plenty traten umsonst und für den guten Zweck auf,
                                        Altkardinal Frings mit Leben      denn wie immer bei „Sing met“ wurde für die OASE, die Anlauf-
                                        füllen – (übersetzt): „Für die    stelle für Wohnungslose gesammelt. Ganze 615,- € kamen zusam-
                                                                          men – Danke an alle Spender, an alle Mitsängerinnen und Mitsän-
                                       Menschen bestellt!“ (or)
                                                                          ger, an Band of Plenty und an Sabine und das ganze Team der
                                                                          Steinsmühle! (or)

20
AUS DEN EINRICHTUNGEN

Loss mer singe-
Sitzung am Kölner
Tanzbrunnen

A   uch in diesem Jahr durfte die OASE
    gemeinsam mit dem DRAUSSEN-
SEITER-Team wieder bei der Loss mer
singe-Sitzung in den Tanzbrunnen
einziehen – neben all den anderen
Veranstaltern und Kneipen, in denen
in der Session die neuen Lieder einge-
sungen wurden. Und in diesem Jahr
war es eine ganz besonders wunder-
bare Jubiläumssitzung – lustig, melan-
cholisch, stimmungsvoll und u.a. mit
Bläck Föös, Querbeat und Kasalla hoch-
karätig besetzt. (cb)

In der Session 1999/2000 lud Georg Hinz seinen
Freundeskreis in seine Privatküche in Nippes
ein, um mit Hilfe von Textzetteln neue kölsche
Lieder zu singen. Die selben Leute standen im
Jubiläumsjahr wieder auf der Bühne und
schauten in einer musikalischen Hommage
zurück. Herzlichen Glückwunsch zum
20. Geburtstag, Loss mer singe!                                          FOTOS: PRIVAT

                                                                         21
IN EIGENER SACHE

     Neue Ausweise für
     DRAUSSENSEITER-
                                                 Fettes Dankeschön
     Verkäufer                                   und ein herzliches
     A  b März 2020 erhalten unsere Verkäu-
        ferInnen neue Betriebsausweise. Auch
                                                 Willkommen!
     um möglicher missbräuchlicher Verwen-
     dung durch Dritte vorzubeugen, bekom-
     men die neuen Verkäuferausweise eine
     neue Farbe. Nach wie vor sind unsere
                                                 N   ach mehr als 10 Jahren geht unsere Gra-
                                                     fikerin Petra Piskar nun neue Wege, für
                                                 die wir ihr von Herzen alles Gute wünschen.
     VerkäuferInnen dazu verpflichtet, beim
     Straßenzeitungs-Verkauf einen Ausweis       Dadurch, dass sie das Layout der Innenseiten
     bei sich zu tragen und diesen auf Verlan-   des DRAUSSENSEITER immer kontinuierlich und
     gen vorzuzeigen.                            zuverlässig weiterentwickelt hat, hat sie unserem
       Die Ausweise stellt Rudolf Fronczek
                                                 Straßenmagazin im Laufe der Zeit ein unverwechselbares Gesicht
     während der regulären Öffnungszeiten
     der OASE aus. Friederike Bender über-
                                                 gegeben. Zunächst als selbstständige Grafikerin, hat sie ihr Her-
     nimmt gerne auf Anfrage die Beratung für    zensprojekt später als angestellte Mitarbeiterin der Agentur de haar
     rumänische VerkäuferInnen. (cb)             weiterführen können. Neben der (privaten!) Teilnahme an den
                                                 INSP-Konferenzen in München und Manchester, hat sie sich auch
       Verkäufer-Regeln                          um die Akquise ehrenamtlicher MitarbeiterInnen verdient gemacht
        Der Verkäufer muss seinen
                                                 und sich durch die Teilnahme an Zukunftswerkststätten und Round
           Ausweis gut sichtbar tragen.          Tables für das Projekt stark gemacht. Als Freundin und Unterstütze-
        Der Verkauf der Zeitung in den          rin wird sie dem DRAUSSENSEITER zum Glück erhalten bleiben.
           Fahrzeugen der KVB ist nicht
           gestattet.
                                                                   Seit März 2020 ist nun Edgar Lange als neuer Gra-
        Jeder Verkäufer hat sich ord-
                                                                      fiker im Boot und bereichert unser Magazin
           nungsgemäß zu verhalten.
           Insbesondere sollte der Ver-                                 durch konstruktive Vorschläge und ein fach-
           käufer während des Verkaufs                                   kundiges Layout. Der 56jährige Mediengestal-
           nüchtern sein und nicht
           betteln.
                                                                         ter ist seit über 30 Jahren in seinem Design-
                                                                         büro selbstständig tätig und spezialisiert auf
        Verstoß gegen die Regeln kann
           zum Verkaufsverbot führen.                                   Kommunikationsprojekte für Print und Online.
                                                                                                                          FOTOS: PRIVAT

        Der Verkäufer bezieht die Zeitung                           Der begeisterte Musikliebhaber ist übrigens „ganz
           für 1,10 € und der Verkaufspreis                       nebenbei“ oft als DJ bei Events und Partys hinter
           beträgt 2,20 €.                                 dem Mischpult anzutreffen und präsen-
        Der Verkäufer bekommt ein               tiert zudem als Sendungsmacher seine Idee von
           Bonusheft pro 10 verkaufte
           Hefte.                                „guter Musik“ in der monatlichen Radio-
                                                 Show KILLING TIME beim freien Kölner Inter-
                                                 netsender 674FM. Herzlichen willkommen,
                                                 Edgar! (cb)  www.674.fm/killing-time/

                                                                Für die Titelgestaltungen ist seit vielen Jahren
                                                                        die Grafikerin Deborah Keser zuständig.

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