Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
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Kompass für die Schweiz Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
01 Vorwort von André Helfenstein 02 Einleitung von Manuel Rybach 04 Sorgen: Zusammenrücken in der Krise 10 Vertrauen: Versorgungssicherheit für die Schweiz 16 Europa: Gestärkte Willensnation 20 «Wir müssen als Land trotz Covid-19 zusammenhalten» Bundesrat Guy Parmelin im Sorgenbarometer- Gespräch mit Manuel Rybach 26 Finanzflüsse nachhaltig gestalten von Sabine Döbeli 29 Den Ruhestand überdenken von Sara Carnazzi Weber 31 «Switzerland first» als ökonomischer Irrweg von Peter Grünenfelder 34 Driftet Europa auseinander? Europa Forum Luzern 36 Jugend 2020: Politisch und vernetzt Cover: 13 Photo / Maurice Haas 1000 Credit Suisse Illustrationen: Alexandra Compain-Tissier
Heraus- forderungen gemeinsam meistern Seit 1976 erstellt das Forschungsinstitut gfs.bern im Auftrag der Credit Suisse jährlich das bekannte Sorgenbarometer, welches die Befindlichkeit der Schwei zerinnen und Schweizer misst: Was sind unsere grössten Probleme? Womit iden Liebe Leserin, lieber Leser tifizieren wir uns? Was sind unsere Erwar- Es ist ein Jahr wie kein zweites für die tungen an die politischen Institutionen? Welt, aber auch für die Schweiz. Die Sind wir stolz auf die Wirtschaft? Covid-19-Pandemie verändert unser Mit dieser repräsentativen Volks Alltagsleben, unser Arbeiten und unser befragung möchte die Credit Suisse einen Konsumverhalten. Drastische Einschnitte konstruktiven Beitrag zur öffentlichen in das tägliche Leben sollen helfen, das und politischen Debatte in unserem Heim- Coronavirus einzudämmen. Die zweifellos markt leisten. Die Resultate der dies weitreichenden Auswirkungen auf Wirt- jährigen Befragung, welche wir mit gros- schaft, Politik und Gesellschaft werden ser Spannung erwartet haben, werden vermutlich länger anhalten. im «Kompass für die Schweiz» eingeord- Darüber hinaus hat die Schweiz net und Bundesrat Guy Parmelin sowie weitere komplexe Aufgaben zu lösen: Unse- verschiedene Gastautoren geben ihre re Unternehmen müssen sich mit Inno Einschätzung zum Umgang mit zentralen vationskraft und Effizienz im internationalen Herausforderungen. Wettbewerb behaupten. Der demografi- sche Wandel und tiefe Zinsen stellen unse- Ich wünsche Ihnen eine spannende re Altersvorsorge vor grosse Herausfor Lektüre – ob zu Hause oder im Büro. derungen. Und es gilt, die Beziehungen zur Europäischen Union, unserem ANDRÉ HELFENSTEIN wichtigsten Handelspartner, zu sichern. CEO Credit Suisse (Schweiz) AG Kompass für die Schweiz 1
Sorgen in Zeiten von Covid-19 Noch nie in der 44-jährigen Geschichte des Credit Suisse Sorgenbarometers hat ein Thema auf Anhieb zu so viel Besorgnis bei EINLEITUNG Das Covid-19- den Schweizerinnen und Schweizern geführt. Virus hat auch beim traditionellen Nicht einmal im Jahr 2001, als die Anschläge auf das World Trade Center in New York Sorgenbarometer der Credit Suisse verübt wurden, wurde «Terror» häufiger als seine Spuren hinterlassen. Die Sorge genannt. Es wird sicherlich nicht zu viel vorweggenommen, wenn die Hauptsorge Kompass-Analyse ergibt aber, dass in der Einleitung bereits verraten wird: die auch altbekannte Problempunkte Corona-Pandemie und ihre Folgen. Das Virus hat zurzeit die meisten Länder nicht gelöst sind. der Welt fest im Griff, so auch die Schweiz. Anfang November hatten sich hierzulande offiziell bereits über 180 000 Menschen mit Von Manuel Rybach dem Krankheitserreger angesteckt. Die Schutzmassnahmen im Alltag wie die Masken im öffentlichen Verkehr oder die Trennwände in Restaurants sind nicht mehr wegzudenken, und die Folgen der Pandemie werden uns noch lange beschäftigen. 2 Credit Suisse
Zwar wird die Schweizer Wirtschaft in Um die Sicht der Wirtschaft einzubringen diesem Jahr, wie unsere Ökonominnen und haben wir wichtige Sorgen ausgewählt Ökonomen schätzen, um rund vier Prozent und diese von einer Gastautorin oder einem schrumpfen. Im internationalen Vergleich Gastautor genauer beleuchten lassen: hat sich die Schweiz damit aber bisher wirt- Zum Thema Umwelt erklärt Sabine Döbeli schaftlich recht gut geschlagen. Dies ver- von Swiss Sustainable Finance, wie der dankt das Land vor allem den schnell und Finanzplatz beim Übergang zu einer nachhal- effizient umgesetzten Massnahmen zur tigen Wirtschaft mithelfen kann und wo aus Abfederung der negativen Folgen. Die Kurz- ihrer Sicht noch Handlungsbedarf besteht. arbeitsentschädigungen sowie die gemein- Zur Sorge um die AHV schreibt die sam von Politik und Banken in Rekordzeit Credit Suisse Ökonomin Dr. Sara Carnazzi aufgesetzten Covid-19-Kredite konnten ihre vom grossen Wurf, den es brauchen Wirkung rasch und unmittelbar entfalten. würde, um die Altersvorsorge langfristig Zudem zeigten Arbeitgeber und Arbeitneh- zu stabilisieren. mer grosse Flexibilität und auch Kreativität Avenir-Suisse-Direktor Dr. Peter Grünen- im Umgang mit der neuen Situation. felder befasst sich mit der Versorgungs sicherheit und geht der Frage nach, ob Gewichtige Stimmen kommen zu Wort «Switzerland first» funktionieren würde. Mit unserem «Kompass für die Schweiz» Zur Sorge um die Zukunft der Bilateralen möchten wir die Resultate des diesjährigen und die Beziehungen zur EU analysiert das Sorgenbarometers einordnen, auch mit- Europa Forum Luzern die aktuelle Situation hilfe von Exponenten aus Politik und Wirt- und zeigt, wie wichtig Stabilität in Krisen schaft. Die Stimme der Politik vertritt zeiten für alle ist. Bundesrat Guy Parmelin. Wir hatten die Das Sorgenbarometer der Credit Suisse Gelegenheit, ein Interview mit dem Schwei- bietet zusammen mit dem Jugendbarometer, zer Wirtschaftsminister zu führen, um dem Europa Barometer und dem Fortschritts mit ihm über die Resultate des Sorgenbaro- barometer ein umfassendes und langjähri- meters, das gestiegene Vertrauen in die ges demoskopisches Informationssystem zur Regierung sowie seine persönlichen Erfassung des gesellschaftlichen und poli- Wünsche für das nächste Jahr zu sprechen. tischen Pulses der Schweizer Bevölkerung. Mit den Barometer-Studien und der vorlie- genden Publikation möchte die Credit Suisse einen konstruktiven Beitrag zur öffentli- chen Diskussion über gesellschaftspolitisch relevante Themen leisten. Es würde uns freuen, wenn sich viele Bürgerinnen und Bürger aktiv daran beteiligen. DR. MANUEL RYBACH ist Managing Director und Global Head of Public Policy and Regulatory Affairs der Credit Suisse. Er hat an der Universität St. Gallen (HSG) in Staatswissenschaften promoviert, wo er auch als Lehrbeauftragter tätig ist. Kompass für die Schweiz 3
SORGEN Die Covid-19-Pandemie prägt die Schweiz so stark wie seit Jahrzehnten kein anderer Faktor. Die neue Hauptsorge lässt die Schweizerinnen und Schweizer aber auch näher zusammenrücken. Zusammenrücken in der Krise 1 2 3 Corona-Pandemie und ihre Folgen 51 Arbeitslosigkeit / Jugendarbeitslosigkeit AHV / Altersvorsorge 31 (+5) 37 (−10) 4 5 6 Umweltschutz / Klimawandel AusländerInnen 29 (–) 28 (−2) Gesundheit / Krankenkassen 28 (−13) 4 Credit Suisse
7 8 9 EU / Bilaterale / Integration Flüchtlinge / Asyl soziale Sicherheit 23 (+2) 23 (+3) 17 (+3) 10 11 12 (Kern-)Energie / Meinungsverschiedenheiten Energieversorgung mit der EU neue Armut 14 (–) 13 (−3) 13 (−8) 13 14 15 Globalisierung Rassismus / 12 (+6) persönliche Sicherheit Fremdenfeindlichkeit 11 (−12) 11 (+1) 16 17 18 erhöhte Wohnkosten, Inflation / Teuerung Anstieg Mietpreise Drogen / Alkohol 10 (−2) 10 10 (−3) 19 20 1 Top 20 SORGEN «Welche dieser Probleme Löhne Verkehrsfragen / Staus / sind aus Ihrer Sicht für die Schweiz die 8 (−3) Zukunft der Mobilität wichtigsten?» [in % gerundet, Vorjahr, dargestellt durch weissen Kreis, Vergleich 8 (–) in Prozentpunkten] Flächeninhalte der Kreise (logarithmisch) angepasst, Kompass für die Schweiz 5 um die Abstufungen besser ersichtlich zu machen.
N och nie in der Geschichte des seit 1976 erhobenen Sorgenbarometers der Credit Suisse verzeichnete eine erstmals befragte Sorge einen derart hohen Einstiegswert wie die Covid-19-Pandemie. Sie wird von einer Mehrheit als eine der fünf Hauptsor- gen des Landes bezeichnet [ vgl. Grafik 1 ]. Gleichzeitig bewirkte sie eine – inoffizielle – Neudefinition des spürbar verstärkten Sicherheitsbedürfnisses (siehe Seite 10). 51 Prozent sind allerdings kein histori- scher Rekordwert. Eine ernst zu nehmende Minderheit hat nach wie vor Mühe, das neue Phänomen einzuordnen und als Gefah- renpotenzial zu akzeptieren. «Es lassen sich auch markante Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen feststellen», erklärt Cloé Jans, Leiterin operatives Ge- schäft beim Forschungsinstitut gfs.bern. «Die Menschen, die über 70 Jahre alt sind oder über eine hohe Schulbildung verfügen, sorgen sich deutlich weniger um Corona Wie aber wird sich die Pandemie in Zukunft als Personen mittleren Alters oder mit tiefer auswirken? Deutlich mehr als die Hälfte der Bildung.» Stimmbürgerinnen und Stimmbürger be- 37 fürchtet bis 2023 eine negative Entwicklung in Bezug auf Arbeitslosigkeit und Altersvor- sorge [ vgl. Grafik 2 ]. Eher problematisch werden zudem die Auswirkungen auf den Tourismus, die Datenüberwachung der Bürger und die Exportwirtschaft betrach- tet. «Neben allen Schwierigkeiten sind aber auch Themen der Zuversicht auszumachen. % Gerade für die Arbeitswelt werden Chancen im Bereich Homeoffice und Digitalisierung erkannt und auch für die Gesundheitsversor- sorgen sich nach wie vor gung, den Bankenplatz sowie die globale um die Altersvorsorge. Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik überwiegt die positive Sicht», führt Cloé Jans aus. «Die Schweizerinnen und Schwei- zer sind gewillt, gestärkt aus dieser Krise herauszukommen. Drei von vier Stimm 6 Credit Suisse
Die Suche nach der Normalität. Blick in ein Westschweizer Schwimmbad im Juni 2020. 2 Die Folgen der Pandemie SICHT 2023 «Die Pandemie-Krise hat kurzfristig massive Veränderungen gebracht. Was denken Sie, wie einschnei- dend die Veränderungen in drei Jahren noch sein werden?» sehr / eher negativ keine Folgen eher / sehr positiv weiss nicht / k. A. [in %] Zahl der Arbeitslosen 77 15 6 2 Sicherheit der Altersvorsorge 59 31 7 3 Tourismus in der Schweiz 52 20 26 2 Datenüberwachung der Bürger 47 33 17 3 Schweizer Exportwirtschaft 43 34 19 4 wirtschaftliche globale Zusammenarbeit 30 34 32 4 politische globale Zusammenarbeit berechtigten sind der Ansicht, die Pande- 27 38 31 4 miekrise zeige, dass die Schweiz unter Schweizer Bankenplatz Druck immer zusammensteht und geeignete 24 23 45 45 27 27 5 Lösungen findet.» Gesundheitsversorgung 18 34 45 3 Auftrag noch nicht erfüllt Digitalisierung der Arbeitswelt Die Dominanz der Covid-19-Thematik darf 12 17 68 3 nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeit von zu Hause aus (Homeoffice) grossen Reformbaustellen von vor der Krise 9 13 76 2 nach wie vor bestehen und in der Wahrneh- mung der Bevölkerung kaum an Dringlichkeit verloren haben. Die Sicherung der AHV (37 %, − 10 pp) bleibt seit 2017 die Haupt- sorge der Schweiz, wenn man von der Pandemieproblematik absieht, und muss nach Ansicht von 8 Prozent der Bevölkerung an erster Stelle gelöst werden. Foto: Keystone / Laurent Gilliéron Kompass für die Schweiz 7
3 Politische Besonderheiten NATIONALSTOLZ «Gibt es bestimmte Dinge, auf die Sie an der schweizerischen Politik besonders stolz sind?» sehr / eher stolz weiss nicht / k. A. eher nicht / überhaupt nicht stolz [in %] Volksrechte wie Initiative und Referendum Von den Top-Ten-Problemen ging einzig 91 27 die Ausländerfrage zum zweiten Mal in wirtschaftliche Stabilität Folge auf nunmehr 28 Prozent (−2 pp) zu- 87 4 9 rück. Umgekehrt nahmen die Sorge um Bundesverfassung die soziale Sicherheit (17 %, +3 pp) sowie 85 7 8 das Problempaar Arbeitslosigkeit / Jugend- politische Stabilität arbeitslosigkeit (31 %, +5 pp) zweimal nach- 83 4 13 einander zu, womit allerdings der sprung gesellschaftliche Stabilität hafte Rückgang von 2018 noch nicht 83 3 14 wettgemacht ist. Zusammenleben der verschiedenen Sprachgruppen Nach einer kontinuierlichen Steige- 81 5 14 rung seit 2015 hat das Problembewusstsein Mitsprachemöglichkeiten der Kantone / Föderalismus für Umweltschutz und Klimawandel bei 81 5 14 29 Prozent stagniert. Doch für über 12 Pro- Eigenständigkeit, Unabhängigkeit zent der Bevölkerung handelt es sich hier- 81 5 14 bei um das dringendste Problem. Neutralität 57 Prozent (−6 pp) [ vgl. Grafik 4 ] der 78 6 16 Bevölkerung sind einverstanden mit der Regierung, in der alle grossen Parteien vertreten sind Forderung, die Schweiz solle weltweit eine 76 7 17 Vorreiterrolle in der Klimapolitik einnehmen und diese aktiv über Gesetze und Vorgaben steuern. Allerdings finden genau gleich viele Leute (57 %, −4 pp), es gebe wichtigere 85 Themen zu lösen als die Klimapolitik. Das Thema polarisiert also weiterhin. % der Bevölkerung sind an Politik interessiert. Schweiz findet Bewegungen und Schweiz soll Klimapoli- Es gibt im Moment Schweiz soll sich Lösungen vor Ort, Demonstrationen sind tik mit Gesetzen aktiv wichtigere Probleme international einbinden, weltweite Probleme wichtig, um Politik zu steuern und eine Vorrei- zu bewältigen als die um globale Lösungen sollen andere lösen. Lösungen zu bewegen. terrolle einnehmen. Klimapolitik. finden zu helfen. 45 51 55 42 57 41 57 41 59 37 8 Credit Suisse
Die Kostenfrage im Gesundheitswesen Aktuell fühlen sich 61 Prozent in erster oder bleibt eine zentrale Sorge der Bevölkerung. zweiter Linie dem Land als Ganzes verbun- Dennoch ist im Vergleich zum letzten Jahr den, im Vergleich zu 2019 hat dieser Wert ein deutlicher Rückgang der Sorge um zugenommen, was auch mit dem kollektiven Gesundheit und Krankenkassen auf 28 Pro- Erlebnis der Pandemie zusammenhängen zent (−13 pp) zu beobachten. Neben der dürfte. 75 Prozent der Stimmbürger sind Tatsache, dass die Prämien nicht stark an- stolz, Schweizerin respektive Schweizer zu gestiegen sind, dürften Sparübungen im sein. Das sind viele, doch 2015 war dieser Gesundheitswesen in Zeiten einer globalen Wert deutlich höher. Im damaligen eidgenös- Pandemie in den Augen der Bevölkerung nur sischen Wahljahr erlebte die Migrationskrise geringe Priorität haben. Dennoch: Es be- im Sommer ihren Höhepunkt. War vor diesem steht kein Grund zur Annahme, der Reform- Hintergrund das Bedürfnis der Wahrung bedarf im Gesundheitswesen sei gedeckt. nationaler Interessen durch eine Abgrenzung gegen aussen sehr ausgeprägt, ist heute der Höheres Politikinteresse Fokus auf das nationale Wohlergehen anderer Glaubte man in der Bevölkerung eine ge Natur. Es geht darum, zusammenzustehen wisse politische Müdigkeit zu erkennen, so und unaufgeregt und pragmatisch durch die beweist das Sorgenbarometer das Gegen- Krise zu kommen. Dazu passt, dass viele teil. Die Klimafragen, die Covid-19-Pandemie Schweizerinnen und Schweizer stolz sind auf und vielleicht neue Entwicklungen in der die Stabilität des Landes in wirtschaftlicher politischen Kultur, wie der Kommunikations- (87 %), politischer (83 %) und gesellschaft- stil von Donald Trump via Twitter, bescheren licher (83 %) Hinsicht [ vgl. Grafik 3 ]. der Politik eine rekordhohe Aufmerksamkeit. Der Bundesrat hat seinen Beitrag dazu Interessierten sich 2013 erst 55 Prozent der geleistet – auch wenn immer noch 70 Prozent Bevölkerung für die Politik, so sind es nun (−13 pp) von ihm mehr Führungsqualitäten 85 Prozent, dies sogar mit erhöhter Intensität: fordern. Das Parlament hingegen sollte nach 43 Prozent (+12 pp) sind «sehr interessiert». Ansicht von 77 Prozent (+9 pp) seine Kompro- Dieses gestiegene Interesse mag, neben missbereitschaft steigern. Die Erwartungen den brisanten Themen, mit zur hohen Stimm- sind hoch – allerdings auch das grundsätz- beteiligung im September 2020 beigetragen liche Vertrauen in die Politik. haben. Wirtschaft findet Pandemie-Krise zeigt: Bundesrat muss seine 4 Lösungen der Politik Lösung schneller als Viele alltägliche Führungsrolle noch Politik: mehr Freiheiten, politische Konflikte sind besser wahrnehmen TOP 8: VOLKSMEINUNG «Sind Sie mit den folgenden weniger Bürokratie. eigentlich unwichtig. als gegenwärtig. Aussagen zur Lösung politischer Probleme sehr einver- standen, eher einverstanden, eher nicht einverstanden oder überhaupt nicht einverstanden?» sehr / eher einverstanden weiss nicht / k. A. eher nicht / gar nicht einverstanden [in %] 60 37 64 34 70 26 Kompass für die Schweiz 9
Das Sicherheits- bedürfnis steigt 1 2 3 Bundesrat Ständerat Armee 68 (+18) 51 (+7) 48 (−2) 4 5 6 staatliche bezahlte Nationalrat Verwaltung Zeitungen 48 (+8) 48 (+8) 36 (+6) 7 8 9 Fernsehen 36 (−8) politische Parteien EU 22 (+5) 19 (+5) 10 1 Vertrauen Foto: 13 Photo / Daniel Winkler INSTITUTIONEN «Wie gross ist, auf einer Skala Flächeninhalte der von 0 bis 7, Ihr persönliches Vertrauen in diese Kreise (logarithmisch) Institutionen?» [Anteil Vertrauen (5 –7), in % gerundet, angepasst, um die Gratiszeitungen Vorjahresvergleich in Prozentpunkten] Abstufungen besser 17 (+1) ersichtlich zu machen. 10 Credit Suisse
VERTRAUEN UND SICHERHEIT Die Hierarchie der Sicherheitsbedürfnisse ist durch die Pandemie neu geordnet worden. Die Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis in der Schweiz hingegen sind eher gering. Mehrheitlich wird die wirtschaftliche Situation sehr positiv beurteilt, doch die Zahl jener, die um ihre Stelle fürchten, nimmt zu. Aufgrund des Lockdowns abgestellte Flugzeuge der Edelweiss Air und der Helvetic Airways auf dem Flugplatz Dübendorf. Die Schweiz hat im Sommer die erste Phase der Covid-19-Pandemie im internationalen Vergleich gut überstanden. Zu erwarten war, dass dies in der Credit Suisse Sorgenbaro- meterumfrage seinen Niederschlag in einem Vertrauensbonus für jene Akteure findet, die aktiv zur Bewältigung der Krise beigetra- gen haben. Dies umso mehr, als 2019 eine sehr ausgeprägte Kurskorrektur nach unten erfolgt war. Tatsächlich stiegen die Werte im Durchschnitt der 20 befragten Akteure und Institutionen wieder von 38 auf 40 Pro- zent [ vgl. Grafik 1 ]. Bei genauerem Hinsehen konnten jedoch nur die Politik und die Behörden von der besonderen Situation profitieren, insbeson- dere der Bundesrat, doch auch der National- und der Ständerat, die staatliche Verwaltung und, allerdings etwas weniger ausgeprägt, die politischen Parteien. Kompass für die Schweiz 11
Offensichtlich wird die bisher gute Krisenbe- Wirtschaftliche Zuversicht, aber … wältigung allein der Politik zugeschrieben. Nach wie vor sind 94 Prozent der Bevölke- Das Engagement der Armee beispielsweise rung überzeugt, die Wirtschaft stehe wurde nicht in Form eines Vertrauens im Vergleich zum Ausland «eher / sehr gut» gewinns honoriert. Dies gilt auch für die da [ vgl. Grafik 3]. 60 Prozent sind der Medien, wo gerade das Fernsehen trotz Meinung, die Wirtschaft könne schnellere einer vielfältigen Berichterstattung nochmals Lösungen als die Politik finden, wofür es einen markanten Vertrauensverlust erlitt. aber mehr Freiräume und weniger Bürokratie Immerhin erreichten die bezahlten Zeitungen brauche. Positiv wird auch die eigene Situa- den erhofften Vertrauensgewinn. tion eingeschätzt. 65 Prozent der Schweizer stufen ihre wirtschaftliche Lage als gut oder sehr gut ein. Sogar 81 Prozent (−6 pp) gehen davon aus, es werde ihnen in den kommenden zwölf Monaten mindestens gleich gut gehen wie im Moment. Der leichte 2 Arbeitsplatzsicherheit Rückgang gegenüber dem Vorjahr müsste nicht Besorgnis erregen, wenn nicht gleich- NEUE TECHNOLOGIE «Wie hoch schätzen Sie auf zeitig 14 Prozent (+4 pp) befürchteten, es einer Skala von 0 bis 100 die Wahrscheinlichkeit, werde ihnen künftig schlechter gehen. Nie dass Ihre Arbeitsstelle in den nächsten fünf Jahren waren es in den letzten 25 Jahren so viele. durch einen Roboter, neue Technologie oder intelligente Software automatisiert wird?» [in %] Bei dieser Einschätzung lassen sich kaum Unterschiede zwischen Mann und Frau oder wahrscheinlich zwischen den Sprachregionen feststellen. (50 –100 %) Besonders ausgeprägt ist die Sorge um die weiss nicht / wirtschaftliche Zukunft aber bei Personen k. A. mit eher geringer Schulbildung (19 %) unwahrscheinlich (0 – 49 %) sowie solchen mit tiefem Einkommen (32 %) 82 10 beziehungsweise mittleren Einkommen im Bereich von 5000 bis 6000 Franken (16 %). 8 Den eigenen Arbeitsplatz stufen 14 Prozent als nicht sicher ein, 11 Prozent – so viele wie noch nie – befürchten den Verlust ihrer Stelle innerhalb Jahresfrist DROHENDER STELLENVERLUST «Befürchten [ vgl. Grafik 2 ]. Das ist zwar eine klare Sie selbst, dass Sie in den nächsten zwölf Monaten Minderheit, vergleicht man den Wert aber Ihre Arbeitsstelle verlieren?» [in %] mit 2012, hat sich der Anteil jener, die um ihre Stelle fürchten, mehr als verdoppelt. weiss nicht / «Der Trend hin zu mehr Sorge um den k. A. Arbeitsplatz bewegt sich auf tiefem Niveau, nein 86 nimmt seinen Lauf aber lange vor Corona», kommentiert Cloé Jans von gfs.bern. «Statt- ja 11 dessen könnte der Grund in der sich ver- ändernden Arbeitswelt – Stichwort techno- logischer Wandel – liegen.» Tatsächlich gehen heute 8 Prozent von einem Verlust des Arbeitsplatzes wegen neuer Technologie in den nächsten fünf Jahren aus. 12 Credit Suisse
3 Zustand der Wirtschaft 4 Bausteine der Sicherheit INTERNATIONALER VERGLEICH «Wie steht TOP 10 «Wie relevant sind für Sie folgende Bausteine die Schweizer Wirtschaft im Vergleich zur ausländi- der Sicherheit für die Schweiz?» Skala von 0 bis 10 schen Wirtschaft da?» [in %] (10 = absolut zentral), stark / sehr stark sicherheits relevant [in %] Sicherheit der Energieversorgung 100 in % 87 Versorgungssicherheit von Gütern 67 eher gut 64 85 Eigenversorgung mit medizinischen Produkten 85 Wirtschaftliche Sicherheit 84 Sicherheit der Sozialwerke 83 Vorsorge gegen Cyberangriffe 81 Datenschutz 77 sehr gut 30 Vorsorge gegen Pandemien 27 76 Schutz vor Terrorismus 74 Vorsorge gegen Umweltrisiken 70 2012 2020 81 Versorgungssicherheit erhöhen «Die Corona-Pandemie hat zu einer Re- Evaluation der Sicherheitsbedürfnisse in der Schweiz geführt», weist Cloé Jans auf ein besonders interessantes Resultat der Umfrage hin. «Erste Priorität hat nun die Versorgungssicherheit in Bezug auf Energie, Medizin und Nahrung, gefolgt von der öko nomischen Sicherheit in Form von Wahrung % des Wohlstands – und zwar im Erwerbs leben wie im Alter.» gehen davon aus, dass es ihnen 2021 mindestens so gut wie jetzt geht. Kompass für die Schweiz 13
5 Produktion zurückholen VERSORGUNGSSICHERHEIT «Gewisse Produktionspro- zesse sollen mit staatlicher Unterstützung – ungeachtet der wirtschaftlichen Rentabilität – zurück in die Schweiz geholt werden, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, beispiels- weise von Medikamenten oder Ersatzteilen.» [in %] Bei der Beurteilung von 14 verschiede- nen Bausteinen der Sicherheit des Landes eher nicht überhaupt nicht [ vgl. Grafik 4 ] wird die Versorgungs einverstanden einverstanden sicherheit in der Tat besonders hoch einge- 1 stuft: An erster Stelle überhaupt steht die weiss nicht / k. A. Sicherheit der Energieversorgung, gefolgt 8 von der Eigenversorgung mit medizinischen 4 Produkten sowie der Versorgungssicherheit sehr einverstanden bei Gütern. Von beinahe gleich grosser 39 Bedeutung ist die Sicherung des Wohl- stands, dies sowohl in Bezug auf die Sozial- werke als auch das wirtschaftliche Wohl- eher ergehen. einverstanden An dritter Stelle folgt die Sicherheit 48 gegen neue Risiken. Dabei werden Cyber- angriffe, Verletzung des Datenschutzes sowie Pandemien als gefährlicher als Terrorismus und Umweltrisiken beurteilt. Als etwas weniger dringlich werden die Sicherung nationaler Interessen im globalen Kontext sowie die Sicherheit gegen tradi tionelle Risiken erachtet. Nicht in die Top Ten schaffen es die Verbesserung der interna tionalen Kooperation (67 %), die Reduktion globaler Abhängigkeiten (65 %), die Vor- sorge gegen Migrationsströme (59 %) und die militärische Sicherheit (58 %). Die Herstellung von Desinfektionsmitteln wurde während der Coronakrise stark erhöht. 14
87 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind einverstanden, gewisse Produktionsprozesse mit staatlicher Unter- stützung in die Schweiz zurückzuholen, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen Nur 8 % erachten – trotz Covid-19- [ vgl. Grafik 5]. Das Bild wird durch die Forderung nach staatlichen Investitionen Krise – staatliche Investitionen gerade in den Bereichen mit hohem Sicher- in die Pandemievorsorge als heitsbedürfnis fast spiegelgleich bestätigt [ vgl. Grafik 6] – mit einer gewichtigen erste Priorität. Ausnahme: Ganz zuoberst sollen gemäss Umfrage die Investitionen zur Vorsorge gegen Umweltrisiken stehen. Insgesamt hat das Sorgenbarometer ein erstaunlich kohärentes neues Sicher- heitsbild an den Tag gebracht. Vorsorge gegen Umweltrisiken Sicherheit der wirtschaftliche Sicherheit bessere 14 Energieversorgung 8 internationale 13 Kooperation 4 Vorsorge gegen Pandemien Vorsorge gegen 8 Cyberangriffe 4 Eigenversorgung mit Sicherheit Vorsorge gegen medizinischen Produkten der Sozialwerke Migrationsströme 12 11 8 Reduktion globaler weiss nicht / Abhängigkeiten k. A. 7 3 militärische Sicherheit Versorgungssicherheit Schutz vor bei Gütern 1 Terrorismus 5 Datenschutz 6 Staatliche Investitionen PRIORITÄTENSETZUNG «In welchen dieser genannten Bereiche soll der Staat in Zukunft am meisten investieren?» [in %] Foto: Keystone / Jean-Christophe Bott Kompass für die Schweiz 15
EUROPA Die Beziehungen zur Europäischen Union (EU) gelten in der breiten Bevölkerungsmehrheit als wichtig und sollen weiterentwickelt werden. Doch wie genau, bleibt die aussenpolitische Gretchenfrage. Stabile Beziehungen erwünscht Geschlossene Grenze in Kreuzlingen. Bekannte und Verliebte von beiden Seiten der Grenze Credit Suisse treffen sich am Grenzzaun zu Gesprächen.
1 Die Schweiz und die EU STABILE BEZIEHUNGEN BILATERALE VERTRÄGE «Wie wichtig sind Ihnen stabile «Wie wichtig sind Ihnen Beziehungen der Schweiz mit die bilateralen Verträge der der EU?» [in %] Schweiz mit der EU?» [in %] 4 6 6 7 14 14 12 13 6 3 9 4 49 45 40 46 36 32 27 27 2019 2020 2019 2020 sehr wichtig eher wichtig weiss nicht / k. A. eher unwichtig sehr unwichtig Die Schweiz hat schon immer eine ganz Stabile Beziehungen mit der EU gefordert besondere Rolle in der internationalen Politik Alt-Bundesrätin Doris Leuthard schrieb – und dementsprechend in internationalen bereits 2008: «Die Bilateralen I sind ein Wirtschaftsfragen – gespielt. Als «kleine Erfolg. […] Der bilaterale Weg ist aber Insel mitten in Europa» sind die Verflechtun- steinig.» Diese grundsätzliche Haltung teilt gen mit der EU besonders gross. Mehr als auch die Schweizer Stimmbevölkerung 315 000 EU-Grenzgängerinnen und -Grenz- gemäss dem Credit Suisse Sorgenbarome- gänger kommen täglich zur Arbeit in die ter 2020: Fast 80 Prozent gaben heuer an, Schweiz und fast eine halbe Million Schwei- dass ihnen die Beziehungen zwischen der zerinnen und Schweizer leben in der EU. EU und der Schweiz (sehr) wichtig sind. Der wirtschaftliche Austausch zwischen der Über 70 Prozent finden zudem auch, dass Schweiz und der EU beträgt eine Milliarde die bilateralen Verträge sehr oder eher Schweizer Franken – pro Tag. Dennoch wichtig sind. Die grundsätzliche Stossrich- ist Eigenständigkeit ein zentraler Wert im tung ist also klar: Das Stimmvolk wünscht nationalen Grundverständnis: Die Schweize- sich eine stabile Beziehung mit der EU. rinnen und Schweizer sind stolz auf ihre Unabhängigkeit und Neutralität. Daher stellt sich immer wieder die aussenpolitische Gretchenfrage: Wie hat’s die Schweiz denn eigentlich mit der EU? Foto: 13 Photo / Roland Schmid Kompass für die Schweiz 17
Doch von einer bedingungslosen Bereitschaft zur Annäherung ist man weit entfernt. Das zeigt beispielhaft der Volksentscheid zur Annahme der Masseneinwanderungs 53 % der Stimmberechtigten initiative oder auch das aktuelle Tauziehen um die Verhandlung und Unterzeichnung befürworten eine des Rahmenabkommens. Unter den Stimm eigenständige Nischenpolitik. berechtigten, die eine Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU wünschen, ist das Tendenz steigend. Rahmenabkommen als Grundidee weiterhin gut verankert. Konkret möchten 53 Pro- zent die Bilateralen über ein Rahmenabkom- men ausbauen. Der Anteil Schweizerin- nen und Schweizer, der eine Neuverhandlung wünscht, nahm jedoch seit letztem Jahr zu (27 %, +10 pp). Offensivere Nischenpolitik angesagt Aus dem Wunsch, stabile Beziehungen zur EU zu pflegen, folgt keine Gleichschaltung mit deren Positionen: Eine steigende Mehr- heit von derzeit 53 Prozent der Stimm berechtigten befürwortet eine eigenständige Nischenpolitik im Vergleich zu einer stärke- ren Anbindung an die grundsätzlichen Posi- tionen der EU im Welthandel (derzeit 35 Prozent). Von der eigenen Stärke über- zeugt, findet eine knappe Mehrheit zudem, dass schlechte Beziehungen mit der EU mit Handelsbeziehungen zu Drittstaaten auf 2 Die Schweiz in Europa gefangen werden könnten – kein leichtes Unterfangen angesichts des Umstandes, VERHÄLTNIS IN DER ZUKUNFT «Wie soll sich allgemein dass die Schweiz heute jeden dritten Fran- das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU ken im Austausch mit der EU verdient. Ihrer Meinung nach weiterentwickeln?» [in %] In den Augen der Stimmberechtigten verhält sich die hiesige Politik dem Ausland klare /gezielte Reduktion gegenüber zunehmend defensiv, was auch der Zusammenarbeit mit dem Tauziehen um die Ausgestaltung der Beziehungen zur EU zusammenhängen dürfte. Der Wunsch aus der Stimmbevölke- rung ist aber ein anderer: Die Schweizer klare / gezielte Status quo Weiterentwicklung möglichst Regierung soll wieder offensiver auftreten. 65 halten Gerade der Bundesrat geht aus der 18 Coronakrise gestärkt hervor, was das Ver- 12 trauen der Bevölkerung angeht (68 Pro- zent der Stimmbevölkerung vertrauen dem 5 Bundesrat). weiss nicht / k. A. 18 Credit Suisse
3 Beziehungen zur EU: vorwärts 4 … oder zurück? ZUSAMMENARBEIT 1 «Welche Form der Weiter- ZUSAMMENARBEIT 2 «Welche Form der künftigen entwicklung hat für Sie 1. Priorität?» / Aufschlüsselung Zusammenarbeit hat für Sie 1. Priorität?» / Aufschlüsselung jener Stimmberechtigten, die für eine klare, gezielte jener Stimmberechtigten, die für eine klare, gezielte Weiterentwicklung sind. Reduktion sind. 2020 (Veränderung Vorjahr) 2019 [in %] 2020 (Veränderung Vorjahr) 2019 [in %] bilaterale Verträge fortsetzen Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen 53 (−10) 29 (+6) institutionelles Rahmenabkommen neu verhandeln institutionelles Rahmenabkommen nicht unterzeichnen 27 (+10) 22 (−11) EWR beitreten institutionelles Rahmenabkommen neu verhandeln 9 (+1) 19 (−) EU beitreten bilaterale Verträge fortsetzen 7 (−) 14 (+2) weiss nicht / keine Antwort bilaterale Verträge kündigen 4 (−1) 7 (−) weiss nicht / keine Antwort 9 (+3) Aktuelle Stärke der Schweiz nutzen Schweiz» und schaffen ein gemeinsames Das Image der Schweiz im Ausland ist sehr Fundament für das Zusammenleben unter- gut – und ist in den letzten 12 Monaten schiedlicher Sprachen, Religionen und in der Wahrnehmung der Stimmberechtigten Kulturen. Im Vergleich zu 2019 steigt die eher noch besser geworden, sagen rund empfundene Verbundenheit mit dem 90 Prozent der Stimmbevölkerung. Auch Land als Ganzes unter der Stimmbevölke- die nationale Wirtschaft steht in den Augen rung wieder. In dieser schwierigen Zeit der Befragten vergleichsweise auf soli- scheint sich die Schweiz nun wieder auf die den Beinen, trotz relativ hohen Fallzahlen Idee der pragmatischen Willensnation zu von Covid-19 und steigender Sorge um besinnen und diese neu zu beleben – mit Arbeitslosigkeit. Die Schweiz beweist also dem Ziel, die Gratwanderung zwischen Resilienz und Willensstärke, gemeinsam dem Erhalt stabiler Beziehungen zur EU und die Coronakrise durchzustehen. der Schweizer Souveränität zu bestehen. Rückbesinnung zur Willensnation Die Idee von Autarkie, Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit gewinnt angesichts der aktuellen Coronakrise wieder an Bedeu- Als Grundlage diente das Credit Suisse Sorgenbaro tung in der Schweiz. Gegenüber wirtschaft- meter 2020, das repräsentativ die Schweizer Stimm bevölkerung (rund 1800 Personen) zu aktuellen Sorgen, licher Globalisierung ist man zunehmend aber auch zum Verhältnis der Schweiz mit der EU und kritisch. Dabei geht es jedoch weniger um Europa im Juli / August 2020 befragt hat. emotionalen Patriotismus als um helveti- schen Pragmatismus. Zentrale Prinzipien wie das gelebte Milizsystem, der Föderalismus oder die direkte Demokratie fördern die gemeinsame Identität der Schweiz, sie sind die Grundpfeiler der «Willensnation Kompass für die Schweiz 19
GUY PARMELIN leitet seit 2019 das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Nach dem Gymnasium hatte er sich zum Landwirt und Winzer ausgebildet und mit seinem Bruder den Fami- lienhof in Bursins geführt. Als Vertreter der SVP ge hörte er dem Gemeinderat (1993–1999), Kantonsrat (1994–2003) und National- rat (2003–2015) an und ist seit 2015 Bundesrat. 20 Credit Suisse Foto: Marco Zanoni / Lunax
«Wir müssen als Land trotz C ovid-19 zusammen- halten» Herr Bundesrat Parmelin, die Corona- Pandemie und ihre Folgen sind INTERVIEW Der Bundesrat aus dem Nichts die Top-1-Sorge der hat in der Bevölkerung enorm Schweizer Bevölkerung geworden. Wie interpretieren Sie diese Problem- an Vertrauen gewonnen. Doch wahrnehmung? auch die Erwartungen sind Ich kann die Stimmungslage in der Bevölke- rung sehr gut nachvollziehen. Die Covid-19- hoch: Er soll die Schweiz sicher Pandemie fordert unsere Gesellschaft und durch die Coronakrise führen. die Wirtschaft momentan enorm. Und nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. Bundesrat GUY PARMELIN Tatsache ist: Die Schweizer Wirtschaft stand dem «Kompass» Rede fiel im zweiten Quartal 2020 in eine tiefe Rezession. Die Auswirkungen der Massnah- und Antwort. men zur Eindämmung der Pandemie auf die Weltwirtschaft und den internationalen Handel geben Anlass zur Sorge. Auch wenn Interview: Manuel Rybach * die Aussichten für 2020 weniger negativ als Mitte Jahr befürchtet sind, so stehen wir doch vor dem stärksten BIP-Rückgang seit 1975. Meine Aufmerksamkeit ist seit Beginn der Krise auf die Frage gerichtet, wie wir die unmittelbaren negativen Folgen der Pandemie abfedern und dabei die * Das Interview wurde Ende Oktober 2020 Stärken der Schweiz als Wirtschafts-, schriftlich geführt. Bildungs- und Innovationsstandort auf rechterhalten können. Kompass für die Schweiz 21
Und zu welchem Schluss kommen Sie? Ein wichtiger Aspekt für die Wettbewerbs- Ist Ihnen eine Abfederung gelungen? fähigkeit ist der Zugang unserer Wirtschaft Ich bin überzeugt, dass wir in der Schweiz zu ausländischen Märkten. Und da müssen dank starken Institutionen und durch unsere wir unsere Beziehungen zur EU klären raschen und wirksamen Unterstützungs- und mit bilateralen Abkommen präferenzielle massnahmen bis im Frühherbst noch schlim- Marktzugänge schaffen. Kurz: Es hängt mere Folgen für die Unternehmen und die alles miteinander zusammen. Die Arbeit Arbeitnehmenden abwenden konnten. Eine wird uns nicht ausgehen. wichtige Rolle spielte dabei unter anderem die Kurzarbeitsentschädigung. Auch dank Welchen Einfluss hat die Corona- diesem Instrument konnte ein massiver Pandemie auf Ihre persönliche Arbeit Einbruch der Beschäftigung bisher vermie- und welche Auswirkungen erwarten den werden. Die Arbeitnehmereinkommen Sie auf die Arbeitswelt im Allgemeinen? wurden gestützt und eine Konkurswelle von Normalerweise sind mir der persönliche Unternehmen konnte bislang verhindert Kontakt und persönliche Gespräche sehr werden. wichtig. In den letzten Monaten wurde in Trotzdem hat die Arbeitslosigkeit zuge- der Bundesverwaltung und auch in meinem nommen. Zum Glück weniger stark, als wir Departement in sehr vielen Bereichen im im Frühjahr und im Sommer noch befürchtet Homeoffice gearbeitet. Die Covid-19-Krise hatten. Das gilt auch für die Jugendarbeits- hat die tägliche Arbeit weiter digitalisiert. losigkeit. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in der Aufgrund der zweiten Pandemiewelle ist Privatwirtschaft. Ich gehe davon aus, dass allerdings in den kommenden Monaten mit die Arbeitswelt auch mittel- und langfristig einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit digitaler wird. Allerdings ist es heute noch zu zu rechnen. Die Covid-19-Krise ist noch früh, um über die langfristigen Auswirkun- nicht ausgestanden. Wir können leider nicht gen der Pandemie hinsichtlich neuer Arbeits ausschliessen, dass sich Unternehmen formen Aussagen zu machen. mittelfristig an neue Bedingungen anpassen und dabei zum Teil auch Entlassungen Das Sorgenbarometer zeigt, wie gross vornehmen müssen. das Bedürfnis nach Sicherheit in der aktuellen Situation ist. Insbesondere Wo sehen Sie persönlich die grössten gaben die Befragten an, dass für sie die Herausforderungen für unser Land? Versorgungssicherheit (z. B. Energie und Wir müssen alles daransetzen, dass sich die medizinische Produkte) von zentraler Wirtschaft nach der Coronakrise möglichst Bedeutung ist. Wie sehen Sie hier das rasch und vollständig erholt. Dazu benötigen Zusammenspiel zwischen Wirtschaft wir nach wie vor gut ausgebildete Leute. und Staat? Wie soll sich die Schweiz mit Wir dürfen bei den Aus- und Weiterbildungen dem Ausland koordinieren? keine Abstriche machen. Auch die Inno Die Schweiz als exportorientierte Volks vationstätigkeit und damit unsere Wettbe- wirtschaft ist stark in die internationalen werbsfähigkeit muss erhalten bleiben Liefer- und Produktionsketten eingebunden. und weiter gefördert werden. Die Beschaffung von Vorprodukten aus dem Ausland sowie die Absatzmöglichkeiten für unsere Produkte auf ausländischen Märkten sind für die Schweizer Wirtschaft zentral. Schätzungen des Seco gehen 22 Credit Suisse
davon aus, dass die aussenwirtschaftlichen Aber: Wir müssen einen gewissen Struktur- Tätigkeiten rund 1/ 3 zum BIP der Schweiz wandel auch zulassen. Mittel- und langfristig beisteuern. Im Verlauf der letzten Monate geht es nicht nur darum, bestehende Jobs sind wir uns der enormen Bedeutung des zu sichern, sondern darum, die Erwerbstäti- internationalen Handels für unser Land, aber gen so aus- und weiterzubilden, dass sie auch unserer Abhängigkeit von internatio im Arbeitsmarkt eine Chance auf Beschäfti- nalen Produktions- und Lieferketten erneut gung haben. Sie sehen also: Das Aus- und bewusst geworden. Für mich ist klar: Ein Weiterbildungssystem spielt eine entschei hindernis- und diskriminierungsfreier Zugang dende Rolle. zu ausländischen Märkten muss weiterhin gewährleistet bleiben. Der Bundesrat und Ein Dauerbrenner im Sorgenbarometer das Seco engagieren sich dafür insbesonde- ist die Zukunft der AHV und der re im Rahmen der WTO, der OECD und Altersvorsorge. Welches sind mittel- bis der G-20. Selbstverständlich erweitern und langfristig die wichtigsten Schritte, pflegen wir unser Netz von Freihandelsab- um unser System der Altersvorsorge kommen. nachhaltig zu sichern? Wir alle wissen, dass es äusserst schwierig ist, Die Arbeitslosigkeit rangiert wieder hier eine Lösung zu finden, um die Alters höher im Sorgen-Ranking. Was braucht vorsorge so zu sichern, dass sie möglichst es, um die Stärken des Schweizer vielen Menschen in unserem Land gerecht Arbeitsmarktes auch künftig sicher wird. Diese Hausforderung beschäftigt mei- zustellen? nen Kollegen im Eidgenössischen Departe- In der ersten Phase war es entscheidend, ment des Innern EDI schon seit Jahren und die Beschäftigung und die Einkommen wird ihn wohl auch noch geraume Zeit be- zu stützen, um einen schädlichen und über- schäftigen. Der Bundesrat wird sich in abseh- mässigen Stellenabbau zu vermeiden. Das barer Zeit auch wieder mit dieser Frage zu ist uns mit einer guten Absicherung durch befassen haben. Kurzarbeitsentschädigung, Arbeitslosen entschädigung und arbeitsmarktliche Mass- nahmen recht gut gelungen. Bei der Bewälti- gung der zweiten Infektionswelle werden diese Elemente wichtig bleiben. Langfris- tig wird es entscheidend sein, dass wir in unseren Sozialwerken Anreize schaffen können, damit die Betroffenen wieder eine Arbeit finden. Das heisst, wir müssen so weit wie möglich verhindern, dass Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen. «Wir müssen einen gewissen Strukturwandel auch zulassen.» Kompass für die Schweiz 23
Ein weiterer Klassiker der Schweizer Politik sind die Beziehungen der Schweiz zur EU. Eine Weiterentwick- lung des bilateralen Verhältnisses wird zwar von einer Mehrheit gewünscht, doch wie dies erfolgen soll, wird kontrovers diskutiert. Wie möchte die Landesregierung hier vorgehen? Für die Schweiz als mittelgrosse Volks wirtschaft mit vergleichsweise kleinem Bin- nenmarkt bleibt der möglichst diskrimi nierungsfreie, rechtlich abgesicherte und entwicklungsfähige Zugang zu ausländi- schen Märkten zentral, um den Wohlstand zu erhalten. Der Bundesrat setzt sich für die Tragfähigkeit der für die Schweiz essen- ziellen internationalen Wirtschaftsbezie hungen ein. Die EU ist unser wichtigster Handelspartner. Mit einem institutionellen Abkommen möchte der Bundesrat den gegenseitigen Marktzugang konsolidieren und zukunftsfähig machen. Es soll Rechts- sicherheit über den bestehenden Markt zugang schaffen und die Grundlage für Bei den Akteuren aus Politik und Behör- einen Ausbau der Handelsbeziehungen den hat der Bundesrat deutlich an bilden. Ein Abschluss erfordert aber eine Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen Klärung in drei für die Schweiz zentralen und geniesst aktuell, nach der Polizei, Punkten. Sie betreffen den Schutz der den zweithöchsten Vertrauenswert. Wie Lohn- und Arbeitsbedingungen, die Unions- interpretieren Sie diese Entwicklung? bürgerschaft sowie staatliche Beihilfen. Da hat zweifellos die rasche und unbüro kratische Hilfestellung des Bundesrats in der Coronakrise eine wichtige Rolle gespielt. Wir konnten viele Unternehmerinnen und Unternehmer sowie viele Arbeitnehmende unterstützen. Heute wäre das Umfrage ergebnis aber möglicherweise bereits wieder ein anderes. Unzufriedene, denen wir nicht oder nicht genug helfen konnten, gibt es nicht wenige! 24 Credit Suisse
«Der Bundesrat setzt sich für die Tragfähigkeit der für die Schweiz essenziellen internationalen Wirtschaftsbeziehungen ein.» Das Interesse an der Politik steigt seit Oft geht in den aktuellen Diskussionen über 2016 kontinuierlich und in der Schweiz Trinkwasser, Landwirtschaft und Umwelt hat sich seit 2018 der Anteil Jugend belastungen vergessen, dass wir als Land licher, die an politischen Demonstratio- darauf angewiesen sind, Handel zu betreiben. nen teilnehmen, verdoppelt. Gleich Die Schweiz kann sich nur zur Hälfte selber zeitig bleibt der Anteil Junger, die ernähren. Die andere Hälfte kommt aus dem selber einer Partei beitreten möchten, Ausland. Das dürfen wir in all den Diskus sehr tief. Wie ordnen Sie dies ein und sionen nie vergessen. welchen Zugang hatten Sie als Jugend- licher zur Politik? Als Vizepräsident des Bundesrats Für die heutige Jugend bin ich kein typisches steht für Sie im Dezember die Wahl Beispiel mehr. Ich wuchs auf dem Land auf zum Bundespräsidenten an. Was und da gab es Vereine, in denen die lokale wünschen Sie sich für die Schweiz Bevölkerung ihre Treffpunkte hatte. Dazu sowie für sich persönlich während gehörte für mich eines Tages auch das des Präsidialjahres? politische Engagement in einer Partei. Die Bevor ich mich zu einem allfälligen Präsidial- heutige Jugend sieht sich mit einem viel jahr äussere, muss ich gewählt werden. grösseren Angebot von Freizeitaktivitäten Und die Wahl findet im Dezember statt. Aber konfrontiert und hat die Qual der Wahl. abgesehen davon wünsche ich mir für die Eine Parteimitgliedschaft ist da nur noch Schweiz und auch für mich persönlich, dass selten erste Wahl. wir als Land mit all seinen Regionen und als Bevölkerung durch alle Generationen hin- Die Jugendlichen werden stark mobili- durch trotz Covid-19 zusammenhalten und siert durch Umweltthemen. Als ge dieses Virus bald nur noch eine schlechte lernter Landwirt und Winzer haben Sie Erinnerung sein wird. sicher einen besonderen Zugang zu diesem Thema. Wie nehmen Sie die aktuelle Diskussion wahr? Ja, in der Tat verstehe ich die Anliegen der jungen Leute sehr gut und beobachte eben- falls mit wachsender Besorgnis, wie Kultur- land zubetoniert und sehr verschwenderisch mit den natürlichen Ressourcen umge gangen wird. Ich würde es aber begrüssen, wenn nicht nur Kritik geübt, sondern ver- mehrt Lösungen gesucht sowie aktive Bei- träge zur Bewältigung der Umweltprobleme geleistet würden. Foto: Markus A. Jegerlehner Kompass für die Schweiz 25
SUSTAINABLE FINANCE Eine umwelt- und sozialverträgliche Wirtschaft wünschen sich immer mehr Leute. Die Finanzindustrie spielt dabei eine zentrale Rolle. Die richtigen Rahmenbedingungen beschleunigen den Prozess zusätzlich. Von Sabine Döbeli Finanzflüsse nachhaltig gestalten Auch dieses Jahr stehen im Sorgenbarome- ter der Credit Suisse Themen, die direkt oder indirekt mit einer nachhaltigen Entwick- lung verbunden sind, ganz weit oben auf der Skala. Von der Altersvorsorge über den Umweltschutz / Klimawandel bis hin zur Gesundheit: Immer mehr Menschen sorgen sich um die Zukunft unserer Welt und wün- schen sich einen Wandel hin zu einer sozial gerechten, klimafreundlichen und ressour- censchonenden Wirtschaft und Gesell- schaft. Dabei wachsen auch die Erwartun- gen an die Finanzindustrie, die einen aktiven Beitrag zum notwendigen Wandel leisten soll. Die Klima-Jugend verschafft ihren Forderungen für einen grünen Finanzplatz auf der Strasse und in den Medien laut Gehör. Auch das Parlament hat die Finanz- wirtschaft im nun verabschiedeten CO ²- Gesetz in die Pflicht genommen und festge- halten, dass Finanzflüsse klimaverträglich werden sollen. Und was macht die Finanz- industrie? 26 Credit Suisse
Trend zu Anlagen mit positiver Wirkung Enormer Kapitalbedarf für Nachhaltigkeit Tatsächlich existieren nachhaltige Anlagen Wenn wir uns vor Augen führen, wie viel in der Schweiz schon seit fast vier Jahr Kapital nötig ist, um die globalen Nachhaltig- zehnten und der Trend zu solchen Anlage keitsziele zu erreichen, wird aber schnell formen hat sich in jüngster Zeit noch klar, dass noch viel mehr geschehen muss. einmal massiv beschleunigt. Gemäss der Jährlich werden bis 2050 Investitionen aktuellen Marktstudie zu nachhaltigen im Umfang von weltweit durchschnittlich Anlagen von Swiss Sustainable Finance 3,5 Billionen US-Dollar benötigt, um die sind in der Schweiz derzeit Gelder im weltweiten Energiesysteme so umzubauen, Umfang von 1163 Milliarden Franken nach- dass das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klima haltig angelegt, was bereits rund einem abkommens erreicht wird. Auf diese enorme Drittel der in der Schweiz verwalteten Ver- Summe kommt das International Panel on mögen entspricht. Climate Change (IPCC) in einem viel beach- Gegenüber dem Vorjahr hat sich das teten Bericht – und dabei sind notwendige Volumen um eindrückliche 62 Prozent Massnahmen in anderen Sektoren wie gesteigert. Diese Entwicklung ist Ausdruck der Landwirtschaft oder der Immobilienwirt- veränderter Prioritäten sowohl von priva- schaft noch nicht mitgezählt, geschweige ten wie auch institutionellen Anlegern, die denn Massnahmen zur Erreichung anderer erkannt haben, dass sich gesellschafts- Nachhaltigkeitsziele wie verbesserte und umweltpolitische Notwendigkeiten mit Bildung, Bekämpfung des Hungers oder wirtschaftlichen Entscheidungen verbinden Zugang zu Wasser. Doch wie können lassen und damit ein dringend notwendiger jährlich Mittel in dieser Grössenordnung Veränderungsprozess beschleunigt wird. generiert werden? Was in der jüngsten Marktstudie beson- ders auffällt, ist das starke Wachstum Finanzflüsse aller Bereiche relevant unterschiedlicher Ansätze, die alle zum Ziel Die gesteckten Nachhaltigkeitsziele können haben, einen aktiven Beitrag zu einer nur erreicht werden, wenn sämtliche Finanz- Veränderung zu leisten. Dazu gehört bei- flüsse nachhaltig gestaltet werden, was spielsweise der verstärkte Dialog mit öffentliche Ausgaben ebenso sehr wie Unternehmensleitungen, damit diese ihr Direktinvestitionen von Unternehmen, Finan- Geschäftsgebaren vermehrt nachhaltig zierungen durch Banken und Investitionen ausrichten. Auch die aktive Stimmrechtsaus- von Anlegern umfasst. Die EU hat im Dezem- übung oder Anlageformen, die direkt zur ber 2019 einen «Green Deal» vorgestellt, Armutsbekämpfung beitragen oder in grüne der sich genau das zum Ziel gesetzt hat: Lösungen investieren, gewinnen an Be Möglichst alle Finanzflüsse sollen nachhaltig deutung. Es scheint so, als ob Anleger in ausgestaltet werden. zunehmendem Masse ihre Einflussmög lichkeiten entdecken und diese auch wahr- nehmen. SABINE DÖBELI ist Geschäftsleiterin von Swiss Sustainable Finance, dem Verband zur Förderung nachhaltiger Finanzen in der Schweiz, und seit über 25 Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich der nach haltigen Finanzierung tätig. Kompass für die Schweiz 27
Es braucht einen CO₂- Preis, der sicherstellt, dass sich klimafreundliche Richtige Preissignale sind nötig Technologien rasch Es wäre allerdings falsch, den Handlungs bedarf alleine bei den Banken und Vermö- durchsetzen und CO₂- gensverwaltern zu orten. Entscheidend für eine vermehrte Nachhaltigkeit von Finanz- intensive Technologien flüssen sind zu einem wesentlichen Teil die richtigen Preissignale in der Realwirt- obsolet werden. schaft: Letztlich braucht es einen CO²-Preis, der sicherstellt, dass sich klimafreund- liche Technologien rasch durchsetzen und CO²-intensive Technologien obsolet wer- den. Gefordert sind auch die Unternehmen. Sie müssen sich und ihren Stakeholdern Investitionen in umweltfreundliche Techno- transparent Rechenschaft darüber ablegen, logien sollen wachsen und Innovationen in welche Massnahmen zum Schutz des der Industrie gefördert werden. Das Energie- Klimas, zu einem schonenden Umgang mit und das Mobilitätssystem sind klimafreund- Ressourcen oder zu fairen Arbeitsbedin lich und Gebäude möglichst energieeffizient gungen umgesetzt wurden. Aber auch bei auszugestalten. Als Basis dazu ist damit Finanzprodukten ist mehr Transparenz zur begonnen worden, in einer umfangreichen Nachhaltigkeit von Investitionen angezeigt Taxonomie alle wirtschaftlichen Tätigkei- – gerade im Hinblick darauf, dass es heute ten zu beschreiben, die das Prädikat «grün» noch an einheitlichen Standards mangelt. Die verdienen. Unternehmen sollen darüber Finanzbranche hat dies erkannt und arbei- Bericht erstatten, in welchem Umfang ihre tet intensiv daran, mehr Klarheit im Nachhal Produkte und Tätigkeiten diesen Vorgaben tigkeitsuniversum zu schaffen. entsprechen. Darauf basierend sollen dann Banken Alle gleichermassen gefordert und Vermögensverwalter Produkte an- Die kommenden Jahre sind entscheidend, bieten, welche Finanzmittel in diese Rich- wenn es darum geht, die Weichen für tung lenken. Wenn es um die Rolle der eine nachhaltige Zukunft zu stellen. Gefor- Finanzwirtschaft geht, sind nachhaltige An- dert sind dabei alle Akteure gleichermassen: lageprodukte längst nicht die einzigen Politiker, welche die richtigen Rahmen Finanzprodukte, die dabei eine Rolle spielen. bedingungen schaffen, Kunden, die ihren Andere Instrumente wie Green Bonds, Wunsch nach umwelt- und sozialverant grüne Hypotheken, Versicherungslösungen wortlichen Produkten klar zum Ausdruck für erneuerbare Energien oder Gemein- bringen, und Banken, die passende schaftsfinanzierungen für Solaranlagen, die Produkte bereitstellen und diese auch direkt neue grüne Projekte fördern, sind aktiv anbieten. vielleicht sogar noch effektiver. Das Poten- zial vieler der genannten Finanzlösungen ist aber bei Weitem noch nicht ausgeschöpft, bestehen doch zum Teil noch erhebliche Barrieren für deren breitere Verwendung. 28 Credit Suisse
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