KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
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2 3 Copyright Titelseite (von oben nach unten) Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek im Rahmen der Initiative „Research in Germany“. © iStock © THI Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
4 KI. Mobilität. Gesellschaft. Inhaltsverzeichnis KI. Mobilität. Gesellschaft. Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis VERGANGENHEIT Gegenwart zukunft Gesellschaftlicher Bericht 1 Gesellschaftlicher Bericht 4 Gesellschaftlicher Bericht 6 Impressum 6 Wissenschaft und Verantwortung Ethik der Künstlichen Intelligenz 40 – 43 Die Zukunft der brasilianischen in Frankenstein or The Modern Anja Bodenschatz, Manuela Schönmann, Automobilindustrie: Mobilitätstrends Prometheus 12 – 15 Matthias Uhl, Gari Walkowitz im Bundesstaat Paraná 54 – 57 Editorial 7 Sonja Bedington Ariane Hinça Schneider, Marcelo I. S. Alves, Interview 44 – 45 Evanio Felippe Interview 16 – 17 Marion Menzel, Claudio Verdun Netzwerk. Partner. Regionen. 8–9 Anja Bodenschatz, Marcio Lobo Netto Interview 58 – 59 Michael Buthut, Giuliano Mendonça Internationale Gesellschaftlicher Bericht 5 KI-Wissenschaftswoche 64 – 65 Gesellschaftlicher Bericht 2 Marion Kühn Bessere Therapieaussichten Gesellschaftlicher Bericht 7 Das Jahr 1912: Brasilien und für Krebs durch Künstliche die erste deutsche Luftpost 18 – 25 Intelligenz 46 – 49 Das automatisierte Fahrzeug basci.net. Die Idee. Das Projekt. 66 – 67 Georg Overbeck Christof Bertram, Marc Aubreville als Arbeitsplatz der Zukunft 60 – 63 Georg Overbeck Clemens Schartmüller, Andreas Riener Interview 26 – 27 Interview 50 – 51 Anne-Sophie Kopytynski, Jochen Hellmann Isabella Wosniack, Marcus Lima Ausblick basci.net-Konferenz 2023 Gesellschaftlicher Bericht 3 KI. Nachhaltigkeit. Transformation. 68 Susanne Lenz, Michael Tretter, Science-Fiction-Epos und Dystopie: Stefan Hoiczyk, Uwe Holzhammer Metropolis zwischen Technik- faszination und -feindlichkeit 28 – 35 Georg Overbeck, Matthias Uhl Interview 36 – 37 Norbert Grob, Pedro Henrique Ferreira
6 KI. Mobilität. Gesellschaft. Impressum KI. Mobilität. Gesellschaft. Editorial 7 Motivation Liebe Leserinnen und Leser, von Seiten der Technischen Hochschule Ingolstadt und der Universidade de São Paulo möchten wir allen Beteiligten recht herzlich zur Auszeichnung des Gemeinschaftsprojekts „basci.net – AI bridging science and society“ im Ideenwettbewerb Internationales Forschungsmarketing gratulieren! basci.net verfolgt die Internationalisierung unserer Forschungsaktivitäten rund um die Künstliche Intel- ligenz (KI) mittels einer internationalen Wissenschaftswoche. Diese ist gleichermaßen vielseitig, wie es die Chancen und Herausforderungen rund um die KI sind – ebenso wie die Forschungsaktivitäten an unseren beiden Hochschulen in diesem dynamischen Feld. Erst vor Kurzem, in den Jahren 2019 bzw. 2020, haben unsere beiden Hochschulen ihre diesbezüg- lichen Aktivitäten in zwei neuen Einrichtungen gebündelt: die Technische Hochschule Ingolstadt mit AImotion Bavaria als dem neuen bayerischen KI-Knoten für Mobilität, die Universidade de São Paulo mit ihrem C4AI Center for Artificial Intelligence als brasilianischem Referenzzentrum. Dabei zeichnen sich AImotion Bavaria und das C4AI Center for Artificial Intelligence gleichermaßen durch die Verbindung von KI-Kern- und Anwendungsbereichen aus, die in beide Richtungen angelegt sind: Die KI-Kernforschung befasst sich mit den grundsätzlichen und weitreichenden Problemen in den ausgewählten Anwendungs- gebieten und ist ihrerseits wiederum von den konkreten Herausforderungen aus diesen geprägt. basci.net führt diesen Vernetzungsgedanken in Form einer breit angelegten Plattform weiter. Darauf tauschen sich zunächst deutsche sowie brasilianische – und je nach künftigen basci.net-Partnerländern weitere internationale – Forscherinnen und Forscher zur KI in unterschiedlichen Technologiefeldern und regionalen sowie gesellschaftlichen Kontexten aus und gestalten diese mit. Ein derartiger institutionalisierter Austausch wurde zwischen unseren beiden Einrichtungen bereits vor zehn Jahren im Rahmen des deutsch-brasilianischen AWARE-Netzwerks initiiert. Umso mehr freut es uns, dass zu unseren bisherigen basci.net-Projektpartnern Artificial Intelligence Network Ingolstadt (AININ), Bayern Innovativ, Deutsches Wissenschafts- und Innovationshaus São Paulo sowie Lactec im Rahmen dieser Publikation kontinuierlich neue Partner hinzustoßen: vom Deutschen Museum über die FACENS bis hin zum Industrieverband des Bundesstaates Paraná (FIEP), um nur einige zu nennen. Video zum Thema: youtu.be/znWATU7wX2g Sehen wir diese Auszeichnung somit gleichermaßen als Bestätigung und Ansporn, den Erfolg von basci.net weiterzutragen. Wir wünschen Ihnen viel Freude und neue Kooperationsideen bei der Lektüre. Ingolstadt und São Paulo im März 2022 Impressum Technische Hochschule Ingolstadt Universidade de São Paulo Herausgeber Koordination Bilder Prof. Dr. Walter Schober, Anette Kainz Quellenangabe: siehe Vermerk unter Präsident der Georg Overbeck jeweiligen Bildern Technischen Hochschule Ingolstadt Prof. Dr. Walter Schober Prof. Dr. Sergio Persival Baroncini Proença (V.i.S.d.P.) Übersetzung Druck Präsident Präsident Internationale Beziehungen Esplanade 10 Sonja Bedington KS Druck für den Rektor der Universidade de São Paulo 85049 Ingolstadt Vera-Maria Giehler K. Schmidle Druck und Medien GmbH Deutschland Camila Heller www.thi.de Georg Overbeck Redaktionsschluss 19. April 2022 Georg Overbeck Prof. Dr. Marcio Lobo Netto Leiter FORTEC Assoziierter Professor Elektronische Systemtechnik Koordinator basci.net Polytechnische Schule der Universidade de São Paulo Koordinator basci.net ISBN 978-3-00-071542-6
8 9 Netzwerk. Partner. Regionen. www.thi.de www.usp.br www.ainin.de www.lactec.org.br www.bayern-innovativ.de www.dwih-netzwerk.de
10 KI. Mobilität. Gesellschaft. KI. Mobilität. Gesellschaft. 11 zukunft Gegenwart VERGANGENHEIT © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek
12 KI. Mobilität. Gesellschaft. Wissenschaft und Verantwortung in KI. Mobilität. Gesellschaft. Wissenschaft und Verantwortung in 13 Frankenstein or The Modern Prometheus Frankenstein or The Modern Prometheus Victor Frankenstein nimmt 17-jährig Anfang des 19. Jahrhunderts sein naturwissenschaftliches Stu- dium an der ersten bayerischen Landesuniversität Ingolstadt auf, getrieben von seinem Wissensdrang: „I ardently desired the acquisition of knowledge.“1 Ausgestattet mit Begabung und Fleiß lässt der narzisstische2 junge Nachwuchsforscher jeglichen Verantwortungssinn bezüglich seiner Experimente und deren Konsequenzen missen. Die 19-jährige Mary Wollstonecraft Shelley3 beschreibt die katas- trophalen Konsequenzen unreflektierter und entfesselter wissenschaftlicher Forschung, wobei sie die Leserschaft des Jahres 1818 durch die Einbettung ihres Schauerromans in mehrere Erzählebenen zu schonen versteht.4 Ihr Vorwort der Ausgabe von 1831 weist auf die Entstehung in Lord Byrons5 Haus am Genfer See hin – eine Art Wettstreit zwischen Byron, Godwin6, Shelley7 und Polidori8.9 Beispiele künstlicher Menschen Frankensteins namenlose Kreatur reiht sich in eine lange Tradition künstlich erschaffener Wesen ein. So wurden in der Antike bewegliche Statuen mit Mechanik betrieben, später auf pneumatischer und hydraulischer Basis. Technologien wie Dampfkraft bzw. Elektrizität ermöglichten komplexere und exak- VE RG ANGENHEIT tere Bewegungen, siehe La Mettries Beschreibungen eines maschinellen Flötenspielers.10 Bei Paracelsus11 beschränkte sich die künstliche Erschaffung eines Menschen auf rein theoretische Überlegungen. Der Zeugungsakt fand unter Ausschluss der Frau statt, „nämlich, daß das sperma eines Mannes im verschlossenen Cucurbiten […] auf vierzig Tag putreficiert werde.“ Schließlich „wird ein recht lebendig menschlich Kind daraus […], doch viel kleiner. Das selbige nennen wir homunculum“.12 In Literatur und Mythologie wird die künstliche Erzeugung von Menschen u. a. bei Hesiod thematisiert: Zeus beauftragt Hephaistos die künstliche Frau Pandora zu schaffen, ein GEGENWART Mary Wollstonecraft Shelley unwiderstehliches Wesen, in einem Tongefäß das Unheil der gesamten Menschheit mit © akg-images / Album / Fine Art Images sich bringend. 13 In der jüdisch-kabbalistischen Kultur ist der Golem „gemeinhin eine durch kabbalistischen Zauber zum Leben erweckte lehmene Diener- bzw. Verteidigergestalt, die durch Magie […] aktiviert bzw. deaktiviert werden kann.“14 Der tschechische Schriftsteller Mary Shelley’s ‘Frankenstein’, 1831 edition Karel Čapeks prägte übrigens den Begriff Roboter in seiner Utopie „W.U.R. – Werstands © akg-images / Science Photo Library Universal Robots“ aus dem Jahre 1921 (robota = Frondienst, Arbeit).15 Frankenstein Kabinett © Stadt Ingolstadt / Roessle Z UKU N FT (Wissenschaftliches) Erschaffen und Verantwortung Shelley deutet schon in ihrem Titel auf den Vergleich zwischen dem Schweizer Studenten mit dem Wissenschaft und Titanen Prometheus hin. Bei Hesiod und Platon tritt Prometheus eher wohlwollend und fürsorglich auf. Im Gegensatz dazu ist Frankenstein durch seine narzisstische Motivation gekennzeichnet: „Life and death appeared to me ideal bounds, which I should first break through […]. A new species would bless Verantwortung in me as its creator and source; many happy and excellent natures would owe their being to me. […] I could bestow animation upon lifeless matter, […] renew life where death had apparently devoted the body to corruption.“16 Frankenstein or The Damit folgt Frankenstein der Idee des zuvor von ihm rezipierten Paracelsus, der künstlichen Schaffung eines Lebewesens, die natürliche Fortpflanzung überwindend. Bei Paracelsus trifft lebende Materie Modern Prometheus auf ein Gefäß, während aber der Student den Weg der galvanischen17 Wiederbelebung toter Materie beschreitet. Hier stellt er sich in seinen eigenen Worten auf die gleiche Ebene mit Gott und erwartet darüber hinaus in seinem egozentrischen Denken die Dankbarkeit seiner Kreation(en). Sein wissenschaftliches Projekt ist jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt und gerät mit Sonja Bedington dem Zeitpunkt der Schöpfung völlig außer Kontrolle. Weder reflektiert der Student den echten Leitung International Office wissenschaftlichen Nutzen seines künstlichen Lebewesens noch trifft er Vorsorge für die Pflege oder Technische Hochschule Ingolstadt „Wartung“ seiner Kreation. Nie tauscht er sich mit anderen Wissenschaftlern bzw. seinen Professoren Krempe oder Waldmann zu seinem gewagten Vorhaben aus. Auch sein Gemütszustand, geprägt von ungesundem, fieberhaftem Eifer, alle Sozialkontakte zu Kommilitonen und Familie vernachlässigend,
14 KI. Mobilität. Gesellschaft. Wissenschaft und Verantwortung in KI. Mobilität. Gesellschaft. Wissenschaft und Verantwortung in 15 Frankenstein or The Modern Prometheus Frankenstein or The Modern Prometheus lässt Zweifel an seiner Methodik aufkommen. „Every night I was oppressed by a slow fever, and I became als Folge ihrer selbstaufopfernden Fürsorge schließlich ihr Leben lassen. Als Frankenstein nach der nervous to a most painful degree; the fall of a leaf startled me, and I shunned my fellow-creatures as if I Schöpfung in einen Zustand mentaler Unruhe verfällt, umsorgt ihn der Jugendfreund Henry Clerval auf- had been guilty of a crime.“18 opferungsvoll, während die Kreatur ihrem Dasein überlassen wird. Bei Platon beschreibt Protagoras im Gespräch mit Sokrates wie Prometheus (=Vorbedacht) für die Die Dienerin Justine wird fälschlicherweise wegen des Mordes an Victors jüngerem Bruder William zum Menschen Verantwortung übernimmt. Sein Bruder Epimetheus (=Nachbedacht) möchte die Aus- Tode verurteilt. Hier unternimmt der indirekt dafür verantwortliche Victor, in seiner Untätigkeit an Hamlet stattung der von den Göttern aus Erde erschaffenen Menschen übernehmen, erfüllt den Auftrag aber erinnernd, nichts, um ihre Unschuld zu beweisen. „It was to be decided, whether the result of my curiosity mangelhaft. „Weil er ja nun nicht besonders klug war, entging es Epimetheus, daß er die Mittel zur and lawless devices would cause the death of two of my fellow-beings […]! A thousand times rather Lebenserhaltung für die vernunftlosen Wesen aufgebraucht hatte. Folglich war ihm das Menschen- would I have confessed myself guilty of the crime […] but I was absent when it was committed, and such geschlecht noch unausgestattet übrig.“19 Um die Menschen sich nicht selbst wehrlos zu überlassen, a declaration would have been considered as the ravings of a madman.“26 Hier überwiegt seine Sorge ergänzt Prometheus das unvollendete Werk. So „stahl er Hephaists und Athenas technisches Können um die Gefährdung der eigenen Glaubwürdigkeit, somit ist der junge Wissenschaftler nicht mehr frei. zusammen mit dem Feuer – denn es war unmöglich, daß es ohne Feuer von jemand hätte erworben oder ihm hätte nützlich werden können – und schenkte es so dem Menschen.“20 Zwar ist die Kreatur nicht inhärent böse, der Mangel an „väterlicher“ Zuneigung gepaart mit einer völli- gen Ablehnung durch die Gesellschaft weckt in ihr erst einen Hass auf den Erschaffer.27 Die Sehnsucht Von dem Erschaffer Frankenstein erhält die Kreatur keinerlei Ausstattung und ist der Welt zunächst nach einer künstlich erschaffenen Partnerin, bleibt letztlich unerfüllt. „I created a creature […] bound VE RG ANGENHEIT wehrlos ausgeliefert. Im Augenblick der Belebung schreckt er vor der grausigen Realität seines wissen- towards him, to assure […] his happiness […]. This was my duty; but there was another still paramount schaftlichen Tuns zurück. „It was already one in the morning […] when […] I saw the dull yellow eye to that. My duties towards the beings of my own species had greater claims to my attention, because of the creature open; it breathed hard, and a convulsive motion agitated its limbs. […] now that I had they included a greater proportion of happiness or misery. Urged by this view, I refused […] to create a finished, the beauty of the dream vanished, and breathless horror and disgust filled my heart. Unable to companion for the first creature.“28 Frankenstein lehnt schließlich den „Forschungsauftrag“ aus ethi- endure the aspect of the being I had created, I rushed out of the room.“21 So erhält der an ein Neuge- Video zum Thema: schen Gründen ab, fordert damit aber ironischerweise einen weiteren Mord, den an Elisabeth, heraus. youtu.be/Ap_Gtk96080 borenes erinnernde, hilflose Riese keinen Namen, sondern wird im Laufe der Erzählung immer wieder mit Abwertungen bedacht: „I beheld the wretch – the miserable monster whom I created.“22 Kurz vor seinem Tod überträgt er die Verantwortung für die Auslöschung der Kreatur an den ebenso ehrgeizigen Kapitän Walton, während einer grenzüberscheitendenden Expedition ins Nordpolarmeer.29 Als Frankenstein die Verantwortung für sein Wesen und damit sein wissenschaftliches Handeln an Doch beschließt dieser auf das Drängen seiner Mannschaft hin umzukehren, als das Schiff im Eis ein- GEGENWART dieses selbst abgibt, steuert es notgedrungen seine Entwicklung und Bildung selbst. Während der geschlossen ist und der Ausgang ungewiss. Damit zeigt er anders als Frankenstein einen zukunftswei- zweiten Begegnung zwischen Schöpfer und Wesen erzählt dieses in seinen eigenen, mittlerweile senden Weg zu einem verantwortungsvollen forschenden Handeln auf. hervorragend artikulierten Worten von seinem Lebensweg. Viel schneller als ein natürlich entstandenes menschliches Wesen entwickelt es die Fähigkeit, ohne elterliche Fürsorge zu überleben: es kleidet sich, findet Nahrung und erwirbt die Fähigkeit ein Feuer zu unterhalten. Von ihrem Versteck aus die Familie Literaturverzeichnis DeLacey in ihrem Zuhause beobachtend eignet sich die Kreatur das Sprechen und Lesen mit Hilfe von Berman, Jeffrey: Narcissism and the Novel, New York Drux, Rudolf (Hrsg.): Menschen aus Menschenhand: [online] https://www.spektrum.de/lexikon/ und London: New York University Press, 1990. zur Geschichte der Androiden; Texte von Homer bis neurowissenschaft/galvani/4474 [4.8.2021]. Briefen und Literatur von Milton23, Goethe24 u. a. übermenschlich schnell an. Sie erweitert auch ihre Botting, Eileen Hunt: Mary Shelley and the Rights of Asimov, Stuttgart: Metzler, 1988. Platon/Manuwald, Bernd (Übersetzung und Z UKU N FT emotionalen und sozialen Kompetenzen nach dem Vorbild der interagierenden Familienmitglieder. Ins- the Child, Philadelphia: University of Pennsylvania Hesiodus/West, Martin L.: Theogony and Works and Kommentar): Protagoras in Platon, Werke, Band VI2, Press, 2018. Days, translated with an introduction and notes by M. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999. besondere die Fähigkeit zur Empathie beruht auf der Anteilnahme an deren tragischem Schicksal. Drux, Rudolf (Hrsg.): Der Frankenstein-Komplex: L. West, Oxford: Oxford University Press, 1989. Schäbler, Daniel: Framing Strategies in English Fiction kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom Karlsböck Tanja/Eidherr Armin: Der Golem, in: from Romanticism to the Present, Heidelberg: Winter, künstlichen Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, Handbuch Jüdische Kulturgeschichte, [online] http:// 2014. Die Kreatur besticht die Leserschaft durch ihre Wortgewandtheit und Selbsterkenntnis, dass sie kein 1999. hbjk.sbg.ac.at/kapitel/der-golem/ [28.7.2021]. Shelley, Mary/Gaile, Andreas (Hrsg.): Frankenstein; or „echter“ Mensch ist und wohl nie ein akzeptierter Teil der Gesellschaft werden wird. „I knew that I Galvani, in: Lexikon der Neurowissenschaft, The Modern Prometheus, Stuttgart: Reclam, 2013. possessed no money, no friends, no kind of property. I was, besides, endued with a figure hideously deformed and loathsome; I was not even of the same nature as man. […] When I looked around, I saw Fußnoten and heard of none like me. Was I then a monster, a blot upon the earth, from which all men fled, and 1 Shelley, Mary und Gaile, Andreas (Hrsg.): Traums vom künstlichen Menschen, Frankfurt am Elektrizität an Froschschenkeln durchführte. Frankenstein; or, The Modern Prometheus, Main: Suhrkamp, 1999, S. 31ff. 18 Shelley/Gaile, 2013, S. 91. whom all men disowned?“25 Somit ist in den Worten der Kreatur das anfangs an hohe Erwartungen ge- Stuttart: Reclam, 2013, S. 74. 11 Philippus Theophrastus Aureolus Bombast 19 Platon/Manuwald, Bernd (Übersetzung und knüpfte wissenschaftliche Experiment gänzlich gescheitert. 2 Vgl. Berman, Jeffrey: Narcissism and the Novel, von Hohenheim (1493–1541) war Arzt und Kommentar): Protagoras in Platon, Werke, Band New York and London: New York University Press, Universalgelehrter der Renaissance. VI2 Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999, 1990, S. 58ff. 12 Drux, Rudolf (Hrsg.): Menschen aus S. 25f. 3 Ihre Eltern waren der Sozialphilosoph William Menschenhand: zur Geschichte der Androiden; 20 Ebd.: S. 25. Grenzen der Verantwortung Godwin und die Feministin Mary Wollstonecraft. 4 Vgl. Schäbler, Daniel: Framing Strategies in Texte von Homer bis Asimov, Stuttgart: Metzler, 1988, S. 15. 21 Shelley/Gaile, 2013, S. 92f. 22 Ebd.: S. 93f. Im Moment seines Triumphes, tote Materie erfolgreich zu beleben verliert der Student endgültig die Kon- English Fiction from Romanticism to the Present, 13 Hesiodus/West, Martin L.: Theogony and Works 23 John Milton (1608–1674): Paradise Lost. Heidelberg: Winter, 2014, S. 90ff. and Days, translated with an introduction and 24 Johann Wolfgang von Goethe (1794–1832): Die trolle über sein Leben und die Folgen seines wissenschaftlichen Tuns. Damit besiegelt er sogleich das 5 George Gordon Byron (1788–1824) war ein Lyriker notes by M. L. West, Oxford: Oxford University Leiden des jungen Werthers. Der Selbstmord Ende seiner wissenschaftlichen Freiheit. Er ist gelähmt aus Angst vor der Entdeckung seiner zweifelhaf- der englischen Romantik. Press, 1989, S. 20f. des unglücklich Liebenden fand seinerzeit viele 6 Mary Godwin war der Geburtsname von Mary 14 Karlsböck Tanja/Eidherr Armin: Der Golem, in: Nachahmer. ten Forschertätigkeit und in der Ungewissheit, was die unbezwingbare Kreatur als Nächstes unternimmt. Wollestonecraft Shelley. Handbuch Jüdische Kulturgeschichte, [online] 25 Shelley/Gaile, 2013, S. 187. 7 Percy Bysshe Shelley (1792–1822) war ein http://hbjk.sbg.ac.at/kapitel/der-golem/ 26 Ebd.: S. 129. romantischer Schriftsteller. [28.7.2021]. 27 Vgl. Botting Eileen Hunt: Mary Shelley and the Verantwortung übernehmen in Shelleys Roman andere, Victors Familie und Freunde. Schon die Ehe 8 John William Polidori (1795–1821) war Mediziner 15 Vgl. Drux: Menschen aus Menschenhand, 1988, Rights of the Child, Philadelphia: University of seiner Eltern resultierte aus einem Akt der Verantwortung heraus. Fünf Jahre nach dessen Geburt und Literat. S. 255ff. Pennsylvania Press, 2018, S. 2ff. 9 Vgl. Shelley/Gaile, 2013, S. 10ff. 16 Shelley/Gaile, 2013, S. 87. 28 Shelley/Gaile, 2013, S. 328f. adoptieren die Eltern die Waise Elisabeth, später als Ehefrau für den Erstgeborenen vorbestimmt. Für 10 Vgl. Drux, Rudolf (Hrsg.): Der Frankenstein- 17 Luigi Galvani (1737–1798) war ein italienischer 29 Ebd.: S. 27ff. die kurz vor Victors geplanter Abreise nach Ingolstadt an Scharlach erkrankte Tochter muss Caroline Komplex: kulturgeschichtliche Aspekte des Arzt und Naturforscher, der u. a. Experimente mit
16 Mobilität, Künstliche Intelligenz, Gesellschaft KI. Mobilität. Gesellschaft. Interview 17 Interview © Prof. Marcio Lobo Netto © Anja Bodenschatz Anja Bodenschatz Prof. Marcio Lobo Netto Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Assoziierter Professor, Koordinator basci.net, gesellschaftliche Implikationen und Elektronische Systemtechnik ethische Aspekte der Künstlichen Intelligenz Universidade de São Paulo (USP), Technische Hochschule Ingolstadt Polytechnic School VE RG ANGENHEIT Was würden Sie jungen Wissenschaftlern im Hinblick auf das Scheitern von Frankenstein raten? nja Bodenschatz Die Geschichte um Frankenstein und sein Monster zeigt uns eine uralte Angst der A Menschheit auf: etwas zu erschaffen, das sich nicht kontrollieren lässt. Diese Angst zeigt sich heutzutage auch in der Debatte um mögliche Folgen der Künstlichen Intelligenz. In Mary Shelleys Roman wandelt sich blinder Schaffensdrang zu Monstrosität. Die Folgenabschätzung für das eigene Handeln und angestrebte wissenschaftliche Erkenntnisse sollte möglichst früh im wissenschaftlichen Prozess erfolgen, auch um die GEGENWART Akzeptanz in der Gesellschaft zu steigern. Prof. Marcio Lobo Netto Frankenstein steht für das menschliche Streben, Leben zu erschaffen, es Gott gleichzutun. In diesem Kontext operieren auch Informatiker: Selbstorganisation, Entstehen, Reproduktion, Anpassung, Autonomie, Regeln, Wahrnehmung, Entscheidung, Planung, Strategie und Wissen sind hochaktuelle Themen, die eng mit dem Leben, Intelligenz und Wahrnehmung verbunden sind – allerdings mit dem Unterschied, dass wir diesmal selbst die Verantwortung für unsere Schöpfungen übernehmen Z UKU N FT müssen. Keine 100 Jahre nach „Frankenstein“ startete ein nächstes großes Menschheitsprojekt: Mit der Eroberung der Luft wurden erneut Grenzen verschoben. Inwieweit sehen Sie hier Parallelen? Anja Bodenschatz Mary Shelleys Roman erschien zu einer Zeit in der die ersten Eisenbahnen zum Einsatz kamen und vor gesundheitlichen Folgen der schnellen Fortbewegung gewarnt wurde. Rund hundert Jahre darauf sprengte die Luftfahrt alle bisherigen Geschwindigkeitsrekorde der menschlichen Fortbewegung. Die Geschichte um Frankenstein erzählt auch von der Vision, das bisher Unmögliche möglich zu machen, die jedem Fortschritt zugrunde liegt. Prof. Marcio Lobo Netto Just in jener Stadt, in der ein auswärtiger Wissenschaftler namens Frankenstein seine Kreatur zwei Jahrhunderte zuvor zum Leben erweckt hat, erörtert ein internationales Wissenschafts- Video zum Thema: forum ähnliche Konzepte. Dabei richtet sich unser Interesse darauf, wie derartige Kreaturen aus Erfahrun- youtu.be/0nSNRh3vSgo gen lernen, sich selbst weiterentwickeln und die nötige Reife erlangen, um den Menschen sicher in seinem urbanen Lebensraum zu begleiten. Damit wird von einem noch nicht einmal geschaffenen Wesen erwartet, zur Steigerung unserer Lebensqualität tagtägliche Aufgaben einerseits als getreues Abbild des Menschen und andererseits mit Perfektion zu erfüllen. Künstliches Leben, Intelligenz und Wahrnehmung sind bereits Realität. Als letzte Dimension fehlt es nur noch an Bewusstsein – aber das kommt noch. Und wie bei der Eroberung der Himmelskörper werden auch hier erneut Grenzen verschoben.
18 KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation 19 Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Raum – Zeit – Kommunikation In Brasilien markiert das Jahr 1912 die Gründung unserer Partneruniversität Universidade Federal do Das Jahr 1912: Paraná (UFPR) als eine der ersten Universitäten im Land (vgl. Siqueira, 2012, S. 28). Für Deutschland ist das Jahr 1912 hinsichtlich Kommunikation und Mobilität ein Meilenstein: Im Frühsommer finden dort erstmals in größerem Umfang Postflüge statt. Diese erste offizielle Luftpost (vgl. Meighörner et al., Brasilien und die 2000, S. 64), die sogenannte Flugpost am Rhein und am Main, wird in der Zeit vom 10. bis 23. Juni 1912 im Rahmen einer zu Wohltätigkeitszwecken veranstalteten „Postkartenwoche“ ausgerichtet. Eine Anzahl sogenannter Flug-Post-Karten findet den Weg nach Brasilien. Einige dieser Karten werden erste deutsche nachfolgend beschrieben, untersucht und aus verschiedenen Perspektiven interpretiert. Eine Flugpostkarte nach Rio: Spiegel ihrer Zeit Luftpost VE RG ANGENHEIT Flugpostkarte 1: Versand in Darmstadt 12. Juni, Ankunft am 10. Juli in Rio de Janeiro Louis Hisserich und seine Frau schrieben die untenstehende Bildpostkarte an ihren Sohn Carl c/o Hugo Heydtmann, eine Vertretung für Automobile bzw. chemisch-technische Produkte (vgl. https://adressbuecher.genealogy.net). Georg Overbeck Leiter FORTEC, Koordinator basci.net Der Text lautet: Technische Hochschule Ingolstadt Lieber Carl! Heute ist’s nur eine Karte, die den Weg zur Dir teilweise durch die Luft findet. Vielleicht liegt die Zeit nicht fern, wo wir selbst den ganzen Weg zu Dir auf diesem Wege machen. Herzliche Grüsse GEGENWART Dein treuer Vater, Deine Dichl. [= Dich liebende] Mutter Z UKU N FT Flugpostkarte 1 nach Rio de Janeiro, Privatsammlung Beim ersten Durchlesen mutet eine Aussage im Jahr 1912, in naher Zukunft einen Transkontinentalflug bis nach Rio de Janeiro zu unternehmen, nahezu prophetisch an. Wird sie hingegen aus der Perspek- tive des damaligen Zeitgeistes analysiert, so erscheint sie plausibel: Nach der Reichsgründung im Jahr
20 KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation 21 Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost 1871 hatte sich die Innovationstätigkeit hochgradig beschleunigt, denn in keiner bisherigen Epoche Rio beschreibt der zeitgenössische Schriftsteller Armand von Schweiger-Lerchenfeld in seinem Werk hat das Ingenieurwesen seit seiner Entwicklung so rasante und grundlegende Fortschritte gemacht „Das neue Buch von der Weltpost“ als „an malerischer Schönheit [nur] von wenigen Städten der Erde wie in der Zeit des Kaiserreichs (vgl. Walle, 1994, S. 107). Dieses Zeitalter, das heute mit Namen wie übertroffen“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, S. 785). Er bezeichnet Rio als einen der Hauptumschlag- Otto Lilienthal oder Carl Benz verbunden wird (vgl. Overbeck, 2016, 58), gipfelte in der Eroberung der plätze für den Seehandel: „Die Zahl der einfahrenden Dampfer erreicht in manchen Jahren über 950, Luft als neuer Dimension der „höchsten Regionen der irdischen Welt“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, die der Segelschiffe 750 bis 800“ (ebd.). Bis dorthin benötigte die Karte auf dem Seeweg rund 28 S. 307). Nachdem Georg Baumgarten 20 Jahre zuvor erstmals mit einem Luftschiff abgehoben hatte Tage mit dem Postdampfer, etwa der Hamburg-Südamerikanischen Handelsgesellschaft (vgl. Schwei- (vgl. Meighörner et al., 2000, S. 14), startete im Jahr 1900 mit LZ 1 das erste lenkbare Luftschiff des ger-Lerchenfeld, 1900, S. 264). Zuvor war sie nach dem Transport durch die „Schwaben“ wohl per Grafen Ferdinand von Zeppelin zu seiner Jungfernfahrt. Zug zum Hafen von Hamburg oder Bremerhaven befördert worden. Die Daten des Poststempels von Darmstadt sowie des Ankunftsstempels belegen die Zeitspanne des kombinierten Luft-, Land- und Der von Louis Hisserich beschriebene „Weg durch die Luft“ bezieht sich auf das Luftschiff LZ 10 Seewegs. „Schwaben“, das im Rahmen der Postkartenwoche Flüge zwischen Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz, Offenbach und Worms unternahm. Dabei war Frankfurt von besonderer Bedeutung, da sich Die Fotografie zeigt das Staatsoberhaupt des damaligen Großherzogtums Hessen, Großherzog Ernst dort ein Luftschifflandeplatz befand; in der Regel landete die „Schwaben“ jedoch nicht, sondern nahm Ludwig, seine Frau Großherzogin Eleonore und die beiden Söhne Georg Donatus und Ludwig. Die aufzunehmende Postbeutel mittels Seil entgegen, während bereits gelaufene Post mit dem Fallschirm Großherzogin bildet die Mitte der kleinen Familie. Sie war sehr beliebt und in karitativen Belangen VE RG ANGENHEIT abgeworfen wurde (vgl. https://flugpost-rhein-main.de). In Kombination mit dem Kartentext kann man äußerst engagiert. Daher handelte es sich auch um die „Postkartenwoche der Grossherzogin 1912“, auch die orangefarbene private Flugpost-Spendenmarke – die Postkartenwoche war ähnlich einem wie der eingedruckte Text auf der Adressseite bezeugt. Die Verkaufserlöse sowohl dieser Karte als Public-Private-Partnership zwischen Deutscher Reichspost und Deutscher Luftschifffahrts-Aktien- auch der genannten Flugpost-Spendenmarke waren für die Mütter- und Säuglingsfürsorge bestimmt gesellschaft (DELAG) organisiert – als Indiz für die damalige Aufbruchstimmung sehen. So deutet deren (vgl. Meighörner et al., 2000, S. 64; Koch, 2012, S. 87). Dazu passt auch die stilisierte Blume auf dem Schriftzug außerhalb des Ovals „Erste Deutsche Luftpost am Rhein“ weitere künftige Unternehmungen Poststempel der Adressseite, die sich augenscheinlich auf den im Vorjahr veranstalteten, ebenfalls an. Innerhalb des Ovals ist ein hoch über den Wolken im Gegenlicht der aufgehenden Sonne mit wohltätigen Zwecken dienenden „Blumentag der Großherzogin“ bezieht (vgl. Koch, 2012, 87, Strahlenkranz schwebender Vogel zu sehen, der einen versiegelten Brief im Schnabel trägt. Dieser https://flugpost-rhein-main.de). Strahlenkranz kann ebenfalls als ein Symbol des Aufbruchs interpretiert werden. Was zeigt die Bildseite noch? Das Nebeneinander der sich rasant entwickelnden Mobilität in Form GEGENWART der neuen Flugpost sowie des aus dem Gottesgnadentum abgeleiteten Herrschaftsgefüges in Form der Großherzogsfamilie lässt erahnen, dass das Jahr 1912 Vorbote einer unmittelbar bevorstehenden Zeitenwende ist: „[…] das 19. Jahrhundert endet genau hier, die überkommene Welt stirbt, eine neue Zeit beginnt. Die bevorstehende Katastrophe kündigt sich an, die Zeit der zerstörerischen Kriege, des Zusammenbruchs der alten Ordnung“ (Glaser, 2015, S. 262). So wird im Königreich Bayern im Jahr 1912 mit dem Tod des 91-jährigen Prinzregenten Luitpold – vom Kaiser als „letzter Ritter“ gerühmt (Brandl, 2001, S. I) – nach 26 Regierungsjahren eine Epoche zu Ende gehen. Z UKU N FT Den Kontext des „Zusammenbruchs der alten Ordnung“ nimmt in der Rückschau auch die neben der Flugpost-Spendenmarke für das Auslandsporto aufgeklebte 10-Pfennig-Marke der Germania vorweg, der weiblichen Personifikation von Deutschland: Neben Ölzweig und Eichenlaub für Frieden und Einigkeit konnotieren Kettenhemd, Brustpanzer und Schwert (vgl. Hahn, 2002, S. 119) Wehrhaftigkeit (vgl. https://artsandculture.google.com/exhibit/germania-vom-mythos-zur-marke). Die Flugpostkarten von 1912: Brücke in die Neue Welt – und die der Mobilität Wie die folgenden Ausführungen zeigen, zeichnen die Flugpostkarten in ihrer Gesamtheit ein Bild der damaligen Kommunikationswege zwischen Deutschland und Brasilien nach, bilden ferner die Intensität der Handels- sowie familiären Beziehungen ab; nicht zuletzt im Hinblick auf die deutsche Auswanderung nach Brasilien. In diesem Kontext sind die Karten Ausdruck der oben beschriebenen, Flugpostkarte 1 nach Rio de Janeiro, Privatsammlung sich rasant entwickelnden Mobilität, die nun auch die breite Gesellschaft erreichte. Entsprechend wurden im Jahr 1900 15-mal so viele Postkarten wie 1875 versandt (vgl. Leclerc, 1986, S. 30). Was sagt uns die Bildseite? Zunächst zeugt der Stempel vom Ankunftsdatum in Rio de Janeiro am Somit ist es nicht überraschend, dass das Luftschiff „Schwaben“, welches die nachstehenden Karten 10. Juli zwischen 10 und 11 Uhr. Dabei lässt dieser sogenannte Wellenstempel auf die frühe Verwen- transportierte, zusammen mit dem Postflugzeug „Gelber Hund“ rund 460.700 Briefe und Karten dung einer Briefstempelmaschine zur automatisierten Entwertung schließen, wie sie in jener Zeit zur zwischen den Städten Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz, Offenbach und Worms beförderte (Hahn, Beschleunigung des Postverkehrs in Großstädten wie Rio eingesetzt wurde. Auch hier – auf brasilia- 2002, S. 174). Die nachfolgenden Karten gingen in die Bundesstaaten Salvador, Rio Grande do Sul nischer Seite – wird also der weltweite technische Fortschritt in der Kommunikation deutlich (vgl. u. a. und Paraná, in dem unsere Partneruniversität UFPR beheimatet ist, und bilden damit die damalige https://sammlungen.museumsstiftung.de/stempelmaschinen). Mobilität in ihrer ganzen Breite ab.
22 KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation 23 Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Flugpostkarte 2: Versand in Frankfurt am Main am 12. Juni, Ankunft am 30. Juni in Bahia Ein Ausschnitt des Textes lautet: „Ich will Dir hiermit durch das Zeppelin Luftschiff „Schwaben“ viele Für den Sektor Handel und den Bundesstaat Bahia steht untenstehende Karte einer „südamerikani- Grüße von Klein Auheim überbringen lassen. Nächsten Sonntag wird in unserer Pfarrkirche das schen Handels-Gesellschaft“ in die gleichnamige Stadt. Bonifaziusfest für das Dekanat Seligenstadt abgehalten […] Ich werde Dir in aller Kürze wieder einige Zeitungen schicken.“ Bemerkenswert ist, dass dieses von deutschen Padres gegründete Jesuitenkolleg vermutlich weiterhin als Schule besteht (vgl. https://www.escol.as/307057-escola-ensino-fundamen- tal-sao-luiz-gonzaga). Flugpostkarte 4: Versand in Darmstadt am 22. Juni über Paranaguá (Transitstempel vom 15. Juli), Ankunft am 17. Juli in União da Vitória Für die deutsche Auswanderung nach Paraná steht untenstehende Karte an João Tenius (João ent- spricht dem deutschen Vornamen Hans) von seinem Schwager Max, die dieser gegen Ende der Post- kartenwoche am 22. Juni verschickte: „Lieber Hans, Sende Dir eine Postkarte durch Zeppelinluftschiff, an welcher Du jedenfalls Deine Freude haben wirst. Der Termin der Annahme dieser Postkarte dauert nur 14 Tage.“ VE RG ANGENHEIT Flugpostkarte 2 nach Bahia, Privatsammlung Der Text der an F. K. Ottens gesandten Karte lautet in Ausschnitten: „Als Curiosität sendet Ihnen unsere Spdt. [Spedition] Grüsse von hier – befördert durch das erste offizielle Reichspostluftschiff ‚Schwaben‘ Typ Zeppelin […] besorgen Sie bitte nur Holz – das ist vorderhand die Hauptsache. Wir haben sehr GEGENWART viele Lieferungen jetzt zu erfüllen.“ Der Adressstempel zeigt, dass es sich um eine südamerikanische Handelsgesellschaft handelt. Bahia war damals ein wichtiger Umschlagplatz, wie Armand Schweiger- Lerchenfeld in seiner „Weltpost“ ausführt: „Unter den Seehandelsplätzen Brasiliens nimmt Bahia den dritten Rang ein; […] Hauptausfuhrartikel sind: Zucker, Kaffee, Cacao, Häute, Tabak, Mangotes, Piassava, Holz“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, S. 785). Z UKU N FT Flugpostkarte 3: Versand in Offenbach am 14. Juni nach Pelotas, ohne brasilianischen Ankunftsstempel Für den Sektor Kirche und den Bundesstaat Rio Grande do Sul steht die untenstehende Karte aus Flugpostkarte 4 nach União da Vitória, Privatsammlung Offenbach von Josef Schroth an seinen Bruder Pater Peter nach Pelotas. Verglichen mit den Karten 1 und 2 mit ihren Küstendestinationen hatte diese Karte noch mehrere hun- dert Kilometer ins Landesinnere zurückzulegen. In der Hafenstadt Paranaguá mit einem Transitstempel versehen (unterer linker Stempel vom 15. Juli) wurde sie vermutlich zunächst nach Curitiba und an- schließend nach União da Vitória befördert, wo sie am 17. Juli ankam (schwach abgeschlagener, nur teilweise lesbarer Ortsstempel darüber). Eine Beschreibung des mühseligen Weges über das Land gibt Schweiger-Lerchenfeld: „Auch sonst liegt in Mittelamerika und großen Gebieten von Südamerika der Postbestelldienst zum größten Theil auf den Schultern von Fußboten. Und nicht etwa bloß figürlich genommen; denn einem solchen Boten werden mitunter unverhältnismäßig schwere Lasten aufge- bürdet. Nur ausnahmsweise erhalten sie (z. B. in Mittelamerika) eine Aushilfe, indem ihnen ein Maultier zur Verfügung gestellt wird. […] Gleichwohl legen diese schwer überbürdeten Diener Mercurs meist 50 Kilometer und drüber im Tage zurück, wobei sie mit 12 bis 15 Kilogramm belastet sind“ (Schwei- ger-Lerchenfeld, 1900, S. 172). „Neben diesen Eilpostwagen stehen kleine, ganz nach europäischem Modell gebaute Briefpostwagen (Sillas de Correos), in den einsamen, gebirgigeren Gegenden (vornehmlich in Brasilien) Ochsenkarren und in den Ebenen große, zweiräderige, hochaufbepackte Lastfuhrwerke in Verwendung“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, S. 194). Der Kontrast zwischen dieser Beschreibung der mühsamen Postwege und dem „Weg durch die Luft“ lässt deutlich erkennen, wie neu und aufregend der Versand von Karten über den Verkehrsträger „Luftschiff“ für alle Absender war, Flugpostkarte 3 nach Pelotas, Privatsammlung wird dies doch ausnahmslos in allen Postkarten 1–4 erwähnt.
24 KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation KI. Mobilität. Gesellschaft. Raum – Zeit – Kommunikation 25 Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost Spätverwendung einer Flugpostkarte: eine Bildanalyse Die Flugpostkarte als wissenschaftliche Quelle: zwischen Area-Forschung Flugpostkarte 5: Versand in Chemnitz am 29. Juni 1944 nach Einsiedel auf dem Landweg und Citizen-Science Warum wird hier die untenstehende Karte gezeigt, obwohl sie gar nicht mehr mit einem Luftschiff be- Anhand der Flugpostkarten 1 bis 4 wurde insbesondere die damalige Kommunikation durch Raum und fördert wurde bzw. werden konnte? Sie wurde ebenfalls im Juni verschickt, allerdings ganze 32 Jahre Zeit dargestellt. Dabei spiegeln die Kommunikationswege Handelsbeziehungen und familiäre Bande nach der Flugpost am Rhein und am Main, im Jahr 1944. wider. Bei Betrachtung der Texte wurde deutlich, dass diese ersten großen Postflüge im Jahr 1912 für die Zeitgenossen eine besondere Veranstaltung waren, die man gegenüber Geschäftspartnern und Verwandten auch im fernen Brasilien dokumentieren wollte. Dass die Karten bildlich und textlich dem Zeitgeist entsprechen, gleichermaßen Gesellschaftsentwürfe und Projektionsflächen sind, wurde insbesondere anhand der Gegenüberstellung von Karte 5 und Karte 1 herausgearbeitet. Werden die Flugpostkarten in den Kontext weiteren zeitgenössischen Materials gestellt, wie hier an- hand des Werkes „Das neue Buch von der Weltpost“, so wird das Bild des damaligen Lebens sehr viel farbiger und unmittelbarer. Die Flugpostkarten eignen sich aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Ver- breitung nicht nur als wissenschaftliche Quelle für die Area-Forschung, sondern sind auch interessante Untersuchungsgegenstände aus Perspektive der Citizen-Science, verstanden als eigenständiger, VE RG ANGENHEIT ebenfalls häufig lokal geprägter Beitrag zu Forschungsthemen. Erkenntnisinteresse und Faszination bestehen darin, zu sehen, wie man vor einem Jahrhundert auf die Welt geschaut hat. Was heute zu den technischen Selbstverständlichkeiten zählt, war im Jahr 1912 weithin noch unvorstellbar. So berichtet der Großvater des Verfassers aus seiner Jugend von den damaligen Manövern im Eichstätter Raum: „Ein Erlebnis ohnegleichen war für uns Buben die erstmalige Erscheinung von vier Doppeldeckern […]. Startplatz war die Wiese vor dem Bahnhof nach Heideck zwischen dem Bahnkörper und dem Wald. Auf dem Landweg beförderte Flugpostkarte 5, Privatsammlung Und ich erinnere mich noch gut, ich hatte noch Ferien, ich nahm eben Zwetschgen für die Mutter ab, als dort unten der erste Motor anlief. Es war eine so unbekannte und gewaltige Lärmbildung, daß Weshalb auf eine schon damals derart alte Karte zurückgegriffen wurde, lässt sich nicht mehr eindeutig ich vor Schreck schier von der Leiter gefallen wäre“ (Nüsslein, J., 1976, S. 3). Heute pflegen wir im GEGENWART feststellen – man kann lediglich spekulieren. Etwa mag die Vermutung naheliegen, dass angesichts Rahmen unserer Brasilienkooperation den selbstverständlichen Austausch über das Internet und das der Materialknappheit im letzten Kriegsjahr vermehrt auf alte Karten zurückgriffen wurde. Oder noch Fliegen. Der „Weg durch die Luft“, den Louis Hisserich voraussagte, ist Alltag geworden. simpler: Jemand machte sich einen Spaß. Dass diese Karte nicht mehr in die Zeit passt, zeigt bereits die verhältnismäßig schnörkelhafte Inschrift „Zeppelin-Luftschiff“ im Vergleich mit der schlichteren Schrifttype des verwendeten Postwertzeichens, einer Wohlfahrtsmarke zum zehnjährigen Jubiläum des Hilfswerks „Mutter und Kind“ aus demselben Jahr 1944. Darüber hinaus legt die Zeichnung des Luft- schiffs auf der linken Seite eine Datierung um die Zeit der Flugpost am Rhein und am Main, mithin um Z UKU N FT 1912 nahe: Die Luftschiffe jener Zeit besaßen neben der Passagierkabine noch eine außen hängende, vordere Führergondel sowie eine hintere Mannschaftsgondel für den Maschineneinsatz. Die verwendete Karte ist also an sich ein Anachronismus, wobei ihre zeitgeschichtliche Aussagekraft vor allem bei der bildhaften Gegenüberstellung mit Flugpostkarte 1 zum Tragen kommt. Literaturverzeichnis Brandl, V. (2001): Nachklang. Das Jahr Overbeck, G. (2016): Innovationen: https://adressbuecher.genealogy.net/addressbook/ Neunzehnhundertdreizehn. Expressionismus Entwicklungslinien in Deutschland, in: Schober, entry/54747ef91e6272f5d1e224ab, abgerufen am Als fruchtbar erweist sich vor allem die Gegenüberstellung der Grafiken zwischen genannter Wohl- ° Balkankonflikt, Jahrhundertfeier der W. (Hg.): Mobilität. Innovation. Anwendung. 31.12.2021. fahrtsmarke „Mutter und Kind“ sowie der Bildseite von Flugpostkarte 1, der Großherzogin Eleonore von Befreiungskriege von 1813. Das Jahr vor Ausbruch Deutschland – Brasilien 2013–2016.: Die strategische https://flugpost-rhein-main.de, abgerufen am des Ersten Weltkrieges, Eigenverlag. Partnerschaft AWARE. Curitiba (Universitätsverlag 31.12.2021. Hessen im Kreise ihrer Familie. Die Großherzogin auf dem Foto erscheint als starke und selbstbewuss- Glaser, H. (2015): Franken: eine deutsche der UFPR). https://adressbuecher.genealogy.net/addressbook/ te Frau. Ihr individuelles Leben ist durch ihre privilegierte gesellschaftliche Rolle vorgezeichnet. Die Literaturlandschaft: Epochen – Dichter – Werke. Schweiger-Lerchenfeld, A. von (1900): Das neue entry/54747ef91e6272f5d1e224ab, abgerufen am Gunzenhausen (Schrenk). Buch von der Weltpost: Geschichte, Organisation 31.12.2021. Briefmarke auf Postkarte 5 zeigt ebenfalls die Mutter im Bildmittelpunkt, jedoch eher als Geschlechter- Hahn, A. (Hg.) (2002): Schätze der Philatelie: aus und Technik des Postwesens von den ältesten https://artsandculture.google.com/exhibit/ stereotyp der nationalsozialistischen Hausfrau. Anstatt des Mannes erscheint eine Gemeindeschwester den Archiven der Museumsstiftung Post- und Zeiten bis auf die Gegenwart. Wien, Pest, Leipzig (A. germania-vom-mythos-zur-marke/2QIShPQ2T5_GKQ, Telekommunikation. Kataloge der Museumsstiftung Hartleben’s Verlag). abgerufen am 31.12.2021. (vgl. Michel, Deutsches Reich, 2021, S. 169). Daraus wird ersichtlich, dass die Familie weniger eine Post und Telekommunikation; Bd. 14, Heidelberg Siqueira, M. (2012): Universidade Federal do Paraná: https://sammlungen.museumsstiftung.de/ eigenständige Rolle spielt, sondern sich vielmehr dem damaligen Propagandabegriff der „Volksgemein- (Braus). 100 anos, Curitiba (Universitätsverlag der UFPR). stempelmaschinen, abgerufen am 31.12.2021. Koch, J. (2012): Worms vor 100 Jahren. Erfurt Walle, H. (1994): Technikrezeption der militärischen schaft“ unterordnet. (Sutton). Führung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Leclerc, H. (1986): Ansichten über Ansichtskarten, in: Salewski. M; Stölken-Fitschen, I. (Hg.): Moderne Sammlung des Verfassers/Bildrechte Auktionshaus in: Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 2/1986, Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Ulrich Felzmann GmbH & Co. KG, Georg Overbeck. Aufschlussreich ist auch der Vergleich mit den Briefmarken von Flugpostkarte 1: Alle diese Marken Frankfurt (Gesellschaft für Deutsche Postgeschichte Jahrhundert. Stuttgart (Franz Steiner). sind, wie oben beschrieben, letztlich PR-Instrumente. Während aber die Wohlfahrtsmarke „Mutter und e. V.). Wrage, K.-J. (1998): Das ästhetische Meighörner, W., Vagedes, D., Wrage, K.-J. (2000): Erscheinungsbild von Briefmarken – Gründerzeit, Kind“ in ihrer naturalistischen, aber dennoch steifen Darstellung dem völkisch verbrämten „Realismus“ Das Jahrhundert der Zeppeline. Hamburg (Deutsche Weimarer Republik und „Drittes Reich“ in: 150 des Nationalsozialismus folgt (vgl. Wrage, 1998, S. 87), sind die Germania-Freimarke und die Luftpost- Post AG). Jahre Deutsche Briefmarke. Bonn (Deutsche Post Michel (2021): Deutschland 2021/2022. Germering Generaldirektion). Zuschlagsmarke mit ihrer Jugendstilgrafik noch dem Historismus mit seinen traditionellen Allegorien (Schwaneberger). verpflichtet. Hier fügt sich auch der Duktus von Schweiger-Lerchenfeld ein, wenn er die Briefträger als Nüsslein, J. (1976): Vom Bauernbuben in Selingstadt zum Oberleutnant a.D., maschinenschriftliches „Boten Merkurs“ bezeichnet. Manuskript.
KI. Mobilität. Gesellschaft. Interview 27 Interview © Anne-Sophie Kopytynski Anne-Sophie Kopytynski Jochen Hellmann Managing Director AWARE Center Direktor Technische Hochschule Ingolstadt Deutsches Wissenschafts- und Innovationshaus São Paulo (DWIH São Paulo) Wie, denken Sie, war damals der Blick aus brasilianischer Perspektive auf die Flugpost um 1912? Anne-Sophie Kopytynski Zu diesem Thema fällt mir dieses Foto aus einer vergangenen AWARE-Publikation VE RG ANGENHEIT ein, welches mich sehr fasziniert: Es zeigt eine Mutter vor unserer Partneruniversität UFPR um das Jahr 1930, die den Blick starr in die obere linke Bildhälfte gerichtet hat, wo majestätisch, das riesige Luft- schiff Hindenburg über Curitiba schwebt.1 Kein Bild bringt für mich die Faszination für das Phänomen des Fliegens besser rüber als dieses. Ich kann mir nur vorstellen, welche soziale Revolution die Einführung der © Jochen Hellmann Flugpost im Jahr 1912 für Brasilien ausgelöst haben muss, wo bis dahin Fernkommunikation aufgrund der große Distanzen nur sehr langwierig vonstattenging. Jochen Hellmann Brasilien ist ein riesiges Land mit geographischen Entfernungen, die man sich in Europa nicht immer klarmacht. Die von der damaligen Hauptstadt Rio aus gesehen entfernten Orte waren nur dann GEGENWART einigermaßen erreichbar, wenn sie an der Küste lagen und mit dem Schiff angelaufen werden konnten. Die Vorstellung, dass die Post aus der Luft, also über die endlosen Urwälder hinweg, in relativ kurzer Zeit aus- geliefert werden kann, muss den Menschen als gewaltiger Sprung in der Verbindung mit entfernt Lebenden erschienen sein, etwa so wie meiner Generation das Erlebnis der Fern-Kommunikation durch das Internet und den in der Tasche mitgeführten computerchip-gesteuerten Fernsprechapparat, das Handy. Z UKU N FT Um eine Brücke zu Zukunftsvisionen bzw. Science Fiction im nächsten Artikel zu schlagen: Was waren die nächsten großen Meilensteine in der Mobilität zwischen Europa und Südamerika? Anne-Sophie Kopytynski Dazu fällt mir spontan ein fast vergessener Science-Fiction-Klassiker von 1932 ein: „F.P.1 antwortet nicht“ – mit dem damals eher unwahrscheinlichen Setting für einen Sabotageakt, einer schwimmenden Flugplattform einsam mitten im Atlantik. Nur wenige Jahre nach dem Dreh wurden im Südatlantik tatsächlich Flugstützpunktschiffe stationiert – für die erforderlichen Zwischenlandungen von großen Flugbooten für den Postverkehr. Der nächste große Meilenstein dieser Geschichte? Aus meiner Perspektive die Atlantiküberquerung der Junkers-Maschine „Bremen“, die bereits 1928 stattfand und schlussendlich die Verdrängung der Flugboote durch Landflugzeuge einläutete. Video zum Thema: Jochen Hellmann Brasilien ist das Heimatland des großen Luftfahrt-Pioniers Alberto Santos-Dumont, der youtu.be/8rcNlki6gKs schon 1906 den weltweit ersten öffentlichen Motorflug absolviert hatte. Zwei wagemutige Portugiesen flogen 1922, nur zehn Jahre nach der ersten Flugpost in Deutschland, nach Natal. Gut zwei weitere Jahr- zehnte später, ab 1946, nahm die Iberia bereits Passagierflüge von Madrid nach Brasilien und Argentinien ins Programm: Man kann nur staunen, in welch kurzer Zeit die Distanzen schrumpften. Dennoch sollte be- dacht werden, dass es noch weiterer Jahrzehnte bedurfte, bis auch „normale Menschen“ in Brasilien daran denken konnten, zu vertretbaren Kosten zu fliegen. 1 Siehe Seiten 10/11 im englischsprachigen Teil der Publikation.
28 KI. Mobilität. Gesellschaft. Science-Fiction-Epos und Dystopie: KI. Mobilität. Gesellschaft. Science-Fiction-Epos und Dystopie: 29 Metropolis zwischen Technikfaszination und -feindlichkeit Metropolis zwischen Technikfaszination und -feindlichkeit Vom Torso zur Neuinterpretation: Wiederentdeckung in Südamerika Ariana Grande als durchgeknallte Erfinderin, die sich im Musikclip 34+35 als Maschinenfrau selbst er- schafft, oder Detektiv Bernie Gunther, der im Kriminalroman Metropolis im Umfeld von Kriegsversehrten ermittelt: Sowohl Roman als auch Musikclip – beides Beispiele aus jüngster Zeit – nehmen in höchst unterschiedlicher Form auf das 1927 entstandene, monumentale Science-Fiction-Epos Metropolis von Fritz Lang Bezug. Wie schafft es ein Werk aus einer uns derart fern erscheinenden Zeit, noch dazu ein deutscher Stummfilm, sich bis heute weltweit im kollektiven Bewusstsein zu halten? Dies mag zum einen an der wechselvollen Geschichte liegen, die Metropolis nach seiner Premiere durchlebte: Für den internationalen Markt wurde die komplette, über zweistün- dige originale Langfassung radikal zusammengeschnitten und gilt heute als verschollen. Jedoch führte gerade dieses Torsohafte und Unvollendete dazu, dass es dem Film gelang, sich über die folgenden Jahrzehnte einer letztgültigen Interpretation zu entziehen. Dies beförderte wiederum die grenzüberschreitende künstlerische Auseinandersetzung mit Metropolis. VE RG ANGENHEIT Doch bereits zur Stummfilmzeit war das deutsche Kino international, produzierte auf Augen © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek höhe mit Hollywood: Regisseure wie Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau setzten künstlerisch wie technisch Maßstäbe. Hinzu kam, dass deutsche Filme während der Hoch inflation konkurrenzlos günstig auf dem Weltmarkt angeboten wurden. Filmkopien gelangten so auch nach Südamerika, darunter eine Langfassung von Metropolis, die vor zehn Jahren in Argentinien wiederentdeckt wurde. Dieses bislang letzte Kapitel in der Geschichte des © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek. Werkes bezieht sich somit nicht nur auf den künstlerischen und wirtschaftlichen Austausch Und vergibt uns unsre Schuld […] Die Schuld, ein Hirn zu haben und zwischen Deutschland und Lateinamerika, sondern bietet darüber hinaus eine grundle- GEGENWART ein Herz, das du nicht hast, Maschine … ? Und führe uns nicht in Versuchung … Führe uns nicht in Versuchung, gegen dich aufzustehen, Maschinengeschriebenes Manuskript von gende Neuinterpretation von Metropolis. Maschine, denn du bist stärker als wir, du bist tausendmal stärker […] Walter Schulze-Mittendorff zur Entstehung (Harbou, S. 33, 1984). des Maschinenmenschen. Metropolis als Science-Fiction Ob das Verhältnis von Mensch und Maschine, die (mit seinerzeit grandiosen Spiegeltechnik-Aufnahmen in Szene gesetzte) Stadt der Zukunft, die Figur des verrückten Wissenschaftlers, der Humanoid oder die alles vernichtende Katastrophe (vgl. Hellmann, S. 31, 1984) – jeder kennt irgendetwas aus M etropolis, Science-Fiction-Epos und Dystopie: Z UKU N FT und sei es über den Umweg der humanoiden Roboter oder futuristischen Stadtbilder aus Blade Runner Metropolis zwischen oder Star Wars. Späteren Science-Fiction-Tonfilmen wie Frau im Mond (1929), ebenfalls von Fritz Lang, oder Gold von Karl Hartl (1933), an dem ebenfalls Metropolis-Hauptdarstellerin Brigitte Helm mitwirkte, fehlt hingegen die visuelle Wucht von Metropolis. Technikfaszination Metropolis als Dystopie und -feindlichkeit In expressionistisch ausgeleuchteten Schwarz-Weiß-Bildern, mit 1.000 Statisten und entlang biblisch- religiöser Motive malt Fritz Lang die Version einer düsteren Zukunft, die durchaus auf unsere heutige Gegenwart gerichtet sein könnte. Metropolis, so der filmtitelgebende Name der Stadt, ist eine gleicher- maßen architektonisch wie auch gesellschaftlich vertikal gegliederte Stadt, die anhand der gleich- namigen Romanvorlage von Thea von Harbou beschrieben wird: Hoch oben, im „Neuen Turm Babel“ herrscht der Industrielle Joh Fredersen. Seine Maschinen sind es – „das nie unterbrochene, pochende Mehr zum Thema: Summen“, die den Arbeitern den Takt vorgeben, sie in letzter Konsequenz dahinraffen, denn „die Stim- https://aware.thi.de/ Georg Overbeck Matthias Uhl ueber-aware/foerderprojekte/ me der Maschinenstadt Metropolis [brüllte] nach Futter, nach Futter, nach Futter … Sie wollte leben- Leiter FORTEC, Koordinator basci.net Forschungsprofessor, gesellschaftliche bascinet/publikation/ dige Menschen als Futter haben“ (Harbou, S. 15, 1984). Die Kinder leben ebenfalls im Elend: „Sie Technische Hochschule Ingolstadt Implikationen und ethische Aspekte hatten farbloses Haar und farblose Augen. Sie gingen auf abgezehrten bloßen Füßen […]. Ihre Führerin der Künstlichen Intelligenz Technische Hochschule Ingolstadt, aber war ein Mädchen“ (Harbou, S. 11, 1984). Dieses Mädchen ist die jungfräuliche Erlöserfigur Institut AImotion Bavaria Maria. Freder, der Sohn von Joh Fredersen, hat sich in Maria verliebt, die heimlich, tief unten in den Katakomben der Stadt die Arbeiter um sich schart, dort Friede und Versöhnung predigt. Nach einer solchen Versammlung wird Maria vom finsteren Erfinder Rotwang entführt. Dieser hat einen Maschi- nenmenschen konstruiert, dem er Marias Aussehen gibt. Die falsche Maria, Objekt der Begierde und
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