Kombinatorik und Spiel Wege musikalischen Denkens - Festschrift für Stefan Prey - Opus4
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Thomas Fesefeldt – Andreas Ickstadt – Ariane Jeßulat – Kilian Sprau – Katja Steinhäuser – Berthold Tuercke – Lilia Ushakova – Emmanouil Vlitakis (Hg.) unter Mitarbeit von Ferdinand Kiesner und Gabriel Pech Kombinatorik und Spiel Wege musikalischen Denkens Festschrift für Stefan Prey 2022 Der Text dieser Publikation ist unter einer Creative Commons Lizenz vom Typ Namensnennung – Keine Bearbeitung 4.0 International. Um eine Kopie dieser Lizenz einzusehen, konsultieren Sie https://creativecommons.org/licenses/by-nd/4.0/legalcode oder wenden Sie sich brieflich an Creative Commons, Postfach 1866, Mountain View, California, 94042, USA. Fotos und Abbildungen mit anderen Nachweisen sind ausgenommen.
Inhaltsverzeichnis Vorwort Clemens Kühn Zahlenspiele. Geburtstagsgabe für Stefan Prey Hartmut Fladt Aspekte von Natur und Naturbeherrschung in der Musik des 18. Jahrhunderts Gesine Schröder Der Zug des Feuervogels in den Westen. Präliminarien zu Interpretations-Studien über einen Orchesterhit Berthold Tuercke für Stefan Prey Volker Lenz Einige Erinnerungen an den Unterricht bei Stefan Prey Ulrich Kaiser Wahnsinn! Reinhard Schäfertöns Zwischen Kunst, Wissenschaft und Pädagogik. Positionen musiktheoretischer Fächer im hochschulischen Kontext Michael Polth Tonfelder in zwölftönigen und zwölftontechnischen Kontexten Andreas Waczkat Magister Ludi Viennensis. Zu Josef Matthias Hauers Zwölftonspielen Tobias Faßhauer Ragtime für die Polka. Musikalische Amerika-Signaturen in Puccinis La fanciulla del West Martin Supper Stefan Prey 2022
Kombinatorik und Spiel Ullrich Scheideler Das Labyrinth auf dem Weg zum Schluss. Beobachtungen zur Genese der Schlussgruppe des 1. Satzes von Ludwig van Beethovens Eroica-Symphonie im Kontext der Skizzen Ariane Jeßulat Kanon und Echo. Zu den kontrapunktischen Dispositionen der Fuge in f-Moll BWV 857 Albert Richenhagen Das antike Tonsystem in der kurzen Gesamtdarstellung des Nikomachos von Gerasa Manfred Hüneke Lullaby of Birdland (George Shearing) Andreas Ickstadt, Christiane Imort-Viertel und Robert Lang Wie Musiktheorie in der Schule unterrichtet wird. Eine empirische Studie in Berlin und Baden- Württemberg Antonie Budde Algorithmus in G Wolfgang Dinglinger » […] für den ausübenden Künstler genüge der Generalbaß.« Ein Reformversuch im Fach Musiktheorie an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin Martin Ullrich Musiktheorien im Anthropozän. Zwei Vorschläge für eine mehr-als-menschliche Musiktheorie Elke Reichel Polyphonie als Mittel der dramatischen Kunst bei Wolfgang Amadeus Mozart. Zu kanonischen Satztech- niken in den Bühnenwerken der Wiener Schaffensperiode Florian Edler Die Eröffnung mit dem kleinen Mollseptakkord oder Das ›Tea for two‹-Modell Andreas Brenner Drei Violinen (2021). Für Stefan Prey Laura Krämer Von überall nach überall. Daubes Modulationstabelle und die Redundanz in der Improvisationspädagogik
Kombinatorik und Spiel Hans Aerts Contrapunti in frotta. Gruppenimprovisation nach Quellen des frühen 17. Jahrhunderts Lilia Ushakova Linie und Klang. Wechselwirkungen von kontrapunktischen und harmonischen Prinzipien in Sadko von Rimski-Korsakow Qiming Yuan Stockend-Rasende Zeit. Wahrnehmung und Interpretation von Beethovens späten Streichquartetten Emmanouil Vlitakis Verknüpfung und Korrespondenz. Aspekte formalen Denkens und dramaturgischer Gestaltung in Elliott Carters 2. Streichquartett David Santos London aus Songs and Proverbs of William Blake op. 74 von Benjamin Britten. Ein modernes Lied – in der Tradition verwurzelt David Santos Fuge in d-Moll Wendelin Bitzan Vom Lied zur Ballade. Zur intertextuellen Beziehung zwischen vokaler und pianistischer Faktur bei Amy Beach Katja Steinhäuser Unfassbar schön. Musikalische Ästhetik im Tonsatzunterricht Joachim Stange-Elbe Calm and Light Rays. Eine algorithmische Komposition aus dem Zyklus »Removing and Replacement« Hartmuth Kinzler Vom Anfang des Anfangs des Alten Testaments. Bemerkungen zu BWV 846 bzw. 846a Lidia Kalendareva Adagio – The Tree Of Life Veronika Ágnes Fáncsik Aurora borealis
Kombinatorik und Spiel Felix Mahr Reizvolle Regelbrüche. Eine Auseinandersetzung mit dem zweitaktigen Soggetto des Ritornells aus Bachs Choralkantate Wachet auf, ruft uns die Stimme Burkhard Meischein Goethes musiktheoretische Interessen und die Frage nach dem Kontext musiktheoretischer Gegen- stände Shengying Luo Agnus Dei Qui Tollis Peccata Mundi. Xavier Durand – aus dem Unterricht von Shengying Luo Philipp Sobecki ›Metrikspiele‹ in Haydns Symphonie-Menuetten Anne Schinz Auguste Panseron – L’art de moduler au violon Anhang: Biografien der Herausgeberinnen und Herausgeber
Vorwort Diese Festschrift zu Ehren von Stefan Prey, erschienen anlässlich seiner Verabschiedung aus dem akti- ven Hochschulleben an der Universität der Künste Berlin, bezieht sich auf sein doppeltes Wirken als Hochschullehrer und Forscher. In beiden Bereichen mutet dieses Wirken ›legendär‹ an – auch wenn Legendenbildung im Hinblick auf die Persönlichkeit des Geehrten vollkommen unangemessen zu sein scheint. Doch sind es nicht zuletzt seine Bescheidenheit und Uneitelkeit, die angesichts solchen Kön- nens zu superlativischen Beschreibungen verleiten. Als Hochschullehrer prägte Prey Generationen von Musiktheoretikerinnen und -theoretikern entschei- dend. Eine spezifische Mischung aus hohem Anspruch und Freundlichkeit, enorme Repertoirekenntnis, überragende fachliche Kompetenz, methodische Offenheit, nicht zuletzt eine außergewöhnliche Hin- gabe an die Aufgaben der Hochschullehre, keine Zeit und Mühe scheuend, auf die individuellen Be- dürfnisse der Studierenden aktiv und fördernd einzugehen, waren Markenzeichen von Preys Lehre und vermittelten auch ein bestimmtes Ethos von Musiktheorie. Als Forscher setzte Prey v. a. mit seiner Dissertation Algorithmen zur Satztechnik und ihre Anwendung auf die Analyse Maßstäbe. Die metho- disch-systematische Stringenz und die Materialfülle dieser Arbeit wirken einmalig. Auf die Einladung des Hg.-Teams hin, Beiträge zur Festschrift für Stefan Prey zu leisten, ist ein ›bunter Strauß‹ an wissenschaftlichen Texten, Kompositionen, satztechnischen Arbeiten und Gruß- bzw. Glück- wunsch-Schreiben entstanden. Allenthalben waren in der daran geknüpften Kommunikation der große Respekt, die Dankbarkeit und die menschliche Zuneigung zu spüren, die Stefan Prey innerhalb der mu- siktheoretischen Fachcommunity genießt. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Beteiligten für die so engagierte Mitwirkung! Die historische Spannweite der behandelten Themen ist beträchtlich, angefangen bei antiker Musik- theorie (Nikomachos-Traktat/A. Richenhagen) bis hin zu Ausblicken auf posthumanistische Entwick- lungen der Musiktheorie (M. Ullrich). Erwartungsgemäß befassen sich einige Beiträge mit Kontrapunk- tik und Kombinatorik (A. Jeßulat, E. Reichel, L. Ushakova, H. Kinzler), auch mit Bezug auf Hochschul- lehre und Unterrichtspraxis generell (H. Aerts). Verschiedene Teilbereiche der Musiktheorie werden weiterhin thematisiert: Modulationslehre (L. Krämer, A. Schinz), Harmonik und Satzlehre (F. Edler, F. Mahr), Metrik (P. Sobecki), Unterrichtsmethodik (K. Steinhäuser), Zwölftontheorie und -analyse (M. Polth, A. Waczkat), werkanalytische Betrachtungen mit unterschiedlicher Perspektivierung (W. Bitzan, Q. Yuan, D. Santos, U. Scheideler, E. Vlitakis), Interpretationsstudien (G. Schröder), Ge- schichte, Wandlungen und Perspektiven des Faches Musiktheorie in Schule und Hochschule (W. Ding- linger, A. Ickstadt/C. Imort-Viertel/R. Lang, R. Schäfertöns), interkulturelle Verbindungen (T. Faß- hauer), Musik(theorie) im wissenschaftlichen Kontext (H. Fladt, B. Meischein). Der kreative Prozess des Komponierens ist hier durch verschiedene Kompositionen vertreten (A. Brenner, A. Budde, V. A. Fáncsik, L. Kalendareva, J. Stange-Elbe, B. Tuercke); ebenso sind Arbeiten aus der musiktheoretischen Werkstatt zu finden (M. Hüneke, D. Santos, S. Luo/X. Durand). Schließlich ist in einer solchen Fest- schrift auch der persönliche Bezug zum Widmungsträger zu suchen: Geburtstagsgabe und Grußworte, Texte zwischen Poesie und Wissenschaft, lassen einiges über Person und Lehre Stefan Preys erfahren (C. Kühn, U. Kaiser, V. Lenz, M. Supper).
Kombinatorik und Spiel Zu danken ist weiterhin den Mitarbeiterinnen der Universitätsbibliothek, namentlich Anne-Christin Martinsohn und Friederike Kramer, die unser Vorhaben mit Rat und Tat begleitet haben und ohne deren Hilfe das Projekt dieser Online-Publikation nicht realisierbar gewesen wäre, ferner auch den studentischen Mitarbeitenden Ferdinand Kiesner und Gabriel Pech für Korrektorat und Layoutgestal- tung der Texte. Nun gratulieren wir dem Widmungsträger nachträglich zum 65. Geburtstag und wünschen ihm ein er- fülltes post-universitäres Leben! In Dankbarkeit die Herausgeberinnen und Herausgeber (auch im Namen des Musiktheoriekollegiums der UdK Berlin)
Contrapunti in frotta Gruppenimprovisation nach Quellen des frühen 17. Jahrhunderts Hans Aerts Aber jenen Kontrapunkt, den wir mental verfertigen, nennen wir den eigentlichen Kontrapunkt, und von denen, die dies tun, sagt man gewöhnlich, dass sie »über dem Buche singen«.1 (Johannes Tinctoris, Liber de arte contrapuncti, 1477) Übungen im improvisierten Kontrapunkt finden an verschiedenen deutschen Musikhochschulen seit nun fast zehn Jahren verstärkt statt. Gut dokumentiert sind z. B. Ergebnisse von Kursen, die Dres Schiltknecht an der Mannheimer Musikhochschule betreut hat.2 Almut Gatz berichtet von Lehrveranstaltungen an der Universität der Künste Berlin (gemeinsam mit Ariane Jeßulat) und an der Hochschule für Musik Würzburg.3 Moritz Heffter, Florian Vogt und ich haben seit 2012 an der Freiburger Musikhochschule Seminare und Workshops zum contrapunto alla mente angeboten. Wichtige Impulse hierzu haben die International Orpheus Academy for Music & Theory im April 2009 in Gent4 sowie die Auftritte des Ensembles Le Chant sur le livre unter der Leitung von Jean-Yves Haymoz (Genf, Lyon) beim 9. Kongress der Gesellschaft für Musiktheorie in Mainz im Oktober desselben Jahres gegeben. Barnabé Janin, Mitglied im Ensemble Le Chant sur le livre, veröffentlichte 2012 ein Handbuch zum Thema.5 Einige der dort besprochenen Techni- ken werden auch auf Janins YouTube-Kanal Chanter sur le livre à la Renaissance auf höchst ansprechende Weise vorgestellt.6 Die älteste Expertise in diesem Bereich innerhalb der deutschsprachigen Hochschul- landschaft dürfte an der Schola Cantorum Basiliensis existieren, wo Markus Jans und Dominique Muller bereits in den 1980er Jahren praktische Übungen zu Satzmodellen des improvisierten Kontrapunkts durch- führten.7 Das Projekt Singing upon the (Note-)book von David Mesquita und Florian Vogt dient der Ver- mittlung des dort gewonnenen Wissens.8 Geübt werden vor allem Gymels (also Zwiegesänge, die vorwiegend aus parallelgeführten unvollkomme- nen Konsonanzen zum Cantus firmus oder Cantus figuratus bestehen), darauf aufbauende Spielarten des Fauxbourdon (inkl. des 3–5-Satzes, bei dem der Contratenor bassus zwischen Unterterzen und Unterquin- ten zur Unterstimme eines Sexten-Gymels oder zur Oberstimme eines Terzen-Gymels alterniert) und so- 1 Alle Übersetzungen in diesem Beitrag sind vom Verf. 2 https://www.eartraining-online.de/node/32 (22.03.2022). 3 Gatz 2021. 4 Siehe Söllner 2011. 5 Janin 2012. 6 https://www.youtube.com/channel/UCN0kunrbxBCTUK_vDQEKFPw (22.03.2022). 7 Siehe Jans 1986, 101. 8 https://www.contrapunto.ch (22.03.2022).
Kombinatorik und Spiel genannte Strettakanons, bei denen die Folgestimmen nach einer Zählzeit einsetzen.9 Im Folgenden möchte ich näher eingehen auf eine Art des contrapunto alla mente, die in Janins Buch nur gestreift wird10 und auch sonst in der heutigen Kontrapunktdidaktik meines Wissens keine größere Rolle spielt. Mir er- scheint sie jedoch attraktiv, da sie zum einen laut mehreren Quellen in der kirchenmusikalischen Praxis in Italien im frühen 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hat, und weil sie sich zum anderen gut als Einstieg in den improvisierten Kontrapunkt eignet, im Rahmen des Hochschulunterrichts, aber auch im vor- und außerhochschulischen Bereich. Was täglich in den Kapellen zu hören ist Lodovico Zacconi (1555–1627) war ein Augustinermönch aus Pesaro, der nach Ausbildungsstationen in Venedig (u. a. bei Andrea Gabrieli), Pavia und Mantua als Sänger an den Hofkapellen in Graz, Wien (unter der Leitung von Philippe de Monte) und München (unter der Leitung von Orlande de Lassus) tätig war. Im zweiten Teil seiner Prattica di musica (1622), einer der informativsten, aber noch wenig studierten Quellen zur musikalischen Handwerkslehre im frühen 17. Jahrhundert, unterteilt er den Kontrapunkt zunächst in drei Kategorien: Wie ich bereits an anderer Stelle gesagt habe, trägt die Unterscheidung und gute Einteilung der Dinge immer zur Ver- ständlichkeit und Klarheit bei. Deshalb wird es gut sein, wenn ich, da ich über Kontrapunkte nachzudenken habe, nun eine Unterscheidung vornehme und sage, dass es allgemein gesprochen drei Arten von Kontrapunkten gibt. Einige sind zu ei- nem Cantus firmus nach dem Gutdünken des Komponisten gemacht worden, wie es Morales in seinem berühmten Mag- nificat tat […]. Andere werden von einem oder mehreren Sängern im Kopf [alla mente] gemacht. Von diesen nun, die alla mente gemacht werden, sage ich, um sie in Gattungen zu unterteilen, dass sie auf zweierlei Art gemacht werden: zum einen in der Schar [in frotta] bzw. Gruppe, was täglich in den erwähnten Kapellen zu hören ist, und zum anderen ein- oder mehrstimmig mit Imitationen [seguiti] und Verpflichtungen– wie wenn ein guter Musiker, um seinen Wert zu zeigen, sich darauf festlegt, [beim Singen] über einem Cantus firmus nicht nur viele Verpflichtungen einzuhalten, sondern auch andere beauftragt, ihn zu imitieren, im Einklang, der Sekunde, Terz, Quarte usw., wie es ihm beliebt. 11 Kurz darauf stellt Zacconi dieser Dreiteilung eine Vierteilung an die Seite, indem er im Hinblick auf die Zweistimmigkeit zwischen Note-gegen-Note-Sätzen (»contrapunti à nota contra nota«) und diminuierten Kontrapunkten (»movimenti minuti e spessi«) unterscheidet, und mehrstimmige Sätze danach kategori- siert, ob sie das Ergebnis von Entscheidungen einer Person oder aber aller beteiligten Sänger sind: Die beiden anderen Kontrapunktarten, die mehrstimmig gemacht werden, werden entweder nach dem gemeinsamen Gutdünken der Beteiligten oder nach dem Willen eines Einzelnen ausgeführt, der die Aufgabe übernimmt, mehrere Stim- men nach seinem Willen singen zu lassen. Jene Kontrapunkte, die nach gemeinsamem Gutdünken gemacht werden, sind 9 Zum Begriff »Strettakanon«, siehe Ott 2014, 2. Zur Herkunft der englischsprachigen Begriffe »stretto canon« und »stretto fuga«, siehe Milsom 2012, 218. 10 Janin 2012, 78–80. 11 Zacconi 1622, 60: »La distintione delle cose, e la buona divisione, apportando sempre maggior intelligenza, e chiarezza, come hò detto altrove, sarà bene, che dovendo io ragionare de contrapunti, me ne venghi alla presente distintione, dicendo. Che tre sorte de contraponti si trovano generalmente. Alcuni sono fatti sopra un soggetto di canto fermo à beneplacito del compositore, come fece Morales ne i suoi cotanto celebri Magnificat […]. Alcuni altri poi sono fatti alla mente da uno, ò più cantori. Questi dunque, che si fanno alla mente, dovendoli dividere quanto alla generica divisione, dico; che si fanno in due maniere; una in frotta e compagnia, ch’è apunto quello, che quotidianamente si sente fare in queste segnalate capelle e quelle; e l’altra in una, ò più voci, con seguiti, & obligationi; come quando un buon Musico per mostrar il suo valore, sopra un canto fermo s’obliga, non solo à farvi molte obligationi, ma anco commette ad altri, che nelle medeme cose l’habbino à seguitare, quando all’Unisono, e quando alla Seconda, alla Terza, alla Quarta, e via di mano in mano, secondo che pare à lui.« 2
Kombinatorik und Spiel die, die in den Kapellen gemacht werden, wobei der Bass den Cantus firmus singt und jeder Sänger in seiner Stimmlage wohlgeordnet und in bester Anordnung darüber singt. Bei denen, die nach dem Willen eines Einzelnen gemacht werden, singt wie gesagt ein Einzelner über einem Cantus firmus und lässt sich gemäß der Verpflichtung, die er freiwillig eingegan- gen ist oder übernommen hat, von einer oder mehreren Stimmen folgen.12 Neben der Improvisation von Kanons zu einem Cantus firmus, wobei nur diejenige Person, welche die guida improvisiert, Regie führt, beschreibt Zacconi also eine Praxis der Gruppenimprovisation, die in sei- nem Umfeld offenbar sehr üblich war. Der Cantus firmus erklingt hierbei im Bass.13 Und gegenüber freien Kontrapunkten gelte hier als einzige einschränkende Regel, dass nur »per accidente« Sexten über dem Cantus firmus gesungen werden können, damit Reibungen mit Quinten, die im selben Moment von ande- ren Sängern gesungen werden könnten, vermieden werden: Das mehrstimmige Kontrapunktieren alla mente war eine sehr schöne Erfindung. Denn die großen Kapellen schmücken hiermit ihre Kirchen mit größter Zierde, bereiten nicht nur ihren Zuhörern viel Freude und beglücken sie mit ihren süßen und zarten Melodien, sondern stellen so auch jene Engelsstimmen dar, die im Himmel unentwegt das Lob des Herrn singen und dabei unerklärliche Wohlklänge und Harmonien bilden. Und weil diese Kontrapunkte nach dem gemeinsamen Gut- dünken der Sänger, die über [dem Cantus firmus] singen, gemacht werden, will ich hier für diejenigen, die sich darüber wundern, und für Schüler, die immer noch wissen wollen, wie sie gemacht werden, kurz diese wenigen Worte sagen. Diese Kontrapunkte unterscheiden sich in keiner Weise von den besprochenen, außer dass man hier bloß zufällig [se non per accidente] in der Sexte [zum Cantus firmus] geht. Und wenn man in der kleinen Sexte [zum Cantus firmus] geht, stellt man sie nie an den Anfang des Taktes, damit man keine Sekunde macht zu den Mitsängern [compagni], die die Quinte singen. Die Quarte und Dissonanzen werden ebenfalls verwendet, aber jeweils, wie ich gesagt habe, an zweiter Stelle und auf der zweiten Position des Taktes.14 Ein Beispiel dafür, was Zacconi bei diesen Beschreibungen im Ohr hatte, enthält sein Buch leider nicht. Auf den folgenden 200 Seiten bespricht er stattdessen eine Vielzahl von Kontrapunkten »con obligationi«: ver- schiedene Arten von Kanons sowie Kontrapunkte mit beibehaltenen Motiven oder rhythmischen Patterns also, aber auch bizarrere ›Verpflichtungen‹ wie die, einen Kontrapunkt so zu improvisieren, dass be- stimmte Solmisationssilben (z. B. fa) nicht darin vorkommen.15 Ein Beispiel eines »contrapunto sciolto per 12 Ebd., 68: »Gl’altri due poi (parlando de contrapunti) che si fanno à piu voci; ò si fanno à commun beneplacito di quelli che ve gl’hanno à fare ò secondo il voler d’un solo, che si piglia assonto di far cantar piu parte secondo il suo volere. I fatti a commun beneplacito, sono quelli, che si fanno nelle capelle, che cantando il Baßo [sic] il Canto fermo, ciascun cantore vi canta sopra secondo la sua parte con debbit’ordine, e miglior dispositione. I fatti poi secondo il voler di un solo, sono quelli, che un solo come hò detto sopra un canto fermo cantando, si fa seguitare una ò più parti secondo la sua volontaria, overo aßonta [sic] obligatione.« 13 Siehe auch ebd., 59: »Quindi è, che nelle Chiese sempre che si fa contrapunto, il Basso è quello, che porta, e canta il sudetto canto fermo; […].« (»Daher trägt und singt in den Kirchen stets, wenn dort Kontrapunkt gemacht wird, der Bass den Cantus firmus; […].«) 14 Ebd., 73: »Bellissimo veramente fù il ritrovato di far il Contrapunto à più voci alla mente; perche, le Capelle grande facendone con esso grandissimo ornamento alle loro Chiese, non solo rendano grandissimo diletto à gl’udienti, e li tengano contenti in quelle loro soavissimo e delicatissime melodie, ma anco vengano à rapresentar quelle voci Angeliche, che cantando del continuo le laudi al Signore, fanno in cielo inesplicabili concenti & armonie. E perche detti contrapunti vengano fatti à commun beneplacito de’ Cantori che vi cantano sopra, per quelli che se ne maravigliano [sic], e per quei Scolari che bramano ancor loro di saperli fare, quì brevemente dirò queste poche parole. Che detti Contrapunti non sono in altro differenti da gl’osservati, che in loro, se non per accidente si camina con la Sesta. E caminandovi con la Sesta minore, non si pone mai nel principio del tatto, per non far Seconda con i compagni che vi fanno la Quinta. Vi si fanno anco le Quarte e le cattive, che sono le dissonanti, ma tutte come hò detto in secondo luogo, e nella seconda positione del tatto.« 15 Ebd., 94 f. 3
Kombinatorik und Spiel cantare in compagnia« findet sich jedoch in den etwa zehn Jahre16 älteren Regole di musica von Rocco Rodio (1530 – vor 1609), der aus Bari stammte und in Neapel u. a. in Carlo Gesualdos Umfeld tätig war. Rodios Regel für diese Art von Kontrapunkten ist etwas einschränkender als die von Zacconi, indem er den Gebrauch von Sexten insgesamt und auch den von Synkopendissonanzen ausschließt. Sein Beispiel zeigt jedoch, dass Sexten selbstverständlich als Durchgangsnoten verwendet werden können, was hier zur Di- minution der Fortschreitung 5–8 über Abwärtsschritten des Cantus firmus geschieht (siehe Bsp. 1, T. 5, 6, 10, 11, 12, 17). Zudem ist das Ende des Beispiels als tenorisierende Kadenz mit Synkopendissonanz gestal- tet. Beispiel 1: Rocco Rodio, Regole di musica, 91 Eine weitere Quelle aus dieser Zeit, die auf eine solche Praxis verweist, ist die Cartella musicale (1614) von Adriano Banchieri (1568–1634). Merkwürdigerweise formuliert dieser dort allerdings keine Regeln zur Im- provisation, sondern eine Reihe von Anweisungen zum schriftlichen Anfertigen von Sätzen, die contrapunti alla mente nachahmen und etwas von ihrer besonderen Wirkung vermitteln sollen. Sätze wie die Introitus von Costanzo Porta und Giovanni Matteo Asola oder die Vesper-Antifonen von Girolamo Diruta und Gi- rolamo Lambardo seien, so Banchieri, hervorragende Beispiele für Kontrapunkte über einem Cantus fir- mus. Als »Contrapunti Osservati« würden sie den Zuhörern jedoch nicht das gleiche Erlebnis verschaffen wie die contrapunti alla mente, die es in guten Kapellen und besonders in Rom zu hören gebe:17 16 Die Erstveröffentlichung dieses Traktats erfolgte allerdings bereits um 1600, siehe Fabris 2016. 17 Banchieri 1614, 230: »Non hò dubbio alcuno, che gli Contrapunti sopra il Canto Fermo ne gl’Introiti di Costanzo Parta, & Gio. Matteo Asola, similmente sopra le Antifone Vespertine d’amenduei Girolami, Diruta & Lambardo, si come di presente quelli di diversi Musici d’Italia composti a richiesta di Lodovico Viadana, non sieno degni di molta lode; Tutta via essendo questi composti con le buone, & osservate regole musicali, di devono nominare Contrapunto Osservati, & non alla mente, i quali non fanno quel sentire all’udito de gl’ascoltanti, che in quelle Capelle dove sono buoni Musici & Cantori si sente; […].« 4
Kombinatorik und Spiel Wenn in Rom in der Capella di Nostro Signore18 [,] im S. Casa di Loreto und in zahllosen anderen Kapellen der Kontrapunkt alla mente über dem Bass gesungen wird, weiß keiner, was der Mitsänger singen muss, doch alle bringen gemäß bestimm- ter Grundsätze, die sie untereinander verabredet haben, etwas äußerst Geschmackvolles zu Gehör. Und dies ist eine all- gemeine Maxime: Singt (sozusagen) hundert verschiedene Stimmen passend [consonantemente] zum Bass, und alle pas- sen zusammen, und jene falschen Quint- und Oktavfolgen, stravaganze und Zusammenstöße sind allesamt Feinheiten, die den wahren Effekt des contrapunto alla mente bewirken.19 Laut den zehn »Osservazioni«, die Banchieri diesen einführenden Worten folgen lässt,20 solle zur Nachah- mung eines Contrapunto alla mente zuerst der Cantus firmus als Bassstimme und in Semibreven auf der cartella notiert werden. Darüber solle dann eine Sopranstimme aufgeschrieben werden, die vor allem ab- wärts gerichtete melodische Figuren aus Minimen, Semiminimen und crome (sowie Pausen) enthält, ge- folgt von einer Tenorstimme, die aus aufwärts gerichteten Figuren mit eben solchen Notenwerten besteht. Die Altstimme solle vor allem aus synkopierten Semibreven im Terz- oder Quintabstand zum Cantus firmus sowie aus springenden Minimen bestehen. Ein eventueller weiterer Sopran solle in entgegensetzte Rich- tung zum ersten verlaufen, ebenso eine weitere Tenor- und Altstimme. Auch Parallelführungen in Terzen und Quarten empfiehlt Banchieri an dieser Stelle; gut sei es vor allem, eine Sopranstimme in Dezimparal- lelen zum Bass zu führen. Zu vermeiden seien scharfe Dissonanzen (»durezze aspre«) sowie generell Synkopendissonanzen (»leggature« [sic]), Sexten und Kadenzen. Geendet werden solle mit einem vollstän- digen Dreiklang mit einer Dauer von zwei Breven. Bei der Aufführung empfiehlt Banchieri schließlich, je nach Größe des Ensembles, für den Cantus firmus mehrere Bässe, aber auch Posaunen oder Streichbässe (»Violoni«) hinzuzuziehen. Darüber hinaus sollte auch an der Orgel über dem Cantus firmus (als General- bassstimme) gespielt werden. Didaktische und methodische Überlegungen Nicht nur für den hochschulischen Theorie- und Gehörbildungsunterricht, sondern auch für den Musikun- terricht an Schulen und die Arbeit mit Chören bergen Übungen im improvisierten Kontrapunkt ein sehr großes Potenzial.21 Bereits einfache Zwillingsgesänge (auch das Singen in parallelen Quinten sollte nicht vergessen werden) lenken den Fokus auf die jeweilige Qualität von Zweiklängen, üben den schnellen ›Blick‹ für (Simultan-)Intervalle und lassen das Singen von etwas, das so nicht notiert ist, zur Selbstver- ständlichkeit werden. Hiermit sind entscheidende Weichen für ein tieferes Verständnis vortonaler und to- naler Mehrstimmigkeit gestellt. Chorsänger*innen wird so u. a. ermöglicht, das Verhältnis der eigenen Stimme zu den anderen Stimmen zu reflektieren (z. B.: »Ich singe hier in Sexten zum Sopran« oder: »Mein Ton macht hier den Ton der Altstimme zu einer Dissonanz.«). Übungen im Generalbass können sich von einem mühsamen ›(Noten-)Malen nach Zahlen‹ entfernen. Die Abstraktionen herkömmlicher Harmonie- lehren (Grundtöne, Funktionen) können als solche erkannt und diskutiert werden. 18 In Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts verweist diese Formulierung häufig auf die Cappella Sistina, d. h. auf die päpstliche Kapelle; siehe Hammond 1983, 32. 19 Ebd.: »In Roma nella Capella [sic] di N. S.[,] Nella S. Casa di Loreto & altre infinite Capelle, mentre cantano il Contrapunto, alla mente sopra il Basse, niuno sa quello che cantar deve il compagno, ma tutti, con certe osservationi tra di loro conferite rendono un udito gustosissimo, & è questa una Massima generale, cantino pure cento variate voci (per cosi dire) consonantemente sopra il Basso tutte accordano, & quelle cattive Quinte Ottave, stravaganze & urtoni sono tutte gratie che rendono il vero effetto del Contrapunto alla mente; […].« 20 Ebd., 231. Auf eine wörtliche Wiedergabe dieser Anweisungen muss hier aus Platzgründen verzichtet werden. 21 Siehe dazu auch Gatz 2021. 5
Kombinatorik und Spiel Allerdings erweist sich der Schritt weg von einfachen Zwillingsgesängen, hin zur Improvisation eigenstän- diger Kontrapunkte, nicht nur für Laien oftmals als eine nicht unerhebliche Hürde.22 Soll eine Gruppenim- provisation nach den Vorgaben Zacconis und Rodios gelingen, können Zwischenschritte deshalb ratsam sein. Ein solcher Zwischenschritt kann darin bestehen, dass jede Stimmgruppe zunächst zwischen zwei Intervallen zum Cantus firmus alterniert – ich nenne diese Übung gern ›Nimm 2‹:23 - Sopran: singt 10 zum Cantus firmus, diminuiert mit 12 – ›liest‹ also 3, diminuiert mit 5 - Alt: singt abwechselnd 8 und 5 –›liest‹ also 1 und Unter-4 - Tenor: singt abwechselnd 5 und 3 Bei einem h im Cantus firmus (bzw. bei vorgezeichnetem b ein e) wird die (dann verminderte) Quinte ver- mieden (indem der Sopran dort bei der 10 bleibt) bzw. (von den Tenören) durch eine Sexte ersetzt. Für den Anfang empfehlen sich Cantus firmi ohne diese Töne (wie im Bsp. 2). Kurze Cantus firmi haben den Vorteil, dass die Übungen regelmäßig als kleines Intermezzo inmitten von Chorproben bzw. Unterrichts- stunden oder im Rahmen des Einsingens erfolgen und ohne Unterbrechung mehrmals wiederholt werden können. Dies ermöglicht Korrekturen und das Ausprobieren von Alternativen, ohne dass der Musizierfluss gestoppt wird. Beispiel 2: Beispiel eines Cantus firmus, nach dem Halleluja Dies sanctificatus24 Damit diese ›Nimm 2‹-Übung stilistisch überzeugender klingt, sind allerdings vor allem Sekundbewegun- gen nötig, die die jeweiligen Sprünge ausfüllen. Zudem erleichtern entsprechende Figuren das Treffen der Gerüstintervalle. Hierzu empfiehlt es sich, zunächst bestimmte Patterns vorzugeben, damit alle Sän- ger*innen bereits mindestens ein Muster abrufbereit haben. Die Wechsel 10–12–10 (bzw. 3–5–3), 8–5 und 5–3 können z. B. anhand der Patterns im Beispiel 3 geübt werden, indem sie zunächst über jeder Note des Cantus firmus (die Breven im Bsp. 3) gesungen werden. Die Intervalle passen sich der diatonischen Skala an (daher der fehlende Notenschlüssel im Beispiel): Beispiel 3: Patterns zur Diminution der Intervallwechsel in der ›Nimm 2‹-Übung Jede Stimmgruppe kann sich entweder auf ›ihr‹ Spezialpattern konzentrieren, oder alle üben die ›Sicht- weisen‹ aller Stimmen, indem regelmäßig die Rollen getauscht werden. Zwecks Luftholens kann die erste Note eines Patterns zu einer Phrasenendnote mit anschließender Pause verlängert werden, und/oder die 22 Die Übungen, die ich im Folgenden beschreibe, habe ich nicht nur mit Lehramtsstudierenden, sondern auch mit dem Chor TonArt Kenzingen ausprobieren können. Dessen Leiter Ekkehard Weber und meinen Mitsänger*innen dort möchte ich dafür an dieser Stelle herzlich danken. 23 Im Folgenden werden Simultanintervalle als Zahl dargestellt: 10 = Dezime(n), 8 = Oktave(n) usw. Wenn nicht anders angegeben, sind damit Intervalle über der Bezugsstimme gemeint. 24 Dieses Halleluja, liturgisch dem Weihnachtsfest zugeordnet, hat Vicente Lusitano (†nach 1561) in den meisten Beispielen seiner Traktate Del arte de contrapunto und Introdutione facilissima (1553) verwendet, siehe Canguilhem 2013. 6
Kombinatorik und Spiel Patterns können verkürzt werden (siehe Bsp. 4), indem ihnen eine Pause zum Taktbeginn vorangestellt wird. Beispiel 4: Patterns nach Pausen Ebenso können die Diminutionen (nach Entscheidung der einzelnen Sänger*innen) gelegentlich weggelas- sen oder durch andere ersetzt werden, z. B. für den Sopran: Beispiel 5: Weitere Patterns für die Sopranstimme Nach solchen ›Nimm 2‹-Übungen können Note-gegen-Note-Wechsel geübt werden. Denn vor allem die Altist*innen und Tenorist*innen sollten in der Lage sein, ihre 8–5- und 5–3-Wechsel nicht nur jeweils über einer Cantus-firmus-Note, sondern auch von einer Cantus-firmus-Note zur nächsten zu singen. Üben lässt sich dies mit einer diatonischen ›Allintervallreihe‹ als Cantus firmus, wie im Beispiel 6. Der Unterschied zwischen großen und kleinen Sekunden bzw. Terzen im Cantus firmus ist hier unerheblich; dieser Cantus firmus kann also auch von e, a oder g (dann natürlich mit b-Vorzeichnung und mit es statt e) aus starten: Beispiel 6: ›Allintervall‹-Cantus-firmus Bereits bei den ›Nimm 2‹-Übungen, aber spätestens an dieser Stelle können die Sänger*innen damit be- auftragt werden, sich bis zum nächsten Treffen weitere melodische Patterns auszudenken, die unabhängig von der Bewegung des Cantus firmus oder aber je über einer bestimmten Fortschreitung des Cantus firmus (wie z. B. einem Sekundschritt abwärts) funktionieren. Hierzu kann Rodios Beispiel zu Rate gezogen wer- den, wo allerdings der Cantus firmus (wie es auch Banchieri beschreibt) in Semibreven gesetzt ist. Als Bei- spielmaterial für Kontrapunkte über einem Cantus firmus in Breven eignen sich einige der Kontrapunkte zu La Spagna von Costanzo Festa.25 Diese stammen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, sind aber eine Fundgrube für Wendungen, die auch für Rodio, Banchieri und Zacconi noch als stilistisch angemessen gegolten haben dürften. Außerdem sollten die Sänger*innen spätestens dann, wenn sie sich sicher genug fühlen, die Patterns zu variieren und eigene Linien zu erfinden, nicht länger nach Stimmgruppen aufgestellt sein. Zacconis Be- zeichnung »contrapunti in frotta« kann (wie oben) als »in der Schar«, oder etwas bildhafter als »im Schwarm« übersetzt werden. Eine gemischte Aufstellung betont die Autonomie der einzelnen Sän- ger*innen bzw. fordert sie stärker ein. Damit ein Singen »im Schwarm« erlebt werden kann, ist zudem eine Raumakustik mit etwas Nachhall von Vorteil. Proben in einer Kirche (oder gar eine musikalische Mitgestal- tung der Liturgie als Ziel einer Probenphase) bieten sich deshalb an. Ein regelmäßiges gemeinsames Abhören und Besprechen von (etwa mit dem Smartphone erstellten) Auf- nahmen dient schließlich der Weiterentwicklung des Umgangs mit Gestaltungsmitteln, wobei sich u. a. der 25 Agee 1997. 7
Kombinatorik und Spiel sensible Umgang mit Pausen als wichtig erweist: Wann kann/soll ich mich zurücknehmen, wann und wie setze ich einen neuen Impuls oder kann den einer anderen Stimme aufgreifen, wie unterstütze ich eine Steigerung? Solche Fragen sind nicht weniger wichtig als die Fähigkeit, die Fortsetzung der eigenen Linie über den nächsten Tönen des Cantus firmus alla mente vorauszuhören. Das Singen von contrapunti in frotta wird auf diese Weise zu einer Hörschulung, die musikalische Mikro- und Makroebenen gleicherma- ßen umfasst. Literatur Agee, Richard J. (Hg.) (1997), Costanzo Festa. Counterpoints on a Cantus Firmus, Middleton WI: A-R Edi- tions. Banchieri, Adriano (1614), Cartella musicale, Venedig: Vincenti. Canguilhem, Philippe (2013), Chanter sur le livre à la Renaissance. Les traités de contrepoint de Vicente Lusitano, Turnhout: Brepols. Fabris, Dinko (2016), »Rodio«, in: MGG Online, hg. von Laurenz Lütteken, Kassel: Bärenreiter. https://www.mgg-online.com/mgg/stable/26857 (22.03.2022) Gatz, Almut (2021), »Historische Vokalimprovisation in der Schule. Vorüberlegungen und Projektbericht«, in: Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen, hg. von Marcus Aydintan, Laura Krämer und Tanja Spatz, Hildesheim: Olms. Hammond, Frederick (1983), Girolamo Frescobaldi, Cambridge MA: Harvard University Press. Janin, Barnabé (2012), Chanter sur le livre. Manuel pratique d´improvisation polyphonique de la Renais- sance (15ème et 16ème siècles), Langres: Guéniot. Jans, Markus (1986), »Alle gegen eine. Satzmodelle in Note-gegen-Note-Sätzen des 16. und 17. Jahrhun- derts«, Basler Jahrbuch für historische Aufführungspraxis 10, 101–120. Milsom, John (2012), »Josquin des Prez and the Combinative Impulse«, in: On the Relationship of Imitation and Text Treatment? The Motet around 1500, hg. von Thomas Schmidt-Beste, Turnhout: Brepols, 211– 246. Ott, Immanuel (2014), Methoden der Kanonkomposition bei Josquin Des Prez und seinen Zeitgenossen, Hildesheim: Olms. Rodio, Rocco (1609), Regole di Musica, Neapel: Carlino & Vitale. https://imslp.org/wiki/Regole_di_musica_(Rodio%2C_Rocco) (22.03.2022) Söllner, Johannes (2011), »Improvising Music in the 15th and 16th Century: Contrapunto alla Mente – Chant sur le Livre – Madrigale Passagiato. International Orpheus Academy for Music & Theory 2008 [recte: 2009], Orpheus-Institut, Gent, 4. bis 9. April 2009«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 8/1, 195 f. https://doi.org/10.31751/611 (22.03.2022) Zacconi, Lodovico (1622), Prattica di musica seconda parte, Venedig: Vincenti. https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10497532 (22.03.2022) 8
Kombinatorik und Spiel ABSTRACT. Anhand von Traktaten von Lodovico Zacconi, Rocco Rodio und Adriano Banchieri rekonstruiert der Beitrag eine Improvisationspraxis, die in der Kirchenmusik in Italien im frühen 17. Jahrhundert eine prominente Rolle gespielt hat. Didaktische und methodische Überlegungen skizzieren daraufhin Einstiegsübungen im improvisierten Kontra- punkt im Rahmen der Hochschullehre sowie in vor- und außerhochschulischen Bereichen, die an diese Praxis anknüp- fen. Hans Aerts ist Professor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik Freiburg. Er studierte Mu- sikwissenschaft an der KU Leuven (Belgien) und an der TU Berlin sowie Musiktheorie und Gehörbildung an der Uni- versität der Künste Berlin. Von 2000 bis 2010 unterrichtete er Musiktheorie und Gehörbildung in Berlin, u.a. an eini- gen Musikschulen und an der UdK. In Freiburg war er von 2010 bis 2017 als Dozent für Musiktheorie an der Hoch- schule für Musik und von 2013 bis 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität tätig. Seit 2019 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie (ZGMTH). 9
Biografien der Herausgeberinnen und Herausgeber Thomas Fesefeldt studierte in Hannover Schulmusik, Geschichte und Musiktheorie. Er war Lehrbeauf- tragter für Musiktheorie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und an der Hoch- schule für Künste Bremen, Leiter der Studienvorbereitenden Ausbildung an Musikschulen in Gehrden und Goslar sowie Dozent an der Landeskirche Hannover. 2012 wurde er an der Musikhochschule Dres- den mit einer Arbeit über Franz Schubert promoviert. 2013 schloss er den Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien ab und war von 2013 bis 2017 Studienrat am Gymnasium Alfeld (Leine). Seit 2017 ist er Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin. Ein besonderes Anliegen sind ihm die Bereiche Methodik und Didaktik der Musiktheorie sowie die Kooperation mit allgemeinbildenden Schulen und Musikschulen. Andreas Ickstadt ist Professor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Universität der Künste Berlin. Nach seinem Lehramtsstudium in den Fächern Musik und Germanistik in Frankfurt/Main studierte er dort in einem Aufbaustudiengang das Fach Musikwissenschaft, bevor sich ein Studium des Doppelfachs Musiktheorie/Gehörbildung an der HdK Berlin anschloss. 2014 promovierte er im Fach Musikwissen- schaft über »Aspekte der Melancholie bei Johannes Brahms«. Neben analytisch orientierten Themen (Rhetorik der Barockmusik und harmonische Konzepte aktueller Popmusik) besteht ein derzeitiger For- schungsschwerpunkt in Fragen der Vermittlung musiktheoretischer Inhalte in Hochschule und Allge- meinbildender Schule, mit denen er sich aktuell im Rahmen eines länderübergreifenden Forschungspro- jekt (MuTheUS) beschäftigt. Ariane Jeßulat, geb. 1968, studierte Schulmusik und Musiktheorie an der UdK Berlin. Von 2004 bis 2015 war sie Professorin für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Würzburg. Seit 2015 ist sie Professorin für Musiktheorie an der UdK Berlin. Sie wurde 1999 an der UdK Berlin promoviert und 2011 an der Hum- boldt-Universität zu Berlin habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Musik des 19. Jahrhunderts, historische Improvisation vom 16.–18. Jahrhundert und experimentelle Musik nach 1950. Sie arbeitete von 2015 bis 2021 im Redaktionsteam der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie und ist aktuell Mitarbeiterin im Redaktionsteam der Musurgia. Seit 2020 ist sie PI im DFG-Graduiertenkolleg 2638 Nor- mativität, Kritik, Wandel und leitet seit 2021 ein Teilprojekt im DFG Sonderforschungsbereich 1512 Inter- venierende Künste. Seit 1989 arbeitet sie als Performerin und Komponistin im von Dieter Schnebel ge- gründeten Ensemble für zeitgenössische und experimentelle Musik die maulwerker. Kilian Sprau studierte Schulmusik, Musiktheorie, Klavier und Gehörbildung an der Hochschule für Musik und Theater München sowie am Mozarteum Salzburg. 2016 wurde er mit einer Dissertation zur zykli- schen Liedkomposition um 1850 promoviert. Seit 2019 ist er Professor für Musiktheorie an der Universi- tät der Künste Berlin. Im Zentrum seines Forschungsinteresses stehen Wechselwirkungen zwischen Mu- sik und Sprache; sein vorrangiges Engagement gilt dem Kunstlied des 19. bis 21. Jahrhunderts, dem er sich als konzertierender Liedbegleiter auch praktisch widmet. 2018–2022 realisierte und leitete er ein DFG-gefördertes Forschungsprojekt zum Portamentogebrauch im spätromantischen Kunstliedgesang. Als Associate Scientist war er 2017–2020 dem FWF-Projekt Performing, Experiencing and Theorizing Aug- mented Listening (PETAL) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz verbunden. Von 2013 bis 2019 war er Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie.
Katja Steinhäuser ist Pianistin, Musiktheoretikerin und Musikpädagogin. Sie studierte an der Universität der Künste Berlin Klavier bei Frau Prof. Linde Großmann und Musiktheorie bei Herrn Prof. Hartmut Fladt. Sie ist Gastprofessorin für Musiktheorie, Analyse und Gehörbildung an der UdK Berlin und hat auch Lehr- positionen an der Universität Potsdam (2010–2011) und der Musikschule Berlin-Neukölln (seit 2011) übernommen. Neben ihrer Lehrtätigkeit tritt Katja Steinhäuser als Pianistin mehrerer international agie- render kammermusikalischer Formationen in Erscheinung. Berthold Tuercke studierte Komposition in den USA bei den Schoenberg-Schülern Rudolf Kolisch, Felix Greissle und Leonard Stein. Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin bei Hartmuth Fladt. Dort derzeit Professor für Musiktheorie. Lehrtätigkeiten auch an der University of Southern California (Los Angeles), der Freien Universität Berlin, am Bauhaus Dessau und an der Escola de Música e Belas Artes in Curitiba (Brasilien). Publikationen u. a. in den Musik-Konzepten und in Musik und Ästhetik. Vielfältiges musikalisches Œuvre. Aufführungen mit UnitedBerlin, dem Kronos Quartett, ensemble recherche, Mo- dern Art Ensemble und unter den Dirigenten Peter Gülke und Vladimir Jurowski. Lilia Ushakova studierte Musikwissenschaft am Staatlichen Rimski-Korsakow-Konservatorium Sankt- Petersburg (1993–1998) und an der TU Berlin (2001–2008), Musiktheorie an der UdK Berlin bei Prof. Hartmut Fladt (2001–2005) sowie Deutsch als Fremdsprache an der TU Berlin (2001–2008). Sie ist seit 2020 Gastprofessorin für Musiktheorie und Gehörbildung an der UdK Berlin, wo sie seit 2007 unterrich- tet. Weitere Lehrtätigkeiten führten sie an die HU Berlin (2006–2010), die HfM Franz Liszt Weimar (2008–2010) und die Musikschule Paul Hindemith Neukölln (2008–2020). Sie entwickelte den Kurs »Musikalische Fachsprache für ausländische Studierende« an der UdK Berlin. Emmanouil Vlitakis (1967) studierte in Athen, Berlin und Paris Komposition, Musiktheorie, Instrumenta- tion und promovierte in Musikwissenschaft mit einer Arbeit über Klang in Orchesterwerken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufführungen und Kompositionsaufträge verbinden ihn u. a. mit Thessaloniki State Symphony Orchestra, Ensemble Modern und Ensemble Mosaik. Sein Werk wird durch strukturelles Denken gekennzeichnet, das zudem durch die Spezifik des klanglichen Moments bedingt ist. Sprache, Literatur und Philosophie bilden dabei einen oft generativen Aspekt seines Komponierens. In seinen Schriften befasst sich Vlitakis mit dem Verhältnis von Klang/Instrumentation und Form, Musik- theorie und Komposition als auch mit Fragen interkulturellen Komponierens. Seine langjährige Unter- richtstätigkeit an deutschen Musikhochschulen und im Ausland (CNSMD Paris, Staatskonservatorium in Tiflis/Georgien) wurde 2017–2019 durch eine Gastprofessur für Komposition fortgesetzt, bevor er im Februar 2020 zum Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin berufen wurde. Ferdinand Kiesner nahm, nach Abitur und Baccalauréat, im Jahr 2017 das Studium der Fächer Musik und Mathematik für Lehramt an Gymnasien und Integrierten Sekundarschulen auf (Universität der Künste bzw. Freie Universität Berlin). 2021 legte er hierin mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit bei Prof. Dr. A. Jeßulat und Prof. Dr. H. Fladt den Abschluss Bachelor of Arts ab und führt das Studium seitdem als Masterstudent weiter. Sein Fokus im Studium liegt auf seinem Hauptinstrument Klavier, in dem er als langjähriger Schüler von Prof. D. Wagner-Dix und Bundespreisträger bei Jugend Musiziert von Prof. Dr. T. Menrath unterrichtet wird. Er ist studentische Hilfskraft im Fachbereich Musiktheorie. Gabriel Pech absolvierte den Bachelor of Arts in Musikwissenschaft mit dem Zweitfach Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Abschlussarbeit schrieb er über die Zwölftontechnik Hanns Eislers. Seit 2019 studiert er Musik und Deutsch für Lehramt an Gymnasien und Integrierten Sekundar- schulen, u. a. an der Universität der Künste Berlin. Seit 2020 ist er als studentische Hilfskraft im Fachbe- reich Musiktheorie tätig.
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