Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...

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Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
1961 I 2021
60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der
     Bundesrepublik Deutschland und der Türkei

Merhaba Berlin
  Geschichten vom Ankommen und Hierbleiben

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Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
Übersicht
                                                                                                            6    Candan teşekkürler – Herzlichen Dank Grußwort von Prof. Barbara John

                                                                                                            9    Vielfalt verbindet Grußwort von Remzi Kaplan

                                                                                                            13   60 Jahre Anwerbeabkommen von Dr. Damir Softić
Vor 60 Jahren trat das deutsch-türkische Anwerbeabkommen in Kraft
                                                                                                           20    Vier Generationen einer deutsch-türkischen Familie von Heike Schüler
Mit dieser Broschüre will der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin berichten, wie sich Berlin seitdem
entwickelt hat. Wir wollen vor allem die Leistung der türkeistämmigen, ehemaligen Gastarbeiterinnen und
                                                                                                           28    Portraits
Gastarbeiter würdigen. Sie haben mit ihrer Arbeit nicht nur die Wirtschaftskraft der Stadt gestärkt, sie
haben auch einen ganz anderen Reichtum nach Berlin gebracht: Sie haben den Anstoß dafür gegeben und              Şenay Abay, Fevzi Aktaş, Yekta Arman, Seyran Ateş
viel dafür getan, dass Berlin eine vielfältige, interkulturelle Stadt geworden ist.                              Yasemin Bağcı, Bahri Binerbay, Emine Can, Gülsüm Daskin, Ayşe Demir

Danke!                                                                                                     50    Denn ein Beruf ist ein goldenes Armband von Prof. Dr. Felicitas Hillmann
Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin
                                                                                                           54    Portraits
Zum Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin gehören mehr als 800 soziale Organisationen mit                       Emine Demirbüken-Wegner, Kazım Erdoğan, Mugaffer Erdoğan, Tamer Ergün Yıkıcı
insgesamt rund 55.000 Mitarbeitenden und 30.000 Ehrenamtlichen. Damit sind wir der größte                        İlknur Gümüş, Mehmet Ali Han, Ceyhun Heptaygun, Derviş Hızarcı, Süreyya İnal
Wohlfahrtsverband in Berlin.
                                                                                                            76   Expertinnen für das Leben in zwei Welten von Hatice Akyün
Die Broschüre ist in Zusammenarbeit mit der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung e. V. (TDU)
entstanden.
                                                                                                           80    Portraits
                                                                                                                 İpek İpekçioğlu, Celal İrgi, Belgin Kaplan, Bilgin Lutzke, Kadir Memiş
                                                                                                                 Aysel Meral, Demet Odağ, Ertekin Özcan, Ülker Radziwill
paritaet-berlin.de           ParitaetBerlin

                                                                                                           102   Berlin – ein idealer Ort für eine vielfältige Kultur von Dr. Cem Dalaman

                                                                                                           106   Portraits
                                                                                                                 Erdal Şafak, Aliye Stracke-Gönül, Hakan Taş, Batuhan Temiz, Fatoş Topaç
                                                                                                                 Bülent Topal, Beyhan Yashi Uslu, Zeynep Yaman, Cengizhan Yüksel

                                                                                                           128   Glossar

                                                   4                                                                                                                5
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
Candan teşekkürler – Herzlichen Dank                                                             auch wirtschaftlich unsinnig. Welchen Sinn machte es
                                                                                                                                                              nach zwei Arbeitsjahren erfahrene Mitarbeiter auszu-
                                                                                                                                                                                                                           einzelnen Fällen mit der Unterstützung des Regieren-
                                                                                                                                                                                                                           den Bürgermeisters Richard von Weizsäcker für begrün-
                                                             Grußwort von Prof. Barbara John, Vorstandsvorsitzende Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin     tauschen gegen Neulinge? Für die meisten Betriebe war        dete Ausnahmefälle Gewerbegenehmigungen erteilt
                                                                                                                                                              klar, dass die sogenannte Rotation wirtschaftlich keinen     wurden. Gleichzeitig begann ich eine Informationskam-
                                                                                                  in der Trennungskatastrophe. Über Nacht konnten Be-         Sinn machte. So kam es schrittweise zur Verlängerung         pagne mit Videos und einer eigens herausgegebenen
                                                                                                  rufspendler aus Ostberlin nicht mehr in den Westteil der    der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse unter der CDU/       türkischsprachigen Zeitung. Es ging um den Erwerb
                                                                                                  Stadt gelangen. Es fehlten mehr als 55.000 Arbeitneh-       CSU-Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl. Ob-             einer Niederlassungserlaubnis mit der grundsätzlich
                                                                                                  mer und Arbeitnehmerinnen, etwa in der Metall- und          wohl politisch ungewollt, war das ein erster Schritt,        ein rechtlicher Anspruch zur selbständigen Tätigkeit
                                                                                                  Elektroindustrie, in Schneidereien und beim Pflegeper-      Deutschland zum Einwanderungsland zu machen.                 möglich wurde. Als ich dann mit dem damaligen Sena-
                    Foto: Holger Groß/Paritätischer Berlin

                                                                                                  sonal.                                                                                                                   tor Elmar Pieroth aushandelte, dass es grundsätzlich im
                                                                                                                                                              Und die Gastarbeiter taten das, was Auswanderer im-          wirtschaftlichen Interesse Berlins war, Gewerbegeneh-
                                                                                                  Was für eine Ironie des Schicksals: Ulbricht, Staatsrats-   mer tun, egal woher sie kommen: sie schlagen neue            migungen an Ausländer zu erteilen, erhielt das recht-
                                                                                                  vorsitzender der DDR, wollte mit dem Mauerbau „West-        Wurzeln in der Fremde, um als Einzelne und als kollek-       liche Ermessen eine verbindliche Grundlage. Das Prob-
                                                                                                  berlin trockenlegen wie einen Sumpf,“ legte stattdessen     tive Gruppe wieder Fuß zu fassen. Als die Ersten eige-       lem war in diesem Punkt vom Tisch.
                                                                                                  aber ungewollt die Saat aus für Berlin als weltoffene       ne Geschäfte aufzubauen versuchten, um die Lebens-
                                                                                                  Stadt.                                                      mittel herzustellen oder zu verkaufen, die sie aus der       Was oft vergessen wird, ist der Blick auf den Beitrag der
Candan teşekkürler für 60 Jahre gutes Zusammen-                                                                                                               Heimat kannten und liebten – etwa Zucchini, Datteln,         eingesessenen, Bevölkerung, die in Bezirken wie Kreuz-
leben in Berlin.                                                                                  So kam es, dass „Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen         Ayran, Döner, reagierte die Berliner Stadtregierung          berg, Neukölln, Tiergarten, Schöneberg, Reinickendorf
                                                                                                  aus der Türkei“, insbesondere aus Ostanatolien, dar-        mehr als unwirsch mit Verboten. „Wir brauchen Arbeit-        Tür an Tür mit den eingewanderten Familien wohnte.
Als am 30. Oktober 1961 das Anwerbeabkommen der                                                   unter viele alleinstehende Frauen, den Weg nach Berlin      nehmer, keine Unternehmer“ , hieß es damals. Deutsche        Natürlich gab es hier und da sprachliche und nachbar-
Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei in Kraft trat,                                          fanden. Ein wichtiges Auswahlkriterium war übrigens         „Strohmänner“ mit einer Gewerbeerlaubnis übernah-            schaftliche Konflikte. Unvermeidbar. Aber es gab auch
war wohl beiden Seiten nicht klar, wie sehr dieses Ab-                                            der Zahnstatus der Bewerber.                                men offiziell die kleinen Betriebe. Wer dort den Laden       das unerwartet Positive durch mehr und mehr persön-
kommen beide Länder künftig in „guten wie in schlech-                                                                                                         „schmiss“, waren die Gastarbeiterfamilien. Ich erlebte als   liche Kontakte. Oft begannen sie mit den Kindern der
ten Zeiten“ verbinden aber auch verändern würde. Das                                              Kaum angekommen in der Stadt begannen sie mit der           Ausländerbeauftragte des Senats gleich nach meinem           Eingewanderten, die oft „Schlüsselkinder“ waren, weil
Ziel für Deutschland war: genügend Arbeitskräfte befris-                                          Arbeit. Die Männer bauten Sozialwohnungen und sa-           Amtsantritt 1981 diese Gängelei als törichte politische      beide Eltern arbeiteten. Zwei Beispiele von zahllosen:
tet für die boomende deutsche Wirtschaft zu gewinnen.                                             nierten marode Straßen, die Frauen schufteten mit den       Schikane. Damit verhinderte der Senat nicht nur, dass        Meine Mutter lebte am Oranienplatz im 3. Stock. Wenn
Für die Türkei unter der damaligen Militärdiktatur galt                                           Männern am Band in den damals noch starken Berliner         inzwischen arbeitslos gewordene „Gastarbeiter“ wieder        die Mutter einer Schülerin aus der dritten Klasse es nicht
es, Verdienst- und Arbeitsmöglichkeiten für viele jünge-                                          Industriebetrieben bei Siemens und AEG. Viele Frauen        eigenes Geld verdienen konnten, sondern er erschwer-         zeitig genug nach Hause schaffte, klingelte das Mäd-
re Arbeitslose und Schlechtverdienende auszuhandeln.                                              fanden auch eine Beschäftigung in den vielen kleinen        te auch die Integration und den Aufstieg in der Berliner     chen bei meiner Mutter, trank Kakao und erzählte von
Beide Länder profitierten also. Viele Angeworbene woll-                                           und mittleren Betrieben der Textilbranche. Die „Arbeits-    Gesellschaft. Es dauerte übrigens nicht lange und die        ihrem Schultag. Beim ersten Kontakt fragte sie, ob der
ten mit dem hier verdienten und gesparten Geld in die                                             kräfte auf Zeit“, wie sie damals hießen, lernten mehr       einheimischen Berliner kauften gern und oft in den „tür-     Fernseher kaputt sei, denn der müsste doch an sein,
Heimat zurückkehren, um sich dann dort eine Existenz                                              schlecht als recht Deutsch, denn Integrationskurse fehl-    kisch“ geführten Geschäften und Imbissbuden ein. Und         wenn jemand zuhause ist. Annäherungen an unter-
aufzubauen und Wohneigentum zu finanzieren.                                                       ten. Die gab es finanziert von der Bundesregierung erst     es kam der Tag als der Döner der Currywurst den Rang         schiedliche Gewohnheiten.
                                                                                                  ab 2005. Integration war damals nicht gewollt, geplant      abgelaufen hatte. Bevor es soweit war, gab es politische
Für Westberlin erwies sich das Anwerbeabkommen mit                                                war, die Angeworbenen schon nach zwei Jahren auszu-         Auseinandersetzungen mit der Wirtschaftsverwaltung           Eren Ünsal, die heutige Leiterin der Berliner „Landes-
der Türkei im Schicksalsjahr der Stadt 1961 als Rettung                                           tauschen. Aber das war nicht nur politisch naiv, sondern    und der Ausländerbehörde. Es begann damit, dass in           stelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung“

                                                                                              6                                                                                                                            7
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
erinnert sich gern an regelmäßige Besuche bei einer äl-
teren deutschen Nachbarin. Beide Eltern arbeiteten im
                                                             Doch was ist lebendiger als erzählende Stimmen? Es ist
                                                             unter anderem unser Beitrag, ihnen „Çok teşekkür ede-
                                                                                                                                                                                           Vielfalt verbindet
Schichtbetrieb und die Siebenjährige hatte den Woh-          rim» zu sagen. Berliner Geschichte, erzählt von denen,                                                                        Grußwort von Remzi Kaplan, Vorstandsvorsitzender Türkisch-Deutsche Unternehmervereinigung
nungsschlüssel nicht bei sich, vergessen in der Schule.      die hierherkamen, die hier geboren sind als Kinder und
Die Nachbarin half und holte sie in ihre Wohnung. Noch       Enkel und die sie weiterschreiben.                                                                                                                               Heute leben ca. drei Millionen Menschen mit türkei-
heute scheint Frau Ünsal beim Erzählen den köstlichen                                                                                                                                                                         stämmigen Wurzeln in Deutschland. Viele leben bereits

                                                                                                                                          Foto: Türkisch-Deutsche Unternehmervereinigung
Geschmack des angebotenen selbstgekochten Grieß-             Höchste Zeit, Ihnen diese Geschichten ans Herz zu le-                                                                                                            in zweiter, dritter sogar vierter Generation hier. Von die-
breis auf der Zunge zu spüren. Dem ersten Kontakt            gen. Es ist ein Ausschnitt aus dem großen Menschen-                                                                                                              sen ehemaligen Gastarbeiterkindern und Enkelkindern
folgten weitere. Beste Gelegenheiten zum Sprachbad in        puzzle in unserer Stadt.                                                                                                                                         wurden bereits viele Unternehmer, Ärztinnen, Inge-
Deutsch und zum Wachsen einer großen Freundschaft.                                                                                                                                                                            nieure, Wissenschaftler, Politiker, Lehrer, kurzum hoch
                                                             Viel Freude beim Lesen und Weitererzählen!                                                                                                                       qualifizierte Menschen. Heute gibt es in Deutschland
1961 beim Abschluss des Abkommen lebten 284 mel-                                                                                                                                                                              ca. 90.000 Unternehmer mit türkeistämmigen Wurzeln.
derechtlich registrierte türkische Staatsbürger in West-                                                                                                                                                                      Dazu kommen mehrere 10.000 Freiberufler wie Inge-
berlin, fast alle waren Studenten. In Ostberlin gab es                                                                                                                                                                        nieure, Architektinnen und Ärzte. In ihren Betrieben
in der dortigen Türkischen Botschaft eine unbekannte                                                                                                                                                                          arbeiten mehr als 500.000 Beschäftigte. Sie gehören zu
Zahl türkischer Mitarbeiter. Heute leben in Berlin rund                                                                                                                                                                       Deutschland und verstehen sich als Bürger und Bürge-
200.000 türkeistämmige Menschen. Alle in der Türkei                                                                   In diesem Jahr feiern wir den 60. Jahrestag der Zuwan-                                                  rinnen dieses Staates.
lebenden Minderheiten sind vertreten. In der offiziellen                                                              derung aus der Türkei. Durch die Unterzeichnung des
Statistik spiegelt sich das nicht wider, weil mehr als die                                                            Abkommens am 30. Oktober 1961 zwischen beiden                                                           In diesen 60 Jahren verlief das Zusammenleben von
Hälfte längst deutsche Staatsbürger sind, auch dank der                                                               Ländern kamen die ersten sogenannten Gastarbeiter,                                                      Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen nicht immer
schon in den 1980er Jahren begonnenen aktiven Ein-                                                                    also unsere Eltern, nach Deutschland, um hier zu arbei-                                                 reibungslos. Es war nicht einfach! Die Vorurteile waren
bürgerungspolitik in Westberlin.                                                                                      ten. Sie ließen sich von deutschen Unternehmen anwer-                                                   damals viel größer als heute. Die Menschen mussten im
                                                                                                                      ben und wurden für einige Jahre nach dem damaligen                                                      Lauf der Jahre lernen, miteinander zu leben, sich anein-
Wie jede Einwanderergruppe die Stadt auf ihre Weise                                                                   Rotationsprinzip hergeholt. Damals konnte niemand                                                       ander zu gewöhnen und Vorurteile abzubauen.
verändert hat, haben auch die Türkeistämmigen das Ge-                                                                 ahnen, dass dies das Startzeichen für eine große Wan-
sicht Berlins geprägt und in der 777-jährigen Geschich-                                                               derungsbewegung aus der Türkei war. Zwischen 1961                                                       Auf der anderen Seite war die rechtliche Situation der
te der Stadt ganz eigene wirtschaftliche, kulturelle und                                                              bis zum Anwerbestopp 1973 kamen über 800.000 junge                                                      Ausländer sehr vage. Die Gesetzgebung bezüglich Auf-
politische Akzente gesetzt.                                                                                           Menschen, vor allem Männer, als Arbeitsmigranten aus                                                    enthalts- und Arbeitsgenehmigungen war sehr unge-
                                                                                                                      der Türkei nach Deutschland.                                                                            nau. Auch die Behörden mussten sich immer wieder
Wir wollen mit dieser Broschüre den Blick darauf lenken,                                                                                                                                                                      neu orientieren. Alles war Neuland.
was die große Gruppe der Menschen aus der Türkei bei-                                                                 Nach dem Anwerbestopp erfolgte die Zuwanderung
getragen hat zum menschlichen und sozialen Klima der                                                                  durch Familienzusammenführung, Eheschließung und                                                        Ich kam 1970 mit zehn Jahren aus ärmlichen Verhält-
Stadt und zum wirtschaftlichen Aufbau. Das geschieht,                                                                 politisches Asyl. Es gab auch immer wieder Rückkehrer.                                                  nissen aus Ankara zu meinen Eltern nach Berlin. Ich
indem sie selbst aus ihrem Leben in Berlin erzählen. In                                                               Anfang der 80er Jahre gingen viele Familien aufgrund                                                    kann mich erinnern, dass Ausländer nicht in die Bezirke
verschiedenen Städten gibt es bereits steinerne Denk-                                                                 der Rückkehrförderung durch die Bundesregierung in                                                      Kreuzberg, Wedding und Tiergarten ziehen durften. Ab
mäler zur Erinnerung an ihre Einwanderungsgeschichte.                                                                 die Türkei zurück.                                                                                      1975 gab es eine sogenannte Zuzugssperre. Als mein

                                                        8                                                                                                                                                                     9
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
Vater seine erste Selbstständigkeit aufnehmen und ei-        derungsgesetz verabschiedet, was eine umfassende            Im Gegensatz zu früher steht heute außerdem nicht
nen Lebensmittelladen eröffnen wollte, musste er erst        Reform sämtlicher Bestimmungen der Migrations- und          mehr die kulturelle Herkunft eines Mitarbeiters, son-
einen deutschen Strohmann einschalten, über den das          Integrationspolitik sowie des Aufenthaltsrechts be-         dern seine Qualifikation, sein Einsatz und seine Team-
Gewerbe laufen konnte. Denn man durfte damals als            deutete. Weiterhin zählen dazu die Bestrebungen der         fähigkeit im Vordergrund.
Ausländer keine selbstständigen Tätigkeiten ausüben.         Politik, mehr Menschen mit Migrationshintergrund im
Dafür haben wir diesen sogenannten Strohmann extra           öffentlichen Dienst einzustellen.                           Deutschland wird heute von der Politik und des größten
bezahlt.                                                                                                                 Teils der Bevölkerung als Zuwanderungsland akzeptiert.
                                                             Im Vergleich zu den Anfängen der Migration vor 60           Das war noch vor 30 Jahren kaum denkbar. Die Migra-
Auch die schulische Bildung war anders. Es gab soge-         Jahren hat sich heute vieles grundsätzlich geändert. Be-    tion und die damit einhergehende kulturelle Vielfalt in
nannte Ausländerklassen, später Regelklassen. Diese          reits jeder/jede Fünfte in Deutschland hat einen Migra-     der Gesellschaft werden heute von der breiten Bevölke-
Klassen bestanden ausschließlich aus türkischen und          tionshintergrund. Heute gibt es keine Ausländerklassen      rung als Bereicherung empfunden.
anderen ausländischen Kindern. Die Mehrzahl der Schü-        mehr. Seit Jahrzehnten wachsen Kinder deutscher und
lerinnen und Schüler konnte da nicht richtig lernen. Ich     nichtdeutscher Herkunft zusammen auf. Das heißt, man        Der Fachkräftemangel in allen Wirtschaftsbereichen
gehörte dazu. Viele Kinder wurden damals aufgrund ih-        lernt andere Kulturen schon als Kleinkind kennen.           macht Migration notwendig. Auch die Globalisierung
rer fehlenden Deutschkenntnisse in die Sonderschulen                                                                     des Welthandels und die technische Entwicklung macht
geschickt. Nur ganz wenige Schüler aus diesen Klassen        Ich finde es sinnvoll, dass diese Broschüre nur in deut-    sie unvermeidbar. Daher gehört die Migration in Europa
schafften das Abitur.                                        scher Sprache erscheint, denn nach 60 Jahren Anwerbe-       zum Alltag, und es wird so bleiben. Das ist ein dynami-
                                                             abkommen sollte jeder Bürger die deutsche Sprache           scher Prozess. Auch aus der Türkei kommen immer noch
In diesem Migrationsprozess spielten die Migrantinnen        beherrschen. Und ich finde es als Zeichen der gelunge-      Fachkräfte, Familienangehörige oder Menschen aus po-
und Migranten aus der Türkei fast immer die Vorreiter-       nen Integration sehr wichtig.                               litischen Gründen nach Deutschland.
rolle. Sie mussten für vieles als Erste kämpfen und waren
Türöffner. Dazu kam, dass die anfängliche Akzeptanz          Heute haben in den Großstädten, in den Grundschulen         Auf der anderen Seite werden die Probleme, die mit
der Migranten durch die deutsche Gesellschaft zusätz-        und weiterbildenden Schulen mehr als 40 Prozent der         der Migration zusammenhängen, immer fortbestehen
lich aufgrund der großen Kulturunterschiede erschwert        Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund.       bzw. sich verändern. Die Ungleichheit und die Diskrimi-
war. Denn im Gegensatz zu anderen Arbeitsmigranten           Die Voraussetzungen für das Zusammenwachsen sind            nierung in allen Lebensbereichen müssen wir im Alltag
aus Griechenland, Italien und Spanien, die zuvor nach        also ganz anders als vorher.                                stets bekämpfen. Wenn ich an die rassistischen Über-
Deutschland als Arbeiter gekommen waren, haben wir                                                                       griffe in den letzten Jahren in Hanau, Halle sowie zu-
eine teils islamisch geprägte Orientkultur.                  Auch auf dem Arbeitsmarkt läuft der Prozess vielfältiger    vor durch den NSU denke, ist es meiner Meinung nach
                                                             ab. Ich z. B. versuche immer, Mitarbeiter aus verschiede-   wichtig, die Bekämpfung des Rassismus auf der Tages-
Die türkeistämmigen Vereine und andere migrantische          nen Kulturkreisen zu beschäftigen. Für viele andere Ver-    ordnung weit nach oben zu stellen.
Institutionen und auch die Ausländer-, später Integra-       einsmitglieder der TDU kann ich dasselbe behaupten.
tionsbeauftragten drängten immer wieder auf Erleich-         Denn es ist meine Erfahrung, dass so eine Belegschaft       Rückblickend möchte ich sagen: Migration hat Deutsch-
terungen und Verbesserungen des Migrantenlebens              effektiver und harmonischer zusammenarbeitet. Eine          land gutgetan, und Vielfalt verbindet.
sowohl in rechtlicher als auch in sozialer Hinsicht. Durch   kulturelle Vielfalt der Mitarbeiter tut dem Arbeitsklima
diesen vehementen Einsatz wurde vor 20 Jahren die            sehr gut.
Einbürgerung erleichtert und 2005 das neue Zuwan-

                                                        10                                                                                                                         11
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
60 Jahre Anwerbeabkommen
                                                                                                                                                      von Dr. Damir Softić, Soziologe und Politikwissenschaftler, Gründer des Wunderkind Instituts

                                                                                                                                                                                            so zählen auch Kurden, Lasen, Armenier und Aramäer
                                                                                                                                                                                            dazu. Auch bei der Religionszugehörigkeit herrscht eine
                                                                                                                                                                                            große Diversität: Während der Großteil der Zuwanderer
                                                                                                                                                                                            sunnitischen Glaubens ist, finden sich auch Aleviten,
                                                                                                                                                                                            Christen und Atheisten unter den Zugewanderten wie-

                                                                                                                  Foto: Bernhardt Link, Farbtonwerk
                                                                                                                                                                                            der. In der Geschichte sollte sich noch zeigen, welche
                                                                                                                                                                                            Vorteile die Anwerbung türkeistämmiger Menschen für
                                                                                                                                                                                            Deutschland haben würde.

                                                                                                                                                                                            Deutschland brauchte Arbeitskräfte, die Türkei
                                                                                                                                                                                            Devisen
                                                                                                                                                                                            Bereits 1954 stellte die Bundesrepublik der Türkei einen
                                                                                             Ankunft – der erste Zug                                                                        Kredit in Höhe von 225 Millionen Mark aus, worauf ein
                                                                                             Als 1961 eine 93-köpfige Gruppe sogenannter Gast-                                              Jahr später ein Handelsabkommen folgte. In der Türkei
                                                                                             arbeiter auf dem Schienenweg Berlin erreichte, ahnte                                           herrschte wirtschaftliche Not, es waren sogenannte ge-
                                                                                             keiner, welcher Zug der gesellschaftlichen Veränderung                                         cekondu um die Großstädte Istanbul, Izmir und Anka-
                                                                                             damit ins Rollen gebracht worden war. Dass Deutsch-                                            ra herum entstanden – slumähnliche Siedlungen. Das
                                                                                             land heute als Einwanderungsland gilt und von einer                                            waren die Resultate der Arbeitslosigkeit, der Landflucht
                                                                                             pluralen Gesellschaftsstruktur geprägt ist, liegt in gro-                                      und der wirtschaftlichen Probleme. Der Arbeitskräfte-
                                                                                             ßen Teilen an dem Anwerbeabkommen, das vor 60 Jah-                                             export nach Deutschland brachte eine Win-Win-Situa-
                                                                                             ren zwischen der Türkei und Deutschland geschlossen                                            tion für beide Länder: Deutschland warb die dringend
                                                                                             worden ist.                                                                                    benötigten Arbeitskräfte für die boomende Wirtschaft
                                                                                             Am 30. Oktober 1961 vereinbarte in Bonn-Bad-Godes-                                             an, und die Türkei gelangte zu wichtigen Devisenein-
                                                                                             berg das Auswärtige Amt mit der türkischen Botschaft                                           nahmen, die sie aus den Geldrücküberweisungen der
Der 24-jährige Türke Ismail Babader                                                          auf einem zweiseitigen Dokument, »Gastarbeiter« aus                                            Gastarbeiter in die alte Heimat erzielte.

                                                Foto: Picture Alliance I dpa I Hans Gregor
wird am 27. November 1969 in                                                                 der Türkei für den deutschen Arbeitsmarkt anzuwerben.
München als der 1.000.000 Gastarbeiter                                                       Zu der Zeit lebten weniger als 300 türkeistämmige Men-                                         Berlin, Hauptstadt von Almanya
aus Südost-Europa begrüßt. Der                                                               schen in Berlin. Heute sind es etwa 200.000 Menschen                                           Der Mauerbau 1961 sowie der Aufbau der Bundeswehr
Präsident der Nürnberger Bundesanstalt                                                       mit Türkeibezug, die das Stadtbild Berlins teils wesent-                                       sorgten mitunter für einen Arbeitskräftemangel in Ber-
für Arbeit, Josef Stingl (Mitte) empfing                                                     lich ausmachen. Sie sind mit über drei Millionen die                                           lin. Die ausländischen Arbeitskräfte leisteten da will-
ihn auf dem Hauptbahnhof mit einem                                                           größte Einwanderergruppe in Deutschland.                                                       kommene Abhilfe.
Fernsehapparat als Begrüssungsgeschenk.                                                      Dabei handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe;                                           Durch den Anwerbevertrag verabschiedete sich die

                                           12                                                                                                                                               13
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
durch die Ost-WestTeilung der Stadt weg. Das Umland                                                                      muncu oder der Unternehmerin Aynur Boldaz-Özdemir            an. Obwohl in Deutschland seit über zehn Jahren das
                                                          stellte kein Einzugsgebiet mehr dar, um Arbeitskräfte zu                                                                 türkeistämmige Menschen zu den erfolgreichsten ihrer         Gleichbehandlungsgesetz in Kraft ist, zeigen diverse
                                                          rekrutieren. Aus dem Westen wollte kaum jemand ins                                                                       Zünfte in Deutschland.                                       Diskriminierungsstudien, wie die der Ökonomin Doris
                                                          unsichere Westberlin.                                                                                                    Die Abiturientenzahlen unter Türkeistämmigen steigen.        Weichselbaumer vom Forschungsinstitut zur Zukunft
                                                          Neben Siemens hielten die Gastarbeiter aus der Türkei                                                                    Zwar ist auch die Schulabbrecherquote weiter auf ei-         der Arbeit, dass Menschen mit türkischem Namen selte-
                                                          bei AEG, Telefunken, DeTeWe und vielen mittelständi-                                                                     nem hohen Niveau, allerdings steigt auch der Anteil der      ner zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden.
                                                          schen Textilunternehmen die Produktion in Gang. 1971                                                                     türkeistämmigen Schülerinnen und Schüler, die Abitur
                                                          wurden die Gesetze zur Aufenthaltsverlängerung sowie                                                                     machen oder studieren, jedes Jahr: 2007 waren es noch        Perspektiven für Zukunft
                                                          zum Familiennachzug gelockert. Zunehmend gewann                                                                          rund elf Prozent; aktuell sind es bereits über 16 Prozent    Max Frischs Zitat muss heutzutage abgewandelt wer-
                                                          die Familienzusammenführung als Einwanderungs-                                                                           mit Abitur.                                                  den: Wir riefen (niedrigqualifizierte) Arbeitskräfte, und es
                                                          grund an Bedeutung.                                                                                                      Bei den Frauen sind weitreichende Entwicklungen zu           kamen Menschen, die auf einen sich transformierenden
                                                          Die Einwanderung der Gastarbeiter endete 1973 mit                                                                        beobachten. Die Bildungssituation hat sich hier von          Arbeitsmarkt trafen. Digitalisierung, Strukturwandel,
                                                          einem generellen Anwerbestopp. Von damals an erfolg-                                                                     der ersten zur zweiten Generation deutlich verbessert.       Automatisierung und der Wandel zur Dienstleistungs-
                                                          te die Zuwanderung aus der Türkei hauptsächlich durch                                                                    Rund 80 Prozent der türkeistämmigen Männer zwischen          gesellschaft sorgten für das Wegbrechen der Arbeits-
                                                          Familiennachzug und durch Asylbewerber. Der Militär-                                                                     16 und 65 sind erwerbstätig. Bei den Frauen ist der An-      plätze, für die man die Arbeiterinnen und Arbeiter aus
                                                          putsch 1980 in der Türkei sorgte vor allem für eine Ein-                                                                 teil nur etwa halb so groß, jedoch steigt die Erwerbsbe-     der Türkei geholt hatte. Die Textilbranche wanderte
                                                          wanderung kurdischer und intellektueller Oberschich-                                                                     teiligung unter den Frauen mit mehr Bildung deutlich         fast vollständig ab. Der Bergbau wurde runtergefahren.
                                                          ten.
                                                          Während der Rezession 1974 und 1975 ging die Zuwan-                                                                      Folkloregruppe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins beim Fest am Mariannenplatz 1977
                                                          derung türkeistämmiger Menschen zurück. Die Bundes-
                                                          regierung fing an, stärkere Anreize zur Rückkehr in die
                                                          Herkunftsländer zu setzen. 1984 trat das »Rückkehrhil-
                                                          fegesetz« in Kraft, das eingewanderten Arbeitskräften
                                                          finanzielle Unterstützung für die Rückkehr in das Her-
Kreuzberg 1975                                            kunftsland zuteilte. Seit mehreren Jahren übersteigt die

                                                                                                                     Fotos auf dieser Doppelseite: FHXB-Museum I Jürgen Henschel
                                                          Zahl der Rückkehrer in die Türkei die der Neuzuwan-
Vorstellung einer homogenen deutschen Gesellschaft        derer, sodass die Gesamtanzahl der Deutsch-Türken in
auf leisen Sohlen von der Bühne der Weltgeschichte.       der Stadt abnimmt. Seit dem Putschversuch 2016 in der
Ausgerechnet die Abschottungspolitik der DDR und          Türkei steigt die Anzahl der Asylanträge aus der Türkei
der Mauerbau leisteten einen wichtigen Beitrag für die    wieder.
Mulitkulturalisierung Berlins. Manchmal betreten ge-
sellschaftliche Entwicklungen die Bühne über die Hin-     Deutsch-türkische Erfolgsgeschichten
tertreppe der Nebenfolgen.                                Heute zählen mit den Forschern Ugur Sahin und Özlem
Während die DDR 1961 mit dem Mauerbau für eine Ab-        Türeci, dem preisgekrönten Regisseur Fatih Akin, dem
schottung sorgte, schnitt sie für Westberlin den Zugang   Schriftsteller Feridun Zaymoglu, dem Fußballweltmeis-
zu Arbeitskräften ab. Die Arbeitskräftezufuhr brach       ter Mesut Özil, dem politischen Kabarettisten Serdar So-

                                                     14                                                                                                                                                                                         15
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
Die Stahlindustrie und die Automobilbranche erlebten         Wirtschaftsaufschwung in Deutschland aufrechterhiel-                                                                                        Vereinigung und die Erzählung einer gemeinsamen Ge-       Diversität ist der Standard und keine Besonderheit.
durch die Automatisierung eine »Verschlankung«. Der          ten und die deutschen Sozialsysteme sicherten. Ohne                                                                                         schichte noch gelingen.                                   Diversität gilt in vielen Einwanderungsgesellschaften
gewandelte Arbeitsmarkt erforderte Profile von Arbeits-      die Zuwanderung hätten bereits Anfang der 1970er Jah-                                                                                                                                                 und in der Unternehmenswelt als Schlüssel zum Erfolg.
kräften, für die die »klassischen Gastarbeiter« nicht vor-   re die Rentenbeiträge massiv erhöht werden müssen.                                                                                          Vorzüge der Diversität                                    So ahnte 1961 wohl keiner, dass Deutschland in der Co-
bereitet sein konnten.                                       Die Reintegration der deutschen Schwerindustrie in den                                                                                      Im Rahmen meines Lehrauftrages für »Verfassungs-          ronakrise die Entwicklung eines Coronaimpfstoffs und
                                                             westlichen Wirtschaftskontext konnte nur mit einer Zu-                                                                                      grundlagen und innere Sicherheit« an der Hochschule       damit die Chance auf eine Überwindung der größten
                                                             fuhr belastbarer Arbeitskräfte aus dem Ausland für den                                                                                      für Wirtschaft und Recht Berlin kann man im Studien-      Pandemien seit 100 Jahren ausgerechnet den Nachfah-
                                                             Bergbau und die Stahlindustrie gelingen. Zudem nutz-                                                                                        gang »gehobener Polizeivollzugsdienst« ablesen, was       ren dieser Gastarbeitergeneration zu verdanken haben
                                                             ten sie den eigenen Rentenanspruch in geringem Maße.                                                                                        immer mehr Realität ist: Über 25 Prozent der Studieren-   würde.
                                                             Sie sorgten quasi für eine »Subventionierung« des deut-                                                                                     den haben einen Migrationshintergrund – die meisten
                                                             schen Sozialsystems.                                                                                                                        von ihnen sind türkeistämmig. Berlins Polizei gelingt
                                                                                                                                                                                                         schon, was in anderen Bereichen noch ansteht: Gelebte     1 autochthon: eingeboren, einheimisch
                                                             Fehlende Willkommenskultur und mangelnde Ein-
                                                             gliederungshilfen
                                                             In den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung                                                                                          Türkische Frauen auf dem Mariannenplatz 1977
                                                             stiegen vielerorts die Zahlen der Arbeitslosen und der
                                                             rechten Gewalttaten. Anfang der 1990er Jahre kam es
                                                             in Deutschland zu einer Serie rechtsradikaler Anschlä-
                                                             ge gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Den
                                                             Brandanschlägen und Morden an türkeistämmigen
                                                             Menschen in Solingen, Mölln und anderen deutschen
Ladengeschäft in der Eisenbahnstraße in Kreuzberg            Städten waren hetzerische Kampagnen populistischer
                                                             Politiker und einiger Boulevardmedien vorausgegan-
Historische Deutung des Anwerbeabkommens                     gen. Die NSU-Morde und der Anschlag in Hanau stellen
Die Deutung der deutschen Migrationsgeschichte ist           ein weiteres dunkles Kapitel des deutsch-türkischen Zu-
ein umkämpftes Gebiet. Zwei Lesarten dominieren den          sammenlebens dar.
Diskurs bezüglich des Anwerbeabkommens: Nur weni-            Wie auch bei anderen Migrantengruppen gibt es bei
ge, so wie die Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz, se-     türkeistämmigen Menschen durch das deutsche Staats-
hen die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte als eine       angehörigkeitsrecht, das relativ anspruchsvolle Bedin-

                                                                                                                       Foto: FHXB-Museum I Jürgen Henschel
Ursache für die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands       gungen für eine Einbürgerung stellt, einen Selektions-

                                                                                                                                                             Foto: Picture Alliance I zb I Paul Glaser
in den 1970er und 1980er Jahren. Für diese wenig beleg-      effekt: Nur Personen, die bereits einen relativ hohen
te historische Deutungsweise hatte die Zuwanderung           Integrationsstand erreicht haben, können überhaupt
den Effekt, dass der Strukturwandel im Bergbau – durch       eingebürgert werden.
die Zufuhr günstiger Arbeitskräfte – zeitlich hinausge-      Die wiedervereinigte Bundesrepublik muss in Zukunft
zögert werden konnte.                                        eine zweite deutsche Einheit bewerkstelligen: Bürgern
Für die meisten ist klar, dass die Angeworbenen den          autochthoner 1 und migrantischer Herkunft muss die

                                                        16                                                                                                                                                                                                         17
Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
Eine rein türkische Klasse
          mit türkischem Lehrer,
          der den Kindern an
          der Hunsrückschule in
          Kreuzberg Deutsch
          beibringt, Juni 1980
          Foto: picture alliance zb Paul Glaser

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Merhaba Berlin 1961 I 2021 - Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei - Geschichten vom Ankommen ...
Vier Generationen einer türkisch-deutschen Familie
von Heike Schüler, Journalistin

Über Ankommen, Selbstbehauptung und Hierblei-                         Die deutsche Geschichte der türkeistämmigen Familie                                                                                                                   Dame. Sie hat uns oft bei den Hausaufgaben geholfen.
ben – wie Berlin für die Familie Çakır zum Zuhause                    beginnt im Jahr 1965. Fevzi Çakır war 22 Jahre alt, er                                                                                                                Von ihr habe ich meine ersten Wörter Deutsch gelernt.
wurde                                                                 erzählt: „Ich hatte meinen Militärdienst hinter mir und                                                                                                               Und sie hat miterzogen, wenn meine Eltern Schicht-
                                                                      wollte am liebsten studieren. Doch meine Eltern waren                                                                                                                 dienst hatten. Es fühlte sich an wie die Großfamilie, die
                                                                      arme Landarbeiter in Anatolien. Ich war vor der Land-                                                                                                                 ich aus der Türkei kannte.“
                                                                      wirtschaft in meinem Dorf in die Hauptstadt Istanbul
                                                                      geflüchtet. Ich wollte lieber dort arbeiten. Doch als ich                                                                                                             Die Mutter von Tülay Usta, Ayşe Çakır, übernahm die
                                                                      meine Eltern in ihrem Dorf besuchte, stellten sie mir                                                                                                                 Hauswartstelle und putzte im Vorder- und Hinterhaus.
                                                                      meine Braut vor. Ohne mich vorher zu fragen!“, empört                                                     Fevzi Çakır, erste Generation, Rentner                      „Damit verdiente ich 200 D-Mark“, erinnert sie sich. „Die
                                                                      sich der heute 80-Jährige kopfschüttelnd lachend. „Das                                                                                                                Wohnungsmiete betrug 100 DM.“ Zusammen mit dem
                                                                      war so üblich bei uns. Ayşe war 17“, er nickt seiner Frau                                                 berlin, wo händeringend Arbeitskräfte gesucht wur-          Einkommen ihres Mannes reichte das Geld. Sie arbeitete
                                                                      zu. Die heute 75-Jährige sitzt neben ihm. „Ich heirate-                                                   den. Seit dem Mauerbau fehlten die DDR-Bürger als           später auch bei Firmen, hat zum Beispiel bei Gillette am
                                                                      te Ayşe und musste Geld verdienen. Vier Monate spä-                                                       Arbeitskräfte, und Westdeutsche zeigten wenig In-           Fließband Rasierklingen verpackt. Sie spricht überwie-
                                                                      ter bewarb ich mich beim Arbeitsamt in Istanbul, um in                                                    teresse daran, in der eingemauerten Stadt zu leben.
                                                                      Deutschland zu arbeiten. Als Gastarbeiter landete ich
                                                                      zunächst in Baden-Württemberg. Hilfsarbeiter auf dem                                                      Was reizte Sie an Westberlin?
                                                                      Bau, dann in einer Gießerei, immer Zwei-Jahres-Verträ-                                                    Fevzi Çakır: „Es gab 5000 D-Mark Anwerbeprämie.
                                                                      ge. Ich schickte das meiste Einkommen nach Hause, um                                                      (lacht) Und die Behörden versprachen nicht nur einen
                                                                      meine Frau mit unserer bald ersten Tochter zu versor-                                                     Arbeitsplatz, sondern auch eine Wohnung. Ich fing
                                                                      gen.“                                                                                                     in Kreuzberg in einer kleinen Gießerei an. Wir wurden
                                                                                                                                                                                in der Reichenberger Straße 22, direkt am Kottbusser
                                                                      Ein Start in der Fremde. Fühlten Sie sich willkom-                                                        Tor, untergebracht. Ein Zimmer mit Küche. Die Toilette
                                                                      men?                                                                                                      mussten wir mit zwei Mitbewohnern teilen, aber wir wa-
                                                                      Fevzi Çakır: „Ich habe schwer gearbeitet, wollte schnell                                                  ren zufrieden.“
                                                                      Geld verdienen und dann zurück in die Heimat. Trotz-                                                      Tülay Usta: „Der eine Mitbewohner war ein alter einsa-

                                                                                                                                  Fotos auf dieser Doppelseite: Heike Schüler
                                                                      dem kaufte ich mir gleich ein Deutschlehrbuch. Ich                                                        mer Mann, 86 Jahre alt. Er hatte im Zweiten Weltkrieg
Vier Generationen, von links:                                         sprach bruchstückhaft, aber besser als jeder andere                                                       seine gesamte Familie verloren. Mit uns Kindern blühte
Enkelin Emel Kelahmetoğlu, Europakorrespondentin;                     Gastarbeiter. Ich musste immer dolmetschen.“                                                              er richtig auf. Er hat von seiner Tafel Schokolade immer
Großvater Fevzi Çakır, Rentner; Enkelin Eliz Usta, Erzieherin;                                                                                                                  etwas abgebrochen und uns gegeben oder Orangen für
Großmutter Ayşe Çakır, Rentnerin, und Tochter                         Fünf Jahre später holte er seine Frau und seine zwei                                                      uns geschält. Er verstarb kurze Zeit später, meine Eltern
Tülay Usta, Sozialarbeiterin. Vorne Emels Zwillinge,                  Kinder zu sich. Er arbeitete gerade in den Nieder-                                                        übernahmen die beiden Zimmer, sodass wir mehr Platz         Tülay Usta, zweite Generation, Bildungsreferentin
Urenkel Uzay Levin und Urenkelin Maya Su.                             landen. Im Herbst 1970 zog die Familie nach West-                                                         hatten. Ein Zimmer weiter wohnte eine ältere resolute       und Elternbegleiterin

                                                                 20                                                                                                                                                                         21
gend Türkisch, ihre Tochter übersetzt. Einen Deutsch-      schluss finden. Wir hatten zweimal in der Woche eine                                                     viele Jahre bei Siemens gearbeitet. Nebenbei führte ich       Rechtsanwaltsnotariatsgehilfin schmiss ich, weil ich an
kurs besuchte sie nie. Im Gegensatz zu ihrem Mann,         Stunde Deutsch. Dass das zu wenig war, bekam ich spä-                                                    mit einem Kompagnon eine türkische Buchhandlung in            Stenografie verzweifelte. Das ist typisch für sogenannte
der am Goethe-Institut seine Deutschkenntnisse weiter      ter zu spüren.“                                                                                          Kreuzberg.“                                                   Kofferkinder. Also habe ich zwei Jahre bei Siemens ge-
aufbesserte. 1971 wurde Tochter Tülay in Kreuzberg ein-    Fevzi Çakır: „Ich wurde Elternsprecher der Klasse und                                                                                                                  arbeitet und danach meine Berufsausbildung zur Indus-
geschult.                                                  stellvertretender Vorsitzender der Gesamtelternvertre-                                                   Bis Mitte der 1970er Jahre fielen große Teile der Kreuzber-   trieelektronikerin abgeschlossen, als einzige Frau unter
                                                           tung (GEV) der Schule. Im Jahr darauf wurde ich zum                                                      ger Altbauten der Abrissbirne zum Opfer. Auch das Haus,       18 Männern. Mit dem Mauerfall wurde ich arbeitslos,
                                                           Vorsitzenden der GEV gewählt. Für die türkischen Fami-                                                   in dem Familie Çakır wohnte. An dessen Stelle steht jetzt     weil meine Firma wegen fehlender Aufträge dichtmach-
                                                           lien war das hilfreich, weil ich in jeder Elternversamm-                                                 der zwölfgeschossige Block mit Sozialwohnungen am             te. Es folgte eine lange Zeit der Arbeitssuche, auch eine
                                                           lung übersetzen konnte. Wenn ich schon hier bin, will                                                    Kottbusser Tor. Der Familie musste eine Ersatzwohnung         Fortbildung zur PC-Netzwerktechnikerin half nicht, ich
                                                           ich mich einbringen. Trotzdem war ich lange Zeit fest                                                    angeboten werden, und der Vater drängte darauf, in            fand keinen Job mehr.“
                                                           entschlossen, mit meiner Familie in die Türkei zurückzu-                                                 den wohlhabenderen Bezirk Steglitz ziehen zu können.
                                                           kehren.“                                                                                                                                                               Wieso nicht? Wurden keine IT-Leute gebraucht?
                                                           Tülay Usta: „Ja, das stimmt. Ich war ein sogenanntes                                                     Tülay Usta: „In der Ausländerregelklasse in Berlin-Kreuz-     Tülay Usta: „Ich bin sicher, dass hatte mit meiner türki-
                                                           Kofferkind. Die Sommerferien nach der zweiten Klasse                                                     berg war ich die Klassenbeste und Klassensprecherin.          schen Herkunft zu tun. Außerdem hatte ich einen tür-
                                                           verbrachten wir wie jedes Jahr bei der Familie in Anato-                                                 Als ich in Berlin-Steglitz in eine normale sechste Klasse     keistämmigen Berliner geheiratet. In Bewerbungsge-
                                                           lien. Doch als die Schule wieder losging, ließen meine                                                   kam, war das eine Katastrophe. Meine Mitschüler ver-          sprächen fragten sie mich jedes Mal: Was sagt denn Ihr
                                                           Eltern mich und meinen Bruder plötzlich bei Oma und                                                      standen mich nicht, weil mein Deutsch zu schlecht war.        Mann dazu, dass Sie arbeiten? Einmal habe ich pampig
                                                           Tante. Wir gingen in der Türkei weiter zur Schule. Mein                                                  Ich wurde ausgelacht und – verstummte. Außer in Ma-           geantwortet: Warum sitze ich denn wohl hier, wenn das
                                                           Bruder blieb fünf Jahre dort. Mich nahmen die Eltern                                                     the konnte man mir im ersten Halbjahr keine Zensuren          nicht gehen sollte? Den Job habe ich natürlich nicht be-
                                                           nach einem Jahr, das war 1974, wieder mit nach Berlin.                                                   geben. Also, Integration sieht anders aus. Ich fühlte mich    kommen. Also fing ich an, ehrenamtlich zu arbeiten. Ich
                                                           In dem Jahr wurde meine Schwester geboren und zwei                                                       benachteiligt und hatte einen schweren Stand, aber die        betreute die Computertechnik im Türkischen Elternver-
Ayşe Çakır, erste Generation, Rentnerin                    Jahre später mein zweiter Bruder.“                                                                       Lehrer bemühten sich sehr, und das hat geholfen.“             ein Berlin-Brandenburg. Diesen Verein hatte mein Vater
                                                                                                                                                                                                                                  gemeinsam mit 60 Eltern und Lehrkräften 1985 gegrün-
Wie waren die Erfahrungen in der Schule?                   Wie fiel die Entscheidung: in Berlin bleiben oder zu-                                                    Aufgeben galt nicht in der Familie Çakır. Die Hauptschul-     det. Er war rund 25 Jahre lang im Vorstand.“
Tülay Usta: „Ich kam in eine Ausländerregelklasse, so      rückkehren?                                                                                              empfehlung für seine Tochter akzeptierte der Vater

                                                                                                                      Fotos auf dieser Doppelseite: Heike Schüler
hießen die damals. Unsere Schule in der Ohlauer Stra-      Fevzi Çakır: „Nach dem Militärputsch in der Türkei 1980                                                  nicht: Bildung sei der Schlüssel zu einem guten Leben,        Ein türkischer Elternverein?
ße, die spätere Gerhart-Hauptmann-Schule, hatte zwei       entschied ich, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren.                                                  meinte er und setzte durch, dass seine Tochter auf eine       Fevzi Çakır: „Meine beiden jüngeren Kinder gingen
Parallelklassen, in denen ausschließlich türkeistämmige    Ich beantragte die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit                                                     Gesamtschule kam. Doch sie kämpfte mit Lernlücken.            1985 noch zur Schule, und ähnlich wie bei Tülay 14 Jahre
Kinder saßen. Es wurde nur Türkisch gesprochen und         1983 bin ich Deutscher. Einen türkischen Pass habe ich                                                                                                                 zuvor sprachen viele ihrer türkischen Mitschüler bei der
sogar nach dem türkischen Schullehrplan unterrichtet.      zusätzlich. Außerdem hatte ich inzwischen eine zwei-                                                     Wie ging es weiter, auch später mit der Ausbildung?           Einschulung kaum Deutsch. Die wenigsten waren im
Als Gastarbeiterkinder sollten wir mit unseren Eltern in   jährige Umschulung zum Elektriker absolviert und zum                                                     Tülay Usta: „Im Fachabitur scheiterte ich an unzurei-         Kindergarten, sondern wuchsen nur im türkischen Um-
die Türkei zurückkehren und dort nahtlos wieder An-        ersten Mal eine anerkannte Berufsausbildung. Ich habe                                                    chenden Englischkenntnissen. Und die Ausbildung zur           feld auf. Ohne Deutschkenntnisse kamen sie natürlich

                                                      22                                                                                                                                                                          23
im Unterricht nicht richtig mit. Das wirkte sich auf die    gische Beratung und Begleitung von Eltern eingestie-                                                         Haben Sie jemals Diskriminierung erfahren?
gesamte Schulzeit aus. Teilweise wurden sie auf Sonder-     gen. Als Elternlotsin habe ich in sogenannten Brenn-                                                         Tülay Usta: „Ja, immer wieder, auch wenn ich manches
schulen geschickt nur wegen der fehlenden Sprache!          punktgebieten Schulsozialarbeit mitorganisiert, wir                                                          erst viel später als Diskriminierung identifiziert habe.
Wir Eltern fingen an, Vorschulklassen zu gründen und        gründeten unter anderem in Moabit Elterncafés in den                                                         Einmal sagte der ehemalige SPD-Bildungssenator Klaus
türkischen Kindern Deutsch beizubringen. Der Senat          Schulen und begleiteten einige Haupt- und Realschulen                                                        Böger zu mir: ‚Sie sprechen aber gut Deutsch.‘ Er mein-
fand das schließlich so gut, dass er unsere Arbeit seit     während der Fusionierung im Rahmen der Schulreform                                                           te das als Kompliment, hatte es mir aber offenbar nicht
1987 fördert. Eine Menge andere Schulen boten bald          in Berlin. Aktuell erkläre ich bei einem Verein, der vom                                                     zugetraut. Auch meine beiden Töchter kennen solche
auch extra Deutschunterricht für Migrantenkinder an.“       Deutschen Gewerkschaftsbund und den Volkshoch-                                                               Geschichten, die dritte Generation inzwischen. Ich habe
Tülay Usta: „Viele Migranten verstehen das deutsche         schulen getragen wird, Migrantinnen und Migranten                                                            mit ihnen immer Deutsch gesprochen, mein Mann Tür-
Schulsystem nicht, wir wollten es ihnen erklären. Im Tür-   und geflüchteten Jugendlichen das deutsche Ausbil-                                                           kisch. Sie sind zweisprachig aufgewachsen.“                  Eliz Usta, dritte Generation, Kitaerzieherin
kischen Elternverein übernahm ich nach und nach mehr        dungssystem. Wie wichtig das ist, weiß ich aus meiner                                                        Emel Kelahmetoğlu: „Manchmal musste ich ganz schön
Aufgaben. Der Verein betreibt inzwischen zwei Kitas in      Jugend.“                                                                                                     schlucken. In der Grundschule in Steglitz hatten eine        Ich kam mit dem Wunsch, Erzieherin zu werden, und sie
Moabit und Marienfelde, bietet muttersprachlichen Un-                                                                                                                    Mitschülerin und ich denselben Notendurchschnitt,            bot mir an, Hauswirtschaftskraft zu lernen, also Putz-
terricht an und einen ,Hausaufgabenzirkel‘ für Schüler,                                                                                                                  doch sie bekam eine Gymnasialempfehlung und ich              frau! Ich wurde Erzieherin und arbeite jetzt in einer Kita
es gibt Infoveranstaltungen für Türkisch sprechende El-                                                                                                                  nicht. Ich bin dann trotzdem aufs Gymnasium gekom-           in Berlin Charlottenburg.“
tern und eine Kartei für Nachhilfelehrer. Den größten Er-                                                                                                                men. Dort hatte ich meine erste Deutschklausur verhau-
folg feierten wir 1995. Damals hatten wir zusammen mit                                                                                                                   en, weil mir das Thema nicht lag.                            Hat Ihr Großvater es richtig gemacht, nach Deutsch-
der damaligen Ausländerbeauftragten und heutigen                                                                                                                         Meine Lehrerin holte mich in der Pause zu sich und hat       land zu kommen?
Vorstandsvorsitzenden des Paritätischen Berlin, Barbara                                                                                                                  mit mir gaaanz laaangsaaam gesprochen und mich ge-           Emel Kelahmetoğlu: „Wenn ich mir angucke, wie es
John, beim Senat endlich durchgesetzt, die Ausländer-                                                                                                                    fraaagt, ob ich Schwierigkeiten hätte mit der deutschen      Frauen in der Türkei so geht, dann finde ich es einfach
regelklassen abzuschaffen. Als sich mein Vater zur Ruhe                                                                                                                  Spraaache. Ich habe geantwortet, ich wäre wohl nicht         nur schön, hier zu leben. Auf jeden Fall! Ich sehe das
setzte, wurde ich in den Vorstand gewählt und leitete                                                                                                                    auf dem Gymnasium, wenn ich mit Deutsch Schwierig-           auch in der Verwandtschaft, die Diskrepanz, was Män-
den Verein mehrere Jahre.“                                                                                                                                               keiten hätte. So sind halt die Vorurteile. Oder Gleichalt-   ner machen können und was Frauen alles nicht dürfen,
                                                                                                                                                                         rige fragten mich, ob ich fünfmal am Tag beten müsse         auch beruflich. Da bin ich sehr froh, dass ich hier bin.
Für ihre ehrenamtliche Arbeit im Türkischen Elternver-                                                                                                                   und ob ich schon weiß, wen ich heirate. Ich war scho-        Trotzdem will ich, dass meine vierjährigen Zwillinge bei-

                                                                                                                           Fotos auf dieser Doppelseite: Heike Schüler
ein Berlin-Brandenburg und im Arbeitskreis Neue Erzie-                                                                                                                   ckiert.“                                                     de Sprachen lernen. Zwei Sprachen zu beherrschen, ist
hung hat der Paritätische Wohlfahrtsverband Tülay Usta                                                                                                                   Eliz Usta: „Mich ärgert, wenn man mich fragt: Woher          doch toll und eine Bereicherung. Mein Sohn und mei-
im Mai 2015 die Silberne Ehrennadel verliehen.                                                                                                                           kommst du denn wirklich? Na, ich komme aus Berlin!           ne Tochter sind die vierte Generation unserer Familie in
                                                                                                                                                                         Ach, du hast türkische Wurzeln? Schon werde ich in eine      Deutschland. Ich wünsche mir, dass sie nicht das Gefühl
Jetzt arbeiten Sie hauptberuflich im Bildungsbe-            Emel Kelahmetoğlu, dritte Generation, Europa-                                                                Schublade gesteckt. Dann wirst Du bestimmt zwangs-           bekommen, anders zu sein und nicht anders behandelt
reich. Wie kam es dazu?                                     korrespondentin für Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch                                                 verheiratet und musst Kopftuch tragen. Auch eine Sach-       zu werden. Ob die deutsche Gesellschaft so weit ist? Ich
Tülay Usta: „2008 bin ich hauptberuflich in die pädago-     und Türkisch                                                                                                 bearbeiterin bei der Arbeitsagentur hat mich gekränkt.       weiß es nicht.“

                                                       24                                                                                                                                                                             25
Besucher eines Fests
           im Kreuzberger
      Mariannenkiez Mitte
          der 1970er Jahre
Foto: FHXB-Museum Jürgen Henschel

                                    26   27
ŞENAY ABAY
                               Für Sicherheit und Ordnung in Berlin

                               Ein schwerer Schicksalsschlag in Ostanatolien verändert das Leben einer Familie und führt
                               dazu, dass Şenay Abay heute als Polizeioberkommissarin in Berlin für Sicherheit und Ord-
                               nung sorgt. Die Wurzeln der gebürtigen Berlinerin liegen in Varto, einer Stadt in der ostana-
                               tolischen Provinz Muş. Im August 1966 lässt ein Erdbeben die Stadt in Schutt und Trümmer
                               stürzen. Die Mutter von Şenay Abay, damals erst zehn Jahre alt, muss mit ansehen, wie ihre
                               Mutter und das jüngste Geschwisterkind unter den Trümmern begraben werden und ihr
                               Leben verlieren. Şenay Abays Großvater kann den Verlust nicht ertragen und entscheidet
                               sich, als Gastarbeiter nach Deutschland zu gehen, um Geld für ein neues Zuhause und seine                                                                                                        Die dreijährige Şenay
                               Kinder anzusparen. Die Mutter von Şenay Abay und ihre drei Geschwister wachsen in der                                                                                                            Abay mit ihrer Mutter
                               Türkei in getrennten Kinderheimen auf, bis ihr Onkel sie aufnimmt. Nach und nach werden
                               sie von ihrem Vater, der inzwischen bei Siemens arbeitet, nach Berlin geholt. 1972, mit 16
Şenay Abay frisch bei der      Jahren, zieht auch Şenay Abays Mutter nach Kreuzberg. 1974 fängt sie an, bei Reinigungs-
   Polizei Berlin, Juli 1999   firmen zu arbeiten.

                               In ihrem Büro im Landeskriminalamt erzählt Şenay Abay nicht nur die Geschichte ihrer
                               Mutter, sondern auch von ihrem Vater, der 1971 als 22-Jähriger nach Berlin kam, um hier
                               ein weiteres Studium aufzunehmen. Vorher hatte er an der Universität in Erzurum Lehramt
                               studiert. Nach dem Besuch eines Deutschkurses begann er 1974 an der Technischen Uni-
                               versität Berlin das Studium der Germanistik und der germanischen Gegenwartssprachen.            auf die junge „Polizeischülerin“. Seit knapp 30 Jahren ist Şenay Abay nun bei der Polizei. Sie
                               Später setzte er sich im Betriebsrat der Supermarktkette Reichelt für die Rechte der Mit-       arbeitete sich vom mittleren in den gehobenen Dienst hoch und bekleidete im Lauf der
                               arbeiterinnen und Mitarbeiter ein. „2014 ist er verstorben. Nur einen Monat nach seinem         Jahre diverse Positionen: Als Polizeimeisterin, Obermeisterin und Hauptmeisterin wanderte
                               Tod erhielten wir seinen Rentenbescheid“, erinnert sich Abay.                                   sie verschiedene Stationen ab, wie unter anderem den Polizeiabschnitt, das Landeskrimi-
                                                                                                                               nalamt (LKA), den Staatsschutz, die Internationale Rechtshilfe und den Bereich, der sich mit
„Der Einstellungstest der Polizei ist Trainingssache. Wenn man will, dann schafft man alles.“                                  der Organisierten Kriminalität befasst.

                               Weil ihre Eltern viel arbeiteten, wurde Şenay Abay mit sechs Monaten in die Türkei zur Groß-    2015 gründete sie mit sieben Kollegen und Kolleginnen das Netzwerk VIA (Vielfalt – Inklusi-
                               mutter gebracht. „Ich lebte drei Jahre im Dorf. Als ich mit dreieinhalb Jahren zurück nach      on – Akzeptanz) für Polizistinnen und Polizisten mit Einwanderungsgeschichte, um Themen
                               Berlin kam, sprach ich ausschließlich Zazaisch. Türkisch lernte ich in Berlin zu Hause und      wie zum Beispiel das Beten und Fasten oder das Sprechen von Fremdsprachen im Dienst              Şenay Abay (44)
                               Deutsch in der Kita“, sagt sie. Mit 15 Jahren bewarb sie sich heimlich bei der Polizei Berlin   zu diskutieren. Heute engagiert sie sich neben ihrer Arbeit als Oberkommissarin beim LKA         › geboren in Berlin
        Text: Ebru Okatan      und begann 1993 dort ihre Ausbildung. Von der Bewerbung hatte sie niemandem erzählt.            zudem auf Berufsinformationsmessen. „Der Einstellungstest der Polizei ist Trainingssache.        › Polizeioberkommissarin
              Fotos: privat    Als der Brief für den Ausbildungsstart zu Hause eintraf, waren beide Eltern unendlich stolz     Wenn man will, dann schafft man alles“, sagt sie lächelnd.                                        beim Landeskriminalamt

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FEVZI AKTAŞ
                          Ich will etwas Positives schaffen

                          „Ich kann ein gutes Vorbild dafür sein, dass man als Migrant vieles erreichen kann.“ Als
                          Fevzi Aktaş das sagt, sitzt er an seinem Schreibtisch in der BW Bildungswelt GmbH in
                          Berlin-Steglitz, in der er Geschäftsführer ist. Hierher schickt meist das Jobcenter junge Er-
                          wachsene, die Deutsch lernen wollen, um in Berlin richtig anzukommen. „Inzwischen be-
                          rate ich auch dazu, welche Ausbildungsmöglichkeiten es in Deutschland gibt,“ sagt der
                          51-Jährige. „Wer aus einem anderen Land hierherkommt, findet sich mit den unterschied-
                          lichen Berufsausbildungen kaum zurecht.“

                          Fevzi Aktaş war 1991 nach Berlin gekommen, weil seine Familie in finanziellen Schwierig-
                          keiten steckte. Der Vater war an Lungenkrebs erkrankt und konnte als Geschäftsführer einer
 Fevzi Aktaş 1992 mit     Kohlebergbau-Firma nicht mehr arbeiten. „In der Türkei gibt es kein Sozialsystem wie in
    Freunden an der       Deutschland. Die Verwandtschaft hat uns unterstützt. Aber ich stand vor der Wahl: entwe-
Humboldt-Universität      der mein Studium in der Türkei abzubrechen, um die Familie zu versorgen oder das Ange-
                          bot meines Onkels aus Berlin anzunehmen.“ Der Onkel ist in Kreuzberg Mathelehrer. Dessen
                          Vater war einst über das Deutsch-türkische Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik ge-
                          kommen. „Weder mein Bruder noch ich waren scharf darauf, völlig neu anzufangen.“ Aber
                          er tat es – und war „angenehm überrascht von dem freien Land.“

        „Ich kann ein gutes Vorbild dafür sein, dass man als Migrant vieles erreichen kann.“

                          Er arbeitete und schickte regelmäßig Geld nach Hause. Gleichzeitig lernte er 12 Monate lang
                          Deutsch an der Humboldt-Universität. „Ich war stolz, an der berühmten Uni zu sein.“ Da-
                          nach studierte er Wirtschaftsingenieurwesen an der Fachhochschule für Wirtschaft und
                          Technik.
                                                                                                                          sich seitdem wieder ehrenamtlich und erhielt dafür die Silberne Ehrennadel des Paritäti-
                          In Berlin fand Fevzi Aktaş intensiven Kontakt zu seinen kurdisch-alevitischen Wurzeln, die      schen Wohlfahrtsverbands.
                          er in der Türkei meist verschwiegen hatte. Er betont, dort würden alevitische Kurden und                                                                                                        Fevzi Aktaş (51)
                          andere Minderheiten noch immer diskriminiert. Er traf Menschen mit dem gleichen kultu-          „Die Türkei ist kulturell und historisch ein sehenswertes Land“, betont Fevzi Aktaş. „Aber      › geboren in Zara/Sivas
                          rellen Hintergrund im Kurdistan Kultur- und Hilfsverein. Dort wurde er nach dem Studium         dahin zurückkehren will ich nicht.“ Sein 16-jähriger Sohn geht in Steglitz auf eine Sekundar-   › seit 1991 in Deutschland
   Text: Heike Schüler    erst Buchhalter, dann Geschäftsführer. Im Verein lehrte er auch Migranten aller Länder die      schule. Außerdem sieht er seine Aufgabe in der Bildungswelt GmbH. „Ich will etwas Positi-       › Geschäftsführer
          Fotos: privat   deutsche Sprache. 2015 legte er die Geschäftsführertätigkeit in jüngere Hände. Er engagiert     ves schaffen und später etwas hinterlassen.“                                                      Bildungswelt GmbH

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YEKTA ARMAN
                           Ein Raum für Ideen

                           „Kommen Sie mit“, sagt Yekta Arman zur Begrüßung. „Wenn Sie verstehen wollen, was ich
                           in den letzten 40 Jahren gemacht habe, müssen Sie das sehen.“

                           Es ist dunkel. Dann fällt Bühnenlicht auf einen Vorhang aus mehreren Stoffschichten.
                           Schlichtes Schwarz, gewelltes Grau und das Rot des zusammengeknoteten Samts schwe-
                           ben über einem abgenutzten Boden. Wir stehen vor der Bühne des deutsch-türkischen
                           Theaters Tiyatrom in Kreuzberg, das es ohne Yekta Arman nicht geben würde. Kinder, Ju-
                           gendliche und Erwachsene aus Deutschland, der Türkei, Italien, Griechenland, Afghanistan                                                                                                         Yekta Arman selbst auf
                           und Russland machen hier seit Jahrzehnten gemeinsam Theater. Vor allem die Arbeit mit                                                                                                            der Bühne 1985
                           Jugendlichen ist Yekta Arman wichtig: „Junge Menschen haben Ideen – und ich will sie frei
                           agieren lassen auf der Bühne!“                                                                    nach Berlin, unter einer Bedingung: Sie darf nicht für ihn waschen. „Meine Frau liebe ich,
                                                                                                                             die soll sich doch nicht um meine Socken kümmern“, sagt Yekta Arman. Alles im Haushalt
                           Aber erst mal muss diese nun saniert werden, umfassend. „Auf dem Boden rutschen die               machen sie gemeinsam. Als ihre Tochter und ein paar Jahre später ihr Sohn auf die Welt
                           Jugendlichen aus, das geht nicht mehr“, sagt er. Außerdem müsse die Statik überprüft, eine        kommen, ist klar: Sie wollen in Berlin bleiben. Gast sind sie nun in der Türkei.
                           barrierefreie Toilette installiert, Stromkabel neu gelegt werden. Das klingt ein bisschen wie
                           ein medizinischer Befund über einen guten Freund, den er sehr mag, der gerade ein biss-           Nach seinem Studium dann das Angebot, für 3750 Mark als Betriebswirt bei Siemens anzu-
    Yekta Arman 1972       chen krank ist, aber bestimmt wieder gesund wird.                                                 fangen. Er sagt Nein. Engagiert sich lieber im türkischen Ensemble der Schaubühne, steht
     nach dem Abitur                                                                                                         selbst auch auf der Bühne, studiert Theaterpädagogik an der Hochschule der Künste. Um
                           Dann trinken wir Kaffee, er zeigt mir Fotos. 1974. Das Jahr, in dem er beschließt, Istanbul zu    dann, gemeinsam mit anderen Literatur- und Theaterbegeisterten, 1984 das Tiyatrom in
                           verlassen und in Berlin zu studieren. Auf die Idee gebracht hat ihn sein Onkel, der bereits an    der Alten Jakobstraße in Kreuzberg zu gründen – mit Unterstützung der Schaubühne, die
                           der Technischen Universität Berlin arbeitet. Der besorgt ihm auch eine Unterkunft in einem        die Requisiten liefert. Neben Theaterkursen und Aufführungen organisieren sie auch Kul-
                           Studentenwohnheim im Wedding. 24 Mark im Monat. Er studiert BWL, seine Eltern wollen              turabende mit Musik, Tanz und Essen. „Dabei haben sich oft auch Gastarbeiterfamilien aus-
                           das so, also zieht er es durch, schon ahnend, dass er sich später für etwas anderes entschei-     getauscht und kennengelernt“, erinnert sich Yekta Arman. Schnell bauen sie ein 14-köpfi-
                           den wird: die Kunst.                                                                              ges Ensemble auf. Es läuft gut. Bis 2008. Als der Senat beschließt, die Gelder zu streichen.
                                                                                                                             Traurig ist Yekta Arman damals nicht wirklich. Denn er macht ja trotzdem weiter. Gibt Volks-
   „Junge Menschen haben Ideen – und ich will sie frei agieren lassen auf der Bühne!“                                        hochschulkurse für Jugendliche und betreibt den Raum als Spielstätte, verleiht ihn auch an
                                                                                                                             andere Projekte – bis heute.                                                                   Yekta Arman (66)
                           Allein fühlt er sich nicht. Einige seiner Freunde aus Istanbul sind auch hier. Dennoch fühlt er                                                                                                  › geboren in Istanbul
                           sich in Berlin zunächst als Gast. Zumal er in Gedanken und im Urlaub auch viel in Istanbul ist,   Sobald die Sanierung beendet ist, will der 66-Jährige wieder Kurse anbieten. Nächstes Jahr     › seit 1974 in Deutschland
        Text: Anja Herr    bei Sevgi, einer Frau, die ihm seit Jahren nicht aus dem Kopf geht, und die ihm 1980 sagen        im Juli soll es so weit sein: Der Boden wieder schick, die Statik in Ordnung. Dann wird im     › Schauspieler
Fotos: Anja Herr, privat   wird, dass sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen kann. Sie heiraten, er nimmt sie mit      Tiyatrom wieder das Licht angehen.                                                               und Intendant

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