Kombinatorik und Spiel Wege musikalischen Denkens - Festschrift für Stefan Prey - Opus4

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Kombinatorik und Spiel Wege musikalischen Denkens - Festschrift für Stefan Prey - Opus4
Thomas Fesefeldt – Andreas Ickstadt – Ariane Jeßulat – Kilian Sprau – Katja Steinhäuser –
                Berthold Tuercke – Lilia Ushakova – Emmanouil Vlitakis (Hg.)

                                     unter Mitarbeit von
                              Ferdinand Kiesner und Gabriel Pech

                  Kombinatorik und Spiel
                Wege musikalischen Denkens

                                Festschrift für Stefan Prey

                                             2022

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                           mit anderen Nachweisen sind ausgenommen.
Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Clemens Kühn
Zahlenspiele. Geburtstagsgabe für Stefan Prey

Hartmut Fladt
Aspekte von Natur und Naturbeherrschung in der Musik des 18. Jahrhunderts

Gesine Schröder
Der Zug des Feuervogels in den Westen. Präliminarien zu Interpretations-Studien über einen
Orchesterhit

Berthold Tuercke
für Stefan Prey

Volker Lenz
Einige Erinnerungen an den Unterricht bei Stefan Prey

Ulrich Kaiser
Wahnsinn!

Reinhard Schäfertöns
Zwischen Kunst, Wissenschaft und Pädagogik. Positionen musiktheoretischer Fächer im hochschulischen
Kontext

Michael Polth
Tonfelder in zwölftönigen und zwölftontechnischen Kontexten

Andreas Waczkat
Magister Ludi Viennensis. Zu Josef Matthias Hauers Zwölftonspielen

Tobias Faßhauer
Ragtime für die Polka. Musikalische Amerika-Signaturen in Puccinis La fanciulla del West

Martin Supper
Stefan Prey 2022
Kombinatorik und Spiel

Ullrich Scheideler
Das Labyrinth auf dem Weg zum Schluss. Beobachtungen zur Genese der Schlussgruppe des 1. Satzes
von Ludwig van Beethovens Eroica-Symphonie im Kontext der Skizzen

Ariane Jeßulat
Kanon und Echo. Zu den kontrapunktischen Dispositionen der Fuge in f-Moll BWV 857

Albert Richenhagen
Das antike Tonsystem in der kurzen Gesamtdarstellung des Nikomachos von Gerasa

Manfred Hüneke
Lullaby of Birdland (George Shearing)

Andreas Ickstadt, Christiane Imort-Viertel und Robert Lang
Wie Musiktheorie in der Schule unterrichtet wird. Eine empirische Studie in Berlin und Baden-
Württemberg

Antonie Budde
Algorithmus in G

Wolfgang Dinglinger
» […] für den ausübenden Künstler genüge der Generalbaß.« Ein Reformversuch im Fach Musiktheorie
an der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin

Martin Ullrich
Musiktheorien im Anthropozän. Zwei Vorschläge für eine mehr-als-menschliche Musiktheorie

Elke Reichel
Polyphonie als Mittel der dramatischen Kunst bei Wolfgang Amadeus Mozart. Zu kanonischen Satztech-
niken in den Bühnenwerken der Wiener Schaffensperiode

Florian Edler
Die Eröffnung mit dem kleinen Mollseptakkord oder
Das ›Tea for two‹-Modell

Andreas Brenner
Drei Violinen (2021). Für Stefan Prey

Laura Krämer
Von überall nach überall. Daubes Modulationstabelle und die Redundanz in der Improvisationspädagogik
Kombinatorik und Spiel

Hans Aerts
Contrapunti in frotta. Gruppenimprovisation nach Quellen des frühen 17. Jahrhunderts

Lilia Ushakova
Linie und Klang. Wechselwirkungen von kontrapunktischen und harmonischen Prinzipien in Sadko von
Rimski-Korsakow

Qiming Yuan
Stockend-Rasende Zeit. Wahrnehmung und Interpretation von Beethovens späten Streichquartetten

Emmanouil Vlitakis
Verknüpfung und Korrespondenz. Aspekte formalen Denkens und dramaturgischer Gestaltung in Elliott
Carters 2. Streichquartett

David Santos
London aus Songs and Proverbs of William Blake op. 74 von Benjamin Britten. Ein modernes Lied – in der
Tradition verwurzelt

David Santos
Fuge in d-Moll

Wendelin Bitzan
Vom Lied zur Ballade. Zur intertextuellen Beziehung zwischen vokaler und pianistischer Faktur bei Amy
Beach

Katja Steinhäuser
Unfassbar schön. Musikalische Ästhetik im Tonsatzunterricht

Joachim Stange-Elbe
Calm and Light Rays. Eine algorithmische Komposition aus dem Zyklus »Removing and Replacement«

Hartmuth Kinzler
Vom Anfang des Anfangs des Alten Testaments. Bemerkungen zu BWV 846 bzw. 846a

Lidia Kalendareva
Adagio – The Tree Of Life

Veronika Ágnes Fáncsik
Aurora borealis
Kombinatorik und Spiel

Felix Mahr
Reizvolle Regelbrüche. Eine Auseinandersetzung mit dem zweitaktigen Soggetto des Ritornells aus Bachs
Choralkantate Wachet auf, ruft uns die Stimme

Burkhard Meischein
Goethes musiktheoretische Interessen und die Frage nach dem Kontext musiktheoretischer Gegen-
stände

Shengying Luo
Agnus Dei Qui Tollis Peccata Mundi. Xavier Durand – aus dem Unterricht von Shengying Luo

Philipp Sobecki
›Metrikspiele‹ in Haydns Symphonie-Menuetten

Anne Schinz
Auguste Panseron – L’art de moduler au violon

Anhang: Biografien der Herausgeberinnen und Herausgeber
Vorwort

Diese Festschrift zu Ehren von Stefan Prey, erschienen anlässlich seiner Verabschiedung aus dem akti-
ven Hochschulleben an der Universität der Künste Berlin, bezieht sich auf sein doppeltes Wirken als
Hochschullehrer und Forscher. In beiden Bereichen mutet dieses Wirken ›legendär‹ an – auch wenn
Legendenbildung im Hinblick auf die Persönlichkeit des Geehrten vollkommen unangemessen zu sein
scheint. Doch sind es nicht zuletzt seine Bescheidenheit und Uneitelkeit, die angesichts solchen Kön-
nens zu superlativischen Beschreibungen verleiten.

Als Hochschullehrer prägte Prey Generationen von Musiktheoretikerinnen und -theoretikern entschei-
dend. Eine spezifische Mischung aus hohem Anspruch und Freundlichkeit, enorme Repertoirekenntnis,
überragende fachliche Kompetenz, methodische Offenheit, nicht zuletzt eine außergewöhnliche Hin-
gabe an die Aufgaben der Hochschullehre, keine Zeit und Mühe scheuend, auf die individuellen Be-
dürfnisse der Studierenden aktiv und fördernd einzugehen, waren Markenzeichen von Preys Lehre und
vermittelten auch ein bestimmtes Ethos von Musiktheorie. Als Forscher setzte Prey v. a. mit seiner
Dissertation Algorithmen zur Satztechnik und ihre Anwendung auf die Analyse Maßstäbe. Die metho-
disch-systematische Stringenz und die Materialfülle dieser Arbeit wirken einmalig.

Auf die Einladung des Hg.-Teams hin, Beiträge zur Festschrift für Stefan Prey zu leisten, ist ein ›bunter
Strauß‹ an wissenschaftlichen Texten, Kompositionen, satztechnischen Arbeiten und Gruß- bzw. Glück-
wunsch-Schreiben entstanden. Allenthalben waren in der daran geknüpften Kommunikation der große
Respekt, die Dankbarkeit und die menschliche Zuneigung zu spüren, die Stefan Prey innerhalb der mu-
siktheoretischen Fachcommunity genießt. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Beteiligten für die
so engagierte Mitwirkung!

Die historische Spannweite der behandelten Themen ist beträchtlich, angefangen bei antiker Musik-
theorie (Nikomachos-Traktat/A. Richenhagen) bis hin zu Ausblicken auf posthumanistische Entwick-
lungen der Musiktheorie (M. Ullrich). Erwartungsgemäß befassen sich einige Beiträge mit Kontrapunk-
tik und Kombinatorik (A. Jeßulat, E. Reichel, L. Ushakova, H. Kinzler), auch mit Bezug auf Hochschul-
lehre und Unterrichtspraxis generell (H. Aerts). Verschiedene Teilbereiche der Musiktheorie werden
weiterhin thematisiert: Modulationslehre (L. Krämer, A. Schinz), Harmonik und Satzlehre (F. Edler, F.
Mahr), Metrik (P. Sobecki), Unterrichtsmethodik (K. Steinhäuser), Zwölftontheorie und -analyse
(M. Polth, A. Waczkat), werkanalytische Betrachtungen mit unterschiedlicher Perspektivierung
(W. Bitzan, Q. Yuan, D. Santos, U. Scheideler, E. Vlitakis), Interpretationsstudien (G. Schröder), Ge-
schichte, Wandlungen und Perspektiven des Faches Musiktheorie in Schule und Hochschule (W. Ding-
linger, A. Ickstadt/C. Imort-Viertel/R. Lang, R. Schäfertöns), interkulturelle Verbindungen (T. Faß-
hauer), Musik(theorie) im wissenschaftlichen Kontext (H. Fladt, B. Meischein). Der kreative Prozess des
Komponierens ist hier durch verschiedene Kompositionen vertreten (A. Brenner, A. Budde, V. A.
Fáncsik, L. Kalendareva, J. Stange-Elbe, B. Tuercke); ebenso sind Arbeiten aus der musiktheoretischen
Werkstatt zu finden (M. Hüneke, D. Santos, S. Luo/X. Durand). Schließlich ist in einer solchen Fest-
schrift auch der persönliche Bezug zum Widmungsträger zu suchen: Geburtstagsgabe und Grußworte,
Texte zwischen Poesie und Wissenschaft, lassen einiges über Person und Lehre Stefan Preys erfahren
(C. Kühn, U. Kaiser, V. Lenz, M. Supper).
Kombinatorik und Spiel

Zu danken ist weiterhin den Mitarbeiterinnen der Universitätsbibliothek, namentlich Anne-Christin
Martinsohn und Friederike Kramer, die unser Vorhaben mit Rat und Tat begleitet haben und ohne
deren Hilfe das Projekt dieser Online-Publikation nicht realisierbar gewesen wäre, ferner auch den
studentischen Mitarbeitenden Ferdinand Kiesner und Gabriel Pech für Korrektorat und Layoutgestal-
tung der Texte.

Nun gratulieren wir dem Widmungsträger nachträglich zum 65. Geburtstag und wünschen ihm ein er-
fülltes post-universitäres Leben!

In Dankbarkeit
die Herausgeberinnen und Herausgeber
(auch im Namen des Musiktheoriekollegiums der UdK Berlin)
Contrapunti in frotta
Gruppenimprovisation nach Quellen des frühen 17. Jahrhunderts

Hans Aerts

                                                                                          Aber jenen Kontrapunkt,
                                                                                        den wir mental verfertigen,
                                                                                                   nennen wir den
                                                                                         eigentlichen Kontrapunkt,
                                                                                       und von denen, die dies tun,
                                                                                             sagt man gewöhnlich,
                                                                               dass sie »über dem Buche singen«.1

                                                              (Johannes Tinctoris, Liber de arte contrapuncti, 1477)

Übungen im improvisierten Kontrapunkt finden an verschiedenen deutschen Musikhochschulen seit nun
fast zehn Jahren verstärkt statt. Gut dokumentiert sind z. B. Ergebnisse von Kursen, die Dres Schiltknecht
an der Mannheimer Musikhochschule betreut hat.2 Almut Gatz berichtet von Lehrveranstaltungen an der
Universität der Künste Berlin (gemeinsam mit Ariane Jeßulat) und an der Hochschule für Musik Würzburg.3
Moritz Heffter, Florian Vogt und ich haben seit 2012 an der Freiburger Musikhochschule Seminare und
Workshops zum contrapunto alla mente angeboten. Wichtige Impulse hierzu haben die International
Orpheus Academy for Music & Theory im April 2009 in Gent4 sowie die Auftritte des Ensembles Le Chant
sur le livre unter der Leitung von Jean-Yves Haymoz (Genf, Lyon) beim 9. Kongress der Gesellschaft für
Musiktheorie in Mainz im Oktober desselben Jahres gegeben. Barnabé Janin, Mitglied im Ensemble Le
Chant sur le livre, veröffentlichte 2012 ein Handbuch zum Thema.5 Einige der dort besprochenen Techni-
ken werden auch auf Janins YouTube-Kanal Chanter sur le livre à la Renaissance auf höchst ansprechende
Weise vorgestellt.6 Die älteste Expertise in diesem Bereich innerhalb der deutschsprachigen Hochschul-
landschaft dürfte an der Schola Cantorum Basiliensis existieren, wo Markus Jans und Dominique Muller
bereits in den 1980er Jahren praktische Übungen zu Satzmodellen des improvisierten Kontrapunkts durch-
führten.7 Das Projekt Singing upon the (Note-)book von David Mesquita und Florian Vogt dient der Ver-
mittlung des dort gewonnenen Wissens.8

Geübt werden vor allem Gymels (also Zwiegesänge, die vorwiegend aus parallelgeführten unvollkomme-
nen Konsonanzen zum Cantus firmus oder Cantus figuratus bestehen), darauf aufbauende Spielarten des
Fauxbourdon (inkl. des 3–5-Satzes, bei dem der Contratenor bassus zwischen Unterterzen und Unterquin-
ten zur Unterstimme eines Sexten-Gymels oder zur Oberstimme eines Terzen-Gymels alterniert) und so-

1
    Alle Übersetzungen in diesem Beitrag sind vom Verf.
2
    https://www.eartraining-online.de/node/32 (22.03.2022).
3
    Gatz 2021.
4
    Siehe Söllner 2011.
5
    Janin 2012.
6
    https://www.youtube.com/channel/UCN0kunrbxBCTUK_vDQEKFPw (22.03.2022).
7
    Siehe Jans 1986, 101.
8
    https://www.contrapunto.ch (22.03.2022).
Kombinatorik und Spiel

genannte Strettakanons, bei denen die Folgestimmen nach einer Zählzeit einsetzen.9 Im Folgenden
möchte ich näher eingehen auf eine Art des contrapunto alla mente, die in Janins Buch nur gestreift wird10
und auch sonst in der heutigen Kontrapunktdidaktik meines Wissens keine größere Rolle spielt. Mir er-
scheint sie jedoch attraktiv, da sie zum einen laut mehreren Quellen in der kirchenmusikalischen Praxis in
Italien im frühen 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hat, und weil sie sich zum anderen gut als
Einstieg in den improvisierten Kontrapunkt eignet, im Rahmen des Hochschulunterrichts, aber auch im
vor- und außerhochschulischen Bereich.

Was täglich in den Kapellen zu hören ist
Lodovico Zacconi (1555–1627) war ein Augustinermönch aus Pesaro, der nach Ausbildungsstationen in
Venedig (u. a. bei Andrea Gabrieli), Pavia und Mantua als Sänger an den Hofkapellen in Graz, Wien (unter
der Leitung von Philippe de Monte) und München (unter der Leitung von Orlande de Lassus) tätig war. Im
zweiten Teil seiner Prattica di musica (1622), einer der informativsten, aber noch wenig studierten Quellen
zur musikalischen Handwerkslehre im frühen 17. Jahrhundert, unterteilt er den Kontrapunkt zunächst in
drei Kategorien:

      Wie ich bereits an anderer Stelle gesagt habe, trägt die Unterscheidung und gute Einteilung der Dinge immer zur Ver-
      ständlichkeit und Klarheit bei. Deshalb wird es gut sein, wenn ich, da ich über Kontrapunkte nachzudenken habe, nun eine
      Unterscheidung vornehme und sage, dass es allgemein gesprochen drei Arten von Kontrapunkten gibt. Einige sind zu ei-
      nem Cantus firmus nach dem Gutdünken des Komponisten gemacht worden, wie es Morales in seinem berühmten Mag-
      nificat tat […]. Andere werden von einem oder mehreren Sängern im Kopf [alla mente] gemacht. Von diesen nun, die alla
      mente gemacht werden, sage ich, um sie in Gattungen zu unterteilen, dass sie auf zweierlei Art gemacht werden: zum
      einen in der Schar [in frotta] bzw. Gruppe, was täglich in den erwähnten Kapellen zu hören ist, und zum anderen ein- oder
      mehrstimmig mit Imitationen [seguiti] und Verpflichtungen– wie wenn ein guter Musiker, um seinen Wert zu zeigen, sich
      darauf festlegt, [beim Singen] über einem Cantus firmus nicht nur viele Verpflichtungen einzuhalten, sondern auch andere
      beauftragt, ihn zu imitieren, im Einklang, der Sekunde, Terz, Quarte usw., wie es ihm beliebt. 11

Kurz darauf stellt Zacconi dieser Dreiteilung eine Vierteilung an die Seite, indem er im Hinblick auf die
Zweistimmigkeit zwischen Note-gegen-Note-Sätzen (»contrapunti à nota contra nota«) und diminuierten
Kontrapunkten (»movimenti minuti e spessi«) unterscheidet, und mehrstimmige Sätze danach kategori-
siert, ob sie das Ergebnis von Entscheidungen einer Person oder aber aller beteiligten Sänger sind:

      Die beiden anderen Kontrapunktarten, die mehrstimmig gemacht werden, werden entweder nach dem gemeinsamen
      Gutdünken der Beteiligten oder nach dem Willen eines Einzelnen ausgeführt, der die Aufgabe übernimmt, mehrere Stim-
      men nach seinem Willen singen zu lassen. Jene Kontrapunkte, die nach gemeinsamem Gutdünken gemacht werden, sind

9
 Zum Begriff »Strettakanon«, siehe Ott 2014, 2. Zur Herkunft der englischsprachigen Begriffe »stretto canon« und
»stretto fuga«, siehe Milsom 2012, 218.
10
     Janin 2012, 78–80.
11
   Zacconi 1622, 60: »La distintione delle cose, e la buona divisione, apportando sempre maggior intelligenza, e
chiarezza, come hò detto altrove, sarà bene, che dovendo io ragionare de contrapunti, me ne venghi alla presente
distintione, dicendo. Che tre sorte de contraponti si trovano generalmente. Alcuni sono fatti sopra un soggetto di
canto fermo à beneplacito del compositore, come fece Morales ne i suoi cotanto celebri Magnificat […]. Alcuni altri
poi sono fatti alla mente da uno, ò più cantori. Questi dunque, che si fanno alla mente, dovendoli dividere quanto
alla generica divisione, dico; che si fanno in due maniere; una in frotta e compagnia, ch’è apunto quello, che
quotidianamente si sente fare in queste segnalate capelle e quelle; e l’altra in una, ò più voci, con seguiti, &
obligationi; come quando un buon Musico per mostrar il suo valore, sopra un canto fermo s’obliga, non solo à farvi
molte obligationi, ma anco commette ad altri, che nelle medeme cose l’habbino à seguitare, quando all’Unisono, e
quando alla Seconda, alla Terza, alla Quarta, e via di mano in mano, secondo che pare à lui.«

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Kombinatorik und Spiel

      die, die in den Kapellen gemacht werden, wobei der Bass den Cantus firmus singt und jeder Sänger in seiner Stimmlage
      wohlgeordnet und in bester Anordnung darüber singt. Bei denen, die nach dem Willen eines Einzelnen gemacht werden,
      singt wie gesagt ein Einzelner über einem Cantus firmus und lässt sich gemäß der Verpflichtung, die er freiwillig eingegan-
      gen ist oder übernommen hat, von einer oder mehreren Stimmen folgen.12

Neben der Improvisation von Kanons zu einem Cantus firmus, wobei nur diejenige Person, welche die
guida improvisiert, Regie führt, beschreibt Zacconi also eine Praxis der Gruppenimprovisation, die in sei-
nem Umfeld offenbar sehr üblich war. Der Cantus firmus erklingt hierbei im Bass.13 Und gegenüber freien
Kontrapunkten gelte hier als einzige einschränkende Regel, dass nur »per accidente« Sexten über dem
Cantus firmus gesungen werden können, damit Reibungen mit Quinten, die im selben Moment von ande-
ren Sängern gesungen werden könnten, vermieden werden:

      Das mehrstimmige Kontrapunktieren alla mente war eine sehr schöne Erfindung. Denn die großen Kapellen schmücken
      hiermit ihre Kirchen mit größter Zierde, bereiten nicht nur ihren Zuhörern viel Freude und beglücken sie mit ihren süßen
      und zarten Melodien, sondern stellen so auch jene Engelsstimmen dar, die im Himmel unentwegt das Lob des Herrn singen
      und dabei unerklärliche Wohlklänge und Harmonien bilden. Und weil diese Kontrapunkte nach dem gemeinsamen Gut-
      dünken der Sänger, die über [dem Cantus firmus] singen, gemacht werden, will ich hier für diejenigen, die sich darüber
      wundern, und für Schüler, die immer noch wissen wollen, wie sie gemacht werden, kurz diese wenigen Worte sagen. Diese
      Kontrapunkte unterscheiden sich in keiner Weise von den besprochenen, außer dass man hier bloß zufällig [se non per
      accidente] in der Sexte [zum Cantus firmus] geht. Und wenn man in der kleinen Sexte [zum Cantus firmus] geht, stellt man
      sie nie an den Anfang des Taktes, damit man keine Sekunde macht zu den Mitsängern [compagni], die die Quinte singen.
      Die Quarte und Dissonanzen werden ebenfalls verwendet, aber jeweils, wie ich gesagt habe, an zweiter Stelle und auf der
      zweiten Position des Taktes.14

Ein Beispiel dafür, was Zacconi bei diesen Beschreibungen im Ohr hatte, enthält sein Buch leider nicht. Auf
den folgenden 200 Seiten bespricht er stattdessen eine Vielzahl von Kontrapunkten »con obligationi«: ver-
schiedene Arten von Kanons sowie Kontrapunkte mit beibehaltenen Motiven oder rhythmischen Patterns
also, aber auch bizarrere ›Verpflichtungen‹ wie die, einen Kontrapunkt so zu improvisieren, dass be-
stimmte Solmisationssilben (z. B. fa) nicht darin vorkommen.15 Ein Beispiel eines »contrapunto sciolto per

12
   Ebd., 68: »Gl’altri due poi (parlando de contrapunti) che si fanno à piu voci; ò si fanno à commun beneplacito di
quelli che ve gl’hanno à fare ò secondo il voler d’un solo, che si piglia assonto di far cantar piu parte secondo il suo
volere. I fatti a commun beneplacito, sono quelli, che si fanno nelle capelle, che cantando il Baßo [sic] il Canto fermo,
ciascun cantore vi canta sopra secondo la sua parte con debbit’ordine, e miglior dispositione. I fatti poi secondo il
voler di un solo, sono quelli, che un solo come hò detto sopra un canto fermo cantando, si fa seguitare una ò più parti
secondo la sua volontaria, overo aßonta [sic] obligatione.«
13
    Siehe auch ebd., 59: »Quindi è, che nelle Chiese sempre che si fa contrapunto, il Basso è quello, che porta, e canta
il sudetto canto fermo; […].« (»Daher trägt und singt in den Kirchen stets, wenn dort Kontrapunkt gemacht wird, der
Bass den Cantus firmus; […].«)
14
  Ebd., 73: »Bellissimo veramente fù il ritrovato di far il Contrapunto à più voci alla mente; perche, le Capelle grande
facendone con esso grandissimo ornamento alle loro Chiese, non solo rendano grandissimo diletto à gl’udienti, e li
tengano contenti in quelle loro soavissimo e delicatissime melodie, ma anco vengano à rapresentar quelle voci
Angeliche, che cantando del continuo le laudi al Signore, fanno in cielo inesplicabili concenti & armonie. E perche
detti contrapunti vengano fatti à commun beneplacito de’ Cantori che vi cantano sopra, per quelli che se ne
maravigliano [sic], e per quei Scolari che bramano ancor loro di saperli fare, quì brevemente dirò queste poche parole.
Che detti Contrapunti non sono in altro differenti da gl’osservati, che in loro, se non per accidente si camina con la
Sesta. E caminandovi con la Sesta minore, non si pone mai nel principio del tatto, per non far Seconda con i compagni
che vi fanno la Quinta. Vi si fanno anco le Quarte e le cattive, che sono le dissonanti, ma tutte come hò detto in
secondo luogo, e nella seconda positione del tatto.«
15
     Ebd., 94 f.

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Kombinatorik und Spiel

cantare in compagnia« findet sich jedoch in den etwa zehn Jahre16 älteren Regole di musica von Rocco
Rodio (1530 – vor 1609), der aus Bari stammte und in Neapel u. a. in Carlo Gesualdos Umfeld tätig war.
Rodios Regel für diese Art von Kontrapunkten ist etwas einschränkender als die von Zacconi, indem er den
Gebrauch von Sexten insgesamt und auch den von Synkopendissonanzen ausschließt. Sein Beispiel zeigt
jedoch, dass Sexten selbstverständlich als Durchgangsnoten verwendet werden können, was hier zur Di-
minution der Fortschreitung 5–8 über Abwärtsschritten des Cantus firmus geschieht (siehe Bsp. 1, T. 5, 6,
10, 11, 12, 17). Zudem ist das Ende des Beispiels als tenorisierende Kadenz mit Synkopendissonanz gestal-
tet.

Beispiel 1: Rocco Rodio, Regole di musica, 91

Eine weitere Quelle aus dieser Zeit, die auf eine solche Praxis verweist, ist die Cartella musicale (1614) von
Adriano Banchieri (1568–1634). Merkwürdigerweise formuliert dieser dort allerdings keine Regeln zur Im-
provisation, sondern eine Reihe von Anweisungen zum schriftlichen Anfertigen von Sätzen, die contrapunti
alla mente nachahmen und etwas von ihrer besonderen Wirkung vermitteln sollen. Sätze wie die Introitus
von Costanzo Porta und Giovanni Matteo Asola oder die Vesper-Antifonen von Girolamo Diruta und Gi-
rolamo Lambardo seien, so Banchieri, hervorragende Beispiele für Kontrapunkte über einem Cantus fir-
mus. Als »Contrapunti Osservati« würden sie den Zuhörern jedoch nicht das gleiche Erlebnis verschaffen
wie die contrapunti alla mente, die es in guten Kapellen und besonders in Rom zu hören gebe:17

16
     Die Erstveröffentlichung dieses Traktats erfolgte allerdings bereits um 1600, siehe Fabris 2016.
17
  Banchieri 1614, 230: »Non hò dubbio alcuno, che gli Contrapunti sopra il Canto Fermo ne gl’Introiti di Costanzo
Parta, & Gio. Matteo Asola, similmente sopra le Antifone Vespertine d’amenduei Girolami, Diruta & Lambardo, si
come di presente quelli di diversi Musici d’Italia composti a richiesta di Lodovico Viadana, non sieno degni di molta
lode; Tutta via essendo questi composti con le buone, & osservate regole musicali, di devono nominare Contrapunto
Osservati, & non alla mente, i quali non fanno quel sentire all’udito de gl’ascoltanti, che in quelle Capelle dove sono
buoni Musici & Cantori si sente; […].«

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Kombinatorik und Spiel

      Wenn in Rom in der Capella di Nostro Signore18 [,] im S. Casa di Loreto und in zahllosen anderen Kapellen der Kontrapunkt
      alla mente über dem Bass gesungen wird, weiß keiner, was der Mitsänger singen muss, doch alle bringen gemäß bestimm-
      ter Grundsätze, die sie untereinander verabredet haben, etwas äußerst Geschmackvolles zu Gehör. Und dies ist eine all-
      gemeine Maxime: Singt (sozusagen) hundert verschiedene Stimmen passend [consonantemente] zum Bass, und alle pas-
      sen zusammen, und jene falschen Quint- und Oktavfolgen, stravaganze und Zusammenstöße sind allesamt Feinheiten, die
      den wahren Effekt des contrapunto alla mente bewirken.19

Laut den zehn »Osservazioni«, die Banchieri diesen einführenden Worten folgen lässt,20 solle zur Nachah-
mung eines Contrapunto alla mente zuerst der Cantus firmus als Bassstimme und in Semibreven auf der
cartella notiert werden. Darüber solle dann eine Sopranstimme aufgeschrieben werden, die vor allem ab-
wärts gerichtete melodische Figuren aus Minimen, Semiminimen und crome (sowie Pausen) enthält, ge-
folgt von einer Tenorstimme, die aus aufwärts gerichteten Figuren mit eben solchen Notenwerten besteht.
Die Altstimme solle vor allem aus synkopierten Semibreven im Terz- oder Quintabstand zum Cantus firmus
sowie aus springenden Minimen bestehen. Ein eventueller weiterer Sopran solle in entgegensetzte Rich-
tung zum ersten verlaufen, ebenso eine weitere Tenor- und Altstimme. Auch Parallelführungen in Terzen
und Quarten empfiehlt Banchieri an dieser Stelle; gut sei es vor allem, eine Sopranstimme in Dezimparal-
lelen zum Bass zu führen. Zu vermeiden seien scharfe Dissonanzen (»durezze aspre«) sowie generell
Synkopendissonanzen (»leggature« [sic]), Sexten und Kadenzen. Geendet werden solle mit einem vollstän-
digen Dreiklang mit einer Dauer von zwei Breven. Bei der Aufführung empfiehlt Banchieri schließlich, je
nach Größe des Ensembles, für den Cantus firmus mehrere Bässe, aber auch Posaunen oder Streichbässe
(»Violoni«) hinzuzuziehen. Darüber hinaus sollte auch an der Orgel über dem Cantus firmus (als General-
bassstimme) gespielt werden.

Didaktische und methodische Überlegungen
Nicht nur für den hochschulischen Theorie- und Gehörbildungsunterricht, sondern auch für den Musikun-
terricht an Schulen und die Arbeit mit Chören bergen Übungen im improvisierten Kontrapunkt ein sehr
großes Potenzial.21 Bereits einfache Zwillingsgesänge (auch das Singen in parallelen Quinten sollte nicht
vergessen werden) lenken den Fokus auf die jeweilige Qualität von Zweiklängen, üben den schnellen
›Blick‹ für (Simultan-)Intervalle und lassen das Singen von etwas, das so nicht notiert ist, zur Selbstver-
ständlichkeit werden. Hiermit sind entscheidende Weichen für ein tieferes Verständnis vortonaler und to-
naler Mehrstimmigkeit gestellt. Chorsänger*innen wird so u. a. ermöglicht, das Verhältnis der eigenen
Stimme zu den anderen Stimmen zu reflektieren (z. B.: »Ich singe hier in Sexten zum Sopran« oder: »Mein
Ton macht hier den Ton der Altstimme zu einer Dissonanz.«). Übungen im Generalbass können sich von
einem mühsamen ›(Noten-)Malen nach Zahlen‹ entfernen. Die Abstraktionen herkömmlicher Harmonie-
lehren (Grundtöne, Funktionen) können als solche erkannt und diskutiert werden.

18
  In Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts verweist diese Formulierung häufig auf die Cappella Sistina, d. h. auf die
päpstliche Kapelle; siehe Hammond 1983, 32.
19
   Ebd.: »In Roma nella Capella [sic] di N. S.[,] Nella S. Casa di Loreto & altre infinite Capelle, mentre cantano il
Contrapunto, alla mente sopra il Basse, niuno sa quello che cantar deve il compagno, ma tutti, con certe osservationi
tra di loro conferite rendono un udito gustosissimo, & è questa una Massima generale, cantino pure cento variate
voci (per cosi dire) consonantemente sopra il Basso tutte accordano, & quelle cattive Quinte Ottave, stravaganze &
urtoni sono tutte gratie che rendono il vero effetto del Contrapunto alla mente; […].«
20
     Ebd., 231. Auf eine wörtliche Wiedergabe dieser Anweisungen muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.
21
     Siehe dazu auch Gatz 2021.

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Kombinatorik und Spiel

Allerdings erweist sich der Schritt weg von einfachen Zwillingsgesängen, hin zur Improvisation eigenstän-
diger Kontrapunkte, nicht nur für Laien oftmals als eine nicht unerhebliche Hürde.22 Soll eine Gruppenim-
provisation nach den Vorgaben Zacconis und Rodios gelingen, können Zwischenschritte deshalb ratsam
sein. Ein solcher Zwischenschritt kann darin bestehen, dass jede Stimmgruppe zunächst zwischen zwei
Intervallen zum Cantus firmus alterniert – ich nenne diese Übung gern ›Nimm 2‹:23

     -   Sopran: singt 10 zum Cantus firmus, diminuiert mit 12 – ›liest‹ also 3, diminuiert mit 5
     -   Alt: singt abwechselnd 8 und 5 –›liest‹ also 1 und Unter-4
     -   Tenor: singt abwechselnd 5 und 3

Bei einem h im Cantus firmus (bzw. bei vorgezeichnetem b ein e) wird die (dann verminderte) Quinte ver-
mieden (indem der Sopran dort bei der 10 bleibt) bzw. (von den Tenören) durch eine Sexte ersetzt. Für
den Anfang empfehlen sich Cantus firmi ohne diese Töne (wie im Bsp. 2). Kurze Cantus firmi haben den
Vorteil, dass die Übungen regelmäßig als kleines Intermezzo inmitten von Chorproben bzw. Unterrichts-
stunden oder im Rahmen des Einsingens erfolgen und ohne Unterbrechung mehrmals wiederholt werden
können. Dies ermöglicht Korrekturen und das Ausprobieren von Alternativen, ohne dass der Musizierfluss
gestoppt wird.

Beispiel 2: Beispiel eines Cantus firmus, nach dem Halleluja Dies sanctificatus24

Damit diese ›Nimm 2‹-Übung stilistisch überzeugender klingt, sind allerdings vor allem Sekundbewegun-
gen nötig, die die jeweiligen Sprünge ausfüllen. Zudem erleichtern entsprechende Figuren das Treffen der
Gerüstintervalle. Hierzu empfiehlt es sich, zunächst bestimmte Patterns vorzugeben, damit alle Sän-
ger*innen bereits mindestens ein Muster abrufbereit haben. Die Wechsel 10–12–10 (bzw. 3–5–3), 8–5
und 5–3 können z. B. anhand der Patterns im Beispiel 3 geübt werden, indem sie zunächst über jeder Note
des Cantus firmus (die Breven im Bsp. 3) gesungen werden. Die Intervalle passen sich der diatonischen
Skala an (daher der fehlende Notenschlüssel im Beispiel):

Beispiel 3: Patterns zur Diminution der Intervallwechsel in der ›Nimm 2‹-Übung

Jede Stimmgruppe kann sich entweder auf ›ihr‹ Spezialpattern konzentrieren, oder alle üben die ›Sicht-
weisen‹ aller Stimmen, indem regelmäßig die Rollen getauscht werden. Zwecks Luftholens kann die erste
Note eines Patterns zu einer Phrasenendnote mit anschließender Pause verlängert werden, und/oder die

22
  Die Übungen, die ich im Folgenden beschreibe, habe ich nicht nur mit Lehramtsstudierenden, sondern auch mit
dem Chor TonArt Kenzingen ausprobieren können. Dessen Leiter Ekkehard Weber und meinen Mitsänger*innen dort
möchte ich dafür an dieser Stelle herzlich danken.
23
  Im Folgenden werden Simultanintervalle als Zahl dargestellt: 10 = Dezime(n), 8 = Oktave(n) usw. Wenn nicht anders
angegeben, sind damit Intervalle über der Bezugsstimme gemeint.
24
  Dieses Halleluja, liturgisch dem Weihnachtsfest zugeordnet, hat Vicente Lusitano (†nach 1561) in den meisten
Beispielen seiner Traktate Del arte de contrapunto und Introdutione facilissima (1553) verwendet, siehe Canguilhem
2013.

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Kombinatorik und Spiel

Patterns können verkürzt werden (siehe Bsp. 4), indem ihnen eine Pause zum Taktbeginn vorangestellt
wird.

Beispiel 4: Patterns nach Pausen

Ebenso können die Diminutionen (nach Entscheidung der einzelnen Sänger*innen) gelegentlich weggelas-
sen oder durch andere ersetzt werden, z. B. für den Sopran:

Beispiel 5: Weitere Patterns für die Sopranstimme

Nach solchen ›Nimm 2‹-Übungen können Note-gegen-Note-Wechsel geübt werden. Denn vor allem die
Altist*innen und Tenorist*innen sollten in der Lage sein, ihre 8–5- und 5–3-Wechsel nicht nur jeweils über
einer Cantus-firmus-Note, sondern auch von einer Cantus-firmus-Note zur nächsten zu singen. Üben lässt
sich dies mit einer diatonischen ›Allintervallreihe‹ als Cantus firmus, wie im Beispiel 6. Der Unterschied
zwischen großen und kleinen Sekunden bzw. Terzen im Cantus firmus ist hier unerheblich; dieser Cantus
firmus kann also auch von e, a oder g (dann natürlich mit b-Vorzeichnung und mit es statt e) aus starten:

Beispiel 6: ›Allintervall‹-Cantus-firmus

Bereits bei den ›Nimm 2‹-Übungen, aber spätestens an dieser Stelle können die Sänger*innen damit be-
auftragt werden, sich bis zum nächsten Treffen weitere melodische Patterns auszudenken, die unabhängig
von der Bewegung des Cantus firmus oder aber je über einer bestimmten Fortschreitung des Cantus firmus
(wie z. B. einem Sekundschritt abwärts) funktionieren. Hierzu kann Rodios Beispiel zu Rate gezogen wer-
den, wo allerdings der Cantus firmus (wie es auch Banchieri beschreibt) in Semibreven gesetzt ist. Als Bei-
spielmaterial für Kontrapunkte über einem Cantus firmus in Breven eignen sich einige der Kontrapunkte
zu La Spagna von Costanzo Festa.25 Diese stammen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, sind aber
eine Fundgrube für Wendungen, die auch für Rodio, Banchieri und Zacconi noch als stilistisch angemessen
gegolten haben dürften.

Außerdem sollten die Sänger*innen spätestens dann, wenn sie sich sicher genug fühlen, die Patterns zu
variieren und eigene Linien zu erfinden, nicht länger nach Stimmgruppen aufgestellt sein. Zacconis Be-
zeichnung »contrapunti in frotta« kann (wie oben) als »in der Schar«, oder etwas bildhafter als »im
Schwarm« übersetzt werden. Eine gemischte Aufstellung betont die Autonomie der einzelnen Sän-
ger*innen bzw. fordert sie stärker ein. Damit ein Singen »im Schwarm« erlebt werden kann, ist zudem eine
Raumakustik mit etwas Nachhall von Vorteil. Proben in einer Kirche (oder gar eine musikalische Mitgestal-
tung der Liturgie als Ziel einer Probenphase) bieten sich deshalb an.

Ein regelmäßiges gemeinsames Abhören und Besprechen von (etwa mit dem Smartphone erstellten) Auf-
nahmen dient schließlich der Weiterentwicklung des Umgangs mit Gestaltungsmitteln, wobei sich u. a. der

25
     Agee 1997.

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Kombinatorik und Spiel

sensible Umgang mit Pausen als wichtig erweist: Wann kann/soll ich mich zurücknehmen, wann und wie
setze ich einen neuen Impuls oder kann den einer anderen Stimme aufgreifen, wie unterstütze ich eine
Steigerung? Solche Fragen sind nicht weniger wichtig als die Fähigkeit, die Fortsetzung der eigenen Linie
über den nächsten Tönen des Cantus firmus alla mente vorauszuhören. Das Singen von contrapunti in
frotta wird auf diese Weise zu einer Hörschulung, die musikalische Mikro- und Makroebenen gleicherma-
ßen umfasst.

Literatur
Agee, Richard J. (Hg.) (1997), Costanzo Festa. Counterpoints on a Cantus Firmus, Middleton WI: A-R Edi-
tions.

Banchieri, Adriano (1614), Cartella musicale, Venedig: Vincenti.

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Gatz, Almut (2021), »Historische Vokalimprovisation in der Schule. Vorüberlegungen und Projektbericht«,
in: Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen, hg.
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Hammond, Frederick (1983), Girolamo Frescobaldi, Cambridge MA: Harvard University Press.

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Milsom, John (2012), »Josquin des Prez and the Combinative Impulse«, in: On the Relationship of Imitation
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Rodio,      Rocco       (1609),    Regole     di    Musica,      Neapel:                Carlino &       Vitale.
https://imslp.org/wiki/Regole_di_musica_(Rodio%2C_Rocco) (22.03.2022)

Söllner, Johannes (2011), »Improvising Music in the 15th and 16th Century: Contrapunto alla Mente –
Chant sur le Livre – Madrigale Passagiato. International Orpheus Academy for Music & Theory 2008 [recte:
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https://doi.org/10.31751/611 (22.03.2022)

Zacconi, Lodovico (1622), Prattica di musica seconda                          parte,    Venedig:     Vincenti.
https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10497532 (22.03.2022)

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Kombinatorik und Spiel

ABSTRACT. Anhand von Traktaten von Lodovico Zacconi, Rocco Rodio und Adriano Banchieri rekonstruiert der Beitrag
eine Improvisationspraxis, die in der Kirchenmusik in Italien im frühen 17. Jahrhundert eine prominente Rolle gespielt
hat. Didaktische und methodische Überlegungen skizzieren daraufhin Einstiegsübungen im improvisierten Kontra-
punkt im Rahmen der Hochschullehre sowie in vor- und außerhochschulischen Bereichen, die an diese Praxis anknüp-
fen.

Hans Aerts ist Professor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule für Musik Freiburg. Er studierte Mu-
sikwissenschaft an der KU Leuven (Belgien) und an der TU Berlin sowie Musiktheorie und Gehörbildung an der Uni-
versität der Künste Berlin. Von 2000 bis 2010 unterrichtete er Musiktheorie und Gehörbildung in Berlin, u.a. an eini-
gen Musikschulen und an der UdK. In Freiburg war er von 2010 bis 2017 als Dozent für Musiktheorie an der Hoch-
schule für Musik und von 2013 bis 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar der
Albert-Ludwigs-Universität tätig. Seit 2019 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie
(ZGMTH).

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Biografien der Herausgeberinnen und Herausgeber

Thomas Fesefeldt studierte in Hannover Schulmusik, Geschichte und Musiktheorie. Er war Lehrbeauf-
tragter für Musiktheorie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und an der Hoch-
schule für Künste Bremen, Leiter der Studienvorbereitenden Ausbildung an Musikschulen in Gehrden
und Goslar sowie Dozent an der Landeskirche Hannover. 2012 wurde er an der Musikhochschule Dres-
den mit einer Arbeit über Franz Schubert promoviert. 2013 schloss er den Vorbereitungsdienst für das
Lehramt an Gymnasien ab und war von 2013 bis 2017 Studienrat am Gymnasium Alfeld (Leine). Seit 2017
ist er Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin. Ein besonderes Anliegen sind ihm
die Bereiche Methodik und Didaktik der Musiktheorie sowie die Kooperation mit allgemeinbildenden
Schulen und Musikschulen.

Andreas Ickstadt ist Professor für Musiktheorie und Gehörbildung an der Universität der Künste Berlin.
Nach seinem Lehramtsstudium in den Fächern Musik und Germanistik in Frankfurt/Main studierte er
dort in einem Aufbaustudiengang das Fach Musikwissenschaft, bevor sich ein Studium des Doppelfachs
Musiktheorie/Gehörbildung an der HdK Berlin anschloss. 2014 promovierte er im Fach Musikwissen-
schaft über »Aspekte der Melancholie bei Johannes Brahms«. Neben analytisch orientierten Themen
(Rhetorik der Barockmusik und harmonische Konzepte aktueller Popmusik) besteht ein derzeitiger For-
schungsschwerpunkt in Fragen der Vermittlung musiktheoretischer Inhalte in Hochschule und Allge-
meinbildender Schule, mit denen er sich aktuell im Rahmen eines länderübergreifenden Forschungspro-
jekt (MuTheUS) beschäftigt.

Ariane Jeßulat, geb. 1968, studierte Schulmusik und Musiktheorie an der UdK Berlin. Von 2004 bis 2015
war sie Professorin für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Würzburg. Seit 2015 ist sie Professorin
für Musiktheorie an der UdK Berlin. Sie wurde 1999 an der UdK Berlin promoviert und 2011 an der Hum-
boldt-Universität zu Berlin habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Musik des 19. Jahrhunderts,
historische Improvisation vom 16.–18. Jahrhundert und experimentelle Musik nach 1950. Sie arbeitete
von 2015 bis 2021 im Redaktionsteam der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie und ist aktuell
Mitarbeiterin im Redaktionsteam der Musurgia. Seit 2020 ist sie PI im DFG-Graduiertenkolleg 2638 Nor-
mativität, Kritik, Wandel und leitet seit 2021 ein Teilprojekt im DFG Sonderforschungsbereich 1512 Inter-
venierende Künste. Seit 1989 arbeitet sie als Performerin und Komponistin im von Dieter Schnebel ge-
gründeten Ensemble für zeitgenössische und experimentelle Musik die maulwerker.

Kilian Sprau studierte Schulmusik, Musiktheorie, Klavier und Gehörbildung an der Hochschule für Musik
und Theater München sowie am Mozarteum Salzburg. 2016 wurde er mit einer Dissertation zur zykli-
schen Liedkomposition um 1850 promoviert. Seit 2019 ist er Professor für Musiktheorie an der Universi-
tät der Künste Berlin. Im Zentrum seines Forschungsinteresses stehen Wechselwirkungen zwischen Mu-
sik und Sprache; sein vorrangiges Engagement gilt dem Kunstlied des 19. bis 21. Jahrhunderts, dem er
sich als konzertierender Liedbegleiter auch praktisch widmet. 2018–2022 realisierte und leitete er ein
DFG-gefördertes Forschungsprojekt zum Portamentogebrauch im spätromantischen Kunstliedgesang. Als
Associate Scientist war er 2017–2020 dem FWF-Projekt Performing, Experiencing and Theorizing Aug-
mented Listening (PETAL) an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz verbunden. Von 2013
bis 2019 war er Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie.
Katja Steinhäuser ist Pianistin, Musiktheoretikerin und Musikpädagogin. Sie studierte an der Universität
der Künste Berlin Klavier bei Frau Prof. Linde Großmann und Musiktheorie bei Herrn Prof. Hartmut Fladt.
Sie ist Gastprofessorin für Musiktheorie, Analyse und Gehörbildung an der UdK Berlin und hat auch Lehr-
positionen an der Universität Potsdam (2010–2011) und der Musikschule Berlin-Neukölln (seit 2011)
übernommen. Neben ihrer Lehrtätigkeit tritt Katja Steinhäuser als Pianistin mehrerer international agie-
render kammermusikalischer Formationen in Erscheinung.

Berthold Tuercke studierte Komposition in den USA bei den Schoenberg-Schülern Rudolf Kolisch, Felix
Greissle und Leonard Stein. Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin bei Hartmuth Fladt. Dort
derzeit Professor für Musiktheorie. Lehrtätigkeiten auch an der University of Southern California (Los
Angeles), der Freien Universität Berlin, am Bauhaus Dessau und an der Escola de Música e Belas Artes in
Curitiba (Brasilien). Publikationen u. a. in den Musik-Konzepten und in Musik und Ästhetik. Vielfältiges
musikalisches Œuvre. Aufführungen mit UnitedBerlin, dem Kronos Quartett, ensemble recherche, Mo-
dern Art Ensemble und unter den Dirigenten Peter Gülke und Vladimir Jurowski.

Lilia Ushakova studierte Musikwissenschaft am Staatlichen Rimski-Korsakow-Konservatorium Sankt-
Petersburg (1993–1998) und an der TU Berlin (2001–2008), Musiktheorie an der UdK Berlin bei Prof.
Hartmut Fladt (2001–2005) sowie Deutsch als Fremdsprache an der TU Berlin (2001–2008). Sie ist seit
2020 Gastprofessorin für Musiktheorie und Gehörbildung an der UdK Berlin, wo sie seit 2007 unterrich-
tet. Weitere Lehrtätigkeiten führten sie an die HU Berlin (2006–2010), die HfM Franz Liszt Weimar
(2008–2010) und die Musikschule Paul Hindemith Neukölln (2008–2020). Sie entwickelte den Kurs
»Musikalische Fachsprache für ausländische Studierende« an der UdK Berlin.

Emmanouil Vlitakis (1967) studierte in Athen, Berlin und Paris Komposition, Musiktheorie, Instrumenta-
tion und promovierte in Musikwissenschaft mit einer Arbeit über Klang in Orchesterwerken der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aufführungen und Kompositionsaufträge verbinden ihn u. a. mit
Thessaloniki State Symphony Orchestra, Ensemble Modern und Ensemble Mosaik. Sein Werk wird durch
strukturelles Denken gekennzeichnet, das zudem durch die Spezifik des klanglichen Moments bedingt ist.
Sprache, Literatur und Philosophie bilden dabei einen oft generativen Aspekt seines Komponierens. In
seinen Schriften befasst sich Vlitakis mit dem Verhältnis von Klang/Instrumentation und Form, Musik-
theorie und Komposition als auch mit Fragen interkulturellen Komponierens. Seine langjährige Unter-
richtstätigkeit an deutschen Musikhochschulen und im Ausland (CNSMD Paris, Staatskonservatorium in
Tiflis/Georgien) wurde 2017–2019 durch eine Gastprofessur für Komposition fortgesetzt, bevor er im
Februar 2020 zum Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin berufen wurde.

Ferdinand Kiesner nahm, nach Abitur und Baccalauréat, im Jahr 2017 das Studium der Fächer Musik und
Mathematik für Lehramt an Gymnasien und Integrierten Sekundarschulen auf (Universität der Künste
bzw. Freie Universität Berlin). 2021 legte er hierin mit einer musikwissenschaftlichen Arbeit bei Prof. Dr.
A. Jeßulat und Prof. Dr. H. Fladt den Abschluss Bachelor of Arts ab und führt das Studium seitdem als
Masterstudent weiter. Sein Fokus im Studium liegt auf seinem Hauptinstrument Klavier, in dem er als
langjähriger Schüler von Prof. D. Wagner-Dix und Bundespreisträger bei Jugend Musiziert von Prof. Dr.
T. Menrath unterrichtet wird. Er ist studentische Hilfskraft im Fachbereich Musiktheorie.

Gabriel Pech absolvierte den Bachelor of Arts in Musikwissenschaft mit dem Zweitfach Germanistik an
der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Abschlussarbeit schrieb er über die Zwölftontechnik Hanns
Eislers. Seit 2019 studiert er Musik und Deutsch für Lehramt an Gymnasien und Integrierten Sekundar-
schulen, u. a. an der Universität der Künste Berlin. Seit 2020 ist er als studentische Hilfskraft im Fachbe-
reich Musiktheorie tätig.
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