Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
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1961 I 2021 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei Merhaba Berlin Geschichten vom Ankommen und Hierbleiben 3
Übersicht 6 Candan teşekkürler – Herzlichen Dank Grußwort von Prof. Barbara John 9 Vielfalt verbindet Grußwort von Remzi Kaplan 13 60 Jahre Anwerbeabkommen von Dr. Damir Softić Vor 60 Jahren trat das deutsch-türkische Anwerbeabkommen in Kraft 20 Vier Generationen einer deutsch-türkischen Familie von Heike Schüler Mit dieser Broschüre will der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin berichten, wie sich Berlin seitdem entwickelt hat. Wir wollen vor allem die Leistung der türkeistämmigen, ehemaligen Gastarbeiterinnen und 28 Portraits Gastarbeiter würdigen. Sie haben mit ihrer Arbeit nicht nur die Wirtschaftskraft der Stadt gestärkt, sie haben auch einen ganz anderen Reichtum nach Berlin gebracht: Sie haben den Anstoß dafür gegeben und Şenay Abay, Fevzi Aktaş, Yekta Arman, Seyran Ateş viel dafür getan, dass Berlin eine vielfältige, interkulturelle Stadt geworden ist. Yasemin Bağcı, Bahri Binerbay, Emine Can, Gülsüm Daskin, Ayşe Demir Danke! 50 Denn ein Beruf ist ein goldenes Armband von Prof. Dr. Felicitas Hillmann Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin 54 Portraits Zum Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin gehören mehr als 800 soziale Organisationen mit Emine Demirbüken-Wegner, Kazım Erdoğan, Mugaffer Erdoğan, Tamer Ergün Yıkıcı insgesamt rund 55.000 Mitarbeitenden und 30.000 Ehrenamtlichen. Damit sind wir der größte İlknur Gümüş, Mehmet Ali Han, Ceyhun Heptaygun, Derviş Hızarcı, Süreyya İnal Wohlfahrtsverband in Berlin. 76 Expertinnen für das Leben in zwei Welten von Hatice Akyün Die Broschüre ist in Zusammenarbeit mit der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung e. V. (TDU) entstanden. 80 Portraits İpek İpekçioğlu, Celal İrgi, Belgin Kaplan, Bilgin Lutzke, Kadir Memiş Aysel Meral, Demet Odağ, Ertekin Özcan, Ülker Radziwill paritaet-berlin.de ParitaetBerlin 102 Berlin – ein idealer Ort für eine vielfältige Kultur von Dr. Cem Dalaman 106 Portraits Erdal Şafak, Aliye Stracke-Gönül, Hakan Taş, Batuhan Temiz, Fatoş Topaç Bülent Topal, Beyhan Yashi Uslu, Zeynep Yaman, Cengizhan Yüksel 128 Glossar 4 5
Candan teşekkürler – Herzlichen Dank auch wirtschaftlich unsinnig. Welchen Sinn machte es nach zwei Arbeitsjahren erfahrene Mitarbeiter auszu- einzelnen Fällen mit der Unterstützung des Regieren- den Bürgermeisters Richard von Weizsäcker für begrün- Grußwort von Prof. Barbara John, Vorstandsvorsitzende Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin tauschen gegen Neulinge? Für die meisten Betriebe war dete Ausnahmefälle Gewerbegenehmigungen erteilt klar, dass die sogenannte Rotation wirtschaftlich keinen wurden. Gleichzeitig begann ich eine Informationskam- in der Trennungskatastrophe. Über Nacht konnten Be- Sinn machte. So kam es schrittweise zur Verlängerung pagne mit Videos und einer eigens herausgegebenen rufspendler aus Ostberlin nicht mehr in den Westteil der der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse unter der CDU/ türkischsprachigen Zeitung. Es ging um den Erwerb Stadt gelangen. Es fehlten mehr als 55.000 Arbeitneh- CSU-Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl. Ob- einer Niederlassungserlaubnis mit der grundsätzlich mer und Arbeitnehmerinnen, etwa in der Metall- und wohl politisch ungewollt, war das ein erster Schritt, ein rechtlicher Anspruch zur selbständigen Tätigkeit Elektroindustrie, in Schneidereien und beim Pflegeper- Deutschland zum Einwanderungsland zu machen. möglich wurde. Als ich dann mit dem damaligen Sena- Foto: Holger Groß/Paritätischer Berlin sonal. tor Elmar Pieroth aushandelte, dass es grundsätzlich im Und die Gastarbeiter taten das, was Auswanderer im- wirtschaftlichen Interesse Berlins war, Gewerbegeneh- Was für eine Ironie des Schicksals: Ulbricht, Staatsrats- mer tun, egal woher sie kommen: sie schlagen neue migungen an Ausländer zu erteilen, erhielt das recht- vorsitzender der DDR, wollte mit dem Mauerbau „West- Wurzeln in der Fremde, um als Einzelne und als kollek- liche Ermessen eine verbindliche Grundlage. Das Prob- berlin trockenlegen wie einen Sumpf,“ legte stattdessen tive Gruppe wieder Fuß zu fassen. Als die Ersten eige- lem war in diesem Punkt vom Tisch. aber ungewollt die Saat aus für Berlin als weltoffene ne Geschäfte aufzubauen versuchten, um die Lebens- Stadt. mittel herzustellen oder zu verkaufen, die sie aus der Was oft vergessen wird, ist der Blick auf den Beitrag der Candan teşekkürler für 60 Jahre gutes Zusammen- Heimat kannten und liebten – etwa Zucchini, Datteln, eingesessenen, Bevölkerung, die in Bezirken wie Kreuz- leben in Berlin. So kam es, dass „Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen Ayran, Döner, reagierte die Berliner Stadtregierung berg, Neukölln, Tiergarten, Schöneberg, Reinickendorf aus der Türkei“, insbesondere aus Ostanatolien, dar- mehr als unwirsch mit Verboten. „Wir brauchen Arbeit- Tür an Tür mit den eingewanderten Familien wohnte. Als am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen der unter viele alleinstehende Frauen, den Weg nach Berlin nehmer, keine Unternehmer“ , hieß es damals. Deutsche Natürlich gab es hier und da sprachliche und nachbar- Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei in Kraft trat, fanden. Ein wichtiges Auswahlkriterium war übrigens „Strohmänner“ mit einer Gewerbeerlaubnis übernah- schaftliche Konflikte. Unvermeidbar. Aber es gab auch war wohl beiden Seiten nicht klar, wie sehr dieses Ab- der Zahnstatus der Bewerber. men offiziell die kleinen Betriebe. Wer dort den Laden das unerwartet Positive durch mehr und mehr persön- kommen beide Länder künftig in „guten wie in schlech- „schmiss“, waren die Gastarbeiterfamilien. Ich erlebte als liche Kontakte. Oft begannen sie mit den Kindern der ten Zeiten“ verbinden aber auch verändern würde. Das Kaum angekommen in der Stadt begannen sie mit der Ausländerbeauftragte des Senats gleich nach meinem Eingewanderten, die oft „Schlüsselkinder“ waren, weil Ziel für Deutschland war: genügend Arbeitskräfte befris- Arbeit. Die Männer bauten Sozialwohnungen und sa- Amtsantritt 1981 diese Gängelei als törichte politische beide Eltern arbeiteten. Zwei Beispiele von zahllosen: tet für die boomende deutsche Wirtschaft zu gewinnen. nierten marode Straßen, die Frauen schufteten mit den Schikane. Damit verhinderte der Senat nicht nur, dass Meine Mutter lebte am Oranienplatz im 3. Stock. Wenn Für die Türkei unter der damaligen Militärdiktatur galt Männern am Band in den damals noch starken Berliner inzwischen arbeitslos gewordene „Gastarbeiter“ wieder die Mutter einer Schülerin aus der dritten Klasse es nicht es, Verdienst- und Arbeitsmöglichkeiten für viele jünge- Industriebetrieben bei Siemens und AEG. Viele Frauen eigenes Geld verdienen konnten, sondern er erschwer- zeitig genug nach Hause schaffte, klingelte das Mäd- re Arbeitslose und Schlechtverdienende auszuhandeln. fanden auch eine Beschäftigung in den vielen kleinen te auch die Integration und den Aufstieg in der Berliner chen bei meiner Mutter, trank Kakao und erzählte von Beide Länder profitierten also. Viele Angeworbene woll- und mittleren Betrieben der Textilbranche. Die „Arbeits- Gesellschaft. Es dauerte übrigens nicht lange und die ihrem Schultag. Beim ersten Kontakt fragte sie, ob der ten mit dem hier verdienten und gesparten Geld in die kräfte auf Zeit“, wie sie damals hießen, lernten mehr einheimischen Berliner kauften gern und oft in den „tür- Fernseher kaputt sei, denn der müsste doch an sein, Heimat zurückkehren, um sich dann dort eine Existenz schlecht als recht Deutsch, denn Integrationskurse fehl- kisch“ geführten Geschäften und Imbissbuden ein. Und wenn jemand zuhause ist. Annäherungen an unter- aufzubauen und Wohneigentum zu finanzieren. ten. Die gab es finanziert von der Bundesregierung erst es kam der Tag als der Döner der Currywurst den Rang schiedliche Gewohnheiten. ab 2005. Integration war damals nicht gewollt, geplant abgelaufen hatte. Bevor es soweit war, gab es politische Für Westberlin erwies sich das Anwerbeabkommen mit war, die Angeworbenen schon nach zwei Jahren auszu- Auseinandersetzungen mit der Wirtschaftsverwaltung Eren Ünsal, die heutige Leiterin der Berliner „Landes- der Türkei im Schicksalsjahr der Stadt 1961 als Rettung tauschen. Aber das war nicht nur politisch naiv, sondern und der Ausländerbehörde. Es begann damit, dass in stelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung“ 6 7
erinnert sich gern an regelmäßige Besuche bei einer äl- teren deutschen Nachbarin. Beide Eltern arbeiteten im Doch was ist lebendiger als erzählende Stimmen? Es ist unter anderem unser Beitrag, ihnen „Çok teşekkür ede- Vielfalt verbindet Schichtbetrieb und die Siebenjährige hatte den Woh- rim» zu sagen. Berliner Geschichte, erzählt von denen, Grußwort von Remzi Kaplan, Vorstandsvorsitzender Türkisch-Deutsche Unternehmervereinigung nungsschlüssel nicht bei sich, vergessen in der Schule. die hierherkamen, die hier geboren sind als Kinder und Die Nachbarin half und holte sie in ihre Wohnung. Noch Enkel und die sie weiterschreiben. Heute leben ca. drei Millionen Menschen mit türkei- heute scheint Frau Ünsal beim Erzählen den köstlichen stämmigen Wurzeln in Deutschland. Viele leben bereits Foto: Türkisch-Deutsche Unternehmervereinigung Geschmack des angebotenen selbstgekochten Grieß- Höchste Zeit, Ihnen diese Geschichten ans Herz zu le- in zweiter, dritter sogar vierter Generation hier. Von die- breis auf der Zunge zu spüren. Dem ersten Kontakt gen. Es ist ein Ausschnitt aus dem großen Menschen- sen ehemaligen Gastarbeiterkindern und Enkelkindern folgten weitere. Beste Gelegenheiten zum Sprachbad in puzzle in unserer Stadt. wurden bereits viele Unternehmer, Ärztinnen, Inge- Deutsch und zum Wachsen einer großen Freundschaft. nieure, Wissenschaftler, Politiker, Lehrer, kurzum hoch Viel Freude beim Lesen und Weitererzählen! qualifizierte Menschen. Heute gibt es in Deutschland 1961 beim Abschluss des Abkommen lebten 284 mel- ca. 90.000 Unternehmer mit türkeistämmigen Wurzeln. derechtlich registrierte türkische Staatsbürger in West- Dazu kommen mehrere 10.000 Freiberufler wie Inge- berlin, fast alle waren Studenten. In Ostberlin gab es nieure, Architektinnen und Ärzte. In ihren Betrieben in der dortigen Türkischen Botschaft eine unbekannte arbeiten mehr als 500.000 Beschäftigte. Sie gehören zu Zahl türkischer Mitarbeiter. Heute leben in Berlin rund Deutschland und verstehen sich als Bürger und Bürge- 200.000 türkeistämmige Menschen. Alle in der Türkei In diesem Jahr feiern wir den 60. Jahrestag der Zuwan- rinnen dieses Staates. lebenden Minderheiten sind vertreten. In der offiziellen derung aus der Türkei. Durch die Unterzeichnung des Statistik spiegelt sich das nicht wider, weil mehr als die Abkommens am 30. Oktober 1961 zwischen beiden In diesen 60 Jahren verlief das Zusammenleben von Hälfte längst deutsche Staatsbürger sind, auch dank der Ländern kamen die ersten sogenannten Gastarbeiter, Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen nicht immer schon in den 1980er Jahren begonnenen aktiven Ein- also unsere Eltern, nach Deutschland, um hier zu arbei- reibungslos. Es war nicht einfach! Die Vorurteile waren bürgerungspolitik in Westberlin. ten. Sie ließen sich von deutschen Unternehmen anwer- damals viel größer als heute. Die Menschen mussten im ben und wurden für einige Jahre nach dem damaligen Lauf der Jahre lernen, miteinander zu leben, sich anein- Wie jede Einwanderergruppe die Stadt auf ihre Weise Rotationsprinzip hergeholt. Damals konnte niemand ander zu gewöhnen und Vorurteile abzubauen. verändert hat, haben auch die Türkeistämmigen das Ge- ahnen, dass dies das Startzeichen für eine große Wan- sicht Berlins geprägt und in der 777-jährigen Geschich- derungsbewegung aus der Türkei war. Zwischen 1961 Auf der anderen Seite war die rechtliche Situation der te der Stadt ganz eigene wirtschaftliche, kulturelle und bis zum Anwerbestopp 1973 kamen über 800.000 junge Ausländer sehr vage. Die Gesetzgebung bezüglich Auf- politische Akzente gesetzt. Menschen, vor allem Männer, als Arbeitsmigranten aus enthalts- und Arbeitsgenehmigungen war sehr unge- der Türkei nach Deutschland. nau. Auch die Behörden mussten sich immer wieder Wir wollen mit dieser Broschüre den Blick darauf lenken, neu orientieren. Alles war Neuland. was die große Gruppe der Menschen aus der Türkei bei- Nach dem Anwerbestopp erfolgte die Zuwanderung getragen hat zum menschlichen und sozialen Klima der durch Familienzusammenführung, Eheschließung und Ich kam 1970 mit zehn Jahren aus ärmlichen Verhält- Stadt und zum wirtschaftlichen Aufbau. Das geschieht, politisches Asyl. Es gab auch immer wieder Rückkehrer. nissen aus Ankara zu meinen Eltern nach Berlin. Ich indem sie selbst aus ihrem Leben in Berlin erzählen. In Anfang der 80er Jahre gingen viele Familien aufgrund kann mich erinnern, dass Ausländer nicht in die Bezirke verschiedenen Städten gibt es bereits steinerne Denk- der Rückkehrförderung durch die Bundesregierung in Kreuzberg, Wedding und Tiergarten ziehen durften. Ab mäler zur Erinnerung an ihre Einwanderungsgeschichte. die Türkei zurück. 1975 gab es eine sogenannte Zuzugssperre. Als mein 8 9
Vater seine erste Selbstständigkeit aufnehmen und ei- derungsgesetz verabschiedet, was eine umfassende Im Gegensatz zu früher steht heute außerdem nicht nen Lebensmittelladen eröffnen wollte, musste er erst Reform sämtlicher Bestimmungen der Migrations- und mehr die kulturelle Herkunft eines Mitarbeiters, son- einen deutschen Strohmann einschalten, über den das Integrationspolitik sowie des Aufenthaltsrechts be- dern seine Qualifikation, sein Einsatz und seine Team- Gewerbe laufen konnte. Denn man durfte damals als deutete. Weiterhin zählen dazu die Bestrebungen der fähigkeit im Vordergrund. Ausländer keine selbstständigen Tätigkeiten ausüben. Politik, mehr Menschen mit Migrationshintergrund im Dafür haben wir diesen sogenannten Strohmann extra öffentlichen Dienst einzustellen. Deutschland wird heute von der Politik und des größten bezahlt. Teils der Bevölkerung als Zuwanderungsland akzeptiert. Im Vergleich zu den Anfängen der Migration vor 60 Das war noch vor 30 Jahren kaum denkbar. Die Migra- Auch die schulische Bildung war anders. Es gab soge- Jahren hat sich heute vieles grundsätzlich geändert. Be- tion und die damit einhergehende kulturelle Vielfalt in nannte Ausländerklassen, später Regelklassen. Diese reits jeder/jede Fünfte in Deutschland hat einen Migra- der Gesellschaft werden heute von der breiten Bevölke- Klassen bestanden ausschließlich aus türkischen und tionshintergrund. Heute gibt es keine Ausländerklassen rung als Bereicherung empfunden. anderen ausländischen Kindern. Die Mehrzahl der Schü- mehr. Seit Jahrzehnten wachsen Kinder deutscher und lerinnen und Schüler konnte da nicht richtig lernen. Ich nichtdeutscher Herkunft zusammen auf. Das heißt, man Der Fachkräftemangel in allen Wirtschaftsbereichen gehörte dazu. Viele Kinder wurden damals aufgrund ih- lernt andere Kulturen schon als Kleinkind kennen. macht Migration notwendig. Auch die Globalisierung rer fehlenden Deutschkenntnisse in die Sonderschulen des Welthandels und die technische Entwicklung macht geschickt. Nur ganz wenige Schüler aus diesen Klassen Ich finde es sinnvoll, dass diese Broschüre nur in deut- sie unvermeidbar. Daher gehört die Migration in Europa schafften das Abitur. scher Sprache erscheint, denn nach 60 Jahren Anwerbe- zum Alltag, und es wird so bleiben. Das ist ein dynami- abkommen sollte jeder Bürger die deutsche Sprache scher Prozess. Auch aus der Türkei kommen immer noch In diesem Migrationsprozess spielten die Migrantinnen beherrschen. Und ich finde es als Zeichen der gelunge- Fachkräfte, Familienangehörige oder Menschen aus po- und Migranten aus der Türkei fast immer die Vorreiter- nen Integration sehr wichtig. litischen Gründen nach Deutschland. rolle. Sie mussten für vieles als Erste kämpfen und waren Türöffner. Dazu kam, dass die anfängliche Akzeptanz Heute haben in den Großstädten, in den Grundschulen Auf der anderen Seite werden die Probleme, die mit der Migranten durch die deutsche Gesellschaft zusätz- und weiterbildenden Schulen mehr als 40 Prozent der der Migration zusammenhängen, immer fortbestehen lich aufgrund der großen Kulturunterschiede erschwert Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. bzw. sich verändern. Die Ungleichheit und die Diskrimi- war. Denn im Gegensatz zu anderen Arbeitsmigranten Die Voraussetzungen für das Zusammenwachsen sind nierung in allen Lebensbereichen müssen wir im Alltag aus Griechenland, Italien und Spanien, die zuvor nach also ganz anders als vorher. stets bekämpfen. Wenn ich an die rassistischen Über- Deutschland als Arbeiter gekommen waren, haben wir griffe in den letzten Jahren in Hanau, Halle sowie zu- eine teils islamisch geprägte Orientkultur. Auch auf dem Arbeitsmarkt läuft der Prozess vielfältiger vor durch den NSU denke, ist es meiner Meinung nach ab. Ich z. B. versuche immer, Mitarbeiter aus verschiede- wichtig, die Bekämpfung des Rassismus auf der Tages- Die türkeistämmigen Vereine und andere migrantische nen Kulturkreisen zu beschäftigen. Für viele andere Ver- ordnung weit nach oben zu stellen. Institutionen und auch die Ausländer-, später Integra- einsmitglieder der TDU kann ich dasselbe behaupten. tionsbeauftragten drängten immer wieder auf Erleich- Denn es ist meine Erfahrung, dass so eine Belegschaft Rückblickend möchte ich sagen: Migration hat Deutsch- terungen und Verbesserungen des Migrantenlebens effektiver und harmonischer zusammenarbeitet. Eine land gutgetan, und Vielfalt verbindet. sowohl in rechtlicher als auch in sozialer Hinsicht. Durch kulturelle Vielfalt der Mitarbeiter tut dem Arbeitsklima diesen vehementen Einsatz wurde vor 20 Jahren die sehr gut. Einbürgerung erleichtert und 2005 das neue Zuwan- 10 11
60 Jahre Anwerbeabkommen von Dr. Damir Softić, Soziologe und Politikwissenschaftler, Gründer des Wunderkind Instituts so zählen auch Kurden, Lasen, Armenier und Aramäer dazu. Auch bei der Religionszugehörigkeit herrscht eine große Diversität: Während der Großteil der Zuwanderer sunnitischen Glaubens ist, finden sich auch Aleviten, Christen und Atheisten unter den Zugewanderten wie- Foto: Bernhardt Link, Farbtonwerk der. In der Geschichte sollte sich noch zeigen, welche Vorteile die Anwerbung türkeistämmiger Menschen für Deutschland haben würde. Deutschland brauchte Arbeitskräfte, die Türkei Devisen Bereits 1954 stellte die Bundesrepublik der Türkei einen Ankunft – der erste Zug Kredit in Höhe von 225 Millionen Mark aus, worauf ein Als 1961 eine 93-köpfige Gruppe sogenannter Gast- Jahr später ein Handelsabkommen folgte. In der Türkei arbeiter auf dem Schienenweg Berlin erreichte, ahnte herrschte wirtschaftliche Not, es waren sogenannte ge- keiner, welcher Zug der gesellschaftlichen Veränderung cekondu um die Großstädte Istanbul, Izmir und Anka- damit ins Rollen gebracht worden war. Dass Deutsch- ra herum entstanden – slumähnliche Siedlungen. Das land heute als Einwanderungsland gilt und von einer waren die Resultate der Arbeitslosigkeit, der Landflucht pluralen Gesellschaftsstruktur geprägt ist, liegt in gro- und der wirtschaftlichen Probleme. Der Arbeitskräfte- ßen Teilen an dem Anwerbeabkommen, das vor 60 Jah- export nach Deutschland brachte eine Win-Win-Situa- ren zwischen der Türkei und Deutschland geschlossen tion für beide Länder: Deutschland warb die dringend worden ist. benötigten Arbeitskräfte für die boomende Wirtschaft Am 30. Oktober 1961 vereinbarte in Bonn-Bad-Godes- an, und die Türkei gelangte zu wichtigen Devisenein- berg das Auswärtige Amt mit der türkischen Botschaft nahmen, die sie aus den Geldrücküberweisungen der Der 24-jährige Türke Ismail Babader auf einem zweiseitigen Dokument, »Gastarbeiter« aus Gastarbeiter in die alte Heimat erzielte. Foto: Picture Alliance I dpa I Hans Gregor wird am 27. November 1969 in der Türkei für den deutschen Arbeitsmarkt anzuwerben. München als der 1.000.000 Gastarbeiter Zu der Zeit lebten weniger als 300 türkeistämmige Men- Berlin, Hauptstadt von Almanya aus Südost-Europa begrüßt. Der schen in Berlin. Heute sind es etwa 200.000 Menschen Der Mauerbau 1961 sowie der Aufbau der Bundeswehr Präsident der Nürnberger Bundesanstalt mit Türkeibezug, die das Stadtbild Berlins teils wesent- sorgten mitunter für einen Arbeitskräftemangel in Ber- für Arbeit, Josef Stingl (Mitte) empfing lich ausmachen. Sie sind mit über drei Millionen die lin. Die ausländischen Arbeitskräfte leisteten da will- ihn auf dem Hauptbahnhof mit einem größte Einwanderergruppe in Deutschland. kommene Abhilfe. Fernsehapparat als Begrüssungsgeschenk. Dabei handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe; Durch den Anwerbevertrag verabschiedete sich die 12 13
durch die Ost-WestTeilung der Stadt weg. Das Umland muncu oder der Unternehmerin Aynur Boldaz-Özdemir an. Obwohl in Deutschland seit über zehn Jahren das stellte kein Einzugsgebiet mehr dar, um Arbeitskräfte zu türkeistämmige Menschen zu den erfolgreichsten ihrer Gleichbehandlungsgesetz in Kraft ist, zeigen diverse rekrutieren. Aus dem Westen wollte kaum jemand ins Zünfte in Deutschland. Diskriminierungsstudien, wie die der Ökonomin Doris unsichere Westberlin. Die Abiturientenzahlen unter Türkeistämmigen steigen. Weichselbaumer vom Forschungsinstitut zur Zukunft Neben Siemens hielten die Gastarbeiter aus der Türkei Zwar ist auch die Schulabbrecherquote weiter auf ei- der Arbeit, dass Menschen mit türkischem Namen selte- bei AEG, Telefunken, DeTeWe und vielen mittelständi- nem hohen Niveau, allerdings steigt auch der Anteil der ner zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. schen Textilunternehmen die Produktion in Gang. 1971 türkeistämmigen Schülerinnen und Schüler, die Abitur wurden die Gesetze zur Aufenthaltsverlängerung sowie machen oder studieren, jedes Jahr: 2007 waren es noch Perspektiven für Zukunft zum Familiennachzug gelockert. Zunehmend gewann rund elf Prozent; aktuell sind es bereits über 16 Prozent Max Frischs Zitat muss heutzutage abgewandelt wer- die Familienzusammenführung als Einwanderungs- mit Abitur. den: Wir riefen (niedrigqualifizierte) Arbeitskräfte, und es grund an Bedeutung. Bei den Frauen sind weitreichende Entwicklungen zu kamen Menschen, die auf einen sich transformierenden Die Einwanderung der Gastarbeiter endete 1973 mit beobachten. Die Bildungssituation hat sich hier von Arbeitsmarkt trafen. Digitalisierung, Strukturwandel, einem generellen Anwerbestopp. Von damals an erfolg- der ersten zur zweiten Generation deutlich verbessert. Automatisierung und der Wandel zur Dienstleistungs- te die Zuwanderung aus der Türkei hauptsächlich durch Rund 80 Prozent der türkeistämmigen Männer zwischen gesellschaft sorgten für das Wegbrechen der Arbeits- Familiennachzug und durch Asylbewerber. Der Militär- 16 und 65 sind erwerbstätig. Bei den Frauen ist der An- plätze, für die man die Arbeiterinnen und Arbeiter aus putsch 1980 in der Türkei sorgte vor allem für eine Ein- teil nur etwa halb so groß, jedoch steigt die Erwerbsbe- der Türkei geholt hatte. Die Textilbranche wanderte wanderung kurdischer und intellektueller Oberschich- teiligung unter den Frauen mit mehr Bildung deutlich fast vollständig ab. Der Bergbau wurde runtergefahren. ten. Während der Rezession 1974 und 1975 ging die Zuwan- Folkloregruppe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins beim Fest am Mariannenplatz 1977 derung türkeistämmiger Menschen zurück. Die Bundes- regierung fing an, stärkere Anreize zur Rückkehr in die Herkunftsländer zu setzen. 1984 trat das »Rückkehrhil- fegesetz« in Kraft, das eingewanderten Arbeitskräften finanzielle Unterstützung für die Rückkehr in das Her- Kreuzberg 1975 kunftsland zuteilte. Seit mehreren Jahren übersteigt die Fotos auf dieser Doppelseite: FHXB-Museum I Jürgen Henschel Zahl der Rückkehrer in die Türkei die der Neuzuwan- Vorstellung einer homogenen deutschen Gesellschaft derer, sodass die Gesamtanzahl der Deutsch-Türken in auf leisen Sohlen von der Bühne der Weltgeschichte. der Stadt abnimmt. Seit dem Putschversuch 2016 in der Ausgerechnet die Abschottungspolitik der DDR und Türkei steigt die Anzahl der Asylanträge aus der Türkei der Mauerbau leisteten einen wichtigen Beitrag für die wieder. Mulitkulturalisierung Berlins. Manchmal betreten ge- sellschaftliche Entwicklungen die Bühne über die Hin- Deutsch-türkische Erfolgsgeschichten tertreppe der Nebenfolgen. Heute zählen mit den Forschern Ugur Sahin und Özlem Während die DDR 1961 mit dem Mauerbau für eine Ab- Türeci, dem preisgekrönten Regisseur Fatih Akin, dem schottung sorgte, schnitt sie für Westberlin den Zugang Schriftsteller Feridun Zaymoglu, dem Fußballweltmeis- zu Arbeitskräften ab. Die Arbeitskräftezufuhr brach ter Mesut Özil, dem politischen Kabarettisten Serdar So- 14 15
Die Stahlindustrie und die Automobilbranche erlebten Wirtschaftsaufschwung in Deutschland aufrechterhiel- Vereinigung und die Erzählung einer gemeinsamen Ge- Diversität ist der Standard und keine Besonderheit. durch die Automatisierung eine »Verschlankung«. Der ten und die deutschen Sozialsysteme sicherten. Ohne schichte noch gelingen. Diversität gilt in vielen Einwanderungsgesellschaften gewandelte Arbeitsmarkt erforderte Profile von Arbeits- die Zuwanderung hätten bereits Anfang der 1970er Jah- und in der Unternehmenswelt als Schlüssel zum Erfolg. kräften, für die die »klassischen Gastarbeiter« nicht vor- re die Rentenbeiträge massiv erhöht werden müssen. Vorzüge der Diversität So ahnte 1961 wohl keiner, dass Deutschland in der Co- bereitet sein konnten. Die Reintegration der deutschen Schwerindustrie in den Im Rahmen meines Lehrauftrages für »Verfassungs- ronakrise die Entwicklung eines Coronaimpfstoffs und westlichen Wirtschaftskontext konnte nur mit einer Zu- grundlagen und innere Sicherheit« an der Hochschule damit die Chance auf eine Überwindung der größten fuhr belastbarer Arbeitskräfte aus dem Ausland für den für Wirtschaft und Recht Berlin kann man im Studien- Pandemien seit 100 Jahren ausgerechnet den Nachfah- Bergbau und die Stahlindustrie gelingen. Zudem nutz- gang »gehobener Polizeivollzugsdienst« ablesen, was ren dieser Gastarbeitergeneration zu verdanken haben ten sie den eigenen Rentenanspruch in geringem Maße. immer mehr Realität ist: Über 25 Prozent der Studieren- würde. Sie sorgten quasi für eine »Subventionierung« des deut- den haben einen Migrationshintergrund – die meisten schen Sozialsystems. von ihnen sind türkeistämmig. Berlins Polizei gelingt schon, was in anderen Bereichen noch ansteht: Gelebte 1 autochthon: eingeboren, einheimisch Fehlende Willkommenskultur und mangelnde Ein- gliederungshilfen In den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung Türkische Frauen auf dem Mariannenplatz 1977 stiegen vielerorts die Zahlen der Arbeitslosen und der rechten Gewalttaten. Anfang der 1990er Jahre kam es in Deutschland zu einer Serie rechtsradikaler Anschlä- ge gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Den Brandanschlägen und Morden an türkeistämmigen Menschen in Solingen, Mölln und anderen deutschen Ladengeschäft in der Eisenbahnstraße in Kreuzberg Städten waren hetzerische Kampagnen populistischer Politiker und einiger Boulevardmedien vorausgegan- Historische Deutung des Anwerbeabkommens gen. Die NSU-Morde und der Anschlag in Hanau stellen Die Deutung der deutschen Migrationsgeschichte ist ein weiteres dunkles Kapitel des deutsch-türkischen Zu- ein umkämpftes Gebiet. Zwei Lesarten dominieren den sammenlebens dar. Diskurs bezüglich des Anwerbeabkommens: Nur weni- Wie auch bei anderen Migrantengruppen gibt es bei ge, so wie die Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz, se- türkeistämmigen Menschen durch das deutsche Staats- hen die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte als eine angehörigkeitsrecht, das relativ anspruchsvolle Bedin- Foto: FHXB-Museum I Jürgen Henschel Ursache für die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands gungen für eine Einbürgerung stellt, einen Selektions- Foto: Picture Alliance I zb I Paul Glaser in den 1970er und 1980er Jahren. Für diese wenig beleg- effekt: Nur Personen, die bereits einen relativ hohen te historische Deutungsweise hatte die Zuwanderung Integrationsstand erreicht haben, können überhaupt den Effekt, dass der Strukturwandel im Bergbau – durch eingebürgert werden. die Zufuhr günstiger Arbeitskräfte – zeitlich hinausge- Die wiedervereinigte Bundesrepublik muss in Zukunft zögert werden konnte. eine zweite deutsche Einheit bewerkstelligen: Bürgern Für die meisten ist klar, dass die Angeworbenen den autochthoner 1 und migrantischer Herkunft muss die 16 17
Eine rein türkische Klasse mit türkischem Lehrer, der den Kindern an der Hunsrückschule in Kreuzberg Deutsch beibringt, Juni 1980 Foto: picture alliance zb Paul Glaser 18 19
Vier Generationen einer türkisch-deutschen Familie von Heike Schüler, Journalistin Über Ankommen, Selbstbehauptung und Hierblei- Die deutsche Geschichte der türkeistämmigen Familie Dame. Sie hat uns oft bei den Hausaufgaben geholfen. ben – wie Berlin für die Familie Çakır zum Zuhause beginnt im Jahr 1965. Fevzi Çakır war 22 Jahre alt, er Von ihr habe ich meine ersten Wörter Deutsch gelernt. wurde erzählt: „Ich hatte meinen Militärdienst hinter mir und Und sie hat miterzogen, wenn meine Eltern Schicht- wollte am liebsten studieren. Doch meine Eltern waren dienst hatten. Es fühlte sich an wie die Großfamilie, die arme Landarbeiter in Anatolien. Ich war vor der Land- ich aus der Türkei kannte.“ wirtschaft in meinem Dorf in die Hauptstadt Istanbul geflüchtet. Ich wollte lieber dort arbeiten. Doch als ich Die Mutter von Tülay Usta, Ayşe Çakır, übernahm die meine Eltern in ihrem Dorf besuchte, stellten sie mir Hauswartstelle und putzte im Vorder- und Hinterhaus. meine Braut vor. Ohne mich vorher zu fragen!“, empört Fevzi Çakır, erste Generation, Rentner „Damit verdiente ich 200 D-Mark“, erinnert sie sich. „Die sich der heute 80-Jährige kopfschüttelnd lachend. „Das Wohnungsmiete betrug 100 DM.“ Zusammen mit dem war so üblich bei uns. Ayşe war 17“, er nickt seiner Frau berlin, wo händeringend Arbeitskräfte gesucht wur- Einkommen ihres Mannes reichte das Geld. Sie arbeitete zu. Die heute 75-Jährige sitzt neben ihm. „Ich heirate- den. Seit dem Mauerbau fehlten die DDR-Bürger als später auch bei Firmen, hat zum Beispiel bei Gillette am te Ayşe und musste Geld verdienen. Vier Monate spä- Arbeitskräfte, und Westdeutsche zeigten wenig In- Fließband Rasierklingen verpackt. Sie spricht überwie- ter bewarb ich mich beim Arbeitsamt in Istanbul, um in teresse daran, in der eingemauerten Stadt zu leben. Deutschland zu arbeiten. Als Gastarbeiter landete ich zunächst in Baden-Württemberg. Hilfsarbeiter auf dem Was reizte Sie an Westberlin? Bau, dann in einer Gießerei, immer Zwei-Jahres-Verträ- Fevzi Çakır: „Es gab 5000 D-Mark Anwerbeprämie. ge. Ich schickte das meiste Einkommen nach Hause, um (lacht) Und die Behörden versprachen nicht nur einen meine Frau mit unserer bald ersten Tochter zu versor- Arbeitsplatz, sondern auch eine Wohnung. Ich fing gen.“ in Kreuzberg in einer kleinen Gießerei an. Wir wurden in der Reichenberger Straße 22, direkt am Kottbusser Ein Start in der Fremde. Fühlten Sie sich willkom- Tor, untergebracht. Ein Zimmer mit Küche. Die Toilette men? mussten wir mit zwei Mitbewohnern teilen, aber wir wa- Fevzi Çakır: „Ich habe schwer gearbeitet, wollte schnell ren zufrieden.“ Geld verdienen und dann zurück in die Heimat. Trotz- Tülay Usta: „Der eine Mitbewohner war ein alter einsa- Fotos auf dieser Doppelseite: Heike Schüler dem kaufte ich mir gleich ein Deutschlehrbuch. Ich mer Mann, 86 Jahre alt. Er hatte im Zweiten Weltkrieg Vier Generationen, von links: sprach bruchstückhaft, aber besser als jeder andere seine gesamte Familie verloren. Mit uns Kindern blühte Enkelin Emel Kelahmetoğlu, Europakorrespondentin; Gastarbeiter. Ich musste immer dolmetschen.“ er richtig auf. Er hat von seiner Tafel Schokolade immer Großvater Fevzi Çakır, Rentner; Enkelin Eliz Usta, Erzieherin; etwas abgebrochen und uns gegeben oder Orangen für Großmutter Ayşe Çakır, Rentnerin, und Tochter Fünf Jahre später holte er seine Frau und seine zwei uns geschält. Er verstarb kurze Zeit später, meine Eltern Tülay Usta, Sozialarbeiterin. Vorne Emels Zwillinge, Kinder zu sich. Er arbeitete gerade in den Nieder- übernahmen die beiden Zimmer, sodass wir mehr Platz Tülay Usta, zweite Generation, Bildungsreferentin Urenkel Uzay Levin und Urenkelin Maya Su. landen. Im Herbst 1970 zog die Familie nach West- hatten. Ein Zimmer weiter wohnte eine ältere resolute und Elternbegleiterin 20 21
gend Türkisch, ihre Tochter übersetzt. Einen Deutsch- schluss finden. Wir hatten zweimal in der Woche eine viele Jahre bei Siemens gearbeitet. Nebenbei führte ich Rechtsanwaltsnotariatsgehilfin schmiss ich, weil ich an kurs besuchte sie nie. Im Gegensatz zu ihrem Mann, Stunde Deutsch. Dass das zu wenig war, bekam ich spä- mit einem Kompagnon eine türkische Buchhandlung in Stenografie verzweifelte. Das ist typisch für sogenannte der am Goethe-Institut seine Deutschkenntnisse weiter ter zu spüren.“ Kreuzberg.“ Kofferkinder. Also habe ich zwei Jahre bei Siemens ge- aufbesserte. 1971 wurde Tochter Tülay in Kreuzberg ein- Fevzi Çakır: „Ich wurde Elternsprecher der Klasse und arbeitet und danach meine Berufsausbildung zur Indus- geschult. stellvertretender Vorsitzender der Gesamtelternvertre- Bis Mitte der 1970er Jahre fielen große Teile der Kreuzber- trieelektronikerin abgeschlossen, als einzige Frau unter tung (GEV) der Schule. Im Jahr darauf wurde ich zum ger Altbauten der Abrissbirne zum Opfer. Auch das Haus, 18 Männern. Mit dem Mauerfall wurde ich arbeitslos, Vorsitzenden der GEV gewählt. Für die türkischen Fami- in dem Familie Çakır wohnte. An dessen Stelle steht jetzt weil meine Firma wegen fehlender Aufträge dichtmach- lien war das hilfreich, weil ich in jeder Elternversamm- der zwölfgeschossige Block mit Sozialwohnungen am te. Es folgte eine lange Zeit der Arbeitssuche, auch eine lung übersetzen konnte. Wenn ich schon hier bin, will Kottbusser Tor. Der Familie musste eine Ersatzwohnung Fortbildung zur PC-Netzwerktechnikerin half nicht, ich ich mich einbringen. Trotzdem war ich lange Zeit fest angeboten werden, und der Vater drängte darauf, in fand keinen Job mehr.“ entschlossen, mit meiner Familie in die Türkei zurückzu- den wohlhabenderen Bezirk Steglitz ziehen zu können. kehren.“ Wieso nicht? Wurden keine IT-Leute gebraucht? Tülay Usta: „Ja, das stimmt. Ich war ein sogenanntes Tülay Usta: „In der Ausländerregelklasse in Berlin-Kreuz- Tülay Usta: „Ich bin sicher, dass hatte mit meiner türki- Kofferkind. Die Sommerferien nach der zweiten Klasse berg war ich die Klassenbeste und Klassensprecherin. schen Herkunft zu tun. Außerdem hatte ich einen tür- verbrachten wir wie jedes Jahr bei der Familie in Anato- Als ich in Berlin-Steglitz in eine normale sechste Klasse keistämmigen Berliner geheiratet. In Bewerbungsge- lien. Doch als die Schule wieder losging, ließen meine kam, war das eine Katastrophe. Meine Mitschüler ver- sprächen fragten sie mich jedes Mal: Was sagt denn Ihr Eltern mich und meinen Bruder plötzlich bei Oma und standen mich nicht, weil mein Deutsch zu schlecht war. Mann dazu, dass Sie arbeiten? Einmal habe ich pampig Tante. Wir gingen in der Türkei weiter zur Schule. Mein Ich wurde ausgelacht und – verstummte. Außer in Ma- geantwortet: Warum sitze ich denn wohl hier, wenn das Bruder blieb fünf Jahre dort. Mich nahmen die Eltern the konnte man mir im ersten Halbjahr keine Zensuren nicht gehen sollte? Den Job habe ich natürlich nicht be- nach einem Jahr, das war 1974, wieder mit nach Berlin. geben. Also, Integration sieht anders aus. Ich fühlte mich kommen. Also fing ich an, ehrenamtlich zu arbeiten. Ich In dem Jahr wurde meine Schwester geboren und zwei benachteiligt und hatte einen schweren Stand, aber die betreute die Computertechnik im Türkischen Elternver- Ayşe Çakır, erste Generation, Rentnerin Jahre später mein zweiter Bruder.“ Lehrer bemühten sich sehr, und das hat geholfen.“ ein Berlin-Brandenburg. Diesen Verein hatte mein Vater gemeinsam mit 60 Eltern und Lehrkräften 1985 gegrün- Wie waren die Erfahrungen in der Schule? Wie fiel die Entscheidung: in Berlin bleiben oder zu- Aufgeben galt nicht in der Familie Çakır. Die Hauptschul- det. Er war rund 25 Jahre lang im Vorstand.“ Tülay Usta: „Ich kam in eine Ausländerregelklasse, so rückkehren? empfehlung für seine Tochter akzeptierte der Vater Fotos auf dieser Doppelseite: Heike Schüler hießen die damals. Unsere Schule in der Ohlauer Stra- Fevzi Çakır: „Nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 nicht: Bildung sei der Schlüssel zu einem guten Leben, Ein türkischer Elternverein? ße, die spätere Gerhart-Hauptmann-Schule, hatte zwei entschied ich, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren. meinte er und setzte durch, dass seine Tochter auf eine Fevzi Çakır: „Meine beiden jüngeren Kinder gingen Parallelklassen, in denen ausschließlich türkeistämmige Ich beantragte die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit Gesamtschule kam. Doch sie kämpfte mit Lernlücken. 1985 noch zur Schule, und ähnlich wie bei Tülay 14 Jahre Kinder saßen. Es wurde nur Türkisch gesprochen und 1983 bin ich Deutscher. Einen türkischen Pass habe ich zuvor sprachen viele ihrer türkischen Mitschüler bei der sogar nach dem türkischen Schullehrplan unterrichtet. zusätzlich. Außerdem hatte ich inzwischen eine zwei- Wie ging es weiter, auch später mit der Ausbildung? Einschulung kaum Deutsch. Die wenigsten waren im Als Gastarbeiterkinder sollten wir mit unseren Eltern in jährige Umschulung zum Elektriker absolviert und zum Tülay Usta: „Im Fachabitur scheiterte ich an unzurei- Kindergarten, sondern wuchsen nur im türkischen Um- die Türkei zurückkehren und dort nahtlos wieder An- ersten Mal eine anerkannte Berufsausbildung. Ich habe chenden Englischkenntnissen. Und die Ausbildung zur feld auf. Ohne Deutschkenntnisse kamen sie natürlich 22 23
im Unterricht nicht richtig mit. Das wirkte sich auf die gische Beratung und Begleitung von Eltern eingestie- Haben Sie jemals Diskriminierung erfahren? gesamte Schulzeit aus. Teilweise wurden sie auf Sonder- gen. Als Elternlotsin habe ich in sogenannten Brenn- Tülay Usta: „Ja, immer wieder, auch wenn ich manches schulen geschickt nur wegen der fehlenden Sprache! punktgebieten Schulsozialarbeit mitorganisiert, wir erst viel später als Diskriminierung identifiziert habe. Wir Eltern fingen an, Vorschulklassen zu gründen und gründeten unter anderem in Moabit Elterncafés in den Einmal sagte der ehemalige SPD-Bildungssenator Klaus türkischen Kindern Deutsch beizubringen. Der Senat Schulen und begleiteten einige Haupt- und Realschulen Böger zu mir: ‚Sie sprechen aber gut Deutsch.‘ Er mein- fand das schließlich so gut, dass er unsere Arbeit seit während der Fusionierung im Rahmen der Schulreform te das als Kompliment, hatte es mir aber offenbar nicht 1987 fördert. Eine Menge andere Schulen boten bald in Berlin. Aktuell erkläre ich bei einem Verein, der vom zugetraut. Auch meine beiden Töchter kennen solche auch extra Deutschunterricht für Migrantenkinder an.“ Deutschen Gewerkschaftsbund und den Volkshoch- Geschichten, die dritte Generation inzwischen. Ich habe Tülay Usta: „Viele Migranten verstehen das deutsche schulen getragen wird, Migrantinnen und Migranten mit ihnen immer Deutsch gesprochen, mein Mann Tür- Schulsystem nicht, wir wollten es ihnen erklären. Im Tür- und geflüchteten Jugendlichen das deutsche Ausbil- kisch. Sie sind zweisprachig aufgewachsen.“ Eliz Usta, dritte Generation, Kitaerzieherin kischen Elternverein übernahm ich nach und nach mehr dungssystem. Wie wichtig das ist, weiß ich aus meiner Emel Kelahmetoğlu: „Manchmal musste ich ganz schön Aufgaben. Der Verein betreibt inzwischen zwei Kitas in Jugend.“ schlucken. In der Grundschule in Steglitz hatten eine Ich kam mit dem Wunsch, Erzieherin zu werden, und sie Moabit und Marienfelde, bietet muttersprachlichen Un- Mitschülerin und ich denselben Notendurchschnitt, bot mir an, Hauswirtschaftskraft zu lernen, also Putz- terricht an und einen ,Hausaufgabenzirkel‘ für Schüler, doch sie bekam eine Gymnasialempfehlung und ich frau! Ich wurde Erzieherin und arbeite jetzt in einer Kita es gibt Infoveranstaltungen für Türkisch sprechende El- nicht. Ich bin dann trotzdem aufs Gymnasium gekom- in Berlin Charlottenburg.“ tern und eine Kartei für Nachhilfelehrer. Den größten Er- men. Dort hatte ich meine erste Deutschklausur verhau- folg feierten wir 1995. Damals hatten wir zusammen mit en, weil mir das Thema nicht lag. Hat Ihr Großvater es richtig gemacht, nach Deutsch- der damaligen Ausländerbeauftragten und heutigen Meine Lehrerin holte mich in der Pause zu sich und hat land zu kommen? Vorstandsvorsitzenden des Paritätischen Berlin, Barbara mit mir gaaanz laaangsaaam gesprochen und mich ge- Emel Kelahmetoğlu: „Wenn ich mir angucke, wie es John, beim Senat endlich durchgesetzt, die Ausländer- fraaagt, ob ich Schwierigkeiten hätte mit der deutschen Frauen in der Türkei so geht, dann finde ich es einfach regelklassen abzuschaffen. Als sich mein Vater zur Ruhe Spraaache. Ich habe geantwortet, ich wäre wohl nicht nur schön, hier zu leben. Auf jeden Fall! Ich sehe das setzte, wurde ich in den Vorstand gewählt und leitete auf dem Gymnasium, wenn ich mit Deutsch Schwierig- auch in der Verwandtschaft, die Diskrepanz, was Män- den Verein mehrere Jahre.“ keiten hätte. So sind halt die Vorurteile. Oder Gleichalt- ner machen können und was Frauen alles nicht dürfen, rige fragten mich, ob ich fünfmal am Tag beten müsse auch beruflich. Da bin ich sehr froh, dass ich hier bin. Für ihre ehrenamtliche Arbeit im Türkischen Elternver- und ob ich schon weiß, wen ich heirate. Ich war scho- Trotzdem will ich, dass meine vierjährigen Zwillinge bei- Fotos auf dieser Doppelseite: Heike Schüler ein Berlin-Brandenburg und im Arbeitskreis Neue Erzie- ckiert.“ de Sprachen lernen. Zwei Sprachen zu beherrschen, ist hung hat der Paritätische Wohlfahrtsverband Tülay Usta Eliz Usta: „Mich ärgert, wenn man mich fragt: Woher doch toll und eine Bereicherung. Mein Sohn und mei- im Mai 2015 die Silberne Ehrennadel verliehen. kommst du denn wirklich? Na, ich komme aus Berlin! ne Tochter sind die vierte Generation unserer Familie in Ach, du hast türkische Wurzeln? Schon werde ich in eine Deutschland. Ich wünsche mir, dass sie nicht das Gefühl Jetzt arbeiten Sie hauptberuflich im Bildungsbe- Emel Kelahmetoğlu, dritte Generation, Europa- Schublade gesteckt. Dann wirst Du bestimmt zwangs- bekommen, anders zu sein und nicht anders behandelt reich. Wie kam es dazu? korrespondentin für Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch verheiratet und musst Kopftuch tragen. Auch eine Sach- zu werden. Ob die deutsche Gesellschaft so weit ist? Ich Tülay Usta: „2008 bin ich hauptberuflich in die pädago- und Türkisch bearbeiterin bei der Arbeitsagentur hat mich gekränkt. weiß es nicht.“ 24 25
Besucher eines Fests im Kreuzberger Mariannenkiez Mitte der 1970er Jahre Foto: FHXB-Museum Jürgen Henschel 26 27
ŞENAY ABAY Für Sicherheit und Ordnung in Berlin Ein schwerer Schicksalsschlag in Ostanatolien verändert das Leben einer Familie und führt dazu, dass Şenay Abay heute als Polizeioberkommissarin in Berlin für Sicherheit und Ord- nung sorgt. Die Wurzeln der gebürtigen Berlinerin liegen in Varto, einer Stadt in der ostana- tolischen Provinz Muş. Im August 1966 lässt ein Erdbeben die Stadt in Schutt und Trümmer stürzen. Die Mutter von Şenay Abay, damals erst zehn Jahre alt, muss mit ansehen, wie ihre Mutter und das jüngste Geschwisterkind unter den Trümmern begraben werden und ihr Leben verlieren. Şenay Abays Großvater kann den Verlust nicht ertragen und entscheidet sich, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, um Geld für ein neues Zuhause und seine Die dreijährige Şenay Kinder anzusparen. Die Mutter von Şenay Abay und ihre drei Geschwister wachsen in der Abay mit ihrer Mutter Türkei in getrennten Kinderheimen auf, bis ihr Onkel sie aufnimmt. Nach und nach werden sie von ihrem Vater, der inzwischen bei Siemens arbeitet, nach Berlin geholt. 1972, mit 16 Şenay Abay frisch bei der Jahren, zieht auch Şenay Abays Mutter nach Kreuzberg. 1974 fängt sie an, bei Reinigungs- Polizei Berlin, Juli 1999 firmen zu arbeiten. In ihrem Büro im Landeskriminalamt erzählt Şenay Abay nicht nur die Geschichte ihrer Mutter, sondern auch von ihrem Vater, der 1971 als 22-Jähriger nach Berlin kam, um hier ein weiteres Studium aufzunehmen. Vorher hatte er an der Universität in Erzurum Lehramt studiert. Nach dem Besuch eines Deutschkurses begann er 1974 an der Technischen Uni- versität Berlin das Studium der Germanistik und der germanischen Gegenwartssprachen. auf die junge „Polizeischülerin“. Seit knapp 30 Jahren ist Şenay Abay nun bei der Polizei. Sie Später setzte er sich im Betriebsrat der Supermarktkette Reichelt für die Rechte der Mit- arbeitete sich vom mittleren in den gehobenen Dienst hoch und bekleidete im Lauf der arbeiterinnen und Mitarbeiter ein. „2014 ist er verstorben. Nur einen Monat nach seinem Jahre diverse Positionen: Als Polizeimeisterin, Obermeisterin und Hauptmeisterin wanderte Tod erhielten wir seinen Rentenbescheid“, erinnert sich Abay. sie verschiedene Stationen ab, wie unter anderem den Polizeiabschnitt, das Landeskrimi- nalamt (LKA), den Staatsschutz, die Internationale Rechtshilfe und den Bereich, der sich mit „Der Einstellungstest der Polizei ist Trainingssache. Wenn man will, dann schafft man alles.“ der Organisierten Kriminalität befasst. Weil ihre Eltern viel arbeiteten, wurde Şenay Abay mit sechs Monaten in die Türkei zur Groß- 2015 gründete sie mit sieben Kollegen und Kolleginnen das Netzwerk VIA (Vielfalt – Inklusi- mutter gebracht. „Ich lebte drei Jahre im Dorf. Als ich mit dreieinhalb Jahren zurück nach on – Akzeptanz) für Polizistinnen und Polizisten mit Einwanderungsgeschichte, um Themen Berlin kam, sprach ich ausschließlich Zazaisch. Türkisch lernte ich in Berlin zu Hause und wie zum Beispiel das Beten und Fasten oder das Sprechen von Fremdsprachen im Dienst Şenay Abay (44) Deutsch in der Kita“, sagt sie. Mit 15 Jahren bewarb sie sich heimlich bei der Polizei Berlin zu diskutieren. Heute engagiert sie sich neben ihrer Arbeit als Oberkommissarin beim LKA › geboren in Berlin Text: Ebru Okatan und begann 1993 dort ihre Ausbildung. Von der Bewerbung hatte sie niemandem erzählt. zudem auf Berufsinformationsmessen. „Der Einstellungstest der Polizei ist Trainingssache. › Polizeioberkommissarin Fotos: privat Als der Brief für den Ausbildungsstart zu Hause eintraf, waren beide Eltern unendlich stolz Wenn man will, dann schafft man alles“, sagt sie lächelnd. beim Landeskriminalamt 28 29
FEVZI AKTAŞ Ich will etwas Positives schaffen „Ich kann ein gutes Vorbild dafür sein, dass man als Migrant vieles erreichen kann.“ Als Fevzi Aktaş das sagt, sitzt er an seinem Schreibtisch in der BW Bildungswelt GmbH in Berlin-Steglitz, in der er Geschäftsführer ist. Hierher schickt meist das Jobcenter junge Er- wachsene, die Deutsch lernen wollen, um in Berlin richtig anzukommen. „Inzwischen be- rate ich auch dazu, welche Ausbildungsmöglichkeiten es in Deutschland gibt,“ sagt der 51-Jährige. „Wer aus einem anderen Land hierherkommt, findet sich mit den unterschied- lichen Berufsausbildungen kaum zurecht.“ Fevzi Aktaş war 1991 nach Berlin gekommen, weil seine Familie in finanziellen Schwierig- keiten steckte. Der Vater war an Lungenkrebs erkrankt und konnte als Geschäftsführer einer Fevzi Aktaş 1992 mit Kohlebergbau-Firma nicht mehr arbeiten. „In der Türkei gibt es kein Sozialsystem wie in Freunden an der Deutschland. Die Verwandtschaft hat uns unterstützt. Aber ich stand vor der Wahl: entwe- Humboldt-Universität der mein Studium in der Türkei abzubrechen, um die Familie zu versorgen oder das Ange- bot meines Onkels aus Berlin anzunehmen.“ Der Onkel ist in Kreuzberg Mathelehrer. Dessen Vater war einst über das Deutsch-türkische Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik ge- kommen. „Weder mein Bruder noch ich waren scharf darauf, völlig neu anzufangen.“ Aber er tat es – und war „angenehm überrascht von dem freien Land.“ „Ich kann ein gutes Vorbild dafür sein, dass man als Migrant vieles erreichen kann.“ Er arbeitete und schickte regelmäßig Geld nach Hause. Gleichzeitig lernte er 12 Monate lang Deutsch an der Humboldt-Universität. „Ich war stolz, an der berühmten Uni zu sein.“ Da- nach studierte er Wirtschaftsingenieurwesen an der Fachhochschule für Wirtschaft und Technik. sich seitdem wieder ehrenamtlich und erhielt dafür die Silberne Ehrennadel des Paritäti- In Berlin fand Fevzi Aktaş intensiven Kontakt zu seinen kurdisch-alevitischen Wurzeln, die schen Wohlfahrtsverbands. er in der Türkei meist verschwiegen hatte. Er betont, dort würden alevitische Kurden und Fevzi Aktaş (51) andere Minderheiten noch immer diskriminiert. Er traf Menschen mit dem gleichen kultu- „Die Türkei ist kulturell und historisch ein sehenswertes Land“, betont Fevzi Aktaş. „Aber › geboren in Zara/Sivas rellen Hintergrund im Kurdistan Kultur- und Hilfsverein. Dort wurde er nach dem Studium dahin zurückkehren will ich nicht.“ Sein 16-jähriger Sohn geht in Steglitz auf eine Sekundar- › seit 1991 in Deutschland Text: Heike Schüler erst Buchhalter, dann Geschäftsführer. Im Verein lehrte er auch Migranten aller Länder die schule. Außerdem sieht er seine Aufgabe in der Bildungswelt GmbH. „Ich will etwas Positi- › Geschäftsführer Fotos: privat deutsche Sprache. 2015 legte er die Geschäftsführertätigkeit in jüngere Hände. Er engagiert ves schaffen und später etwas hinterlassen.“ Bildungswelt GmbH 30 31
YEKTA ARMAN Ein Raum für Ideen „Kommen Sie mit“, sagt Yekta Arman zur Begrüßung. „Wenn Sie verstehen wollen, was ich in den letzten 40 Jahren gemacht habe, müssen Sie das sehen.“ Es ist dunkel. Dann fällt Bühnenlicht auf einen Vorhang aus mehreren Stoffschichten. Schlichtes Schwarz, gewelltes Grau und das Rot des zusammengeknoteten Samts schwe- ben über einem abgenutzten Boden. Wir stehen vor der Bühne des deutsch-türkischen Theaters Tiyatrom in Kreuzberg, das es ohne Yekta Arman nicht geben würde. Kinder, Ju- gendliche und Erwachsene aus Deutschland, der Türkei, Italien, Griechenland, Afghanistan Yekta Arman selbst auf und Russland machen hier seit Jahrzehnten gemeinsam Theater. Vor allem die Arbeit mit der Bühne 1985 Jugendlichen ist Yekta Arman wichtig: „Junge Menschen haben Ideen – und ich will sie frei agieren lassen auf der Bühne!“ nach Berlin, unter einer Bedingung: Sie darf nicht für ihn waschen. „Meine Frau liebe ich, die soll sich doch nicht um meine Socken kümmern“, sagt Yekta Arman. Alles im Haushalt Aber erst mal muss diese nun saniert werden, umfassend. „Auf dem Boden rutschen die machen sie gemeinsam. Als ihre Tochter und ein paar Jahre später ihr Sohn auf die Welt Jugendlichen aus, das geht nicht mehr“, sagt er. Außerdem müsse die Statik überprüft, eine kommen, ist klar: Sie wollen in Berlin bleiben. Gast sind sie nun in der Türkei. barrierefreie Toilette installiert, Stromkabel neu gelegt werden. Das klingt ein bisschen wie ein medizinischer Befund über einen guten Freund, den er sehr mag, der gerade ein biss- Nach seinem Studium dann das Angebot, für 3750 Mark als Betriebswirt bei Siemens anzu- Yekta Arman 1972 chen krank ist, aber bestimmt wieder gesund wird. fangen. Er sagt Nein. Engagiert sich lieber im türkischen Ensemble der Schaubühne, steht nach dem Abitur selbst auch auf der Bühne, studiert Theaterpädagogik an der Hochschule der Künste. Um Dann trinken wir Kaffee, er zeigt mir Fotos. 1974. Das Jahr, in dem er beschließt, Istanbul zu dann, gemeinsam mit anderen Literatur- und Theaterbegeisterten, 1984 das Tiyatrom in verlassen und in Berlin zu studieren. Auf die Idee gebracht hat ihn sein Onkel, der bereits an der Alten Jakobstraße in Kreuzberg zu gründen – mit Unterstützung der Schaubühne, die der Technischen Universität Berlin arbeitet. Der besorgt ihm auch eine Unterkunft in einem die Requisiten liefert. Neben Theaterkursen und Aufführungen organisieren sie auch Kul- Studentenwohnheim im Wedding. 24 Mark im Monat. Er studiert BWL, seine Eltern wollen turabende mit Musik, Tanz und Essen. „Dabei haben sich oft auch Gastarbeiterfamilien aus- das so, also zieht er es durch, schon ahnend, dass er sich später für etwas anderes entschei- getauscht und kennengelernt“, erinnert sich Yekta Arman. Schnell bauen sie ein 14-köpfi- den wird: die Kunst. ges Ensemble auf. Es läuft gut. Bis 2008. Als der Senat beschließt, die Gelder zu streichen. Traurig ist Yekta Arman damals nicht wirklich. Denn er macht ja trotzdem weiter. Gibt Volks- „Junge Menschen haben Ideen – und ich will sie frei agieren lassen auf der Bühne!“ hochschulkurse für Jugendliche und betreibt den Raum als Spielstätte, verleiht ihn auch an andere Projekte – bis heute. Yekta Arman (66) Allein fühlt er sich nicht. Einige seiner Freunde aus Istanbul sind auch hier. Dennoch fühlt er › geboren in Istanbul sich in Berlin zunächst als Gast. Zumal er in Gedanken und im Urlaub auch viel in Istanbul ist, Sobald die Sanierung beendet ist, will der 66-Jährige wieder Kurse anbieten. Nächstes Jahr › seit 1974 in Deutschland Text: Anja Herr bei Sevgi, einer Frau, die ihm seit Jahren nicht aus dem Kopf geht, und die ihm 1980 sagen im Juli soll es so weit sein: Der Boden wieder schick, die Statik in Ordnung. Dann wird im › Schauspieler Fotos: Anja Herr, privat wird, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kann. Sie heiraten, er nimmt sie mit Tiyatrom wieder das Licht angehen. und Intendant 32 33
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