KIRCHEN ZEITUNG Wahl-Verwandtschaften - Sonderveröffentlichung der Badischen Neuesten Nachrichten in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche ...
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KIRCHEN ZEITUNG 37. Ausgabe Wahl- Verwandtschaften Sonderveröffentlichung der Badischen Neuesten Nachrichten in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche Karlsruhe und der Katholischen Kirche Karlsruhe vom 26. November 2021.
2 KIRCHEN ZEITUNG 37. Ausgabe | 26. November 2021 Weihnachten unter besonderen Bedingungen Wir spüren, was wir wirklich brauchen: Gemeinschaft, Heimat, Freunde und Familie W ieder werden wir in diesem Jahr Weihnachten unter besonderen Bedingungen feiern müssen. Weih- Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der Hoffnung. Dass Gott die Welt nicht al- lein lässt, sondern Mensch wird, ist für meinschaft in den Kirchengemeinden, das Engagement in Parteien oder Initiati- ven, der beste Freund, die Kolleginnen nachtsmärkte stehen auf der Kippe, das Christinnen und Christen Grund für Zu- und Kollegen am Arbeitsplatz. Wenn Weihnachtsgeschäft für den Einzelhan- versicht. Auch in diesem Jahr werden nicht mehr alles wie gewohnt möglich del droht wie im letzten Jahr wieder ein- wir wohl besonders spüren, was wir ei- ist, dann werden diese Netzwerke beson- zubrechen, das Hotelgewerbe muss sich gentlich brauchen: Gemeinschaft, Hei- ders wichtig. Sie geben Rückhalt und wieder auf Einnahmeausfälle einstellen. mat, Freunde und Familie. Orientierung, sie bieten der Seele eine Der Verlauf der Pandemie zwingt auch Heimat. Diese Wahlverwandtschaften die Kirchen dazu, besondere Schutzkon- Familie und andere sind ambivalent. Sie machen deutlich, zepte zu entwickeln, mit denen Gottes- Gemeinschaftsformen dass alte gesellschaftliche Strukturen dienste sicher gefeiert werden können. Diese Ausgabe der Kirchenzeitung aufbrechen. Gleichzeitig zeigen sie, dass Der zweite Winter in der Pandemie, geht der Frage nach, wie die Menschen neue Spielräume entstehen. mittlerweile ist manches routinierter, mit der Suche nach Gemeinschaft umge- Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen aber nicht weniger einschneidend. Die hen. Nicht alle haben eine Familie, nicht und Leser, dass Sie in den Wochen der sozialen und psychischen Auswirkun- alle fühlen sich aufgehoben oder ange- Advents- und Weihnachtszeit entde- gen der Beschränkungen machen sich nommen im Kreis ihrer Verwandten, cken, dass Menschen in ihrer Nähe sind, immer deutlicher bemerkbar. Das sozia- manche haben sich von ihren Familien denen Sie wichtig sind. Wir freuen uns le Klima wird angespannter, die Men- verabschiedet. Die Weihnachtszeit ist auf Sie auch in den Gottesdiensten der schen sind dünnhäutiger, viele sind in auch ein Hinweis darauf, dass neben der kommenden Wochen. Thomas Schalla den vergangenen Monaten einsamer ge- eigenen Familie auch andere Gemein- Der evangelische Dekan Dr. Thomas worden oder geblieben. schaftsformen wichtig sind: die Ge- Schalla. Foto: privat ▪ Impressum Die Kirchenzeitung Solidaritäts-Piks In der Kirchenzeitung werden Bei- träge der Redaktionsmitglieder zu Themen rund um Kirche und Sozia- W enn das Auto kaputt ist, wendet man sich an die Werkstatt seines Vertrauens. Nie- Minderheit die Gesellschaft in die nächste Welle treibt. RKI-Chef Lo- thar Wieler fand dafür nun deutli- les veröffentlicht. Um die Vielfalt mand käme wohl auf die Idee, im che Worte. Er prophezeite „schlim- von Kirche darzustellen, bietet die Falle eines Motorschadens den me Weihnachten“ und belegte dies Kirchenzeitung zudem kirchlichen Bäcker um Rat zu fragen. Das Au- mit Zahlen: Derzeit überleben im und sozialen Einrichtungen die to scheint also wichtiger zu sein Durchschnitt 0,8 Prozent der Infi- Möglichkeit, sich und ihre Arbeit als die Gesundheit oder gar das zierten nicht. Er rechnete vor, dass vorzustellen. Leben, denn anders ist es nicht zu damit von den 52.862 Fällen, die an erklären, warum man in der Coro- dem Tag (es war der 17. November) Maria und Josef und das Kind in na-Pandemie nicht auf die Virolo- gemeldet wurden, etwa 400 sterben der Krippe: Die heilige Familie ist gen und die Epidemiologen hört, würden. wohl das bekannteste Beispiel für sondern auf das Geschwurbel aus Der Staat hat eine Fürsorge- eine enge Beziehung außerhalb obskuren Internetkanälen. pflicht. Daher müssen die Politiker der Norm. Heute würde man Längst könnte man die Pande- nun endlich Entscheidungen tref- Patchwork sagen. mie im Griff haben, wenn wir eine fen, die unangenehm, aber nötig Impfquote hätten, die ähnlich sind. Da alle vernünftigen Argu- hoch ist wie die in Italien, Spanien mente nicht dazu führen, eine aus- n Redaktion: oder Portugal. Die Zahlen spre- reichend hohe Impfquote zu errei- Evangelische Kirche in Karlsruhe: Thomas Schalla (ts), chen eine deutliche Sprache: Dort chen, wird es wohl nicht ohne Impf- Markus Mickein (mm), Kira Busch-Wagner (kbw) wo die Impfquoten niedrig sind, zwang gehen. Einen Impfzwang Katholische Kirche Dekanat Karlsruhe: Hubert Streckert (hs), sind die Inzidenzen hoch – und nicht nur für bestimmte Berufs- Tobias Tiltscher (tt), Susanne Rohfleisch (sr), Björn Schmid (bs) umgekehrt. gruppen, wie er jetzt im Gespräch n Redaktionsleitung: Martina Erhard (me) Ja, jetzt muss man zum Teil lange ist, sondern für alle. Ältere Bürger n Titelbild: Tobias Tiltscher Wartezeiten in Kauf nehmen, wenn werden sich sicher noch daran er- n Anschrift der Redaktion: man eine Erstimpfung oder aber die innern, dass es ab 1967 eine welt- Kirchenzeitung, Evangelisches Dekanat Karlsruhe, wichtige Drittimpfung möchte. weite Impfpflicht gegen Pocken Reinhold-Frank-Straße 48, 76133 Karlsruhe Und natürlich ist es müßig darauf gab. In Deutschland wurde sie erst E-Mail: kirchenzeitung-karlsruhe@gmx.de v.i.S.d.P. Hubert Streckert hinzuweisen, dass im August und 1976 aufgehoben. Die Impfpflicht Die Redaktion freut sich über Rückmeldungen und Leserbriefe. im September die Impfzentren leer führte dazu, dass diese Krankheit Die nächste Ausgabe erscheint am 8. April 2022 waren und man ohne Probleme den ihren Schrecken verloren hat. (Redaktionsschluss: 8. März 2022). Piks hätte abholen können, aber Rechtlich ist eine Impfpflicht also n Anzeigenleitung: Ulf Spannagel auch da muss man wieder auf die möglich. n Satz und Druck: Badische Neueste Nachrichten Experten verweisen: Den ganzen Die Frage ist nun: Wann wird n Die Kirchenbezirke im Internet: Sommer über wurde vor der hefti- die Politik tätig und stellt nicht nur www.ev-kirche-ka.de; www.kath-karlsruhe.de gen vierten Welle gewarnt. Umso die nötige Infrastruktur zur Verfü- unverständlicher ist es, dass die gung, sondern fordert auch von je- Impfzentren geschlossen wurden. nen, die sich bisher verweigerten, Die Politik hat sich viel zu lange die Solidarität ein, die nötig ist, auf die unhaltbaren Argumente der damit wir nicht bald Angst vor der Impfgegner eingelassen und es so fünften oder der sechsten Welle ermöglicht, dass eine uneinsichtige haben müssen. Martina Erhard
37. Ausgabe | 26. November 2021 KIRCHEN ZEITUNG 3 Verwandtschaft oder Wahlverwandtschaft? Feststellung nach der Sintflut: Alle Völker sind Nachfahren der Söhne Noahs Von unserem Redaktionsmitglied liche Rahmensituation dann durch die Kira Busch-Wagner Familie geklärt wird. Das gilt für Esther, die aus der Position der schönen und be- M aria und Josef und zwischen ihnen, von beiden betrachtet und geliebt, das „himmlische Kind“ – Millionen von wunderten Königin ihr ganzes Volk ret- tet, für Judit, die den Feldherrn Holofer- nes zugunsten Israels außer Gefecht Krippendarstellungen zeigen und prägen setzt, oder für Jael (Buch der Richter 4, nicht nur das Bild der Heiligen Familie, 17ff), die eine ähnliche Rettungstat un- sondern stellen für viele das Bild von Fa- ternimmt. Mag sein, dass man das als ei- milie schlechthin dar. Dabei kann der ne erweiterte Form der Daseinsfürsorge Ausdruck „Heilige Familie“ manchmal für Kinder, Nachkommenschaft und Fa- schon einen sehr ironischen Unterton be- milie verstanden hat. kommen. Auf alle Fälle sind „Kinder“ Jesu Verhältnis zur eigenen Familie und „Familie“ durchgängig Themen in wird ambivalent beschrieben. Selbstän- der Bibel. Vor allem, wie und in welcher dig schon als Jugendlicher – bei einer Weise und unter welchen Umständen es Wallfahrt nach Jerusalem setzt er sich zu einer neuen Generation kommt, wel- von Familie und Verwandtschaft ab, um che Schwierigkeiten damit verbunden im Tempel bei Schriftgelehrten zu ler- sind, welche Überraschungen und Irrita- nen – bleibt er als Mann nicht im heimat- tionen. Weil gerade im ersten Teil der lichen Betrieb, sondern sammelt als Schrift, im sogenannten Alten Testament, Wanderprediger Schülerinnen und Schwangerschafts- und Geburtsge- Schüler um sich, unterstützt durch einen schichten gleich von mehreren Genera- großen Kreis von Freundinnen und tionen erzählt werden, weil Geschwister Krippendarstellungen prägen das Bild der Heiligen Familie und stellen das Bild Freunden. Auch wenn Jesus nach dem und ihre Nachkommen sich unterschied- der Familie schlechthin dar. Foto: me Zeugnis des Johannesevangeliums in der lich entwickeln, kommt am Ende eine Todesstunde sich rührend seiner Mutter ganze Menge buckliger Verwandtschaft annimmt und seinem Lieblingsjünger zusammen. Wie im richtigen Leben ge- Dass die Verwandtschaft böse mit se 19 – , werden zu Stammvätern der anvertraut, damit auch ihr zu einem er- hören dazu auch die schwarzen Schafe Spott, Häme, Schimpf und Schande be- Nachbarn, der Moabiter und Ammoni- wachsenen Sohn verhilft, stellt er laut der Familie, die schrägen Vögel, Erfolg- dacht wird, zeigt die Geschichte der ter, das Ganze sozusagen eine biblische Matthäus 12 bei einer Begegnung wäh- reiche genauso wie Verlierer. Nachkommen von Abrahams Neffen Langfassung, nahe Verwandte in übel- rend seiner Wanderjahre mit Mutter und Und irgendwie hängen alle mit allen Lot, der in den biblischen Geschichten ster Weise als „Hurensöhne und Kinder- Brüdern die Frage nach wahren Ver- zusammen. So nicht nur die Erkenntnis weder mit Klugheit noch väterlicher schänder“ zu beschimpfen. wandten: Wer den Willen seines Vaters heutiger Paläontologen, sondern auch die Fürsorge punktet. Lot bleibt beim Auf- Gleichwohl ist ausgerechnet einer im Himmel tut, ist ihm Bruder und Feststellung nach der Sintflut: Alle Völ- bruch ins gelobte Land bei Abraham wie Frau aus Moab ein ganzes biblisches Schwester und Mutter. Ob er Mutter und ker sind Nachfahren der Söhne Noahs. das berühmte „babbige Gutsel“. Sein Buch gewidmet, nämlich „Rut“; sie gilt Geschwister damit brüskiert, überliefert Man kann, wenn man nur will, daraus Personal hat er auch nicht im Griff: Es als Vorbild moralischen und edlen Han- der Evangelist nicht. durchaus eine moralische Verpflichtung kommt zum Streit zwischen seinen und delns, wird Ahnin des Königs Salomo Dass leibliche und geistliche Ver- ableiten! Und wenn in der Tradition die Abrahams Hirten, woraufhin Lot sich und damit auch Teil des Stammbaums wandtschaft in einem dynamischen Ver- Heiligen drei Könige als Repräsentanten für das schlecht beleumundete Sodom Jesu – so zu lesen im 1. Kapitel des Evan- hältnis zueinander stehen, manchmal im der damals bekannten Erdteile verstan- entscheidet als neuen Wohnort. Als zwei geliums nach Matthäus. Neben Rut Widerspruch, manchmal einander er- den wurden, blitzt in dieser Idee aufs Engel ihn aufsuchen, um ihn kurz vor taucht im Stammbaum auch eine Tamar gänzend, wird also mehrfach in den bib- Neue etwas auf von der großen, miteinan- Sodoms Vernichtung aus der Stadt zu auf, die (Genesis /1. Mose 38) ihren gu- lischen Schriften entfaltet. Gerade die der verwandten Völkergemeinschaft. Da- holen, belagert pöbelnder Mob sein ten Ruf aufs Spiel setzte, um auf legale Anrede als „Kind“ oder „Sohn“ meint rüber hinaus halten die biblischen Schöp- Haus. Die Gottesboten können grade Weise zu legitimen Kindern zu kommen. erst in zweiter Linie die biologische Her- fungsgeschichten fest: Mensch zu sein noch verhindern, dass Lot seine zwei Die biblische Erzählung bemängelt ge- kunft. Sie ist vor allem ein Rechtsstatus. und Schöpfung Gottes ist universal! Zum Töchter den Randalierern überlässt. Sie rade nicht, dass sie vom Vater der Kinder Daher kommt es zu der ehrenden Anrede Menschsein gehören Frauen und Männer. schaffen die Familie aus der Stadt, wobei für eine Prostituierte gehalten wird, son- als Kind und als Erbe, als Teil des Hau- Und „Menschen“ sind nicht nur die eige- die Mutter der Mädchen als Salzsäule dern dass man ihr die Mutterschaft ver- ses. „Sind wir (bezeugt vom Geist) Kin- nen Leute. Diese Haltung wurde in der auf der Strecke bleibt. Durch die väterli- weigert. Tamar ist nicht die Einzige, die der (und zwar Kinder Gottes), dann auch Sammlung der biblischen Schriften chen Fehlentscheidungen, ohne Aus- ihre Attraktivität und sexuelle Ausstrah- Erben; Erben Gottes und Miterben (denn „Bibel“ ist eigentlich ja ein Plural- sicht, in der Einsamkeit des Gebirges je- lung einsetzt, um zu hochgelobten Zie- Christi“, schreibt Paulus im Brief an die wort, „die Bücher“) vor mehr als 2000 mals zu Familie zu kommen, wählen die len zu kommen. Das gilt für die schon Gemeinde von Rom (8,17). Bezieht man Jahren allem anderen vorgeordnet. Töchter den Inzest. Ihre Söhne – so das erwähnte Rut, die sich ganz offenbar ih- eine solche Auffassung vom „Kind“, Nachkommenschaft ist die große Ver- Ende der Lotgeschichte Genesis / 1. Mo- ren Boas erwählt, längst, bevor die recht- vom „Sohn“ in die biblische Lektüre mit heißung Gottes an Abraham neben der ein, wird auch die Rede vom Kind Got- des Landes. Weil die sich trotzdem nicht tes, vom Sohn Gottes aus der Ecke biolo- einstellen will, sind Sara und Abraham gischer Vertracktheiten herausgeholt. tief verunsichert und nehmen die Sache Dann muss Josef auch nicht nur Ziehva- dann doch in die eigenen Hände. Die Die- ter sein neben einer biologisch jungfräu- nerin Hagar soll den erwünschten Sohn lichen Maria. Greift doch das leben- Abrahams zur Welt bringen. Als Sara spendende machtvolle Wirken Gottes dann doch wider Erwarten selbst ein zugunsten eines neuen Anfangs, eines Kind, Isaak, zur Welt bringt, kommt es – Kindes, Retters und Erlösers, doch noch nachvollziehbar – zu manchen Verwick- einmal ausdrücklich das Schöpfungs- lungen, in denen sich nicht immer werk und die Heilsgeschichte auf – menschliche Größe zeigt, wohl aber Got- Heilsgeschichte gerade in den Ahnfrau- tes Liebe. Hagar bekennt: sie und ihr Kind en Israels. Im Blick auf Jesus wäre die Ismael sind nicht aus Gottes Blickfeld ge- unbefangene Wahrnehmung, dass er raten (Genesis / 1. Mose 16). Ihr Sohn gilt leibliche Eltern hat, doch ein ganz gro- als Stammvater arabischer Menschen, ßes Zeugnis für wahre Mensch(!)wer- sein Halbbruder als Vorfahr Israels, der dung des Wortes Gottes unter uns; der Judenheit. Was Thora oder Koran auch je- Die Heiligen drei Könige kann man als Repräsentanten der drei damals bekann- Fachbegriff dafür heißt Inkarnation. Und weils den beiden zuschreiben: unbestrit- ten Erdteile verstehen. Sie stehen für eine miteinander verwandte Völkerge- genau die feiern wir an Weihnachten, im ten bleibt die enge Verwandtschaft. meinschaft. Foto: Pixabay Christfest.
4 KIRCHEN ZEITUNG 37. Ausgabe | 26. November 2021 Besondere Beziehungen Auch außerhalb der Familie gibt es Beziehungen, die uns prägen V erwandte kann man sich nicht aussuchen, heißt es – aber alle anderen Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben, wählen wir sehr bewusst aus. Was sagt das über unsere Wahl-Verwandtschaften – das Wörterbuch definiert den Begriff als „Sich-angezogen-Fühlen aufgrund geistig-seelischer Übereinstimmung – aus? Wir haben unseren Freundeskreis, wir lernen Menschen über unser ehrenamtliches Engagement kennen, wir suchen uns sogar unsere Nachbaren aus, die mit uns in speziellen Wohn- projekten leben. Und dann gibt es da auch Familien, die nicht qua Geburt miteinander verbunden sind, sondern weil man entschieden hat, füreinander da zu sein. All dies sind Beispiel für Wahl-Verwandtschaften, für Beziehungen außerhalb der eigentlichen Familie. Gemeinsam reden, lachen und kochen Besuchsdienst brachte die Rentnerin und die Studentin zusammen W enn sich Helma von Hahn und Claudia Zeller treffen, begrüßen sich die beiden Frauen so, als wären sie zusammen. „Ich war von Anfang an be- geistert von ihrem sonnigen Gemüt“, schwärmt Helma von Hahn und Claudia habe schon als Kind gelernt, Pilze zu sammeln, und mache das immer noch gerne“, meint die Rentnerin und versi- alte Freunde. Dabei kennen sie sich ge- Zeller fügt hinzu, dass sie und die Senio- chert lachend, dass sie bisher noch nie- rade einmal etwas länger als ein Jahr. rin sich sofort wunderbar verstanden manden damit umgebracht habe. Kennengelernt haben sich die 86-jährige hätten. „Für mich bedeuten die Besuche von Rentnerin und die 23-jährige Studentin Seither treffen sich die beiden Frauen Claudia, den Kontakt zum Leben nicht mitten in der Corona-Pandemie. „Ich saß einmal pro Woche und gestalten diese zu verlieren“, sagt Helma von Hahn, de- zu Hause, starrte die Wände an und hatte Treffen ganz unterschiedlich: Mal sitzen ren Familienmitglieder in verschiedenen Angst“, erzählt die rüstige Rentnerin sie gemütlich bei einer Tasse Kaffee im Teilen Deutschlands leben. Gerade in und fügt hinzu, dass ihr Sohn die Idee Wohnzimmer und schauen sich gemein- Corona-Zeiten seien die Besuche der hatte, sich an die Paritätischen Sozial- sam Fotoalben an, mal machen sie einen Studentin oft die einzige Abwechslung. dienste zu wenden. Dort gibt es den Be- langen Spaziergang, mal besuchen sie „Für mich ist es schön, etwas über den suchsdienst „Begleitet zu Hause leben“, eine Ausstellung. „Wir tun das, was uns Alltag der jungen Leute zu erfahren“, der Besuchsdienste für Seniorinnen und grad einfällt“, meint Helma von Hahn. meint sie. „Und auch für mich sind die Senioren organisiert. Kurz zuvor hatte Von ihren Spaziergängen bringen die Besuche bei Helma eine schöne Aus- sich auch Claudia Zeller bei diesem Be- beiden Frauen auch mal Obst oder Pilze zeit“, versichert Claudia Zeller. Für sie suchsdienst gemeldet. „Ich war schon mit, die dann in der Küche verarbeitet ist es spannend, andere Generationen während meiner Schulzeit ehrenamtlich werden. Da gibt es zum Beispiel Holun- kennenzulernen und Dinge zu erfahren, tätig und wollte das unbedingt wieder derblütensirup oder Likör aus grünen die sie sonst nur in Geschichtsbüchern machen“, sagt die Wirtschaftsinge- Walnüssen. „Ich habe wirklich viel ge- nachlesen könnte. „Claudia passt gut zu nieursstudentin, die in der Nähe vom lernt“, erzählt die Studentin und fügt mir. Sie ist wie meine jüngste Enkelin“, Seit über einem Jahr treffen sich Hel- Bodensee aufgewachsen ist. Susanne hinzu, dass sie etwa Kornelkirschen zu- freut sich Helma von Hahn. Beide sind ma von Hahn und Claudia Zeller re- Butz vom Paritätischen Sozialdienst vor nicht gekannt habe. Aber auch der sich darin einig, dass ihr Kennenlernen gelmäßig und planen gemeinsam ihre brachte die beiden Frauen schließlich Birkenpilz war ihr vorher fremd. „Ich ein Glücksfall war. Martina Erhard Aktivitäten. Foto: me Keine ganz normale Familie Sylke und Joachim Schuler kümmern sich nicht nur um eigene Kinder, sondern auch um Pflegekinder E ine ganz normale Familie sind die Schulers sicher nicht. „Wir sind Patchwork durch und durch“, sagt Sylke sein, waren 13 Kinder bei ihnen. „Der kürzeste Aufenthalt dauerte 20 Stunden, der längste Aufenthalt dauerte drei Jah- gewesen, auch etwas für Kinder zu tun, denen es nicht gut geht. Also meldeten sich die Eltern beim Pflegekinderdienst Schuler lachend und fängt an, die Fami- re“, erinnert sich die 54-Jährige. Alle der Stadt, um Pflegefamilie werden zu lienmitglieder aufzuzählen: Sie und ihr Kinder hatten eines gemeinsam: Sie können. Nachdem die Familie genau Mann Joachim sind seit 15 Jahren ver- mussten aufgrund einer Notsituation aus überprüft wurde, ob sie alle Vorausset- heiratet und haben einen 13-jährigen den Familien herausgenommen werden. zungen erfüllt, kam ein halbes Jahr spä- Sohn, Simon. Dann gibt es noch drei er- „Es ist traurig, wenn die Kinder wie- ter das erste Pflegekind. Es war Joshua. wachsene Söhne, einen brachte er mit in der weggehen“, meint Joachim Schuler. „Wir waren von Anfang an begeistert die Ehe, sie die beiden anderen. Doch die Der 63-Jährige lehrt Wirtschaftsinfor- von dem süßen kleinen Kerl und wollten Schulers sind damit noch immer nicht matik an der Hochschule Pforzheim und ihn nicht mehr hergeben“, erzählt die komplett, denn seit 2012 lebt auch der freut sich darüber, dass Joshua ihn und Pflegemutter. Sie macht aber auch deut- neunjährige Joshua bei ihnen. Joshua ist seine Frau Papa und Mama nennt. „Wir lich, dass es nur funktionierte und funk- ein Pflegekind und kam zu den Schulers, sind die einzige Familie, die er kennt“, tioniert, weil ihr Sohn Simon alles so gut als er zehn Wochen alt war. Und dann ist fügt Sylke Schuler hinzu. Sie erinnert mitträgt. „Für mich ist es kein Problem, da noch die kleine Anna (Name von der sich auch an alle anderen Kinder, die im meine Eltern zu teilen“, bestätigt der 13- Redaktion geändert), gerade einmal drei Laufe der Jahre bei ihnen waren: „Wir Jährige und fügt hinzu, dass Joshua für Monate alt. Anders als Joshua, der als hatten Kinder bei uns, die zum Teil kein ihn sein kleiner Bruder sei. „Natürlich Vollpflege-Kind in der Familie lebt und Familienleben kannten, das war nicht nervt er mal, aber wir kommen schon gut bei ihr bleiben wird, ist Anna ein Bereit- immer leicht, aber mit viel Liebe kann klar.“ Und was meint Joshua? Er findet schaftspflege-Kind. „Sie wird wohl nur man das wuppen.“ es schön bei Mama, Papa und dem gro- noch einige Wochen bei uns sein und Warum aber entscheidet man sich da- ßen Bruder. Der darf auch mal helfen, Sylke und Joachim Schuler mit Jos- dann zu ihren Eltern kommen oder aber zu, Pflegekinder aufzunehmen? „Wir wenn es um Joshuas liebstes Hobby hua und Anna: Joshua legte Wert da- zu einer Vollpflege-Familie“, erklärt haben alles. Wir haben eine großartige geht, ums Bauen von Legofiguren. rauf, das Foto in seinem „Legozim- Sylke Schuler. Seit sich die Schulers vor Familie, ein Haus mit Garten. Uns geht „Mein ‚Legozimmer‘ ist ganz toll“, freut mer“ zu machen, seinem Lieblings- rund fünf Jahren dazu entschlossen ha- es gut“, zählt Sylke Schuler auf. Für sie er sich und zeigt stolz die vielen Figuren, zimmer. Foto: me ben, eine Bereitschaftspflege-Familie zu und ihren Mann sei es daher naheliegend die er bereits gebaut hat. Martina Erhard
37. Ausgabe | 26. November 2021 KIRCHEN ZEITUNG 5 Freundeskreis und Heimat In Gemeinschaft leben Hanna Lange fühlt sich in der Jugendgruppe zu Hause Hannah Mudrack zog 2017 ins Wohnprojekt Sophia E igentlich habe die Geschichte mit ihren älteren Schwestern begonnen, erzählt Hanna Lange. Heute ist sie 19 setzen könnten zwar die allerbesten Freunde nicht, aber doch seien sie „so et- was wie eine Familie“. Für sie selbst, so E insamkeit war noch nie die Sache von Hannah Mudrack. In den 88 Jahren ihres Lebens hat sie schon einiges Jahre alt, doch vor vielen Jahren, als sie beschreibt es Hanna Lange, sind die erlebt, allein war sie dabei so gut wie nie. noch sehr viel jünger war, wollte sie ih- Freunde „wie eine zweite Familie, die Aufgewachsen in Grötzingen, lernte sie ren Schwestern unbedingt nacheifern. man sich selbst aussucht“. dort schon früh ihren späteren Ehemann Diese durften schon mit ins Ferienlager, Am Beginn ihres Freiwilligen Sozia- kennen: es war der Sohn des evangeli- sie selbst aber noch nicht. „Da wollte ich len Jahres ist Hanna Lange froh um die schen Pfarrers. Als das junge Paar nach unbedingt auch mitgehen“, erinnert sie engen Freundschaften, die über die Jahre Studium und Vikarszeit endlich heiraten sich. In der dritten Klasse war es dann gewachsen sind. Während viele Bezie- und eine Familie gründen konnte, war endlich so weit. Sie wurde in eine Grup- hungen nach Schulabschluss und Abitur ihre künftige Rolle vorgezeichnet. Als penstunde der Katholischen Jungen Ge- nur noch schwer zu pflegen seien, erlebe Hausfrau in einem evangelischen Pfarr- meinde (KJG) eingeladen, wo sie sich sie ihre Freundschaften weiterhin als be- haus war sie Ansprechperson und Kon- gleich wohlfühlte. Mit den Jahren, erin- ständig und tragfähig. Diese beständi- taktstelle für unzählige Anliegen der Ge- nert sich Hanna Lange, sei sie in die Ju- gen Freundschaften wünscht sie sich meindemitglieder. gendarbeit immer mehr hineingewach- auch für die Zukunft. Tobias Tiltscher Vor einigen Jahren, da war sie bereits sen. Nach einigen Jahren hat sie als Lei- verwitwet, beschloss sie, eine neue Hannah Mudrack fühlt sich in ihrem terin eine eigene Gruppenstunde über- Wohnform auszuprobieren, um sich den neuen Zuhause im Wohnprojekt nommen. Alltag zu erleichtern. Sie schaute sich Sophia sehr wohl. Foto: tt Niemand habe sich jemals darüber ge- verschiedene Einrichtungen an, doch wundert, sagt Hanna Lange, dass sie keines der Häuser konnte sie vollkom- zwar evangelisch sei, aber zu einem ka- men überzeugen. gibt es Angebote wie ein Mieterfrüh- tholischen Jugendverband gehört. „In Dann kamen ihr die alten Beziehun- stück, mittags internationales Kochen unserem Ort ist es völlig normal, dass gen zur kirchlichen Frauenarbeit zugute. mit gemeinsamem Mittagessen, gele- sich Menschen mit ganz unterschiedli- Eine Initiative der Evangelischen Lan- gentlich ein Spielenachmittag und auch chen Konfessionen und Religionen en- deskirche in Baden bereitete ein Projekt Ausflüge und Walking-Touren. gagieren.“ Das geistliche in der Jugend- zum selbstbestimmten Wohnen im Alter Im Erdgeschoss des neu entstandenen arbeit leide darunter keineswegs, fügt sie vor. Die Pläne waren offen und alle, die Häuserblocks, in dem unter anderem das hinzu. Besonders auf dem Lager stießen sich interessierten, waren zum Mitpla- Wohnprojekt Sophia untergebracht ist, spirituelle Impulse immer wieder zum nen eingeladen. Hannah Mudrack gibt es neben einer Praxis für Physiothe- Nachdenken über das eigene Leben an, brachte sich ein und gestaltete die Ent- rapie, einem ambulanten Pflegedienst was oft zu einem intensiven Austausch würfe mit. Einige Jahre später war das und einem Café auch einen Gemein- anrege. Wohnprojekt Sophia in der Karlsruher schaftsraum mit eigener Küche für die In der Jugendarbeit hat Hanna Lange Waldstadt fertig. Im Jahr 2017 zog sie Bewohner von Sophia. Kooperationen eine Heimat gefunden, da ist sie sich dort ein. mit nahegelegenen Schulen und Kir- ganz sicher. Ihren Freundeskreis hat sie Seitdem bewohnt sie eine 60 Quadrat- chengemeinden schaffen Verbindungen zum großen Teil über Gruppenstunde meter große Zwei-Zimmer-Wohnung zum umliegenden Stadtteil. und Lager kennengelernt. „Ohne die mit Balkon. Ihren Wunsch, weiterhin in Das Miteinander funktioniert in der KJG wäre ich wohl mit vielen von ihnen Gemeinschaft mit anderen Menschen zu Regel gut: „Man muss kompromissbe- nie zusammengekommen und hätte auch Ihren Freundeskreis hat Hanna Lan- leben, konnte sie sich erfüllen, ohne da- reit sein, aber auch selbstbewusst.“ Ihre die Leute aus den anderen Orten wohl ge zum großen Teil über Gruppen- bei den Rückzugsort der eigenen Woh- Entscheidung für Sophia hat sie keinen kaum kennengelernt.“ Eine Familie er- stunden kennengelernt. Foto: privat nung aufzugeben. Auf freiwilliger Basis Tag bereut. Tobias Tiltscher Gemeinsame Erlebnisse schweißen zusammen Freundschaften aus der ehemaligen Jugendgruppe um Ute Wesch halten seit 45 Jahren V on Freundschaften, die seit mehr als 40 Jahren halten, weiß Ute Wesch zu erzählen. Alles begann 1976 in Keller des ASS verschönert und dort Musik gehört haben. Und dass sie nach dem Gottesdienst einen Tee für die Ge- man nicht einfach wieder weggeht, son- dern nach dem Gottesdienst noch beiei- nanderbleibt“, so Wesch. Auch an ge- denkt Ute Wesch gern. Schnell waren damals Freundschaften innerhalb der Gruppe entstanden. Sogar zwei Ehen der Christuskirche, wo sie damals als meindeglieder angeboten haben: „Damit meinsam verbrachte Jugendfreizeiten sind aus der Jugendgruppe hervorgegan- Kirchenälteste für die Kinder- und Ju- gen. gendarbeit zuständig war und eine Ju- Die gemeinsame Geschichte ging für gendgruppe ins Leben rief. Die Idee war, die Jugendlichen auch in den Jahren da- für die Jugendlichen nach der Konfir- nach weiter. 1983 bildete sich aus der Ju- mandenzeit etwas anzubieten. Daraus gendgruppe eine weitere Gruppe, die für entstand die „Montagsgruppe“ aus zehn Ältere war und sich samstagabends traf. bis fünfzehn Personen. Viele der Heute leben aus dem festen Kern von Freundschaften bestehen bis heute. „Wir damals nur noch fünf Personen in Karls- haben gemeinsam viel unternommen, ruhe. Zu ihnen hält Ute Wesch bis heute das schweißt zusammen“, erklärt die Kontakt. Auch mit einem der beiden heute 66-jährige Karlsruherin. Ehepaare, die aus der Gruppe entstanden Im Albert-Schweitzer-Saal (ASS), der sind, ist sie noch heute „eng befreundet“. zur Christuskirche gehört, hatte die Ju- Dann geht es für ein Wochenende schon gendgruppe damals einen Raum. Den einmal nach Florenz, zum Bummeln damaligen Albert-Schweitzer-Saal gibt oder Shoppen in die Innenstadt oder in es so heute nicht mehr. „Der wurde 1990 ein Café. Mit einigen der Karlsruher abgerissen und das heutige Gebäude er- Freunde hatte sie auch schon Silvester richtet“, doch die guten Erinnerungen gefeiert. Und im nächsten Jahr, 46 Jahre bleiben. nach der Gründung der „Montagsgrup- Sie erinnert sich an lebhafte Diskus- pe“, soll es bei einem Ehemaligentreffen sionen, unter anderem über den Zivil- Ute Wesch vor dem heutigen Albert-Schweitzer-Saal, in dem „ihre“ Jugend- das große Wiedersehen geben. dienst. Daran, dass sie ihren Raum im gruppe einen Raum hatte. Viele Freundschaften halten bis heute. Foto: mm Markus Mickein
6 KIRCHEN ZEITUNG 37. Ausgabe | 26. November 2021 Auch irgendwie Familie? Für viele Menschen spielen Beziehungen, die in der digitalen Welt geknüpft werden, eine große Rolle Von unserer Mitarbeiterin Martina Erhard S o oder so ähnlich könnte ein gemütli- cher Abend wohl in vielen Familien aussehen: Während das Essen bereits auf dem Tisch steht, checkt die Mutter noch schnell, welche E-Mails eingegangen sind, der Vater verfolgt gespannt eine Online-Auktion, die Tochter tauscht sich mit ihren Freundinnen über WhatsApp aus und der Sohn ist von einem Online- Spiel gefesselt. Geht ja alles ganz schnell, denn schließlich liegt das Handy immer griffbereit da. Ohne Smartphones und Social-Media läuft also bei vielen nicht mehr viel. Eltern tun sich schwer damit, ihren Nachwuchs vom Handy wegzubekom- men und für Angebote in der analogen Welt zu begeistern, denn dafür müssten sie mit gutem Beispiel vorangehen: Laut der FIM-Studie aus dem Jahr 2016 (FIM steht für Familie, Interaktion, Medien) nutzen jedoch 74 Prozent der Eltern das Smartphone für die Organisation des Fa- milienalltags, sieben von zehn Eltern Schon kleine Kinder wachsen mit den neuen Medien auf: Der Einkauf bei Amazon, der Austausch über WhatsApp, die nutzen regelmäßig Social-Media-Ange- Infos, die man über YouTube oder Telegram sammelt, sind für viele inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden. bote wie etwa Facebook und drei von Foto: Unsplash / Alexander Dummer fünf Eltern suchen regelmäßig Informa- tionen im Internet. Es ist davon auszuge- hen, dass diese Zahlen inzwischen noch gegner waren und sind auf diesem Kanal rem aus den Veröffentlichungen einst se- bestärkt, sich gegen Maßnahmen der Po- weiter gestiegen sind. aktiv und ziehen ihre Leser in einen Stru- riöser Journalisten wie Roland Tichy, litik aufzulehnen. Demmel sieht in sol- del aus Hass und Desinformation. Matthias Matussek oder Ken Jebsen in- chen Kanälen inzwischen ein enormes Verlockende Angebote Wie schwer es ist, den Ausweg aus formiert. Letzterer ist inzwischen einer „Gefährdungspotential für unsere De- im Internet solchen Filterblasen zu finden, zeigt ein der bekanntesten Verschwörungstheore- mokratie“. Die Angebote, die das Internet bereit- Selbstversuch des Journalisten Hans tiker in Deutschland. Demmel geht in hält, sind aber auch zu verlockend: Man Demmel, den er in dem Buch „Anders- seinem Buch auf Jebsens erstes Video „Metaverse“ – ein muss nicht mehr ins Geschäft gehen, welt“ beschreibt. In dem Buch analysiert ein, welches er am 4. Mai 2020 bei You- kollektiver virtueller Raum wenn man Schuhe oder Spielsachen er die Wirkungsweise rechter Propagan- Tube hochgeladen hat. Der Titel des Vi- Eine ganz neue Ebene der virtuellen braucht, man bestellt einfach bei Ama- da anhand bekannter Publikationen, Per- deos: „Bill Gates kapert Deutschland“. Welt betritt inzwischen Mark Zucker- zon. Wer für die Urlaubsreise eine Über- sönlichkeiten und neuer Medien. Dem- Der Inhalt sei schnell als Lügengespinst berg. Er hat nicht nur seinen Facebook- nachtung buchen möchte, wird auf mel informierte sich ein halbes Jahr lang entlarvt worden, so Demmel. Das Video Konzern in „Meta“ umbenannt, sondern Airbnb fündig, und in vielen Großstäd- ausschließlich aus einschlägigen Me- wurde innerhalb von drei Tagen drei möchte einen kollektiven virtuellen ten ist es inzwischen schon möglich, sich dien und spürte sehr schnell die Auswir- Millionen Mal angeklickt. Sicher ist da- Raum, ein „Metaverse“ schaffen. Mit- Lebensmittel über „Gorillas“ liefern zu kungen: „Ich selbst bin immer aggressi- von auszugehen, dass so mancher Nut- hilfe von Datenbrillen sollen sich echte lassen. Diese Tech-Konzerne haben auf- ver geworden, weil der Hass, die Wut zer den Inhalt richtig einschätzen konn- Menschen in virtuellen Räumen aufhal- grund des ungebremsten Zulaufs ihrer und die negative Stimmung, die in den te, bei einem Großteil derjenigen, die ge- ten und virtuelle Objekte sollen in reale Kunden (oder sollte man sagen, ihrer Kanälen verbreitet werden, auf mich ab- gen die Corona-Maßnahmen waren, Räume integriert werden. Alles soll mit Anhänger) eine ungeheure Macht erhal- färbten“, erzählte er in einem SWR-In- aber verfingen die Tiraden. Sie werden allem verbunden werden, es geht um ten, was sich nicht nur negativ auf die terview. Demmel hatte sich unter ande- von Jebsen und seinen Mitstreitern darin Einfluss, es geht um Geld. Hilfreich ist Konkurrenz in der analogen Welt aus- dabei die ungeheure Datenmenge, die wirkt, sondern auch auf die Arbeitsbe- beim Anbieter der „Metaverse“-Welt, dingungen der Mitarbeiter. Sie arbeiten bei Zuckerberg und seinem „Meta“- oft als Soloselbstständige oder Gering- Konzern, zusammenfließt. Aber viel- verdiener und sind sozial kaum abgesi- leicht ist „Metaverse“ ja tatsächlich die chert. Wer sich beschwert, fliegt raus. Lösung für viele Probleme? Eines Tages Und wie sieht es mit den Social-Me- werden unsere Kinder und Enkelkinder dia-Kanälen aus, auf denen sich Kinder, ihren Waldspaziergang durch einen vir- Jugendliche und Erwachsene so gerne tuellen Wald machen können. Sie wer- tummeln? Ja, während des Lockdowns den dann über ihre Datenbrillen erleben, waren Facebook, Instagram oder What- wie es einst auf der Erde aussah. Dass es sApp oft die einzigen Möglichkeiten, den realen Wald dann vielleicht gar nicht mit Freunden und Bekannten den Kon- mehr geben wird, spielt nur noch eine takt zu halten – naja, das Telefon wäre untergeordnete Rolle. auch noch eine Lösung gewesen. Gerade In einem Essay in der Süddeutschen die Pandemie zeigt aber auch, dass diese Zeitung stellte der Autor Philipp Bover- Wege der Kommunikation auch mit Ge- mann kürzlich fest, dass die „Metaver- fahren verbunden sind. Unkritische Nut- se“-Vision nicht nur gruselig klinge, zer konnten über das Internet leicht an sondern dass sie auch gruselig sei. Mark Falschinformationen kommen. In die- Das Smartphone ist die Eintrittskarte Schon jetzt entführen Datenbrillen Zuckerberg und seine Anhänger aller- sem Zusammenhang wurde unter ande- in die Social-Media-Welt. Freunde den Nutzer in virtuelle Welten. Geht dings sehen darin die Zukunft, man rem der in Russland entwickelte Mes- trifft man oft nur noch online. Ohne es nach Mark Zuckerberg, wird die könnte auch sagen, sie prophezeien eine senger-Dienst Telegram bekannt. Viele das kleine Gerät bleibt man außen große „Metaverse“-Welt bald Reali- „Schöne neue Welt“. Aber das ist eine Corona-Leugner, Querdenker und Impf- vor. Foto: Unsplash / Christian Wiediger tät. Foto: Unsplash / Uriel Soberanes andere Geschichte.
37. Ausgabe | 26. November 2021 KIRCHEN ZEITUNG 7 Die Ortho-Geriatrie basiert auf einer Kooperation der Klinik für Geriatrie, die … und der Klinik für Orthopädie, zu der auch das EndoProthetikZentrum von Dr. Brigitte Metz geleitet wird, … gehört. Ihr Leiter ist Priv.-Doz. Dr. Stephan Kirschner. Foto: Leidert Interdisziplinäre Therapie für ältere Menschen Ortho-Geriatrie der ViDia Kliniken verhilft Patienten zu mehr Selbstständigkeit im täglichen Leben D ie Menschen werden älter und da- mit nehmen auch Verschleißer- krankungen der Körpergelenke zu. wie es mit seinen Alltagskompetenzen aussieht und wie es um seine Ernäh- rungssituation steht. „Wir testen aber nahmen, um bestimmte Folgeerschei- nungen zu bekämpfen: Molkepulver ist zum Beispiel hervorragend dafür geeig- versorgt ist, schließt sich eine komplexe Behandlung an, in die unter anderem Er- gotherapeuten, Logopäden und Physio- Schmerzende Gelenke führen nicht nur auch Kognition, Emotion und Mobili- net, Muskulatur und Knochen zu kräfti- therapeuten unter Leitung des Geriaters in die soziale Isolierung, sondern auch tät“, fügt Metz hinzu. So lassen sich die gen, Vitamin D dient zur Osteoporose- eingebunden sind. „Uns ist es wichtig, zu immer weniger Aktivität und Bewe- individuellen Ressourcen, Defizite und und Sturz-Prophylaxe und auch Folsäure die Patienten bereits am ersten Tag nach gung. Als Folge davon verlieren die Be- Bedürfnisse jedes Patienten bewerten. kann hilfreich sein. „Folsäure- oder Vit. der Operation wieder zum Aufstehen zu troffenen Muskelkraft und Bewegungs- Besteht die Notwendigkeit einer geria- B12-Mangel kann zu Gefühlsstörungen animieren“, sagt er. Als technische sicherheit. Dies wiederum erhöht das Ri- trischen Frührehabilitation, findet diese in den Fußsohlen führen. Dies wiederum Hilfsmittel gibt es unter anderem Elek- siko für Stürze und Knochenbrüche. Für Maßnahme während des gesamten sta- erhöht die Sturzgefahr“, erklärt sie. trische Aufstehhilfen mit Unterarmstüt- diese Patientengruppe wurde in den Vi- tionären Aufenthalts statt. Zudem gibt es neben all diesen Unter- zen, aber auch Rollatoren geben dem Pa- Dia Kliniken Karlsruhe vor über drei In der Ortho-Geriatrie setzt man dabei suchungen und der Behandlung der fest- tienten nach Hüft- oder Kniegelenk- Jahren die Ortho-Geriatrie eingerichtet. auf ein multiprofessionelles Team, zu gestellten Krankheiten und Mangeler- Operationen Sicherheit. Ein spezieller Es handelt sich dabei um ein interdiszip- dem unter anderem auch Ernährungsbe- scheinungen spezielle Maßnahmen, um Stepper, der im Sitzen genutzt werden linäres und bundesweit beispielhaftes rater gehören. „Viele ältere Menschen ein sogenanntes postoperatives Delir, ei- kann, unterstützt das Arm- und Beintrai- Angebot zur orthopädisch-geriatrischen leiden an Mangelernährung“, berichtet ne Verwirrung des Patienten also, das ning. Kirschner weist darauf hin, dass Versorgung. Die Ortho-Geriatrie basiert Metz. Manchmal liegt es daran, dass die nach schweren Operationen auftreten die frühzeitige Mobilität nicht nur für auf einer Kooperation der Klinik für Patienten kaum mehr Interesse an ge- kann, zu verhindern. das operierte Gelenk gut sei, sondern un- Geriatrie und der Klinik für Orthopädie sunder und ausgewogener Ernährung „Eine Teamkooperation ist nötig, um ter anderem auch für den Verdauungsap- einschließlich eines EndoProthetikZen- haben, manchmal werden Schluckbe- die optimale Behandlung, die über den parat und die Lungentätigkeit. „Alle Ge- trums der Maximalversorgung. Für die schwerden diagnostiziert, manchmal Gelenkersatz hinausgeht, gewährleisten räte, die wir nutzen, sind im stationsna- umfassende Betreuung sorgt ein multi- liegt es aber auch nur an der Zahnpro- zu können“, erklärt Priv.-Doz. Dr. Ste- hen Bereich untergebracht und von den professionelles Team, zu dem unter an- these, die nicht richtig sitzt. Es gibt wis- phan Kirschner, der die Klinik für Ortho- Patienten daher gut zu erreichen. Bei den derem auch Ergotherapeuten, Neuro- senschaftlich erprobte Therapiemaß- pädie leitet. Wenn der Patient operativ Übungen unterstützt ein Physiothera- psychologen und Sozialarbeiter gehö- peut“, sagt Kirschner. Er weist darauf ren. hin, dass sämtliche Übungseinheiten die „Patienten, die zu uns kommen, sind Beweglichkeit und damit auch die in der Regel 70 Jahre und älter und lei- Selbstständigkeit der Patienten fördern. den häufig, zusätzlich zu den orthopädi- Um die optimale Behandlung für jeden schen Problemen, noch an einer Reihe einzelnen Patienten zu ermöglichen, tau- weiterer Erkrankungen“, erklärt Dr. Bri- schen sich Orthopäden und Geriater täg- gitte Metz, Direktorin der Klinik für lich aus. Zudem bespricht das gesamte Geriatrie. Als Beispiele nennt sie Herz- multiprofessionelle Team regelmäßig Kreislauf- und Lungen-Erkrankungen, den Behandlungsverlauf und berät ge- Diabetes oder Störungen des Flüssig- meinsam das weitere Vorgehen. keitshaushalts oder des Elektrolythaus- halts. Manchmal stelle man auch Neben- wirkungen von Medikamenten fest, so Zukunft der Ortho-Geriatrie Einen großen Vorteil sieht Kirschner da- rin, dass die älteren Patienten nach der Operation länger auf der Station behandelt Metz. Der Geriater beurteilt kritisch den Medikamentenplan und optimiert die Therapie bei Bedarf. „Wir schauen den I n den kommenden Monaten wird die Ortho-Geriatrie in den Neubau der ViDia Klinken in der der Geriatrie werden auch die Kli- nik für Unfall-, Handchirurgie und Sportmedizin, die Zertifizier- werden können: „Im Durchschnitt bleibt ein Patient sieben bis zehn Tage, bei den älteren Menschen sind es etwa drei Wo- gesamten Menschen an und beziehen Steinhäuserstraße ziehen. Dann te Alterstraumatologie, die Klinik chen“, erklärt er und fügt hinzu, dass in nicht nur den Körper, sondern auch wird die Station eingegliedert in für Wirbelsäulentherapie, die Kli- dieser Zeit die Wundheilung abgeschlos- Geist, Seele und das soziale Umfeld in ein interdisziplinäres Gesamtkon- nik für Diagnostische und Inter- sen ist. Danach schließen sich Reha oder die Behandlung mit ein“, sagt sie. zept, sodass den Patienten noch ventionelle Radiologie und die Krankengymnastik an. „Ziel aller Maß- Vor geplanten Operationen werden mehr Spezialisten aus verschiede- Klinik für Anästhesie, Intensiv- nahmen muss es sein, die Mobilität wie- die Patienten umfassend untersucht. So nen Fachbereichen zur Verfügung und Notfallmedizin eingebunden derherzustellen und dafür zu sorgen, dass wurden zum Beispiel verschiedene Test- stehen. Neben der Orthopädie und sein. me die Menschen im Alltag wieder selbststän- verfahren entwickelt, um feststellen zu dig zurechtkommen“, versichert Kirsch- können, wieviel Kraft der Patient hat, ner. Martina Erhard für die ViDia Kliniken
8 KIRCHEN ZEITUNG 37. Ausgabe | 26. November 2021 Sie sind in einer Partei, um gesellschaftspolitisch etwas zu bewegen In diesem Beitrag geben vier Menschen Auskunft über ihr politisches Engagement und was sie in ihrer Partei hält. Eine Spurensuche bei CDU, SPD, FDP und Grünen Von unserem Redaktionsmitglied tei übereinstimmt: „Mitgliedschaft für Markus Mickein mich heißt, dass man im Großen und Ganzen d’accord ist“. Vor allem mit dem D ie gute Nachricht ist: Politik spielt für die Bürgerinnen und Bürger nach wie vor eine große Rolle, auch Freiheitsgedanken, den die FDP vertritt, kann sich der Master-Student identifi- zieren: dass der Mensch fähig und wil- wenn die Mitgliedschaft in Parteien seit lens ist, sich seiner eigenen Freiheit zu Jahren sinkt. Laut „Datenreport 2021“ bedienen. Dazu gehöre es auch, „sich ist das Interesse der Bürgerinnen und reinzuhängen, wenn Gegenwind Bürger an Politik in den vergangenen kommt“, meint Jonas Bruns. Abschlie- Jahren sogar deutlich gestiegen. Der Da- ßend gefragt, warum er sich politisch en- tenreport wird von der Bundeszentrale gagiere, antwortet er: „Als Ingenieur für Politische Bildung herausgegeben kann ich mich auch nicht beschweren, und informiert über die gesellschaftli- dass etwas nicht funktioniert, wenn ich chen Entwicklungen und die Lebensver- es nicht selbst versucht habe.“ hältnisse in Deutschland mit statisti- schen Daten und sozialwissenschaftli- Gemeinsame Werte chen Analysen. sind die Grundlage Nun führt politisches Interesse nicht Für Dr. Christine Dörner sind es eher automatisch dazu, sich in einer Partei, Tobias Bunk (CDU) will mit seinem Christofer Leschinger (Grüne) hat die Werte wie soziale Gerechtigkeit und So- Gewerkschaft oder in einem Verein zu parteipolitischen Engagement etwas Arbeit im Stadtrat geholfen, stärker in lidarität, die sie 2008 zur SPD geführt engagieren. Das zeigen auch die Zahlen: verändern. Foto: privat die Partei hineinzuwachsen. Foto: privat haben. Das i-Tüpfelchen setzte das Buch Waren vor drei Jahrzehnten laut Daten- von Erhard Eppler ‚Eine Partei für das report noch knapp 4 Prozent in einer Par- zweite Jahrzehnt‘: „Ich hätte alles aus tei engagiert, sind aktuell nur noch rund 2 dem Buch unterschreiben können“, sagt Prozent der Bundesbürger in einer Partei sie. Danach stand der Entschluss fest, in organisiert. Es gibt viele Formen, sich die SPD einzutreten. Dabei kommt heute politisch zu beteiligen: An Bedeu- Christine Dörner gar nicht aus einer tung gewonnen haben Unterschriftenak- klassischen SPD-Familie. Heute fühlt tionen oder Demonstrationen wie etwa sich die Coachin von Führungskräften „Fridays for Future“. Mehr Menschen als und Fachfrau für Organisationsentwick- noch vor Jahren wenden sich direkt mit lung als Teil einer großen Gemeinschaft. ihrem Anliegen an die Politikerinnen und Verbindung und Zusammenhalt entste- Politiker. Was aber gibt den Ausschlag, he, weil man eine gemeinsame Werteba- in einer Partei mitzuarbeiten? Und wie sis teile und sich aktiv einbringe, bei- viel Identifikation mit ihr ist nötig? spielsweise in Arbeitsgruppen oder in Diese Fragen waren der Leitfaden für die Arbeit in den Ortsverbänden. „Man Gespräche mit vier politisch aktiven tritt eher aus, wenn man ein anonymes Karlsruherinnen und Karlsruhern. Alle Mitglied ist“, sagt Christine Dörner. Sie vier verbindet, dass sie parteipolitisch selbst ist Vorsitzende im Ortsverein Bei- nicht in vorderster Reihe stehen. Sie sind ertheim-Bulach und Mitglied der Kreis- damit nicht das Sprachrohr ihrer jeweili- delegiertenkonferenz. gen Partei, sondern berichten vielmehr persönlich von sich und ihrem Weg mit Christine Dörner (SPD) haben Werte Jonas Bruns (FDP): „Mitgliedschaft Grüne wollen Ortsverein der Partei. Auch wenn ihr Werdegang wie soziale Gerechtigkeit und Solida- für mich heißt, dass man im Großen Nordstadt gründen unterschiedlich verlaufen ist, verbindet rität zur Partei geführt. Foto: privat und Ganzen d’accord ist“. Foto: privat Zum Abschluss geht der Blick zu den alle vier die Leidenschaft zum aktiven Grünen, die seit Jahren einen größeren Mitgestalten. Mitgliederzuwachs verbuchen können. vom kommenden Mitgliederentscheid gute Möglichkeit, gesellschaftspolitisch Als Dr. Christofer Leschinger am Ende Jede Stimme zählt – über die künftige Parteiführung („Ich etwas zu verändern. Auch wenn das seines Medizinstudiums 2006 zu den bin eigentlich kein Freund von Mitglie- nicht immer so leicht ist, schließlich Karlsruher Grünen kam, hatte der Kreis- Mitglieder entscheiden derentscheiden“) und davon, dass die stellt die CDU in Karlsruhe im Gemein- verband um die 200 Mitglieder – und er über Parteispitze CDU ein Imageproblem hat: „Wir wur- derat „nur“ die zweitgrößte Fraktion war einer der Jüngsten. „Wenn ich jetzt Ich beginne meine Gespräche für die- den im Wahlkampf als alt und langweilig nach den Grünen. Doch „die Gemeinde- bei den Sitzungen mich umschaue, sehe sen Artikel bei der Partei, die es nach der wahrgenommen“. Nur wenige Tage spä- ratsfraktion ist dankbar für Input“, weiß ich viele neue Gesichter“, erklärt der Bundestagswahl am stärksten getroffen ter sagt auch Sven Maier vom CDU- Bunk. promovierte Facharzt. Heute zählen zu hat, bei der CDU. Ich bin mit Tobias Kreisvorstand in den BNN: „Es fällt im- Das zweite Gespräch führt mich via den Karlsruher Grünen um die 900 Mit- Bunk von der Kreisgeschäftsstelle ver- mer schwerer, die Menschen an uns zu Zoom nach Paris, wo ich mit Jonas glieder. Und mit 43 gehöre er schon zum abredet. Tobias Bunk ist erst 23 Jahre binden.“ Bruns verabredet bin. Der 24-jährige „Mittelalter“, denn viele Junge schlie- und seit einem Jahr Geschäftsführer der Bei Tobias Bunk war das damals je- Maschinenbau-Student am KIT Karlsru- ßen sich den Grünen an. Heute kenne er CDU Karlsruhe sowie Mitgliederrefe- denfalls kein Problem. Sehr früh, bereits he hat in seinem Masterstudium die viele in der Partei, auch Freundschaften rent der Partei. Tobias Bunk nimmt hin- mit 16 Jahren, stand für ihn fest, dass er Möglichkeit, für ein Jahr im Ausland zu sind dabei entstanden. Stärker in die Par- ter einer großen Leinwand mit CDU-Lo- Mitglied der CDU werden wollte. Es studieren. Er ist der FDP 2017 beigetre- tei hineinzuwachsen habe ihm auch die go im Konferenzraum Platz. Er spricht folgten die Mitarbeit in der Jungen Uni- ten, da war er 19 Jahre alt. Bereits 2018 Arbeit als Stadtrat in den Jahren 2012 bis an diesem Vormittag davon, dass viele on und während des Abiturs der Kreis- war er als Beisitzer im Kreisvorstand der 2014 geholfen. Die nächste größere Auf- Mitglieder über den Streit und das Ver- vorsitz der Schülerunion. Noch heute sei Karlsruher FDP aktiv. Für die Europa- gabe wird für Christofer Leschinger fahren zur Kanzlerkandidatur von Ar- die Idee, mitgestalten zu können, noch wahl 2019 hat er sich sogar als Kandidat sein, in der Nordstadt, wo er wohnt, ei- min Laschet unzufrieden waren und das da, erzählt Tobias Bunk, und die Mit- aufstellen lassen. Auch wenn Jonas nen Ortsverein mitzugründen. Im Januar mit ihrem Austritt quittierten. Er spricht gliedschaft in einer Partei für ihn eine Bruns nicht mit allen Punkten seiner Par- 2021 soll es soweit sein.
37. Ausgabe | 26. November 2021 KIRCHEN ZEITUNG 9 Schwerer Weg zur zufriedenen Abstinenz Wertvolle Hilfe bringt der Austausch mit anderen Betroffenen / Selbsthilfegruppe „Blaues Kreuz“ ist in Karlsruhe bei der Evangelischen Stadtmission angesiedelt D ie Zahlen sind alarmierend: In Deutschland trinken 9,5 Millionen Menschen zu viel Alkohol, 1,3 Millionen tung gezielt auf die Erfahrungen der Zu- hörerinnen und Zuhörer ein und stellte die Frage, was „zufriedene Abstinenz“ sind alkoholabhängig, 73.000 von ihnen überhaupt bedeutet. Hier ein Auszug aus sterben jährlich an den Folgen von Alko- der Fülle an Antworten: „Leben ohne holmissbrauch. Diese Zahlen, die von der Trinkzwang“, wurde genannt. „Wichtig Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ist die Entwicklung vom ‚Ich darf nicht erhoben wurden, veröffentlicht die Evan- mehr‘, hin zum ‚Ich brauch nicht gelische Stadtmission Karlsruhe in dem mehr‘“, sagte ein anderer Betroffener. Es Flyer, mit dem sie auf die Angebote des wurde aber auch über den Frieden mit Blauen Kreuzes hinweist. „Das Blaue sich selbst, mit den anderen und mit Gott Kreuz bietet in den Selbsthilfegruppen ei- gesprochen und über die Freude, die nen alkoholfreien Lebensraum“, erklärt man ohne Suchtmittel erleben könne. Stadtmissionsseelsorger Markus Bor- Und wie kann man nun diese Zufrie- chardt, der die Karlsruher Selbsthilfe- denheit erreichen? Auch da machten gruppe organisiert. „Ziel der Arbeit ist es, sich die Zuhörer so ihre Gedanken: befreit leben zu lernen.“ Wichtig sei es, zu akzeptieren, dass kon- Das Engagement für die Nöte von Al- trolliertes Trinken nicht möglich sei, so koholabhängigen hat eine lange Traditi- eine der Aussagen. „Man muss dankbar on bei der Stadtmission: Die Selbsthilfe- sein für jeden Tag der Abstinenz“, sagte gruppe „Blaues Kreuz“ wurde bereits einer der Teilnehmer. Immer wieder 1910 ins Leben gerufen und war damit ging es aber auch darum, den Mut auf- zubringen, zur Wahrheit zu stehen und die Sucht zu akzeptieren. Erfolgsgeschichten, die Mut machen „Viele betonten, wie wichtig es für sie ist, zu wissen, dass sie mit ihren Proble- men nicht allein sind“, sagt Borchardt. „Der Austausch in der Selbsthilfegruppe ist für die Betroffenen eine große Stüt- ze“, fügt er hinzu. Man lerne, offen über Fehler zu sprechen und jeden Tag als Ge- schenk zu nehmen, erklärt er. Borchardt beschreibt in diesem Zusammenhang die Gefühle, die aufkommen, wenn an einem Gruppenabend ein neues Mitglied teilnimmt. „Die Geschichten helfen den Teilnehmern, stets achtsam zu sein, denn jeder weiß, dass auch er diesen Weg ge- gangen ist und dass man als Suchtkran- ker immer suchtkrank bleiben wird.“ Aber dann gibt es ja auch die Erfolgs- „befreit leben lernen“ lautet das geschichten, die Mut machen: Da ist Auf dem T-Shirt steht es: Alkohol löst keine Probleme, er löst aber Familien, Motto der Selbsthilfegruppe „Blaues zum Beispiel der Mann, der inzwischen Partnerschaft, Freundschaft und noch viel mehr. Dennoch ist es für viele Be- Kreuz“. über 80 Jahre alt ist und seit rund 40 Jah- troffene schwer, die Sucht in den Griff zu bekommen und den Weg, hin zu einer ren trocken ist. „Seine Geschichte zeigt, zufriedenen Abstinenz, zu schaffen. Fotos: Evang. Stadtmission dass es möglich ist, abstinent zu leben“, einer der ersten Arbeitsbereiche der meint Borchardt. Stadtmission. Auch heute kommen noch Gerade weil er weiß, welche große überwiegend Alkoholabhängige zu den Bedeutung die regelmäßigen Gruppen- DAS BLAUE KREUZ wöchentlichen Gruppentreffen, aber abende für die Betroffenen haben, emp- auch Drogenabhängige und Spielsüchti- fand er es als sehr schwierig, als die Bereits 1877 wurde der erste Blau- und Begegnungsgruppen an über ge finden Hilfe. „Manchmal kommen Gruppenabende aufgrund der Lock- kreuz-Verein in Genf gegründet. In 400 Standorten. In mehr als 1.100 auch Angehörige von Abhängigen, die down-Bestimmungen nur online statt- Anlehnung an das kurz zuvor ge- Gruppen- und Vereinsangeboten sich informieren sollen“, erklärt Bor- finden konnten. „Es gab zwar sehr gründete Rote Kreuz verwendete engagieren sich ehrenamtliche und chardt und versichert, dass niemand ab- schnell ein spezielles Online-Angebot man die Farbe Blau, die bereits als hauptamtliche Mitarbeiterinnen gewiesen werde, denn „die Problematik des Blauen Kreuzes, das sicher war, aber Farbe der Abstinenzbewegungen und Mitarbeiter vor allem für alko- Sucht ist für alle gleich“. In diesem Zu- dennoch kann es nicht den persönlichen im angelsächsischen Raum be- hol- und medikamentenabhängige sammenhang weist er auch darauf hin, Kontakt zu hundert Prozent ersetzen“, kannt war. Wenige Jahre später, ge- Menschen. In Karlsruhe finden die dass das Blaue Kreuz zwar eine christli- ist Borchardt überzeugt. Umso glückli- nauer im Oktober 1885, gründete Treffen der Selbsthilfegruppe je- che Selbsthilfeorganisation sei, dass cher ist er, dass inzwischen wieder Pfarrer Arnold Bovet den ersten den Montag, von 18 Uhr bis 19.30 aber natürlich jeder willkommen sei. Gruppentreffen stattfinden dürfen. Bor- deutschen Blaukreuz-Verein in Ha- Uhr, in den Räumen der Evangeli- Neben den regelmäßigen Gruppen- chardt fasst den Sinn der Selbsthilfe- gen/Westfalen. Der Internationale schen Stadtmission, Stephanien- abenden, bei denen sich Betroffene ano- gruppe in einem Satz zusammen: „Du Bund des Blauen Kreuzes wurde straße 60, statt. Weitere Gruppen- nym austauschen können, werden auch schaffst es nicht allein, aber allein 1890 gegründet. Heute ist er in fast angebote und Informationen gibt immer wieder Vorträge organisiert. Bor- schaffst du es.“ Ohne die Selbsthilfe, oh- 50 Ländern der Erde aktiv. Zum es bei Markus Borchardt, Telefon chardt erinnert sich beispielsweise an ne den Austausch mit anderen Betroffe- Bundesverband Blaues Kreuz in 9 17 61 12, oder über die Internet- das Vortragsthema „Zufriedene Absti- nen gibt es keinen Weg aus der Abhän- Deutschland gehören zurzeit 16 seite www.blaues-kreuz.de/de/ba- nenz“. Referent Kay Markert, ein Sozi- gigkeit, aber der Einzelne muss es wol- Landesverbände sowie Vereine den-wuerttemberg/karlsruhe alpädagoge, der für das Blaue Kreuz ar- len und den Weg gehen. beitet, ging bei dieser Online-Veranstal- Martina Erhard für die Evangelische Stadtmission
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