KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE

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KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
ISBN 978-3-00-071542-6

KI.
Mobilität.
Gesellschaft.
Deutschland – Brasilien 2021/22
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
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Copyright Titelseite (von oben nach unten)                                    Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
© akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek                                 im Rahmen der Initiative „Research in Germany“.
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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung
der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet.
Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
4                    KI. Mobilität. Gesellschaft.             Inhaltsverzeichnis                                  KI. Mobilität. Gesellschaft.                              Inhaltsverzeichnis                                                        5

    Inhaltsverzeichnis

                                                              VERGANGENHEIT                                                          Gegenwart                                                   zukunft

                                                              Gesellschaftlicher Bericht 1                                           Gesellschaftlicher Bericht 4                                Gesellschaftlicher Bericht 6

    Impressum                                           6    Wissenschaft und Verantwortung                                         Ethik der Künstlichen Intelligenz 40 – 43                  Die Zukunft der brasilianischen
                                                              in Frankenstein or The Modern                                          Anja Bodenschatz, Manuela Schönmann,                        Automobilindustrie: Mobilitätstrends
                                                              Prometheus                    12 – 15                                 Matthias Uhl, Gari Walkowitz                                im Bundesstaat Paraná             54 – 57
    Editorial	                                          7    Sonja Bedington                                                                                                                    Ariane Hinça Schneider, Marcelo I. S. Alves,
                                                                                                                                     Interview                                 44 – 45          Evanio Felippe

                                                              Interview                                16 – 17                      Marion Menzel, Claudio Verdun
    Netzwerk. Partner. Regionen.                     8–9     Anja Bodenschatz, Marcio Lobo Netto                                                                                                Interview                                     58 – 59
                                                                                                                                                                                                 Michael Buthut, Giuliano Mendonça

    Internationale                                                                                                                   Gesellschaftlicher Bericht 5
    KI-Wissenschaftswoche                          64 – 65   Gesellschaftlicher Bericht 2
    Marion Kühn                                                                                                                      Bessere Therapie­aussichten                                 Gesellschaftlicher Bericht 7
                                                              Das Jahr 1912: Brasilien und                                           für Krebs durch Künstliche
                                                              die erste deutsche Luftpost              18 – 25                      Intelligenz                               46 – 49          Das automatisierte Fahrzeug
    basci.net. Die Idee. Das Projekt.              66 – 67   Georg Overbeck                                                         Christof Bertram, Marc Aubreville                           als Arbeitsplatz der Zukunft                  60 – 63
    Georg Overbeck                                                                                                                                                                               Clemens Schartmüller, Andreas Riener
                                                              Interview                                26 – 27                      Interview                                 50 – 51
                                                              Anne-Sophie Kopytynski, Jochen Hellmann                                Isabella Wosniack, Marcus Lima

                                                                                                                                                                                                 Ausblick basci.net-Konferenz 2023

                                                              Gesellschaftlicher Bericht 3                                                                                                       KI. Nachhaltigkeit. Transformation.               68
                                                                                                                                                                                                 Susanne Lenz, Michael Tretter,
                                                              Science-Fiction-Epos und Dystopie:                                                                                                 Stefan Hoiczyk, Uwe Holzhammer

                                                              Metropolis zwischen Technik­-
                                                              faszination und -feindlichkeit	 28 – 35
                                                              Georg Overbeck, Matthias Uhl

                                                              Interview                                36 – 37
                                                              Norbert Grob, Pedro Henrique Ferreira
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
6                      KI. Mobilität. Gesellschaft.                        Impressum                                 KI. Mobilität. Gesellschaft.                              Editorial                                                                            7

                                                                                                                                        Motivation
                                                                                                                                                    Liebe Leserinnen und Leser,

                                                                                                                                                    von Seiten der Technischen Hochschule Ingolstadt und der Universidade de São Paulo möchten wir
                                                                                                                                                    allen Beteiligten recht herzlich zur Auszeichnung des Gemeinschaftsprojekts „basci.net – AI bridging
                                                                                                                                                    ­science and society“ im Ideenwettbewerb Internationales Forschungsmarketing gratulieren!

                                                                                                                                                    basci.net verfolgt die Internationalisierung unserer Forschungsaktivitäten rund um die Künstliche Intel-
                                                                                                                                                    ligenz (KI) mittels einer internationalen Wissenschaftswoche. Diese ist gleichermaßen vielseitig, wie es
                                                                                                                                                    die Chancen und Herausforderungen rund um die KI sind – ebenso wie die Forschungsaktivitäten an
                                                                                                                                                    unseren beiden Hochschulen in diesem dynamischen Feld.

                                                                                                                                                    Erst vor Kurzem, in den Jahren 2019 bzw. 2020, haben unsere beiden Hochschulen ihre diesbezüg-
                                                                                                                                                    lichen Aktivitäten in zwei neuen Einrichtungen gebündelt: die Technische Hochschule Ingolstadt mit
                                                                                                                                                    AImotion Bavaria als dem neuen bayerischen KI-Knoten für Mobilität, die Universidade de São Paulo mit
                                                                                                                                                    ihrem C4AI Center for Artificial Intelligence als brasilianischem Referenzzentrum. Dabei zeichnen sich
                                                                                                                                                    AImotion Bavaria und das C4AI Center for Artificial Intelligence gleichermaßen durch die Verbindung von
                                                                                                                                                    KI-Kern- und Anwendungsbereichen aus, die in beide Richtungen angelegt sind: Die KI-Kernforschung
                                                                                                                                                    befasst sich mit den grundsätzlichen und weitreichenden Problemen in den ausgewählten Anwendungs-
                                                                                                                                                    gebieten und ist ihrerseits wiederum von den konkreten Herausforderungen aus diesen geprägt.

                                                                                                                                                    basci.net führt diesen Vernetzungsgedanken in Form einer breit angelegten Plattform weiter. Darauf
                                                                                                                                                    tauschen sich zunächst deutsche sowie brasilianische – und je nach künftigen basci.net-Partnerländern
                                                                                                                                                    weitere internationale – Forscherinnen und Forscher zur KI in unterschiedlichen Technologiefeldern und
                                                                                                                                                    regionalen sowie gesellschaftlichen Kontexten aus und gestalten diese mit.

                                                                                                                                                    Ein derartiger institutionalisierter Austausch wurde zwischen unseren beiden Einrichtungen bereits
                                                                                                                                                    vor zehn Jahren im Rahmen des deutsch-brasilianischen AWARE-Netzwerks initiiert. Umso mehr freut
                                                                                                                                                    es uns, dass zu unseren bisherigen basci.net-Projektpartnern Artificial Intelligence Network Ingolstadt
                                                                                                                                                    (AININ), Bayern Innovativ, Deutsches Wissenschafts- und Innovationshaus São Paulo sowie Lactec im
                                                                                                                                                    Rahmen dieser Publikation kontinuierlich neue Partner hinzustoßen: vom Deutschen Museum über die
                                                                                                                                                    FACENS bis hin zum Industrieverband des Bundesstaates Paraná (FIEP), um nur einige zu nennen.
                                                                                                                     Video zum Thema:
                                                                                                                     youtu.be/znWATU7wX2g
                                                                                                                                                    Sehen wir diese Auszeichnung somit gleichermaßen als Bestätigung und Ansporn, den Erfolg von
                                                                                                                                                    ­basci.net weiterzutragen.

                                                                                                                                                    Wir wünschen Ihnen viel Freude und neue Kooperationsideen bei der Lektüre.

                                                                                                                                                    Ingolstadt und São Paulo im März 2022
    Impressum
                                                                                                                                                    Technische Hochschule Ingolstadt                          Universidade de São Paulo
    Herausgeber                                       Koordination              Bilder
    Prof. Dr. Walter Schober,                         Anette Kainz              Quellenangabe: siehe Vermerk unter
    Präsident der                                     Georg Overbeck            jeweiligen Bildern
    Technischen Hochschule Ingolstadt                                                                                                               Prof. Dr. Walter Schober                                  Prof. Dr. Sergio Persival Baroncini Proença
    (V.i.S.d.P.)                                      Übersetzung               Druck                                                               Präsident                                                 Präsident Internationale Beziehungen
    Esplanade 10                                      Sonja Bedington           KS Druck                                                                                                                      für den Rektor der Universidade de São Paulo

    85049 Ingolstadt                                  Vera-Maria Giehler        K. Schmidle Druck und Medien GmbH
    Deutschland                                       Camila Heller
    www.thi.de                                        Georg Overbeck            Redaktionsschluss
                                                                                19. April 2022                                                      Georg Overbeck                                            Prof. Dr. Marcio Lobo Netto
                                                                                                                                                    Leiter FORTEC                                             Assoziierter Professor Elektronische Systemtechnik
                                                                                                                                                    Koordinator basci.net                                     Polytechnische Schule der Universidade de São Paulo
                                                                                                                                                                                                              Koordinator basci.net
    ISBN 978-3-00-071542-6
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
8                             9

    Netzwerk.
    Partner.
    Regionen.

    www.thi.de

    www.usp.br

    www.ainin.de

    www.lactec.org.br

    www.bayern-innovativ.de

    www.dwih-netzwerk.de
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
10   KI. Mobilität. Gesellschaft.               KI. Mobilität. Gesellschaft.                                                                 11

                                                                               zukunft

                                    Gegenwart

 VERGANGENHEIT
                                                                                         © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
12                   KI. Mobilität. Gesellschaft.       Wissenschaft und Verantwortung in              KI. Mobilität. Gesellschaft.                                Wissenschaft und Verantwortung in                                           13
                                                                          Frankenstein or The Modern Prometheus                                                                      Frankenstein or The Modern Prometheus

                                                                                                                                                         Victor Frankenstein nimmt 17-jährig Anfang des 19. Jahrhunderts sein naturwissenschaftliches Stu-
                                                                                                                                                         dium an der ersten bayerischen Landesuniversität Ingolstadt auf, getrieben von seinem Wissensdrang:
                                                                                                                                                         „I ardently desired the acquisition of knowledge.“1 Ausgestattet mit Begabung und Fleiß lässt der
                                                                                                                                                         narzisstische2 junge Nachwuchsforscher jeglichen Verantwortungssinn bezüglich seiner Experimente
                                                                                                                                                         und deren Konsequenzen missen. Die 19-jährige Mary Wollstonecraft Shelley3 beschreibt die katas-
                                                                                                                                                         trophalen Konsequenzen unreflektierter und entfesselter wissenschaftlicher Forschung, wobei sie die
                                                                                                                                                         Leserschaft des Jahres 1818 durch die Einbettung ihres Schauerromans in mehrere Erzählebenen zu
                                                                                                                                                         schonen versteht.4 Ihr Vorwort der Ausgabe von 1831 weist auf die Entstehung in Lord Byrons5 Haus
                                                                                                                                                         am Genfer See hin – eine Art Wettstreit zwischen Byron, Godwin6, Shelley7 und Polidori8.9

                                                                                                                                                         Beispiele künstlicher Menschen
                                                                                                                                                         Frankensteins namenlose Kreatur reiht sich in eine lange Tradition künstlich erschaffener Wesen ein.
                                                                                                                                                         So wurden in der Antike bewegliche Statuen mit Mechanik betrieben, später auf pneumatischer und
                                                                                                                                                         ­hydraulischer Basis. Technologien wie Dampfkraft bzw. Elektrizität ermöglichten komplexere und exak-
VE RG ANGENHEIT

                                                                                                                                                          tere Bewegungen, siehe La Mettries Beschreibungen eines maschinellen Flötenspielers.10

                                                                                                                                                         Bei Paracelsus11 beschränkte sich die künstliche Erschaffung eines Menschen auf rein theoretische
                                                                                                                                                         Überlegungen. Der Zeugungsakt fand unter Ausschluss der Frau statt, „nämlich, daß das sperma eines
                                                                                                                                                         Mannes im verschlossenen Cucurbiten […] auf vierzig Tag putreficiert werde.“ Schließlich „wird ein
                                                                                                                                                         recht lebendig menschlich Kind daraus […], doch viel kleiner. Das selbige nennen wir homunculum“.12

                                                                                                                                                                        In Literatur und Mythologie wird die künstliche Erzeugung von Menschen u. a. bei Hesiod
                                                                                                                                                                        thematisiert: Zeus beauftragt Hephaistos die künstliche Frau Pandora zu schaffen, ein
GEGENWART

                                                                          Mary Wollstonecraft Shelley                                                                   unwiderstehliches Wesen, in einem Tongefäß das Unheil der gesamten Menschheit mit
                                                                          © akg-images / Album / Fine Art Images                                                        sich bringend. 13 In der jüdisch-kabbalistischen Kultur ist der Golem „gemeinhin eine durch
                                                                                                                                                                        kabbalistischen Zauber zum Leben erweckte lehmene Diener- bzw. Verteidigergestalt, die
                                                                                                                                                                        durch Magie […] aktiviert bzw. deaktiviert werden kann.“14 Der tschechische Schriftsteller
                       Mary Shelley’s ‘Frankenstein’, 1831 edition                                                                                                      Karel Čapeks prägte übrigens den Begriff Roboter in seiner Utopie „W.U.R. – Werstands
                       © akg-images / Science Photo Library                                                                                                             Universal Robots“ aus dem Jahre 1921 (robota = Frondienst, Arbeit).15
                                                                                                                   Frankenstein Kabinett © Stadt Ingolstadt / Roessle
Z UKU N FT

                                                                                                                                                         (Wissenschaftliches) Erschaffen und Verantwortung
                                                                                                                                                         Shelley deutet schon in ihrem Titel auf den Vergleich zwischen dem Schweizer Studenten mit dem

                                       Wissenschaft und
                                                                                                                                                         Titanen Prometheus hin. Bei Hesiod und Platon tritt Prometheus eher wohlwollend und fürsorglich auf.
                                                                                                                                                         Im Gegensatz dazu ist Frankenstein durch seine narzisstische Motivation gekennzeichnet: „Life and
                                                                                                                                                         death appeared to me ideal bounds, which I should first break through […]. A new species would bless

                                       Verantwortung in
                                                                                                                                                         me as its creator and source; many happy and excellent natures would owe their being to me. […] I
                                                                                                                                                         could bestow animation upon lifeless matter, […] renew life where death had apparently devoted the
                                                                                                                                                         body to corruption.“16

                                       Frankenstein or The                                                                                               Damit folgt Frankenstein der Idee des zuvor von ihm rezipierten Paracelsus, der künstlichen Schaffung
                                                                                                                                                         eines Lebewesens, die natürliche Fortpflanzung überwindend. Bei Paracelsus trifft lebende Materie

                                       Modern Prometheus
                                                                                                                                                         auf ein Gefäß, während aber der Student den Weg der galvanischen17 Wiederbelebung toter Materie
                                                                                                                                                         beschreitet. Hier stellt er sich in seinen eigenen Worten auf die gleiche Ebene mit Gott und erwartet
                                                                                                                                                         darüber hinaus in seinem egozentrischen Denken die Dankbarkeit seiner Kreation(en).

                                                                                                                                                         Sein wissenschaftliches Projekt ist jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt und gerät mit
                                       Sonja Bedington                                                                                                   dem Zeitpunkt der Schöpfung völlig außer Kontrolle. Weder reflektiert der Student den echten
                                       Leitung International Office                                                                                      wissenschaftlichen Nutzen seines künstlichen Lebewesens noch trifft er Vorsorge für die Pflege oder
                                       Technische Hochschule Ingolstadt                                                                                  „Wartung“ seiner Kreation. Nie tauscht er sich mit anderen Wissenschaftlern bzw. seinen Professoren
                                                                                                                                                         Krempe oder Waldmann zu seinem gewagten Vorhaben aus. Auch sein Gemütszustand, geprägt von
                                                                                                                                                         ungesundem, fieberhaftem Eifer, alle Sozialkontakte zu Kommilitonen und Familie vernachlässigend,
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
14   KI. Mobilität. Gesellschaft.                           Wissenschaft und Verantwortung in                      KI. Mobilität. Gesellschaft.                                              Wissenschaft und Verantwortung in                                                               15
                                                                              Frankenstein or The Modern Prometheus                                                                                            Frankenstein or The Modern Prometheus

                       lässt Zweifel an seiner Methodik aufkommen. „Every night I was oppressed by a slow fever, and I became                                              als Folge ihrer selbstaufopfernden Fürsorge schließlich ihr Leben lassen. Als Frankenstein nach der
                       nervous to a most painful degree; the fall of a leaf startled me, and I shunned my fellow-creatures as if I                                         Schöpfung in einen Zustand mentaler Unruhe verfällt, umsorgt ihn der Jugendfreund Henry Clerval auf-
                       had been guilty of a crime.“18                                                                                                                      opferungsvoll, während die Kreatur ihrem Dasein überlassen wird.

                       Bei Platon beschreibt Protagoras im Gespräch mit Sokrates wie Prometheus (=Vorbedacht) für die                                                      Die Dienerin Justine wird fälschlicherweise wegen des Mordes an Victors jüngerem Bruder William zum
                       Menschen Verantwortung übernimmt. Sein Bruder Epimetheus (=Nachbedacht) möchte die Aus-                                                             Tode verurteilt. Hier unternimmt der indirekt dafür verantwortliche Victor, in seiner Untätigkeit an Hamlet
                       stattung der von den Göttern aus Erde erschaffenen Menschen übernehmen, erfüllt den Auftrag aber                                                    erinnernd, nichts, um ihre Unschuld zu beweisen. „It was to be decided, whether the result of my curiosity
                       mangelhaft. „Weil er ja nun nicht besonders klug war, entging es Epimetheus, daß er die Mittel zur                                                  and lawless devices would cause the death of two of my fellow-beings […]! A thousand times rather
                       Lebenserhaltung für die vernunftlosen Wesen aufgebraucht hatte. Folglich war ihm das Menschen-                                                      would I have confessed myself guilty of the crime […] but I was absent when it was committed, and such
                       geschlecht noch unausgestattet übrig.“19 Um die Menschen sich nicht selbst wehrlos zu überlassen,                                                   a declaration would have been considered as the ravings of a madman.“26 Hier überwiegt seine Sorge
                       ergänzt Prometheus das unvollendete Werk. So „stahl er Hephaists und Athenas technisches Können                                                     um die Gefährdung der eigenen Glaubwürdigkeit, somit ist der junge Wissenschaftler nicht mehr frei.
                       zusammen mit dem Feuer – denn es war unmöglich, daß es ohne Feuer von jemand hätte erworben oder
                       ihm hätte nützlich werden können – und schenkte es so dem Menschen.“20                                                                              Zwar ist die Kreatur nicht inhärent böse, der Mangel an „väterlicher“ Zuneigung gepaart mit einer völli-
                                                                                                                                                                           gen Ablehnung durch die Gesellschaft weckt in ihr erst einen Hass auf den Erschaffer.27 Die Sehnsucht
                       Von dem Erschaffer Frankenstein erhält die Kreatur keinerlei Ausstattung und ist der Welt zunächst                                                  nach einer künstlich erschaffenen Partnerin, bleibt letztlich unerfüllt. „I created a creature […] bound
VE RG ANGENHEIT

                       wehrlos ausgeliefert. Im Augenblick der Belebung schreckt er vor der grausigen Realität seines wissen-                                              towards him, to assure […] his happiness […]. This was my duty; but there was another still paramount
                       schaftlichen Tuns zurück. „It was already one in the morning […] when […] I saw the dull yellow eye                                                 to that. My duties towards the beings of my own species had greater claims to my attention, because
                       of the creature open; it breathed hard, and a convulsive motion agitated its limbs. […] now that I had                                              they included a greater proportion of happiness or misery. Urged by this view, I refused […] to create a
                       finished, the beauty of the dream vanished, and breathless horror and disgust filled my heart. Unable to                                            companion for the first creature.“28 Frankenstein lehnt schließlich den „Forschungsauftrag“ aus ethi-
                       endure the aspect of the being I had created, I rushed out of the room.“21 So erhält der an ein Neuge-        Video zum Thema:                      schen Gründen ab, fordert damit aber ironischerweise einen weiteren Mord, den an Elisabeth, heraus.
                                                                                                                                     youtu.be/Ap_Gtk96080
                       borenes erinnernde, hilflose Riese keinen Namen, sondern wird im Laufe der Erzählung immer wieder
                       mit Abwertungen bedacht: „I beheld the wretch – the miserable monster whom I created.“22                                                            Kurz vor seinem Tod überträgt er die Verantwortung für die Auslöschung der Kreatur an den ebenso
                                                                                                                                                                           ehrgeizigen Kapitän Walton, während einer grenzüberscheitendenden Expedition ins Nordpolarmeer.29
                       Als Frankenstein die Verantwortung für sein Wesen und damit sein wissenschaftliches Handeln an                                                      Doch beschließt dieser auf das Drängen seiner Mannschaft hin umzukehren, als das Schiff im Eis ein-
GEGENWART

                       dieses selbst abgibt, steuert es notgedrungen seine Entwicklung und Bildung selbst. Während der                                                     geschlossen ist und der Ausgang ungewiss. Damit zeigt er anders als Frankenstein einen zukunftswei-
                       zweiten Begegnung zwischen Schöpfer und Wesen erzählt dieses in seinen eigenen, mittlerweile                                                        senden Weg zu einem verantwortungsvollen forschenden Handeln auf.
                       hervorragend artikulierten Worten von seinem Lebensweg. Viel schneller als ein natürlich entstandenes
                       menschliches Wesen entwickelt es die Fähigkeit, ohne elterliche Fürsorge zu überleben: es kleidet sich,
                       findet Nahrung und erwirbt die Fähigkeit ein Feuer zu unterhalten. Von ihrem Versteck aus die Familie         Literaturverzeichnis
                       DeLacey in ihrem Zuhause beobachtend eignet sich die Kreatur das Sprechen und Lesen mit Hilfe von             Berman, Jeffrey: Narcissism and the Novel, New York    Drux, Rudolf (Hrsg.): Menschen aus Menschenhand:         [online] https://www.spektrum.de/lexikon/
                                                                                                                                     und London: New York University Press, 1990.           zur Geschichte der Androiden; Texte von Homer bis        neurowissenschaft/galvani/4474 [4.8.2021].
                       Briefen und Literatur von Milton23, Goethe24 u. a. übermenschlich schnell an. Sie erweitert auch ihre         Botting, Eileen Hunt: Mary Shelley and the Rights of   Asimov, Stuttgart: Metzler, 1988.                        Platon/Manuwald, Bernd (Übersetzung und
Z UKU N FT

                       emotionalen und sozialen Kompetenzen nach dem Vorbild der interagierenden Familienmitglieder. Ins-            the Child, Philadelphia: University of Pennsylvania    Hesiodus/West, Martin L.: Theogony and Works and         Kommentar): Protagoras in Platon, Werke, Band VI2,
                                                                                                                                     Press, 2018.                                           Days, translated with an introduction and notes by M.    Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999.
                       besondere die Fähigkeit zur Empathie beruht auf der Anteilnahme an deren tragischem Schicksal.                Drux, Rudolf (Hrsg.): Der Frankenstein-Komplex:        L. West, Oxford: Oxford University Press, 1989.          Schäbler, Daniel: Framing Strategies in English Fiction
                                                                                                                                     kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom            Karlsböck Tanja/Eidherr Armin: Der Golem, in:            from Romanticism to the Present, Heidelberg: Winter,
                                                                                                                                     künstlichen Menschen, Frankfurt am Main: Suhrkamp,     Handbuch Jüdische Kulturgeschichte, [online] http://     2014.
                       Die Kreatur besticht die Leserschaft durch ihre Wortgewandtheit und Selbsterkenntnis, dass sie kein           1999.                                                  hbjk.sbg.ac.at/kapitel/der-golem/ [28.7.2021].           Shelley, Mary/Gaile, Andreas (Hrsg.): Frankenstein; or
                       „echter“ Mensch ist und wohl nie ein akzeptierter Teil der Gesellschaft werden wird. „I knew that I                                                                  Galvani, in: Lexikon der Neurowissenschaft,              The Modern Prometheus, Stuttgart: Reclam, 2013.

                       possessed no money, no friends, no kind of property. I was, besides, endued with a figure hideously
                       deformed and loathsome; I was not even of the same nature as man. […] When I looked around, I saw             Fußnoten
                       and heard of none like me. Was I then a monster, a blot upon the earth, from which all men fled, and          1	Shelley, Mary und Gaile, Andreas (Hrsg.):                Traums vom künstlichen Menschen, Frankfurt am           Elektrizität an Froschschenkeln durchführte.
                                                                                                                                         Frankenstein; or, The Modern Prometheus,                Main: Suhrkamp, 1999, S. 31ff.                      18	Shelley/Gaile, 2013, S. 91.
                       whom all men disowned?“25 Somit ist in den Worten der Kreatur das anfangs an hohe Erwartungen ge-                 Stuttart: Reclam, 2013, S. 74.                     11	Philippus Theophrastus Aureolus Bombast              19	Platon/Manuwald, Bernd (Übersetzung und
                       knüpfte wissenschaftliche Experiment gänzlich gescheitert.                                                    2	Vgl. Berman, Jeffrey: Narcissism and the Novel,          von Hohenheim (1493–1541) war Arzt und                  Kommentar): Protagoras in Platon, Werke, Band
                                                                                                                                         New York and London: New York University Press,         Universalgelehrter der Renaissance.                     VI2 Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999,
                                                                                                                                         1990, S. 58ff.                                     12	Drux, Rudolf (Hrsg.): Menschen aus                       S. 25f.
                                                                                                                                     3	Ihre Eltern waren der Sozialphilosoph William            Menschenhand: zur Geschichte der Androiden;         20	Ebd.: S. 25.

                       Grenzen der Verantwortung                                                                                         Godwin und die Feministin Mary Wollstonecraft.
                                                                                                                                     4	Vgl. Schäbler, Daniel: Framing Strategies in
                                                                                                                                                                                                 Texte von Homer bis Asimov, Stuttgart: Metzler,
                                                                                                                                                                                                 1988, S. 15.
                                                                                                                                                                                                                                                     21	Shelley/Gaile, 2013, S. 92f.
                                                                                                                                                                                                                                                     22	Ebd.: S. 93f.
                       Im Moment seines Triumphes, tote Materie erfolgreich zu beleben verliert der Student endgültig die Kon-           English Fiction from Romanticism to the Present,   13	Hesiodus/West, Martin L.: Theogony and Works         23	John Milton (1608–1674): Paradise Lost.
                                                                                                                                         Heidelberg: Winter, 2014, S. 90ff.                      and Days, translated with an introduction and       24	Johann Wolfgang von Goethe (1794–1832): Die
                       trolle über sein Leben und die Folgen seines wissenschaftlichen Tuns. Damit besiegelt er sogleich das         5	George Gordon Byron (1788–1824) war ein Lyriker          notes by M. L. West, Oxford: Oxford University          Leiden des jungen Werthers. Der Selbstmord
                       Ende seiner wissenschaftlichen Freiheit. Er ist gelähmt aus Angst vor der Entdeckung seiner zweifelhaf-           der englischen Romantik.                                Press, 1989, S. 20f.                                    des unglücklich Liebenden fand seinerzeit viele
                                                                                                                                     6	Mary Godwin war der Geburtsname von Mary            14	Karlsböck Tanja/Eidherr Armin: Der Golem, in:            Nachahmer.
                       ten Forschertätigkeit und in der Ungewissheit, was die unbezwingbare Kreatur als Nächstes unternimmt.             Wollestonecraft Shelley.                                Handbuch Jüdische Kulturgeschichte, [online]        25	Shelley/Gaile, 2013, S. 187.
                                                                                                                                     7	Percy Bysshe Shelley (1792–1822) war ein                 http://hbjk.sbg.ac.at/kapitel/der-golem/            26	Ebd.: S. 129.
                                                                                                                                         romantischer Schriftsteller.                            [28.7.2021].                                        27	Vgl. Botting Eileen Hunt: Mary Shelley and the
                       Verantwortung übernehmen in Shelleys Roman andere, Victors Familie und Freunde. Schon die Ehe                 8	John William Polidori (1795–1821) war Mediziner     15	Vgl. Drux: Menschen aus Menschenhand, 1988,              Rights of the Child, Philadelphia: University of
                       seiner Eltern resultierte aus einem Akt der Verantwortung heraus. Fünf Jahre nach dessen Geburt                   und Literat.                                           ­S. 255ff.                                               Pennsylvania Press, 2018, S. 2ff.
                                                                                                                                     9	Vgl. Shelley/Gaile, 2013, S. 10ff.                  16	Shelley/Gaile, 2013, S. 87.                          28	Shelley/Gaile, 2013, S. 328f.
                       adoptieren die Eltern die Waise Elisabeth, später als Ehefrau für den Erstgeborenen vorbestimmt. Für          10	Vgl. Drux, Rudolf (Hrsg.): Der Frankenstein-       17	Luigi Galvani (1737–1798) war ein italienischer      29	Ebd.: S. 27ff.
                       die kurz vor Victors geplanter Abreise nach Ingolstadt an Scharlach erkrankte Tochter muss Caroline               Komplex: kulturgeschichtliche Aspekte des               Arzt und Naturforscher, der u. a. Experimente mit
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
16   Mobilität, Künstliche Intelligenz, Gesellschaft                               KI. Mobilität. Gesellschaft.                                       Interview                                                                17

                                                                                                                        Interview

                                                                         © Prof. Marcio Lobo Netto
                                            © Anja Bodenschatz
                                                                                                                                    Anja Bodenschatz                                            Prof. Marcio Lobo Netto
                                                                                                                                    Wissenschaftliche Mitarbeiterin,                            Assoziierter Professor, Koordinator basci.net,
                                                                                                                                    gesellschaftliche Implikationen und                         Elektronische Systemtechnik
                                                                                                                                    ethische Aspekte der Künstlichen Intelligenz                Universidade de São Paulo (USP),
                                                                                                                                    Technische Hochschule Ingolstadt                            Polytechnic School
VE RG ANGENHEIT

                                                                                                                        Was würden Sie jungen Wissenschaftlern im Hinblick auf das Scheitern von Frankenstein raten?

                                                                                                                                     nja Bodenschatz Die Geschichte um Frankenstein und sein Monster zeigt uns eine uralte Angst der
                                                                                                                                     A
                                                                                                                                    Mensch­heit auf: etwas zu erschaffen, das sich nicht kontrollieren lässt. Diese Angst zeigt sich heutzutage
                                                                                                                                    auch in der Debatte um mögliche Folgen der Künstlichen Intelligenz. In Mary Shelleys Roman wandelt sich
                                                                                                                                    blinder Schaffensdrang zu Monstrosität. Die Folgenabschätzung für das eigene Handeln und angestrebte
                                                                                                                                    wissenschaftliche Erkenntnisse sollte möglichst früh im wissenschaftlichen Prozess erfolgen, auch um die
GEGENWART

                                                                                                                                    Akzeptanz in der Gesellschaft zu steigern.

                                                                                                                        	Prof. Marcio Lobo Netto Frankenstein steht für das menschliche Streben, Leben zu erschaffen, es Gott
                                                                                                                          gleichzutun. In diesem Kontext operieren auch Informatiker: Selbstorganisation, Entstehen, Reproduktion,
                                                                                                                          Anpassung, Autonomie, Regeln, Wahrnehmung, Entscheidung, Planung, Strategie und Wissen sind
                                                                                                                          hochaktuelle Themen, die eng mit dem Leben, Intelligenz und Wahrnehmung verbunden sind – allerdings
                                                                                                                          mit dem Unterschied, dass wir diesmal selbst die Verantwortung für unsere Schöpfungen übernehmen
Z UKU N FT

                                                                                                                          müssen.

                                                                                                                        Keine 100 Jahre nach „Frankenstein“ startete ein nächstes großes Menschheitsprojekt:
                                                                                                                        Mit der Eroberung der Luft wurden erneut Grenzen verschoben. Inwieweit sehen Sie hier
                                                                                                                        Parallelen?

                                                                                                                        	Anja Bodenschatz Mary Shelleys Roman erschien zu einer Zeit in der die ersten Eisenbahnen zum Einsatz
                                                                                                                          kamen und vor gesundheitlichen Folgen der schnellen Fortbewegung gewarnt wurde. Rund hundert Jahre
                                                                                                                          darauf sprengte die Luftfahrt alle bisherigen Geschwindigkeitsrekorde der menschlichen Fortbewegung.
                                                                                                                          Die Geschichte um Frankenstein erzählt auch von der Vision, das bisher Unmögliche möglich zu machen,
                                                                                                                          die jedem Fortschritt zugrunde liegt.

                                                                                                                      	Prof. Marcio Lobo Netto Just in jener Stadt, in der ein auswärtiger Wissenschaftler namens Frankenstein
                                                                                                                          seine Kreatur zwei Jahrhunderte zuvor zum Leben erweckt hat, erörtert ein internationales Wissenschafts-
                                                                                                     Video zum Thema:     forum ähnliche Konzepte. Dabei richtet sich unser Interesse darauf, wie derartige Kreaturen aus Erfahrun-
                                                                                                     youtu.be/0nSNRh3vSgo
                                                                                                                          gen lernen, sich selbst weiterentwickeln und die nötige Reife erlangen, um den Menschen sicher in seinem
                                                                                                                          urbanen Lebensraum zu begleiten. Damit wird von einem noch nicht einmal geschaffenen Wesen erwartet,
                                                                                                                          zur Steigerung unserer Lebensqualität tagtägliche Aufgaben einerseits als getreues Abbild des Menschen
                                                                                                                          und andererseits mit Perfektion zu erfüllen. Künstliches Leben, Intelligenz und Wahrnehmung sind bereits
                                                                                                                          Realität. Als letzte Dimension fehlt es nur noch an Bewusstsein – aber das kommt noch. Und wie bei der
                                                                                                                          Eroberung der Himmelskörper werden auch hier erneut Grenzen verschoben.
KI. Mobilität. Gesellschaft - Deutschland - Brasilien 2021/22 - ISBN 978-3-00-071542-6 - AWARE
18   KI. Mobilität. Gesellschaft.           Raum – Zeit – Kommunikation                                KI. Mobilität. Gesellschaft.                                  Raum – Zeit – Kommunikation                                                   19
                                                              Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost                                                                 Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost

                       Raum – Zeit – Kommunikation                                                                                                      In Brasilien markiert das Jahr 1912 die Gründung unserer Partneruniversität Universidade Federal do

                       Das Jahr 1912:
                                                                                                                                                        Paraná (UFPR) als eine der ersten Universitäten im Land (vgl. Siqueira, 2012, S. 28). Für Deutschland
                                                                                                                                                        ist das Jahr 1912 hinsichtlich Kommunikation und Mobilität ein Meilenstein: Im Frühsommer finden
                                                                                                                                                        dort erstmals in größerem Umfang Postflüge statt. Diese erste offizielle Luftpost (vgl. Meighörner et al.,

                       Brasilien und die
                                                                                                                                                        2000, S. 64), die sogenannte Flugpost am Rhein und am Main, wird in der Zeit vom 10. bis 23. Juni
                                                                                                                                                        1912 im Rahmen einer zu Wohltätigkeitszwecken veranstalteten „Postkartenwoche“ ausgerichtet. Eine
                                                                                                                                                        Anzahl sogenannter Flug-Post-Karten findet den Weg nach Brasilien. Einige dieser Karten werden

                       erste deutsche
                                                                                                                                                        nachfolgend beschrieben, untersucht und aus verschiedenen Perspektiven interpretiert.

                                                                                                                                                        Eine Flugpostkarte nach Rio: Spiegel ihrer Zeit

                       Luftpost
VE RG ANGENHEIT

                                                                                                                                                        Flugpostkarte 1: Versand in Darmstadt 12. Juni, Ankunft am 10. Juli in Rio de Janeiro
                                                                                                                                                        Louis Hisserich und seine Frau schrieben die untenstehende Bildpostkarte an ihren Sohn Carl
                                                                                                                                                        c/o Hugo Heydtmann, eine Vertretung für Automobile bzw. chemisch-technische Produkte
                                                                                                                                                        (vgl. https://adressbuecher.genealogy.net).
                       Georg Overbeck
                       Leiter FORTEC, Koordinator basci.net                                                                                             Der Text lautet:
                       Technische Hochschule Ingolstadt                                                                                                 Lieber Carl!
                                                                                                                                                        Heute ist’s nur eine Karte, die den Weg zur Dir teilweise durch die Luft findet. Vielleicht liegt die Zeit
                                                                                                                                                        nicht fern, wo wir selbst den ganzen Weg zu Dir auf diesem Wege machen. Herzliche Grüsse
GEGENWART

                                                                                                                                                        Dein treuer Vater,

                                                                                                                                                        Deine Dichl. [= Dich liebende] Mutter
Z UKU N FT

                                                                                                                                                        Flugpostkarte 1 nach Rio de Janeiro, Privatsammlung

                                                                                                                                                        Beim ersten Durchlesen mutet eine Aussage im Jahr 1912, in naher Zukunft einen Transkontinentalflug
                                                                                                                                                        bis nach Rio de Janeiro zu unternehmen, nahezu prophetisch an. Wird sie hingegen aus der Perspek-
                                                                                                                                                        tive des damaligen Zeitgeistes analysiert, so erscheint sie plausibel: Nach der Reichsgründung im Jahr
20   KI. Mobilität. Gesellschaft.                          Raum – Zeit – Kommunikation                                KI. Mobilität. Gesellschaft.                             Raum – Zeit – Kommunikation                                                   21
                                                                             Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost                                                            Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost

                       1871 hatte sich die Innovationstätigkeit hochgradig beschleunigt, denn in keiner bisherigen Epoche                                              Rio beschreibt der zeitgenössische Schriftsteller Armand von Schweiger-Lerchenfeld in seinem Werk
                       hat das Ingenieurwesen seit seiner Entwicklung so rasante und grundlegende Fortschritte gemacht                                                 „Das neue Buch von der Weltpost“ als „an malerischer Schönheit [nur] von wenigen Städten der Erde
                       wie in der Zeit des Kaiserreichs (vgl. Walle, 1994, S. 107). Dieses Zeitalter, das heute mit Namen wie                                          übertroffen“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, S. 785). Er bezeichnet Rio als einen der Hauptumschlag-
                       Otto Lilienthal oder Carl Benz verbunden wird (vgl. Overbeck, 2016, 58), gipfelte in der Eroberung der                                          plätze für den Seehandel: „Die Zahl der einfahrenden Dampfer erreicht in manchen Jahren über 950,
                       Luft als neuer Dimension der „höchsten Regionen der irdischen Welt“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900,                                               die der Segelschiffe 750 bis 800“ (ebd.). Bis dorthin benötigte die Karte auf dem Seeweg rund 28
                       S. 307). Nachdem Georg Baumgarten 20 Jahre zuvor erstmals mit einem Luftschiff abgehoben hatte                                                  Tage mit dem Postdampfer, etwa der Hamburg-Südamerikanischen Handelsgesellschaft (vgl. Schwei-
                       (vgl. Meighörner et al., 2000, S. 14), startete im Jahr 1900 mit LZ 1 das erste lenkbare Luftschiff des                                         ger-Lerchenfeld, 1900, S. 264). Zuvor war sie nach dem Transport durch die „Schwaben“ wohl per
                       Grafen Ferdinand von Zeppelin zu seiner Jungfernfahrt.                                                                                          Zug zum Hafen von Hamburg oder Bremerhaven befördert worden. Die Daten des Poststempels von
                                                                                                                                                                       Darmstadt sowie des Ankunftsstempels belegen die Zeitspanne des kombinierten Luft-, Land- und
                       Der von Louis Hisserich beschriebene „Weg durch die Luft“ bezieht sich auf das Luftschiff LZ 10                                                 Seewegs.
                       „Schwaben“, das im Rahmen der Postkartenwoche Flüge zwischen Darmstadt, Frankfurt am Main,
                       Mainz, Offenbach und Worms unternahm. Dabei war Frankfurt von besonderer Bedeutung, da sich                                                     Die Fotografie zeigt das Staatsoberhaupt des damaligen Großherzogtums Hessen, Großherzog Ernst
                       dort ein Luftschifflandeplatz befand; in der Regel landete die „Schwaben“ jedoch nicht, sondern nahm                                            Ludwig, seine Frau Großherzogin Eleonore und die beiden Söhne Georg Donatus und Ludwig. Die
                       aufzunehmende Postbeutel mittels Seil entgegen, während bereits gelaufene Post mit dem Fallschirm                                               Großherzogin bildet die Mitte der kleinen Familie. Sie war sehr beliebt und in karitativen Belangen
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                       abgeworfen wurde (vgl. https://flugpost-rhein-main.de). In Kombination mit dem Kartentext kann man                                              äußerst engagiert. Daher handelte es sich auch um die „Postkartenwoche der Grossherzogin 1912“,
                       auch die orangefarbene private Flugpost-Spendenmarke – die Postkartenwoche war ähnlich einem                                                    wie der eingedruckte Text auf der Adressseite bezeugt. Die Verkaufserlöse sowohl dieser Karte als
                       Public-Private-Partnership zwischen Deutscher Reichspost und Deutscher Luftschifffahrts-Aktien-                                                 auch der genannten Flugpost-Spendenmarke waren für die Mütter- und Säuglingsfürsorge bestimmt
                       gesellschaft (DELAG) organisiert – als Indiz für die damalige Aufbruchstimmung sehen. So deutet deren                                           (vgl. Meighörner et al., 2000, S. 64; Koch, 2012, S. 87). Dazu passt auch die stilisierte Blume auf dem
                       Schriftzug außerhalb des Ovals „Erste Deutsche Luftpost am Rhein“ weitere künftige Unternehmungen                                               Poststempel der Adressseite, die sich augenscheinlich auf den im Vorjahr veranstalteten, ebenfalls
                       an. Innerhalb des Ovals ist ein hoch über den Wolken im Gegenlicht der aufgehenden Sonne mit                                                    wohltätigen Zwecken dienenden „Blumentag der Großherzogin“ bezieht (vgl. Koch, 2012, 87,
                       Strahlenkranz schwebender Vogel zu sehen, der einen versiegelten Brief im Schnabel trägt. Dieser                                                https://flugpost-rhein-main.de).
                       Strahlenkranz kann ebenfalls als ein Symbol des Aufbruchs interpretiert werden.
                                                                                                                                                                       Was zeigt die Bildseite noch? Das Nebeneinander der sich rasant entwickelnden Mobilität in Form
GEGENWART

                                                                                                                                                                       der neuen Flugpost sowie des aus dem Gottesgnadentum abgeleiteten Herrschaftsgefüges in Form
                                                                                                                                                                       der Großherzogsfamilie lässt erahnen, dass das Jahr 1912 Vorbote einer unmittelbar bevorstehenden
                                                                                                                                                                       Zeitenwende ist: „[…] das 19. Jahrhundert endet genau hier, die überkommene Welt stirbt, eine neue
                                                                                                                                                                       Zeit beginnt. Die bevorstehende Katastrophe kündigt sich an, die Zeit der zerstörerischen Kriege, des
                                                                                                                                                                       Zusammenbruchs der alten Ordnung“ (Glaser, 2015, S. 262). So wird im Königreich Bayern im Jahr
                                                                                                                                                                       1912 mit dem Tod des 91-jährigen Prinzregenten Luitpold – vom Kaiser als „letzter Ritter“ gerühmt
                                                                                                                                                                       (Brandl, 2001, S. I) – nach 26 Regierungsjahren eine Epoche zu Ende gehen.
Z UKU N FT

                                                                                                                                                                       Den Kontext des „Zusammenbruchs der alten Ordnung“ nimmt in der Rückschau auch die neben der
                                                                                                                                                                       Flugpost-Spendenmarke für das Auslandsporto aufgeklebte 10-Pfennig-Marke der Germania vorweg,
                                                                                                                                                                       der weiblichen Personifikation von Deutschland: Neben Ölzweig und Eichenlaub für Frieden und
                                                                                                                                                                       Einigkeit konnotieren Kettenhemd, Brustpanzer und Schwert (vgl. Hahn, 2002, S. 119) Wehrhaftigkeit
                                                                                                                                                                       (vgl. https://artsandculture.google.com/exhibit/germania-vom-mythos-zur-marke).

                                                                                                                                                                       Die Flugpostkarten von 1912: Brücke in die Neue Welt – und die der Mobilität
                                                                                                                                                                       Wie die folgenden Ausführungen zeigen, zeichnen die Flugpostkarten in ihrer Gesamtheit ein Bild
                                                                                                                                                                       der damaligen Kommunikationswege zwischen Deutschland und Brasilien nach, bilden ferner die
                                                                                                                                                                       Intensität der Handels- sowie familiären Beziehungen ab; nicht zuletzt im Hinblick auf die deutsche
                                                                                                                                                                       Auswanderung nach Brasilien. In diesem Kontext sind die Karten Ausdruck der oben beschriebenen,
                       Flugpostkarte 1 nach Rio de Janeiro, Privatsammlung                                                                                             sich rasant entwickelnden Mobilität, die nun auch die breite Gesellschaft erreichte. Entsprechend
                                                                                                                                                                       wurden im Jahr 1900 15-mal so viele Postkarten wie 1875 versandt (vgl. Leclerc, 1986, S. 30).
                       Was sagt uns die Bildseite? Zunächst zeugt der Stempel vom Ankunftsdatum in Rio de Janeiro am                                                   Somit ist es nicht überraschend, dass das Luftschiff „Schwaben“, welches die nachstehenden Karten
                       10. Juli zwischen 10 und 11 Uhr. Dabei lässt dieser sogenannte Wellenstempel auf die frühe Verwen-                                              transportierte, zusammen mit dem Postflugzeug „Gelber Hund“ rund 460.700 Briefe und Karten
                       dung einer Briefstempelmaschine zur automatisierten Entwertung schließen, wie sie in jener Zeit zur                                             zwischen den Städten Darmstadt, Frankfurt am Main, Mainz, Offenbach und Worms beförderte (Hahn,
                       Beschleunigung des Postverkehrs in Großstädten wie Rio eingesetzt wurde. Auch hier – auf brasilia-                                              2002, S. 174). Die nachfolgenden Karten gingen in die Bundesstaaten Salvador, Rio Grande do Sul
                       nischer Seite – wird also der weltweite technische Fortschritt in der Kommunikation deutlich (vgl. u. a.                                        und Paraná, in dem unsere Partneruniversität UFPR beheimatet ist, und bilden damit die damalige
                       https://sammlungen.museumsstiftung.de/stempelmaschinen).                                                                                        Mobilität in ihrer ganzen Breite ab.
22   KI. Mobilität. Gesellschaft.                         Raum – Zeit – Kommunikation                                KI. Mobilität. Gesellschaft.                                  Raum – Zeit – Kommunikation                                            23
                                                                            Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost                                                                 Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost

                       Flugpostkarte 2: Versand in Frankfurt am Main am 12. Juni, Ankunft am 30. Juni in Bahia                                                        Ein Ausschnitt des Textes lautet: „Ich will Dir hiermit durch das Zeppelin Luftschiff „Schwaben“ viele
                       Für den Sektor Handel und den Bundesstaat Bahia steht untenstehende Karte einer „südamerikani-                                                 Grüße von Klein Auheim überbringen lassen. Nächsten Sonntag wird in unserer Pfarrkirche das
                       schen Handels-Gesellschaft“ in die gleichnamige Stadt.                                                                                         Bonifaziusfest für das Dekanat Seligenstadt abgehalten […] Ich werde Dir in aller Kürze wieder einige
                                                                                                                                                                      Zeitungen schicken.“ Bemerkenswert ist, dass dieses von deutschen Padres gegründete Jesuitenkolleg
                                                                                                                                                                      vermutlich weiterhin als Schule besteht (vgl. https://www.escol.as/307057-escola-ensino-fundamen-
                                                                                                                                                                      tal-sao-luiz-gonzaga).

                                                                                                                                                                      Flugpostkarte 4: Versand in Darmstadt am 22. Juni über Paranaguá (Transitstempel vom
                                                                                                                                                                      15. Juli), Ankunft am 17. Juli in União da Vitória
                                                                                                                                                                      Für die deutsche Auswanderung nach Paraná steht untenstehende Karte an João Tenius (João ent-
                                                                                                                                                                      spricht dem deutschen Vornamen Hans) von seinem Schwager Max, die dieser gegen Ende der Post-
                                                                                                                                                                      kartenwoche am 22. Juni verschickte: „Lieber Hans, Sende Dir eine Postkarte durch Zeppelinluftschiff,
                                                                                                                                                                      an welcher Du jedenfalls Deine Freude haben wirst. Der Termin der Annahme dieser Postkarte dauert
                                                                                                                                                                      nur 14 Tage.“
VE RG ANGENHEIT

                       Flugpostkarte 2 nach Bahia, Privatsammlung

                       Der Text der an F. K. Ottens gesandten Karte lautet in Ausschnitten: „Als Curiosität sendet Ihnen unsere
                       Spdt. [Spedition] Grüsse von hier – befördert durch das erste offizielle Reichspostluftschiff ‚Schwaben‘
                       Typ Zeppelin […] besorgen Sie bitte nur Holz – das ist vorderhand die Hauptsache. Wir haben sehr
GEGENWART

                       viele Lieferungen jetzt zu erfüllen.“ Der Adressstempel zeigt, dass es sich um eine südamerikanische
                       Handelsgesellschaft handelt. Bahia war damals ein wichtiger Umschlagplatz, wie Armand Schweiger-
                       Lerchenfeld in seiner „Weltpost“ ausführt: „Unter den Seehandelsplätzen Brasiliens nimmt Bahia den
                       dritten Rang ein; […] Hauptausfuhrartikel sind: Zucker, Kaffee, Cacao, Häute, Tabak, Mangotes,
                       Piassava, Holz“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, S. 785).
Z UKU N FT

                       Flugpostkarte 3: Versand in Offenbach am 14. Juni nach Pelotas, ohne brasilianischen
                       Ankunftsstempel
                       Für den Sektor Kirche und den Bundesstaat Rio Grande do Sul steht die untenstehende Karte aus                                                  Flugpostkarte 4 nach União da Vitória, Privatsammlung
                       Offenbach von Josef Schroth an seinen Bruder Pater Peter nach Pelotas.
                                                                                                                                                                      Verglichen mit den Karten 1 und 2 mit ihren Küstendestinationen hatte diese Karte noch mehrere hun-
                                                                                                                                                                      dert Kilometer ins Landesinnere zurückzulegen. In der Hafenstadt Paranaguá mit einem Transitstempel
                                                                                                                                                                      versehen (unterer linker Stempel vom 15. Juli) wurde sie vermutlich zunächst nach Curitiba und an-
                                                                                                                                                                      schließend nach União da Vitória befördert, wo sie am 17. Juli ankam (schwach abgeschlagener, nur
                                                                                                                                                                      teilweise lesbarer Ortsstempel darüber). Eine Beschreibung des mühseligen Weges über das Land
                                                                                                                                                                      gibt Schweiger-Lerchenfeld: „Auch sonst liegt in Mittelamerika und großen Gebieten von Südamerika
                                                                                                                                                                      der Postbestelldienst zum größten Theil auf den Schultern von Fußboten. Und nicht etwa bloß figürlich
                                                                                                                                                                      genommen; denn einem solchen Boten werden mitunter unverhältnismäßig schwere Lasten aufge-
                                                                                                                                                                      bürdet. Nur ausnahmsweise erhalten sie (z. B. in Mittelamerika) eine Aushilfe, indem ihnen ein Maultier
                                                                                                                                                                      zur Verfügung gestellt wird. […] Gleichwohl legen diese schwer überbürdeten Diener Mercurs meist
                                                                                                                                                                      50 Kilometer und drüber im Tage zurück, wobei sie mit 12 bis 15 Kilogramm belastet sind“ (Schwei-
                                                                                                                                                                      ger-Lerchenfeld, 1900, S. 172). „Neben diesen Eilpostwagen stehen kleine, ganz nach europäischem
                                                                                                                                                                      Modell gebaute Briefpostwagen (Sillas de Correos), in den einsamen, gebirgigeren Gegenden
                                                                                                                                                                      (vornehmlich in Brasilien) Ochsenkarren und in den Ebenen große, zweiräderige, hochaufbepackte
                                                                                                                                                                      Lastfuhrwerke in Verwendung“ (Schweiger-Lerchenfeld, 1900, S. 194). Der Kontrast zwischen dieser
                                                                                                                                                                      Beschreibung der mühsamen Postwege und dem „Weg durch die Luft“ lässt deutlich erkennen, wie
                                                                                                                                                                      neu und aufregend der Versand von Karten über den Verkehrsträger „Luftschiff“ für alle Absender war,
                       Flugpostkarte 3 nach Pelotas, Privatsammlung                                                                                                   wird dies doch ausnahmslos in allen Postkarten 1–4 erwähnt.
24   KI. Mobilität. Gesellschaft.                                 Raum – Zeit – Kommunikation                                KI. Mobilität. Gesellschaft.                                              Raum – Zeit – Kommunikation                                                             25
                                                                                    Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost                                                                             Das Jahr 1912: Brasilien und die erste deutsche Luftpost

                       Spätverwendung einer Flugpostkarte: eine Bildanalyse                                                                                                         Die Flugpostkarte als wissenschaftliche Quelle: zwischen Area-Forschung
                       Flugpostkarte 5: Versand in Chemnitz am 29. Juni 1944 nach Einsiedel auf dem Landweg                                                                         und Citizen-Science
                       Warum wird hier die untenstehende Karte gezeigt, obwohl sie gar nicht mehr mit einem Luftschiff be-                                                          Anhand der Flugpostkarten 1 bis 4 wurde insbesondere die damalige Kommunikation durch Raum und
                       fördert wurde bzw. werden konnte? Sie wurde ebenfalls im Juni verschickt, allerdings ganze 32 Jahre                                                          Zeit dargestellt. Dabei spiegeln die Kommunikationswege Handelsbeziehungen und familiäre Bande
                       nach der Flugpost am Rhein und am Main, im Jahr 1944.                                                                                                        wider. Bei Betrachtung der Texte wurde deutlich, dass diese ersten großen Postflüge im Jahr 1912
                                                                                                                                                                                    für die Zeitgenossen eine besondere Veranstaltung waren, die man gegenüber Geschäftspartnern
                                                                                                                                                                                    und Verwandten auch im fernen Brasilien dokumentieren wollte. Dass die Karten bildlich und textlich
                                                                                                                                                                                    dem Zeitgeist entsprechen, gleichermaßen Gesellschaftsentwürfe und Projektionsflächen sind, wurde
                                                                                                                                                                                    ­insbesondere anhand der Gegenüberstellung von Karte 5 und Karte 1 herausgearbeitet.

                                                                                                                                                                                    Werden die Flugpostkarten in den Kontext weiteren zeitgenössischen Materials gestellt, wie hier an-
                                                                                                                                                                                    hand des Werkes „Das neue Buch von der Weltpost“, so wird das Bild des damaligen Lebens sehr viel
                                                                                                                                                                                    farbiger und unmittelbarer. Die Flugpostkarten eignen sich aufgrund ihrer vergleichsweise hohen Ver-
                                                                                                                                                                                    breitung nicht nur als wissenschaftliche Quelle für die Area-Forschung, sondern sind auch interessante
                                                                                                                                                                                    Untersuchungsgegenstände aus Perspektive der Citizen-Science, verstanden als eigenständiger,
VE RG ANGENHEIT

                                                                                                                                                                                    ebenfalls häufig lokal geprägter Beitrag zu Forschungsthemen. Erkenntnisinteresse und Faszination
                                                                                                                                                                                    bestehen darin, zu sehen, wie man vor einem Jahrhundert auf die Welt geschaut hat. Was heute zu den
                                                                                                                                                                                    technischen Selbstverständlichkeiten zählt, war im Jahr 1912 weithin noch unvorstellbar. So berichtet
                                                                                                                                                                                    der Großvater des Verfassers aus seiner Jugend von den damaligen Manövern im Eichstätter Raum:
                                                                                                                                                                                    „Ein Erlebnis ohnegleichen war für uns Buben die erstmalige Erscheinung von vier Doppeldeckern […].
                                                                                                                                                                                    Startplatz war die Wiese vor dem Bahnhof nach Heideck zwischen dem Bahnkörper und dem Wald.
                       Auf dem Landweg beförderte Flugpostkarte 5, Privatsammlung                                                                                                   Und ich erinnere mich noch gut, ich hatte noch Ferien, ich nahm eben Zwetschgen für die Mutter ab,
                                                                                                                                                                                    als dort unten der erste Motor anlief. Es war eine so unbekannte und gewaltige Lärmbildung, daß
                       Weshalb auf eine schon damals derart alte Karte zurückgegriffen wurde, lässt sich nicht mehr eindeutig                                                       ich vor Schreck schier von der Leiter gefallen wäre“ (Nüsslein, J., 1976, S. 3). Heute pflegen wir im
GEGENWART

                       feststellen – man kann lediglich spekulieren. Etwa mag die Vermutung naheliegen, dass angesichts                                                             Rahmen unserer Brasilienkooperation den selbstverständlichen Austausch über das Internet und das
                       der Materialknappheit im letzten Kriegsjahr vermehrt auf alte Karten zurückgriffen wurde. Oder noch                                                          Fliegen. Der „Weg durch die Luft“, den Louis Hisserich voraussagte, ist Alltag geworden.
                       simpler: Jemand machte sich einen Spaß. Dass diese Karte nicht mehr in die Zeit passt, zeigt bereits
                       die verhältnismäßig schnörkelhafte Inschrift „Zeppelin-Luftschiff“ im Vergleich mit der schlichteren
                       Schrifttype des verwendeten Postwertzeichens, einer Wohlfahrtsmarke zum zehnjährigen Jubiläum des
                       Hilfswerks „Mutter und Kind“ aus demselben Jahr 1944. Darüber hinaus legt die Zeichnung des Luft-
                       schiffs auf der linken Seite eine Datierung um die Zeit der Flugpost am Rhein und am Main, mithin um
Z UKU N FT

                       1912 nahe: Die Luftschiffe jener Zeit besaßen neben der Passagierkabine noch eine außen hängende,
                       vordere Führergondel sowie eine hintere Mannschaftsgondel für den Maschineneinsatz. Die verwendete
                       Karte ist also an sich ein Anachronismus, wobei ihre zeitgeschichtliche Aussagekraft vor allem bei der
                       bildhaften Gegenüberstellung mit Flugpostkarte 1 zum Tragen kommt.                                                      Literaturverzeichnis
                                                                                                                                               Brandl, V. (2001): Nachklang. Das Jahr                 Overbeck, G. (2016): Innovationen:                      https://adressbuecher.genealogy.net/addressbook/
                                                                                                                                               Neunzehnhundertdreizehn. Expressionismus               Entwicklungslinien in Deutschland, in: Schober,         entry/54747ef91e6272f5d1e224ab, abgerufen am
                       Als fruchtbar erweist sich vor allem die Gegenüberstellung der Grafiken zwischen genannter Wohl-                        ° Balkankonflikt, Jahrhundertfeier der                 W. (Hg.): Mobilität. Innovation. Anwendung.             31.12.2021.
                       fahrtsmarke „Mutter und Kind“ sowie der Bildseite von Flugpostkarte 1, der Großherzogin Eleonore von                    Befreiungskriege von 1813. Das Jahr vor Ausbruch       Deutschland – Brasilien 2013–2016.: Die strategische    https://flugpost-rhein-main.de, abgerufen am
                                                                                                                                               des Ersten Weltkrieges, Eigenverlag.                   Partnerschaft AWARE. Curitiba (Universitätsverlag       31.12.2021.
                       Hessen im Kreise ihrer Familie. Die Großherzogin auf dem Foto erscheint als starke und selbstbewuss-                    Glaser, H. (2015): Franken: eine deutsche              der UFPR).                                              https://adressbuecher.genealogy.net/addressbook/
                       te Frau. Ihr individuelles Leben ist durch ihre privilegierte gesellschaftliche Rolle vorgezeichnet. Die                Literaturlandschaft: Epochen – Dichter – Werke.        Schweiger-Lerchenfeld, A. von (1900): Das neue          entry/54747ef91e6272f5d1e224ab, abgerufen am
                                                                                                                                               Gunzenhausen (Schrenk).                                Buch von der Weltpost: Geschichte, Organisation         31.12.2021.
                       Briefmarke auf Postkarte 5 zeigt ebenfalls die Mutter im Bildmittelpunkt, jedoch eher als Geschlechter-                 Hahn, A. (Hg.) (2002): Schätze der Philatelie: aus     und Technik des Postwesens von den ältesten             https://artsandculture.google.com/exhibit/
                       stereotyp der nationalsozialistischen Hausfrau. Anstatt des Mannes erscheint eine Gemeindeschwester                     den Archiven der Museumsstiftung Post- und             Zeiten bis auf die Gegenwart. Wien, Pest, Leipzig (A.   germania-vom-mythos-zur-marke/2QIShPQ2T5_GKQ,
                                                                                                                                               Telekommunikation. Kataloge der Museumsstiftung        Hartleben’s Verlag).                                    abgerufen am 31.12.2021.
                       (vgl. Michel, Deutsches Reich, 2021, S. 169). Daraus wird ersichtlich, dass die Familie weniger eine                    Post und Telekommunikation; Bd. 14, Heidelberg         Siqueira, M. (2012): Universidade Federal do Paraná:    https://sammlungen.museumsstiftung.de/
                       eigenständige Rolle spielt, sondern sich vielmehr dem damaligen Propagandabegriff der „Volksgemein-                     (Braus).                                               100 anos, Curitiba (Universitätsverlag der UFPR).       stempelmaschinen, abgerufen am 31.12.2021.
                                                                                                                                               Koch, J. (2012): Worms vor 100 Jahren. Erfurt          Walle, H. (1994): Technikrezeption der militärischen
                       schaft“ unterordnet.                                                                                                    (Sutton).                                              Führung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert,
                                                                                                                                               Leclerc, H. (1986): Ansichten über Ansichtskarten,     in: Salewski. M; Stölken-Fitschen, I. (Hg.): Moderne    Sammlung des Verfassers/Bildrechte Auktionshaus
                                                                                                                                               in: Archiv für deutsche Postgeschichte, Heft 2/1986,   Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20.            Ulrich Felzmann GmbH & Co. KG, Georg Overbeck.
                       Aufschlussreich ist auch der Vergleich mit den Briefmarken von Flugpostkarte 1: Alle diese Marken                       Frankfurt (Gesellschaft für Deutsche Postgeschichte    Jahrhundert. Stuttgart (Franz Steiner).
                       sind, wie oben beschrieben, letztlich PR-Instrumente. Während aber die Wohlfahrtsmarke „Mutter und                      e. V.).                                                Wrage, K.-J. (1998): Das ästhetische
                                                                                                                                               Meighörner, W., Vagedes, D., Wrage, K.-J. (2000):      Erscheinungsbild von Briefmarken – Gründerzeit,
                       Kind“ in ihrer naturalistischen, aber dennoch steifen Darstellung dem völkisch verbrämten „Realismus“                   Das Jahrhundert der Zeppeline. Hamburg (Deutsche       Weimarer Republik und „Drittes Reich“ in: 150
                       des Nationalsozialismus folgt (vgl. Wrage, 1998, S. 87), sind die Germania-Freimarke und die Luftpost-                  Post AG).                                              Jahre Deutsche Briefmarke. Bonn (Deutsche Post
                                                                                                                                               Michel (2021): Deutschland 2021/2022. Germering        Generaldirektion).
                       Zuschlagsmarke mit ihrer Jugendstilgrafik noch dem Historismus mit seinen traditionellen Allegorien                     (Schwaneberger).
                       verpflichtet. Hier fügt sich auch der Duktus von Schweiger-Lerchenfeld ein, wenn er die Briefträger als                 Nüsslein, J. (1976): Vom Bauernbuben in Selingstadt
                                                                                                                                               zum Oberleutnant a.D., maschinenschriftliches
                       „Boten Merkurs“ bezeichnet.                                                                                             Manuskript.
KI. Mobilität. Gesellschaft.                                        Interview                                                                 27

                                                                                    Interview

                                      © Anne-Sophie Kopytynski
                                                                                                  Anne-Sophie Kopytynski                                      Jochen Hellmann
                                                                                                  Managing Director AWARE Center                              Direktor
                                                                                                  Technische Hochschule Ingolstadt                            Deutsches Wissenschafts- und
                                                                                                                                                              Innovationshaus São Paulo
                                                                                                                                                              (DWIH São Paulo)

                                                                                    Wie, denken Sie, war damals der Blick aus brasilianischer Perspektive auf die Flugpost um 1912?

                                                                                    	
                                                                                     Anne-Sophie Kopytynski Zu diesem Thema fällt mir dieses Foto aus einer vergangenen AWARE-Publikation
VE RG ANGENHEIT

                                                                                                 ein, welches mich sehr fasziniert: Es zeigt eine Mutter vor unserer Partneruniversität UFPR um das Jahr
                                                                                                 1930, die den Blick starr in die obere linke Bildhälfte gerichtet hat, wo majestätisch, das riesige Luft-
                                                                                                 schiff Hindenburg über Curitiba schwebt.1 Kein Bild bringt für mich die Faszination für das Phänomen des
                                                                                                 Fliegens besser rüber als dieses. Ich kann mir nur vorstellen, welche soziale Revolution die Einführung der
                  © Jochen Hellmann

                                                                                                 Flugpost im Jahr 1912 für Brasilien ausgelöst haben muss, wo bis dahin Fernkommunikation aufgrund der
                                                                                                 große Distanzen nur sehr langwierig vonstattenging.

                                                                                    	Jochen Hellmann Brasilien ist ein riesiges Land mit geographischen Entfernungen, die man sich in Europa
                                                                                      nicht immer klarmacht. Die von der damaligen Hauptstadt Rio aus gesehen entfernten Orte waren nur dann
GEGENWART

                                                                                      einigermaßen erreichbar, wenn sie an der Küste lagen und mit dem Schiff angelaufen werden konnten. Die
                                                                                      Vorstellung, dass die Post aus der Luft, also über die endlosen Urwälder hinweg, in relativ kurzer Zeit aus-
                                                                                      geliefert werden kann, muss den Menschen als gewaltiger Sprung in der Verbindung mit entfernt Lebenden
                                                                                      erschienen sein, etwa so wie meiner Generation das Erlebnis der Fern-Kommunikation durch das Internet
                                                                                      und den in der Tasche mitgeführten computerchip-gesteuerten Fernsprechapparat, das Handy.
Z UKU N FT

                                                                                    Um eine Brücke zu Zukunftsvisionen bzw. Science Fiction im nächsten Artikel zu schlagen: Was
                                                                                    waren die nächsten großen Meilensteine in der Mobilität zwischen Europa und Südamerika?

                                                                                    	Anne-Sophie Kopytynski Dazu fällt mir spontan ein fast vergessener Science-Fiction-Klassiker von 1932
                                                                                      ein: „F.P.1 antwortet nicht“ – mit dem damals eher unwahrscheinlichen Setting für einen Sabotageakt,
                                                                                      einer schwimmenden Flugplattform einsam mitten im Atlantik. Nur wenige Jahre nach dem Dreh wurden
                                                                                      im Südatlantik tatsächlich Flugstützpunktschiffe stationiert – für die erforderlichen Zwischenlandungen von
                                                                                      großen Flugbooten für den Postverkehr. Der nächste große Meilenstein dieser Geschichte? Aus meiner
                                                                                      Perspektive die Atlantiküberquerung der Junkers-Maschine „Bremen“, die bereits 1928 stattfand und
                                                                                      schlussendlich die Verdrängung der Flugboote durch Landflugzeuge einläutete.

                                                                 Video zum Thema: 	Jochen               Hellmann Brasilien ist das Heimatland des großen Luftfahrt-Pioniers Alberto Santos-Dumont, der
                                                                 youtu.be/8rcNlki6gKs
                                                                                                 schon 1906 den weltweit ersten öffentlichen Motorflug absolviert hatte. Zwei wagemutige Portugiesen
                                                                                                 flogen 1922, nur zehn Jahre nach der ersten Flugpost in Deutschland, nach Natal. Gut zwei weitere Jahr-
                                                                                                 zehnte später, ab 1946, nahm die Iberia bereits Passagierflüge von Madrid nach Brasilien und Argentinien
                                                                                                 ins Programm: Man kann nur staunen, in welch kurzer Zeit die Distanzen schrumpften. Dennoch sollte be-
                                                                                                 dacht werden, dass es noch weiterer Jahrzehnte bedurfte, bis auch „normale Menschen“ in Brasilien daran
                                                                                                 denken konnten, zu vertretbaren Kosten zu fliegen.

                                                                 1 Siehe Seiten 10/11 im englischsprachigen Teil der Publikation.
28                   KI. Mobilität. Gesellschaft.                                   Science-Fiction-Epos und Dystopie:                            KI. Mobilität. Gesellschaft.                             Science-Fiction-Epos und Dystopie:                                         29
                                                                                                      Metropolis zwischen Technikfaszination und -feindlichkeit                                                              Metropolis zwischen Technikfaszination und -feindlichkeit

                                                                                                                                                                                                   Vom Torso zur Neuinterpretation: Wiederentdeckung in Südamerika
                                                                                                                                                                                                   Ariana Grande als durchgeknallte Erfinderin, die sich im Musikclip 34+35 als Maschinenfrau selbst er-
                                                                                                                                                                                                   schafft, oder Detektiv Bernie Gunther, der im Kriminalroman Metropolis im Umfeld von Kriegsversehrten
                                                                                                                                                                                                   ermittelt: Sowohl Roman als auch Musikclip – beides Beispiele aus jüngster Zeit – nehmen in höchst
                                                                                                                                                                                                   unterschiedlicher Form auf das 1927 entstandene, monumentale Science-Fiction-Epos Metropolis von
                                                                                                                                                                                                   Fritz Lang Bezug. Wie schafft es ein Werk aus einer uns derart fern erscheinenden Zeit, noch dazu ein
                                                                                                                                                                                                   deutscher Stummfilm, sich bis heute weltweit im kollektiven Bewusstsein zu halten?

                                                                                                                                                                                                                Dies mag zum einen an der wechselvollen Geschichte liegen, die Metropolis nach seiner
                                                                                                                                                                                                                Premiere durchlebte: Für den internationalen Markt wurde die komplette, über zweistün-
                                                                                                                                                                                                                dige originale Langfassung radikal zusammengeschnitten und gilt heute als verschollen.
                                                                                                                                                                                                                Jedoch führte gerade dieses Torsohafte und Unvollendete dazu, dass es dem Film gelang,
                                                                                                                                                                                                                sich über die folgenden Jahrzehnte einer letztgültigen Interpretation zu entziehen. Dies
                                                                                                                                                                                                                beförderte wiederum die grenzüberschreitende künstlerische Auseinandersetzung mit
                                                                                                                                                                                                                Metropolis.
VE RG ANGENHEIT

                                                                                                                                                                                                                Doch bereits zur Stummfilmzeit war das deutsche Kino international, produzierte auf Augen­
                                                                                                          © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek                                               höhe mit Hollywood: Regisseure wie Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau setzten
                                                                                                                                                                                                                künstlerisch wie technisch Maßstäbe. Hinzu kam, dass deutsche Filme während der Hoch­
                                                                                                                                                                                                                inflation konkurrenzlos günstig auf dem Weltmarkt angeboten wurden. Filmkopien gelangten
                                                                                                                                                                                                                so auch nach Südamerika, darunter eine Langfassung von Metropolis, die vor zehn Jahren
                                                                                                                                                                                                                in Argentinien wiederentdeckt wurde. Dieses bislang letzte Kapitel in der Geschichte des
                       © akg / Horst von Harbou – Stiftung Deutsche Kinemathek.                                                                                                                                 Werkes bezieht sich somit nicht nur auf den künstlerischen und wirtschaftlichen Austausch
                       Und vergibt uns unsre Schuld […] Die Schuld, ein Hirn zu haben und
                                                                                                                                                                                                                zwischen Deutschland und Lateinamerika, sondern bietet darüber hinaus eine grundle-
GEGENWART

                       ein Herz, das du nicht hast, Maschine … ? Und führe uns nicht in
                       Versuchung … Führe uns nicht in Versuchung, gegen dich aufzustehen,                                                                          Maschinengeschriebenes Manuskript von       gende Neuinterpretation von Metropolis.
                       Maschine, denn du bist stärker als wir, du bist tausendmal stärker […]                                                                       Walter Schulze-Mittendorff zur Entstehung
                       (Harbou, S. 33, 1984).
                                                                                                                                                                    des Maschinenmenschen.

                                                                                                                                                                                                   Metropolis als Science-Fiction
                                                                                                                                                                                                   Ob das Verhältnis von Mensch und Maschine, die (mit seinerzeit grandiosen Spiegeltechnik-Aufnahmen
                                                                                                                                                                                                   in Szene gesetzte) Stadt der Zukunft, die Figur des verrückten Wissenschaftlers, der Humanoid oder die
                                                                                                                                                                                                   alles vernichtende Katastrophe (vgl. Hellmann, S. 31, 1984) – jeder kennt irgendetwas aus M
                                                                                                                                                                                                                                                                                             ­ etropolis,
                                       Science-Fiction-Epos und Dystopie:
Z UKU N FT

                                                                                                                                                                                                   und sei es über den Umweg der humanoiden Roboter oder futuristischen Stadtbilder aus Blade Runner

                                       Metropolis zwischen
                                                                                                                                                                                                   oder Star Wars. Späteren Science-Fiction-Tonfilmen wie Frau im Mond (1929), ebenfalls von Fritz Lang,
                                                                                                                                                                                                   oder Gold von Karl Hartl (1933), an dem ebenfalls Metropolis-Hauptdarstellerin Brigitte Helm mitwirkte,
                                                                                                                                                                                                   fehlt hingegen die visuelle Wucht von Metropolis.

                                       Technikfaszination                                                                                                                                          Metropolis als Dystopie

                                       und -feindlichkeit
                                                                                                                                                                                                   In expressionistisch ausgeleuchteten Schwarz-Weiß-Bildern, mit 1.000 Statisten und entlang biblisch-
                                                                                                                                                                                                   religiöser Motive malt Fritz Lang die Version einer düsteren Zukunft, die durchaus auf unsere heutige
                                                                                                                                                                                                   Gegenwart gerichtet sein könnte. Metropolis, so der filmtitelgebende Name der Stadt, ist eine gleicher-
                                                                                                                                                                                                   maßen architektonisch wie auch gesellschaftlich vertikal gegliederte Stadt, die anhand der gleich-
                                                                                                                                                                                                   namigen Romanvorlage von Thea von Harbou beschrieben wird: Hoch oben, im „Neuen Turm Babel“
                                                                                                                                                                                                   herrscht der Industrielle Joh Fredersen. Seine Maschinen sind es – „das nie unterbrochene, pochende
                                                                                                                                                                    Mehr zum Thema:                Summen“, die den Arbeitern den Takt vorgeben, sie in letzter Konsequenz dahinraffen, denn „die Stim-
                                                                                                                                                                    https://aware.thi.de/
                                       Georg Overbeck                                 Matthias Uhl                                                                  ueber-aware/foerderprojekte/
                                                                                                                                                                                                   me der Maschinenstadt Metropolis [brüllte] nach Futter, nach Futter, nach Futter … Sie wollte leben-
                                       Leiter FORTEC, Koordinator basci.net           Forschungsprofessor, gesellschaftliche                                        bascinet/publikation/          dige Menschen als Futter haben“ (Harbou, S. 15, 1984). Die Kinder leben ebenfalls im Elend: „Sie
                                       Technische Hochschule Ingolstadt               Implikationen und ethische Aspekte                                                                           hatten farbloses Haar und farblose Augen. Sie gingen auf abgezehrten bloßen Füßen […]. Ihre Führerin
                                                                                      der Künstlichen Intelligenz
                                                                                      Technische Hochschule Ingolstadt,                                                                            aber war ein Mädchen“ (Harbou, S. 11, 1984). Dieses Mädchen ist die jungfräuliche Erlöserfigur
                                                                                      Institut AImotion Bavaria                                                                                    Maria. Freder, der Sohn von Joh Fredersen, hat sich in Maria verliebt, die heimlich, tief unten in den
                                                                                                                                                                                                   Katakomben der Stadt die Arbeiter um sich schart, dort Friede und Versöhnung predigt. Nach einer
                                                                                                                                                                                                   solchen Versammlung wird Maria vom finsteren Erfinder Rotwang entführt. Dieser hat einen Maschi-
                                                                                                                                                                                                   nenmenschen konstruiert, dem er Marias Aussehen gibt. Die falsche Maria, Objekt der Begierde und
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