Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020

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Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
Kompass für die Schweiz
Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und
Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
01
       Vorwort von André Helfenstein

       02
       Einleitung von Manuel Rybach

       04
       Sorgen: Zusammenrücken
       in der Krise

       10
       Vertrauen: Versorgungssicherheit
       für die Schweiz

       16
       Europa: Gestärkte Willensnation

       20
       «Wir müssen als Land trotz Covid-19
       zusammenhalten» Bundesrat
       Guy Parmelin im Sorgen­barometer-
       Gespräch mit Manuel Rybach

       26
       Finanzflüsse nachhaltig gestalten
       von Sabine Döbeli

       29
       Den Ruhestand überdenken
       von Sara Carnazzi Weber

       31
       «Switzerland first» als ökonomischer
       Irrweg von Peter Grünenfelder

       34
       Driftet Europa auseinander?
       Europa Forum Luzern

       36
       Jugend 2020: Politisch und vernetzt

                                                         Cover: 13 Photo / Maurice Haas
1000         Credit Suisse                    Illustrationen: Alexandra Compain-Tissier
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
Heraus-
                                            forderungen
                                            gemeinsam
                                            meistern
                                                Seit 1976 erstellt das Forschungsinstitut
                                                gfs.bern im Auftrag der Credit Suisse
                                                jährlich das bekannte Sorgenbarometer,
                                                welches die Befindlichkeit der Schwei­
                                                zerinnen und Schweizer misst: Was sind
                                                unsere grössten Probleme? Womit iden­
Liebe Leserin, lieber Leser                     tifizieren wir uns? Was sind unsere Erwar-
Es ist ein Jahr wie kein zweites für die        tungen an die politischen Institutionen?
Welt, aber auch für die Schweiz. Die            Sind wir stolz auf die Wirtschaft?
Covid-19-Pandemie verändert unser                       Mit dieser repräsentativen Volks­
Alltagsleben, unser Arbeiten und unser          befragung möchte die Credit Suisse einen
Konsumverhalten. Drastische Einschnitte         konstruktiven Beitrag zur öffentlichen
in das tägliche Leben sollen helfen, das        und politischen Debatte in unserem Heim-
Coronavirus einzudämmen. Die zweifellos         markt leisten. Die Resultate der dies­
weitreichenden Auswirkungen auf Wirt-           jährigen Befragung, welche wir mit gros-
schaft, Politik und Gesellschaft werden         ser Spannung erwartet haben, werden
vermutlich länger anhalten.                     im «Kompass für die Schweiz» eingeord-
      Darüber hinaus hat die Schweiz            net und Bundesrat Guy Parmelin sowie
weitere komplexe Aufgaben zu lösen: Unse-       verschiedene Gastautoren geben ihre
re Unternehmen müssen sich mit Inno­            Einschätzung zum Umgang mit zentralen
vationskraft und Effizienz im internationalen   Herausforderungen.
Wettbewerb behaupten. Der demografi-
sche Wandel und tiefe Zinsen stellen unse-      Ich wünsche Ihnen eine spannende
re Altersvorsorge vor grosse Herausfor­         Lektüre – ob zu Hause oder im Büro.
derungen. Und es gilt, die Beziehungen
zur Europäischen Union, unserem                      ANDRÉ HELFENSTEIN
wichtigsten Handelspartner, zu sichern.              CEO Credit Suisse (Schweiz) AG

                                                                  Kompass für die Schweiz    1
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
Sorgen
in Zeiten
von Covid-19
                                         Noch nie in der 44-jährigen Geschichte
                                         des Credit Suisse Sorgenbarometers hat ein
                                         Thema auf Anhieb zu so viel Besorgnis bei
    EINLEITUNG         Das Covid-19-     den Schweizerinnen und Schweizern geführt.
    Virus hat auch beim traditionellen   Nicht einmal im Jahr 2001, als die Anschläge
                                         auf das World Trade Center in New York
    Sorgenbarometer der Credit Suisse    verübt wurden, wurde «Terror» häufiger als
    seine Spuren hinterlassen. Die       Sorge genannt. Es wird sicherlich nicht zu
                                         viel vorweggenommen, wenn die Hauptsorge
    Kompass-Analyse ergibt aber, dass    in der Einleitung bereits verraten wird: die
    auch altbekannte Problempunkte       Corona-Pandemie und ihre Folgen.
                                             Das Virus hat zurzeit die meisten Länder
    nicht gelöst sind.                   der Welt fest im Griff, so auch die Schweiz.
                                         Anfang November hatten sich hierzulande
                                         offiziell bereits über 180 000 Menschen mit
    Von Manuel Rybach                    dem Krankheitserreger angesteckt. Die
                                         Schutzmassnahmen im Alltag wie die Masken
                                         im öffentlichen Verkehr oder die Trennwände
                                         in Restaurants sind nicht mehr wegzudenken,
                                         und die Folgen der Pandemie werden uns
                                         noch lange beschäftigen.

2        Credit Suisse
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
Zwar wird die Schweizer Wirtschaft in          Um die Sicht der Wirtschaft einzubringen
diesem Jahr, wie unsere Ökonominnen und        haben wir wichtige Sorgen ausgewählt
Ökonomen schätzen, um rund vier Prozent        und diese von einer Gastautorin oder einem
schrumpfen. Im internationalen Vergleich       Gastautor genauer beleuchten lassen:
hat sich die Schweiz damit aber bisher wirt-   Zum Thema Umwelt erklärt Sabine Döbeli
schaftlich recht gut geschlagen. Dies ver-     von Swiss Sustainable Finance, wie der
dankt das Land vor allem den schnell und       Finanzplatz beim Übergang zu einer nachhal-
effizient umgesetzten Massnahmen zur           tigen Wirtschaft mithelfen kann und wo aus
Abfederung der negativen Folgen. Die Kurz-     ihrer Sicht noch Handlungsbedarf besteht.
arbeitsentschädigungen sowie die gemein-           Zur Sorge um die AHV schreibt die
sam von Politik und Banken in Rekordzeit       Credit Suisse Ökonomin Dr. Sara Carnazzi
aufgesetzten Covid-19-Kredite konnten ihre     vom grossen Wurf, den es brauchen
Wirkung rasch und unmittelbar entfalten.       würde, um die Altersvorsorge langfristig
Zudem zeigten Arbeitgeber und Arbeitneh-       zu stabilisieren.
mer grosse Flexibilität und auch Kreativität       Avenir-Suisse-Direktor Dr. Peter Grünen-
im Umgang mit der neuen Situation.             felder befasst sich mit der Versorgungs­
                                               sicherheit und geht der Frage nach, ob
Gewichtige Stimmen kommen zu Wort              «Switzerland first» funktionieren würde.
Mit unserem «Kompass für die Schweiz»              Zur Sorge um die Zukunft der Bilateralen
möchten wir die Resultate des diesjährigen     und die Beziehungen zur EU analysiert das
Sorgenbarometers einordnen, auch mit-          Europa Forum Luzern die aktuelle Situation
hilfe von Exponenten aus Politik und Wirt-     und zeigt, wie wichtig Stabilität in Krisen­
schaft. Die Stimme der Politik vertritt        zeiten für alle ist.
Bundesrat Guy Parmelin. Wir hatten die             Das Sorgenbarometer der Credit Suisse
Gelegenheit, ein Interview mit dem Schwei-     bietet zusammen mit dem Jugendbarometer,
zer Wirtschaftsminister zu führen, um          dem Europa Barometer und dem Fortschritts­
mit ihm über die Resultate des Sorgenbaro-     barometer ein umfassendes und langjähri-
meters, das gestiegene Vertrauen in die        ges demoskopisches Informationssystem zur
Regierung sowie seine persönlichen             Erfassung des gesellschaftlichen und poli-
Wünsche für das nächste Jahr zu sprechen.      tischen Pulses der Schweizer Bevölkerung.
                                               Mit den Barometer-Studien und der vorlie-
                                               genden Publikation möchte die Credit Suisse
                                               einen konstruktiven Beitrag zur öffentli-
                                               chen Diskussion über gesellschaftspolitisch
                                               relevante Themen leisten. Es würde uns
                                               freuen, wenn sich viele Bürgerinnen und
                                               Bürger aktiv daran beteiligen.

         DR. MANUEL RYBACH
         ist Managing Director und Global Head of Public Policy
         and Regulatory Affairs der Credit Suisse. Er hat an
         der Universität St. Gallen (HSG) in Staatswissenschaften
         promoviert, wo er auch als Lehrbeauftragter tätig ist.

                                                           Kompass für die Schweiz            3
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
SORGEN          Die Covid-19-Pandemie prägt die Schweiz so
          stark wie seit Jahrzehnten kein anderer Faktor. Die neue
          Hauptsorge lässt die Schweizerinnen und Schweizer aber auch
          näher zusammenrücken.

     Zusammenrücken
          in der Krise
                                 1                          2                                3

        Corona-Pandemie
         und ihre Folgen
                51

                                                                     Arbeitslosigkeit /
                                                                  Jugendarbeitslosigkeit
                                     AHV / Altersvorsorge                31 (+5)
                                           37 (−10)

                                 4                          5                                6

    Umweltschutz / Klimawandel         AusländerInnen
             29 (–)                        28 (−2)              Gesundheit / Krankenkassen
                                                                        28 (−13)
4            Credit Suisse
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
7                                               8                                          9

EU / Bilaterale / Integration                          Flüchtlinge / Asyl                     soziale Sicherheit
          23 (+2)                                          23 (+3)                                 17 (+3)

                            10                                              11                                         12

     (Kern-)Energie /                          Meinungsverschieden­heiten
    Energieversorgung                                 mit der EU                                  neue Armut
          14 (–)                                        13 (−3)                                     13 (−8)

                            13                                              14                                         15

      Globalisierung                                                                            Rassismus /
         12 (+6)                                  persönliche Sicherheit                    Fremdenfeindlichkeit
                                                         11 (−12)                                 11 (+1)

                            16                                              17                                         18

                                                   erhöhte Wohnkosten,
    Inflation / Teuerung                            Anstieg Mietpreise                         Drogen / Alkohol
           10 (−2)                                          10                                     10 (−3)

                            19                                              20

                                                                                 1	 Top 20
                                                                                 SORGEN «Welche dieser Probleme
           Löhne                                  Verkehrsfragen / Staus /       sind aus Ihrer Sicht für die Schweiz die
           8 (−3)                                  Zukunft der Mobilität         wichtigsten?» [in % gerundet, Vorjahr,
                                                                                 dargestellt durch weissen Kreis, Vergleich
                                                           8 (–)                 in Prozentpunkten]

Flächeninhalte der Kreise (logarithmisch) angepasst,                               Kompass für die Schweiz                    5
um die Abstufungen besser ersichtlich zu machen.
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
N
och nie in der Geschichte des seit 1976
erhobenen Sorgenbarometers der Credit
Suisse verzeichnete eine erstmals befragte
Sorge einen derart hohen Einstiegswert
wie die Covid-19-Pandemie. Sie wird von
einer Mehrheit als eine der fünf Hauptsor-
gen des Landes bezeichnet [ vgl. Grafik 1 ].
Gleichzeitig bewirkte sie eine – inoffizielle –
Neudefinition des spürbar verstärkten
Sicherheitsbedürfnisses (siehe Seite 10).
    51 Prozent sind allerdings kein histori-
scher Rekordwert. Eine ernst zu nehmende
Minderheit hat nach wie vor Mühe, das neue
Phänomen einzuordnen und als Gefah-
renpotenzial zu akzeptieren. «Es lassen sich
auch markante Unterschiede zwischen
einzelnen Bevölkerungsgruppen feststellen»,
erklärt Cloé Jans, Leiterin operatives Ge-
schäft beim Forschungsinstitut gfs.bern.
«Die Menschen, die über 70 Jahre alt sind
oder über eine hohe Schulbildung verfügen,
sorgen sich deutlich weniger um Corona            Wie aber wird sich die Pandemie in Zukunft
als Personen mittleren Alters oder mit tiefer     auswirken? Deutlich mehr als die Hälfte der
Bildung.»                                         Stimmbürgerinnen und Stimmbürger be-

         37
                                                  fürchtet bis 2023 eine negative Entwicklung
                                                  in Bezug auf Arbeitslosigkeit und Altersvor-
                                                  sorge [ vgl. Grafik 2 ]. Eher problematisch
                                                  werden zudem die Auswirkungen auf
                                                  den Tourismus, die Datenüberwachung der
                                                  Bürger und die Exportwirtschaft betrach-
                                                  tet. «Neben allen Schwierigkeiten sind aber
                                                  auch Themen der Zuversicht auszumachen.
                                     %            Gerade für die Arbeitswelt werden Chancen
                                                  im Bereich Homeoffice und Digitalisierung
                                                  erkannt und auch für die Gesundheitsversor-
                    sorgen sich nach wie vor      gung, den Bankenplatz sowie die globale
                    um die Altersvorsorge.        Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik
                                                  überwiegt die positive Sicht», führt Cloé
                                                  Jans aus. «Die Schweizerinnen und Schwei-
                                                  zer sind gewillt, gestärkt aus dieser Krise
                                                  herauszukommen. Drei von vier Stimm­

6            Credit Suisse
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
Die Suche nach der Normalität.
                                              Blick in ein Westschweizer
                                              Schwimmbad im Juni 2020.

                                                     2   Die Folgen der Pandemie
                                                     SICHT 2023 «Die Pandemie-Krise hat kurzfristig massive
                                                     Veränderungen gebracht. Was denken Sie, wie einschnei-
                                                     dend die Veränderungen in drei Jahren noch sein werden?»
                                                      sehr / eher negativ  keine Folgen
                                                      eher / sehr positiv  weiss nicht / k. A. [in %]

                                                     Zahl der Arbeitslosen
                                                     77                                                    15    6       2
                                                     Sicherheit der Altersvorsorge
                                                     59                                     31                   7   3
                                                     Tourismus in der Schweiz
                                                      52                               20             26                 2
                                                     Datenüberwachung der Bürger
                                                     47                       33                            17       3
                                                     Schweizer Exportwirtschaft
                                                     43                       34                           19        4
                                                     wirtschaftliche globale Zusammenarbeit
                                                     30                 34                 32                        4
                                                     politische globale Zusammenarbeit
berechtigten sind der Ansicht, die Pande-            27                38                        31                  4
miekrise zeige, dass die Schweiz unter               Schweizer Bankenplatz
Druck immer zusammensteht und geeignete              24
                                                     23           45
                                                                  45                              27
                                                                                                  27                 5
Lösungen findet.»                                    Gesundheitsversorgung
                                                     18        34                      45                            3
Auftrag noch nicht erfüllt                           Digitalisierung der Arbeitswelt
Die Dominanz der Covid-19-Thematik darf              12       17        68                                           3
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die               Arbeit von zu Hause aus (Homeoffice)
grossen Reformbaustellen von vor der Krise           9      13      76                                                   2
nach wie vor bestehen und in der Wahrneh-
mung der Bevölkerung kaum an Dringlichkeit
verloren haben. Die Sicherung der AHV
(37 %, − 10 pp) bleibt seit 2017 die Haupt-
sorge der Schweiz, wenn man von der
Pan­demieproblematik absieht, und muss
nach Ansicht von 8 Prozent der Bevölkerung
an erster Stelle gelöst werden.

Foto: Keystone / Laurent Gilliéron                                           Kompass für die Schweiz                         7
Kompass für die Schweiz - Die Schweiz im Jahr der Pandemie: Resultate und Interpretationen zum Credit Suisse Sorgenbarometer 2020
3     Politische Besonderheiten
    NATIONALSTOLZ «Gibt es bestimmte Dinge, auf die Sie
    an der schweizerischen Politik besonders stolz sind?»
     sehr / eher stolz  weiss nicht / k. A.  eher nicht /
    überhaupt nicht stolz [in %]

    Volksrechte wie Initiative und Referendum                                            Von den Top-Ten-Problemen ging einzig
    91                                                        27                         die Ausländerfrage zum zweiten Mal in
    wirtschaftliche Stabilität                                                           Folge auf nunmehr 28 Prozent (−2 pp) zu-
    87                                                    4 9                            rück. Umgekehrt nahmen die Sorge um
    Bundesverfassung                                                                     die soziale Sicherheit (17 %, +3 pp) sowie
    85                                                   7     8                         das Problempaar Arbeitslosigkeit / Jugend-
    politische Stabilität                                                                arbeitslosigkeit (31 %, +5 pp) zweimal nach-
    83                                                  4 13                             einander zu, womit allerdings der sprung­
    gesellschaftliche Stabilität                                                         hafte Rückgang von 2018 noch nicht
    83                                                  3 14                             wettgemacht ist.
    Zusammenleben der verschiedenen Sprachgruppen                                            Nach einer kontinuierlichen Steige-
    81                                         5 14                                      rung seit 2015 hat das Problembewusstsein
    Mitsprachemöglichkeiten der Kantone / Föderalismus                                   für Umweltschutz und Klimawandel bei
    81                                              5 14                                 29 Prozent stagniert. Doch für über 12 Pro-
    Eigenständigkeit, Unabhängigkeit                                                     zent der Bevölkerung handelt es sich hier-
    81                                                  5 14                             bei um das dringendste Problem.
    Neutralität                                                                              57 Prozent (−6 pp) [ vgl. Grafik 4 ] der
    78                                              6    16                              Bevölkerung sind einverstanden mit der
    Regierung, in der alle grossen Parteien vertreten sind                               Forderung, die Schweiz solle weltweit eine
    76                                             7 17                                  Vorreiterrolle in der Klimapolitik einnehmen
                                                                                         und diese aktiv über Gesetze und Vorgaben
                                                                                         steuern. Allerdings finden genau gleich viele
                                                                                         Leute (57 %, −4 pp), es gebe wichtigere

                                            85
                                                                                         Themen zu lösen als die Klimapolitik. Das
                                                                                         Thema polarisiert also weiterhin.

                                                                                 % der Bevölkerung sind an
                                                                                   Politik interessiert.

        Schweiz findet             Bewegungen und                  Schweiz soll Klimapoli-    Es gibt im Moment       Schweiz soll sich
        Lösungen vor Ort,          Demonstrationen sind            tik mit Gesetzen aktiv     wichtigere Probleme     international einbinden,
        weltweite Probleme         wichtig, um Politik zu          steuern und eine Vorrei-   zu bewältigen als die   um globale Lösungen
        sollen andere lösen.       Lösungen zu bewegen.            terrolle einnehmen.        Klimapolitik.           finden zu helfen.

         45             51          55             42               57             41          57             41       59              37

8                 Credit Suisse
Die Kostenfrage im Gesundheitswesen                       Aktuell fühlen sich 61 Prozent in erster oder
bleibt eine zentrale Sorge der Bevölkerung.               zweiter Linie dem Land als Ganzes verbun-
Dennoch ist im Vergleich zum letzten Jahr                 den, im Vergleich zu 2019 hat dieser Wert
ein deutlicher Rückgang der Sorge um                      zugenommen, was auch mit dem kollektiven
Gesundheit und Krankenkassen auf 28 Pro-                  Erlebnis der Pandemie zusammenhängen
zent (−13 pp) zu beobachten. Neben der                    dürfte. 75 Prozent der Stimmbürger sind
Tatsache, dass die Prämien nicht stark an-                stolz, Schweizerin respektive Schweizer zu
gestiegen sind, dürften Sparübungen im                    sein. Das sind viele, doch 2015 war dieser
Gesundheitswesen in Zeiten einer globalen                 Wert deutlich höher. Im damaligen eidgenös-
Pandemie in den Augen der Bevölkerung nur                 sischen Wahljahr erlebte die Migrationskrise
geringe Priorität haben. Dennoch: Es be-                  im Sommer ihren Höhepunkt. War vor diesem
steht kein Grund zur Annahme, der Reform-                 Hintergrund das Bedürfnis der Wahrung
bedarf im Gesundheitswesen sei gedeckt.                   nationaler Interessen durch eine Abgrenzung
                                                          gegen aussen sehr ausgeprägt, ist heute der
Höheres Politikinteresse                                  Fokus auf das nationale Wohlergehen anderer
Glaubte man in der Bevölkerung eine ge­                   Natur. Es geht darum, zusammenzustehen
wisse politische Müdigkeit zu erkennen, so                und unaufgeregt und pragmatisch durch die
beweist das Sorgenbarometer das Gegen-                    Krise zu kommen. Dazu passt, dass viele
teil. Die Klimafragen, die Covid-19-Pandemie              Schweizerinnen und Schweizer stolz sind auf
und vielleicht neue Entwicklungen in der                  die Stabilität des Landes in wirtschaftlicher
politischen Kultur, wie der Kommunikations-               (87 %), politischer (83 %) und gesellschaft-
stil von Donald Trump via Twitter, bescheren              licher (83 %) Hinsicht [ vgl. Grafik 3 ].
der Politik eine rekordhohe Aufmerksamkeit.                   Der Bundesrat hat seinen Beitrag dazu
Interessierten sich 2013 erst 55 Prozent der              geleistet – auch wenn immer noch 70 Prozent
Bevölkerung für die Politik, so sind es nun               (−13 pp) von ihm mehr Führungsqualitäten
85 Prozent, dies sogar mit erhöhter Inten­sität:          fordern. Das Parlament hingegen sollte nach
43 Prozent (+12 pp) sind «sehr interessiert».             Ansicht von 77 Prozent (+9 pp) seine Kompro-
Dieses gestiegene Interesse mag, neben                    missbereitschaft steigern. Die Erwartungen
den brisanten Themen, mit zur hohen Stimm-                sind hoch – allerdings auch das grundsätz-
beteiligung im September 2020 beigetragen                 liche Vertrauen in die Politik.
haben.

 Wirtschaft findet           Pandemie-Krise zeigt:       Bundesrat muss seine   4   Lösungen der Politik
 Lösung schneller als        Viele alltägliche           Führungsrolle noch
 Politik: mehr Freiheiten,   politische Konflikte sind   besser wahrnehmen      TOP 8: VOLKSMEINUNG «Sind Sie mit den folgenden
 weniger Bürokratie.         eigentlich unwichtig.       als gegenwärtig.       Aussagen zur Lösung politischer Probleme sehr einver-
                                                                                standen, eher einverstanden, eher nicht einverstanden
                                                                                oder überhaupt nicht einverstanden?»
                                                                                 sehr / eher einverstanden  weiss nicht / k. A.
                                                                                 eher nicht / gar nicht einverstanden [in %]
  60              37          64              34         70            26

                                                                                              Kompass für die Schweiz                   9
Das Sicherheits-
               bedürfnis
                      steigt
                            1                                        2                                       3

       Bundesrat                                   Ständerat                                   Armee
        68 (+18)                                    51 (+7)                                    48 (−2)

                            4                                        5                                       6

        staatliche                                                                            bezahlte
                                                  Nationalrat
       Verwaltung                                                                            Zeitungen
                                                   48 (+8)
         48 (+8)                                                                              36 (+6)

                            7                                        8                                       9
       Fernsehen
        36 (−8)

                                             politische Parteien                                 EU
                                                    22 (+5)                                    19 (+5)

                       10       1   Vertrauen
                                                                                                                     Foto: 13 Photo / Daniel Winkler

                                INSTITUTIONEN «Wie gross ist, auf einer Skala               Flächeninhalte der
                                von 0 bis 7, Ihr persönliches Vertrauen in diese            Kreise (logarithmisch)
                                Institutionen?» [Anteil ­Vertrauen (5 –7), in % gerundet,   angepasst, um die
     Gratiszeitungen
                                Vorjahresvergleich in Prozentpunkten]                       Abstufungen besser
         17 (+1)                                                                            ersichtlich zu machen.

10       Credit Suisse
VERTRAUEN UND SICHERHEIT               Die Hierarchie der
       Sicherheitsbedürfnisse ist durch die Pandemie neu geordnet
       worden. Die Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis in
       der Schweiz hingegen sind eher gering. Mehrheitlich wird
       die wirtschaftliche Situation sehr positiv beurteilt, doch die
       Zahl jener, die um ihre Stelle fürchten, nimmt zu.

Aufgrund des Lockdowns abgestellte Flugzeuge
der Edelweiss Air und der Helvetic Airways auf dem
Flugplatz Dübendorf.

                                                     Die Schweiz hat im Sommer die erste Phase
                                                     der Covid-19-Pandemie im internationalen
                                                     Vergleich gut überstanden. Zu erwarten war,
                                                     dass dies in der Credit Suisse Sorgenbaro-
                                                     meterumfrage seinen Niederschlag in einem
                                                     Vertrauensbonus für jene Akteure findet,
                                                     die aktiv zur Bewältigung der Krise beigetra-
                                                     gen haben. Dies umso mehr, als 2019 eine
                                                     sehr ausgeprägte Kurskorrektur nach unten
                                                     erfolgt war. Tatsächlich stiegen die Werte
                                                     im Durchschnitt der 20 befragten Akteure
                                                     und Institutionen wieder von 38 auf 40 Pro-
                                                     zent [ vgl. Grafik 1 ].
                                                        Bei genauerem Hinsehen konnten jedoch
                                                     nur die Politik und die Behörden von der
                                                     besonderen Situation profitieren, insbeson-
                                                     dere der Bundesrat, doch auch der National-
                                                     und der Ständerat, die staatliche Verwaltung
                                                     und, allerdings etwas weniger ausgeprägt,
                                                     die politischen Parteien.

                                                                 Kompass für die Schweiz         11
Offensichtlich wird die bisher gute Krisenbe-   Wirtschaftliche Zuversicht, aber …
            wältigung allein der Politik zugeschrieben.     Nach wie vor sind 94 Prozent der Bevölke-
            Das Engagement der Armee beispielsweise         rung überzeugt, die Wirtschaft stehe
            wurde nicht in Form eines Vertrauens­           im Vergleich zum Ausland «eher / sehr gut»
            gewinns honoriert. Dies gilt auch für die       da [ vgl. Grafik 3]. 60 Prozent sind der
            Medien, wo gerade das Fernsehen trotz           Meinung, die Wirtschaft könne schnellere
            einer vielfältigen Berichterstattung nochmals   Lösungen als die Politik finden, wofür es
            einen markanten Vertrauensverlust erlitt.       aber mehr Freiräume und weniger Bürokratie
            Immerhin erreichten die bezahlten Zeitungen     brauche. Positiv wird auch die eigene Situa-
            den erhofften Vertrauensgewinn.                 tion ein­geschätzt. 65 Prozent der Schweizer
                                                            stufen ihre wirtschaftliche Lage als gut
                                                            oder sehr gut ein. Sogar 81 Prozent (−6 pp)
                                                            gehen davon aus, es werde ihnen in den
                                                            kommenden zwölf Monaten mindestens gleich
                                                            gut gehen wie im Moment. Der leichte
     2	Arbeitsplatzsicherheit                              Rückgang gegenüber dem Vorjahr müsste
                                                            nicht Besorgnis erregen, wenn nicht gleich-
     NEUE TECHNOLOGIE «Wie hoch schätzen Sie auf            zeitig 14 Prozent (+4 pp) befürchteten, es
     einer Skala von 0 bis 100 die Wahrscheinlichkeit,      werde ihnen künftig schlechter gehen. Nie
     dass Ihre Arbeitsstelle in den nächsten fünf Jahren    waren es in den letzten 25 Jahren so viele.
     durch einen Roboter, neue Technologie oder
     intelligente Software automatisiert wird?» [in %]
                                                            Bei dieser Einschätzung lassen sich kaum
                                                            Unterschiede zwischen Mann und Frau oder
                                         wahrscheinlich     zwischen den Sprachregionen feststellen.
                                           (50 –100 %)      Besonders ausgeprägt ist die Sorge um die
                                        weiss nicht /       wirtschaftliche Zukunft aber bei Personen
                                                k. A.       mit eher geringer Schulbildung (19 %)
             unwahrscheinlich
             (0 – 49 %)
                                                            sowie solchen mit tiefem Einkommen (32 %)
             82                        10                   beziehungsweise mittleren Einkommen im
                                                            Bereich von 5000 bis 6000 Franken (16 %).
                                         8
                                                                Den eigenen Arbeitsplatz stufen
                                                            14 Prozent als nicht sicher ein, 11 Prozent –
                                                            so viele wie noch nie – befürchten den
                                                            Verlust ihrer Stelle innerhalb Jahresfrist
     DROHENDER STELLENVERLUST «Befürchten                   [ vgl. Grafik 2 ]. Das ist zwar eine klare
     Sie selbst, dass Sie in den nächsten zwölf Monaten     Minderheit, vergleicht man den Wert aber
     Ihre Arbeitsstelle verlieren?» [in %]                  mit 2012, hat sich der Anteil jener, die
                                                            um ihre Stelle fürchten, mehr als verdoppelt.
        weiss nicht /                                       «Der Trend hin zu mehr Sorge um den
        k. A.                                               Arbeitsplatz bewegt sich auf tiefem Niveau,
                          nein
                          86
                                                            nimmt seinen Lauf aber lange vor Corona»,
                                                            kommentiert Cloé Jans von gfs.bern. «Statt-
                  ja 11
                                                            dessen könnte der Grund in der sich ver-
                                                            ändernden Arbeitswelt – Stichwort techno-
                                                            logischer Wandel – liegen.» Tatsächlich
                                                            gehen heute 8 Prozent von einem Verlust
                                                            des Arbeitsplatzes wegen neuer Technologie
                                                            in den nächsten fünf Jahren aus.

12   Credit Suisse
3	 Zustand der Wirtschaft                            4   Bausteine der Sicherheit
         INTERNATIONALER VERGLEICH «Wie steht                  TOP 10 «Wie relevant sind für Sie folgende Bausteine
         die Schweizer Wirtschaft im Vergleich zur ausländi-   der Sicherheit für die Schweiz?» Skala von 0 bis 10
         schen Wirtschaft da?» [in %]                          (10 = absolut zentral),   stark / sehr stark sicherheits­
                                                               relevant [in %]

                                                               Sicherheit der Energieversorgung
             100 in %
                                                               87
                                                               Versorgungssicherheit von Gütern
             67                             eher gut 64        85
                                                               Eigenversorgung mit medizinischen Produkten
                                                               85
                                                               Wirtschaftliche Sicherheit
                                                               84
                                                               Sicherheit der Sozialwerke
                                                               83
                                                               Vorsorge gegen Cyberangriffe
                                                               81
                                                               Datenschutz
                                                               77

                                            sehr gut 30        Vorsorge gegen Pandemien
             27                                                76
                                                               Schutz vor Terrorismus
                                                               74
                                                               Vorsorge gegen Umweltrisiken
                                                               70
                  2012                               2020

                                                               81
Versorgungssicherheit erhöhen
«Die Corona-Pandemie hat zu einer Re-
Evaluation der Sicherheitsbedürfnisse in der
Schweiz geführt», weist Cloé Jans auf
ein besonders interessantes Resultat der
Um­frage hin. «Erste Priorität hat nun die
Versorgungssicherheit in Bezug auf Energie,
Medizin und Nahrung, gefolgt von der öko­
nomischen Sicherheit in Form von Wahrung                                                %
des Wohlstands – und zwar im Erwerbs­
leben wie im Alter.»
                                                                   gehen davon aus, dass es
                                                                   ihnen 2021 mindestens so
                                                                   gut wie jetzt geht.

                                                                                      Kompass für die Schweiz              13
5	Produktion zurückholen
     VERSORGUNGSSICHERHEIT «Gewisse Produktionspro-
     zesse sollen mit staatlicher Unterstützung – ungeachtet der
     wirtschaftlichen Rentabilität – zurück in die Schweiz geholt
     werden, um die Versorgungssicherheit zu erhöhen, beispiels-
     weise von Medikamenten oder Ersatzteilen.» [in %]
                                                                         Bei der Beurteilung von 14 verschiede-
                                                                         nen Bausteinen der Sicherheit des Landes
                 eher nicht        überhaupt nicht                       [ vgl. Grafik 4 ] wird die Versorgungs­
                 einverstanden     einverstanden                         sicherheit in der Tat besonders hoch einge-
                                    1                                    stuft: An erster Stelle überhaupt steht die
 weiss
 nicht / k. A.                                                           Sicherheit der Energieversorgung, gefolgt
                              8
                                                                         von der Eigenversorgung mit medi­zinischen
                       4
                                                                         Produkten sowie der Versorgungssicherheit
                                        sehr
                                        einverstanden
                                                                         bei Gütern. Von beinahe gleich grosser
                                        39                               Bedeutung ist die Sicherung des Wohl-
                                                                         stands, dies sowohl in Bezug auf die Sozial-
                                                                         werke als auch das wirtschaftliche Wohl-
                        eher                                             ergehen.
                        einverstanden                                        An dritter Stelle folgt die Sicherheit
                        48                                               gegen neue Risiken. Dabei werden Cyber-
                                                                         angriffe, Verletzung des Datenschutzes
                                                                         sowie Pandemien als gefährlicher als
                                                                         Terrorismus und Umwelt­risiken beurteilt.
                                                                         Als etwas weniger dringlich werden die
                                                                         Sicherung nationaler Interessen im globalen
                                                                         Kontext sowie die Sicherheit gegen tradi­
                                                                         tionelle Risiken erachtet. Nicht in die Top Ten
                                                                         schaffen es die Verbesserung der interna­
                                                                         tionalen Kooperation (67 %), die Reduktion
                                                                         globaler Abhängigkeiten (65 %), die Vor-
                                                                         sorge gegen Migrationsströme (59 %) und
                                                                         die militärische Sicherheit (58 %).

                           Die Herstellung von Desinfektionsmitteln
                           wurde während der Coronakrise stark erhöht.

14
87 Prozent der Stimmbürgerinnen und
Stimmbürger sind einver­standen, gewisse
Produktionsprozesse mit staatlicher Unter-
stützung in die Schweiz zurückzuholen,
um die Versorgungssicherheit zu erhöhen
                                                                     Nur   8                %

                                                                            erachten – trotz Covid-19-­
[ vgl. Grafik 5]. Das Bild wird durch die
Forderung nach staatlichen Investitionen
                                                                            Krise – staatliche Investitionen
gerade in den Bereichen mit hohem Sicher-                                   in die Pandemievorsorge als
heitsbedürfnis fast spie­gelgleich bestätigt
[ vgl. Grafik 6] – mit einer gewichtigen
                                                                            erste Priorität.
Ausnahme: Ganz zuoberst sollen gemäss
Umfrage die Investitionen zur Vorsorge
gegen Umweltrisiken stehen.
    Insgesamt hat das Sorgenbarometer
ein erstaunlich kohärentes neues Sicher-
heitsbild an den Tag gebracht.

         Vorsorge gegen Umweltrisiken            Sicherheit der                    wirtschaftliche Sicherheit        bessere
         14                                      Energieversorgung                 8                                 internationale
                                                 13                                                                  Kooperation
                                                                                                                     4

                                                                                   Vorsorge gegen Pandemien          Vorsorge gegen
                                                                                   8                                 Cyberangriffe
                                                                                                                     4

         Eigenversorgung mit            Sicherheit              Vorsorge gegen
         medizinischen Produkten        der Sozialwerke         Migrationsströme
         12                             11                      8
                                                                                   Reduktion globaler                weiss nicht /
                                                                                   Abhängigkeiten                    k. A.
                                                                                   7                                 3

                                                                                                                     militärische
                                                                                                                     Sicherheit
                                                                                   Versorgungssicherheit
                                                                                                                     Schutz vor
                                                                                   bei Gütern                                         1
                                                                                                                     Terrorismus
                                                                                   5
                                                                                                                     Datenschutz

     6     Staatliche Investitionen                              PRIORITÄTENSETZUNG «In welchen dieser genannten Bereiche
                                                                 soll der Staat in Zukunft am meisten investieren?» [in %]

Foto: Keystone / Jean-Christophe Bott                                                              Kompass für die Schweiz            15
EUROPA         Die Beziehungen zur Europäischen Union (EU)
        gelten in der breiten Bevölkerungsmehrheit als wichtig
        und sollen weiterentwickelt werden. Doch wie genau, bleibt
        die aussenpolitische Gretchenfrage.

                               Stabile
                               Beziehungen
                               erwünscht

Geschlossene Grenze in Kreuzlingen.
Bekannte und Verliebte von
beiden Seiten der Grenze
            Credit Suisse treffen sich
am Grenzzaun zu Gesprächen.
1	 Die Schweiz und die EU
                                                              STABILE BEZIEHUNGEN                  BILATERALE VERTRÄGE
                                                              «Wie wichtig sind Ihnen stabile      «Wie wichtig sind Ihnen
                                                              Beziehungen der Schweiz mit          die bilateralen Verträge der
                                                              der EU?» [in %]                      Schweiz mit der EU?» [in %]

                                                                   4               6                        6              7
                                                                  14              14                       12             13

                                                                   6                      3                 9             4
                                                                  49               45                                     40
                                                                                                           46

                                                                                                                          36
                                                                                   32
                                                                  27                                       27

                                                                  2019                  2020               2019                2020

                                                                   sehr wichtig  eher wichtig  weiss nicht / k. A.
                                                                   eher unwichtig  sehr unwichtig

                         Die Schweiz hat schon immer eine ganz                Stabile Beziehungen mit der EU gefordert
                         besondere Rolle in der internationalen Politik       Alt-Bundesrätin Doris Leuthard schrieb
                         – und dementsprechend in internationalen             bereits 2008: «Die Bilateralen I sind ein
                         Wirtschaftsfragen – gespielt. Als «kleine            Erfolg. […] Der bilaterale Weg ist aber
                         Insel mitten in Europa» sind die Verflechtun-        steinig.» Diese grundsätzliche Haltung teilt
                         gen mit der EU besonders gross. Mehr als             auch die Schweizer Stimmbevölkerung
                         315 000 EU-Grenzgängerinnen und -Grenz-              gemäss dem Credit Suisse Sorgenbarome-
                         gänger kommen täglich zur Arbeit in die              ter 2020: Fast 80 Prozent gaben heuer an,
                         Schweiz und fast eine halbe Million Schwei-          dass ihnen die Beziehungen zwischen der
                         zerinnen und Schweizer leben in der EU.              EU und der Schweiz (sehr) wichtig sind.
                         Der wirtschaftliche Austausch zwischen der           Über 70 Prozent finden zudem auch, dass
                         Schweiz und der EU beträgt eine Milliarde            die bilateralen Verträge sehr oder eher
                         Schweizer Franken – pro Tag. Dennoch                 wichtig sind. Die grundsätzliche Stossrich-
                         ist Eigenständigkeit ein zentraler Wert im           tung ist also klar: Das Stimmvolk wünscht
                         nationalen Grundverständnis: Die Schweize-           sich eine stabile Beziehung mit der EU.
                         rinnen und Schweizer sind stolz auf ihre
                         Unabhängigkeit und Neutralität. Daher stellt
                         sich immer wieder die aussenpolitische
                         Gretchenfrage: Wie hat’s die Schweiz denn
                         eigentlich mit der EU?

Foto: 13 Photo / Roland Schmid                                                                 Kompass für die Schweiz                17
Doch von einer bedingungslosen Bereitschaft
zur Annäherung ist man weit entfernt.
Das zeigt beispielhaft der Volksentscheid
zur Annahme der Masseneinwanderungs­
                                                        53                        %

                                                                        der Stimmberechtigten
initiative oder auch das aktuelle Tauziehen
um die Verhandlung und Unterzeichnung
                                                                        be­fürworten eine
des Rahmenabkommens. Unter den Stimm­                                   eigenständige Nischenpolitik.
berechtigten, die eine Weiterentwicklung
der Beziehungen zur EU wünschen, ist das
                                                                        Tendenz steigend.
Rahmenabkommen als Grundidee weiterhin
gut verankert. Konkret möchten 53 Pro-
zent die Bilateralen über ein Rahmenabkom-
men ausbauen. Der Anteil Schweizerin-
nen und Schweizer, der eine Neuverhandlung
wünscht, nahm jedoch seit letztem Jahr zu
(27 %, +10 pp).                                                             Offensivere Nischenpolitik angesagt
                                                                            Aus dem Wunsch, stabile Beziehungen zur
                                                                            EU zu pflegen, folgt keine Gleichschaltung
                                                                            mit deren Positionen: Eine steigende Mehr-
                                                                            heit von derzeit 53 Prozent der Stimm­
                                                                            berechtigten befürwortet eine eigenständige
                                                                            Nischenpolitik im Vergleich zu einer stärke-
                                                                            ren Anbindung an die grundsätzlichen Posi-
                                                                            tionen der EU im Welthandel (derzeit
                                                                            35 Prozent). Von der eigenen Stärke über-
                                                                            zeugt, findet eine knappe Mehrheit zudem,
                                                                            dass schlechte Beziehungen mit der EU mit
                                                                            Handelsbeziehungen zu Drittstaaten auf­
         2   Die Schweiz in Europa                                          gefangen werden könnten – kein leichtes
                                                                            Unterfangen angesichts des Umstandes,
         VERHÄLTNIS IN DER ZUKUNFT «Wie soll sich allgemein                 dass die Schweiz heute jeden dritten Fran-
         das bilaterale Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU          ken im Austausch mit der EU verdient.
         Ihrer Meinung nach weiterentwickeln?» [in %]                           In den Augen der Stimmberechtigten
                                                                            verhält sich die hiesige Politik dem Ausland
                                           klare  /gezielte Reduktion       gegenüber zunehmend defensiv, was auch
                                               der Zusammenarbeit           mit dem Tauziehen um die Ausgestaltung der
                                                                            Beziehungen zur EU zusammenhängen
                                                                            dürfte. Der Wunsch aus der Stimmbevölke-
                                                                            rung ist aber ein anderer: Die Schweizer
                    klare / gezielte             Status quo
                    Weiterentwicklung            möglichst
                                                                            Regierung soll wieder offensiver auftreten.
                    65                           halten                     Gerade der Bundesrat geht aus der
                                                 18                         Coronakrise gestärkt hervor, was das Ver-
                                                                12          trauen der Bevölkerung angeht (68 Pro-
                                                                            zent der Stimmbevölkerung vertrauen dem
                                                                  5
                                                                            Bundesrat).
                                         weiss nicht /  k. A.

18           Credit Suisse
3   Beziehungen zur EU: vorwärts                                        4	 … oder zurück?
   ZUSAMMENARBEIT 1 «Welche Form der Weiter-                               ZUSAMMENARBEIT 2 «Welche Form der künftigen
   entwicklung hat für Sie 1. Priorität?» / Aufschlüsselung                Zusammenarbeit hat für Sie 1. Priorität?» / Aufschlüsselung
   jener Stimmberechtigten, die für eine klare, gezielte                   jener Stimmberechtigten, die für eine klare, gezielte
   Weiterentwicklung sind.                                                 Reduktion sind.
    2020 (Veränderung Vorjahr)  2019 [in %]                               2020 (Veränderung Vorjahr)  2019 [in %]

   bilaterale Verträge fortsetzen                                          Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen
   53 (−10)                                                                29 (+6)

   institutionelles Rahmenabkommen neu verhandeln                          institutionelles Rahmenabkommen nicht unterzeichnen
    27 (+10)                                                                22 (−11)

   EWR beitreten                                                           institutionelles Rahmenabkommen neu verhandeln
   9 (+1)                                                                   19 (−)

   EU beitreten                                                            bilaterale Verträge fortsetzen
   7 (−)                                                                   14 (+2)

   weiss nicht / keine Antwort                                             bilaterale Verträge kündigen
      4 (−1)                                                               7 (−)

                                                                           weiss nicht / keine Antwort
                                                                           9 (+3)

Aktuelle Stärke der Schweiz nutzen                            Schweiz» und schaffen ein gemeinsames
Das Image der Schweiz im Ausland ist sehr                     Fundament für das Zusammenleben unter-
gut – und ist in den letzten 12 Monaten                       schiedlicher Sprachen, Religionen und
in der Wahrnehmung der Stimmberechtigten                      Kulturen. Im Vergleich zu 2019 steigt die
eher noch besser geworden, sagen rund                         empfundene Verbundenheit mit dem
90 Prozent der Stimmbevölkerung. Auch                         Land als Ganzes unter der Stimmbevölke-
die nationale Wirtschaft steht in den Augen                   rung wieder. In dieser schwierigen Zeit
der Befragten vergleichsweise auf soli-                       scheint sich die Schweiz nun wieder auf die
den Beinen, trotz relativ hohen Fallzahlen                    Idee der pragmatischen Willensnation zu
von Covid-19 und steigender Sorge um                          besinnen und diese neu zu beleben – mit
Arbeitslosigkeit. Die Schweiz beweist also                    dem Ziel, die Gratwanderung zwischen
Resilienz und Willensstärke, gemeinsam                        dem Erhalt stabiler Beziehungen zur EU und
die Coronakrise durchzustehen.                                der Schweizer Souveränität zu bestehen.

Rückbesinnung zur Willensnation
Die Idee von Autarkie, Unabhängigkeit und
Selbstbestimmtheit gewinnt angesichts der
aktuellen Coronakrise wieder an Bedeu-                                 Als Grundlage diente das Credit Suisse Sorgenbaro­
tung in der Schweiz. Gegenüber wirtschaft-                             meter 2020, das repräsentativ die Schweizer Stimm­
                                                                       bevölkerung (rund 1800 Personen) zu aktuellen Sorgen,
licher Globalisierung ist man zunehmend
                                                                       aber auch zum Verhältnis der Schweiz mit der EU und
kritisch. Dabei geht es jedoch weniger um                              Europa im Juli / August 2020 befragt hat.
emotionalen Patriotismus als um helveti-
schen Pragmatismus. Zentrale Prinzipien wie
das gelebte Milizsystem, der Föderalismus
oder die direkte Demokratie fördern die
gemeinsame Identität der Schweiz, sie sind
die Grundpfeiler der «Willensnation

                                                                                                  Kompass für die Schweiz                19
GUY PARMELIN leitet seit
     2019 das Eidgenössische
     Departement für Wirtschaft,
     Bildung und Forschung.
     Nach dem Gymnasium hatte
     er sich zum Landwirt und
     Winzer ausgebildet und
     mit seinem Bruder den Fami-
     lienhof in Bursins geführt.
     Als Vertreter der SVP ge­
     hörte er dem Gemeinderat
     (1993–1999), Kantonsrat
     (1994–2003) und National-
     rat (2003–2015) an und
     ist seit 2015 Bundesrat.

20         Credit Suisse           Foto: Marco Zanoni / Lunax
«Wir müssen
  als Land trotz
			 C ovid-19
      zusammen-
      halten»
                                                                   Herr Bundesrat Parmelin, die Corona-
                                                                   Pandemie und ihre Folgen sind
 INTERVIEW          Der Bundesrat                                  aus dem Nichts die Top-1-Sorge der
 hat in der Bevölkerung enorm                                      Schweizer Bevölkerung geworden.
                                                                   Wie interpretieren Sie diese Problem-
 an Vertrauen gewonnen. Doch                                       wahrnehmung?
 auch die Erwartungen sind                                    Ich kann die Stimmungslage in der Bevölke-
                                                              rung sehr gut nachvollziehen. Die Covid-19-
 hoch: Er soll die Schweiz sicher                             Pandemie fordert unsere Gesellschaft und
 durch die Coronakrise führen.                                die Wirtschaft momentan enorm. Und
                                                              nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit.
 Bundesrat GUY PARMELIN                                       Tatsache ist: Die Schweizer Wirtschaft
 stand dem «Kompass» Rede                                     fiel im zweiten Quartal 2020 in eine tiefe
                                                              Rezession. Die Auswirkungen der Massnah-
 und Antwort.                                                 men zur Eindämmung der Pandemie auf
                                                              die Weltwirtschaft und den internationalen
                                                              Handel geben Anlass zur Sorge. Auch wenn
 Interview: Manuel Rybach *                                   die Aussichten für 2020 weniger negativ
                                                              als Mitte Jahr befürchtet sind, so stehen
                                                              wir doch vor dem stärksten BIP-Rückgang
                                                              seit 1975. Meine Aufmerksamkeit ist seit
                                                              Beginn der Krise auf die Frage gerichtet,
                                                              wie wir die unmittelbaren negativen Folgen
                                                              der Pandemie abfedern und dabei die
                   * Das Interview wurde Ende Oktober 2020   Stärken der Schweiz als Wirtschafts-,
                     schriftlich geführt.                     Bildungs- und Innovationsstandort auf­
                                                              rechterhalten können.

                                                                         Kompass für die Schweiz        21
Und zu welchem Schluss kommen Sie?         Ein wichtiger Aspekt für die Wettbewerbs-
    Ist Ihnen eine Abfederung gelungen?        fähigkeit ist der Zugang unserer Wirtschaft
Ich bin überzeugt, dass wir in der Schweiz     zu ausländischen Märkten. Und da müssen
dank starken Institutionen und durch unsere    wir unsere Beziehungen zur EU klären
raschen und wirksamen Unterstützungs-          und mit bilateralen Abkommen präferenzielle
massnahmen bis im Frühherbst noch schlim-      Marktzugänge schaffen. Kurz: Es hängt
mere Folgen für die Unternehmen und die        alles miteinander zusammen. Die Arbeit
Arbeitnehmenden abwenden konnten. Eine         wird uns nicht ausgehen.
wichtige Rolle spielte dabei unter anderem
die Kurzarbeitsentschädigung. Auch dank            Welchen Einfluss hat die Corona-
diesem Instrument konnte ein massiver              Pandemie auf Ihre persönliche Arbeit
Einbruch der Beschäftigung bisher vermie-          und welche Auswirkungen erwarten
den werden. Die Arbeitnehmereinkommen              Sie auf die Arbeitswelt im Allgemeinen?
wurden gestützt und eine Konkurswelle von      Normalerweise sind mir der persönliche
Unternehmen konnte bislang verhindert          Kontakt und persönliche Gespräche sehr
werden.                                        wichtig. In den letzten Monaten wurde in
    Trotzdem hat die Arbeitslosigkeit zuge-    der Bundesverwaltung und auch in meinem
nommen. Zum Glück weniger stark, als wir       Departement in sehr vielen Bereichen im
im Frühjahr und im Sommer noch befürchtet      Homeoffice gearbeitet. Die Covid-19-Krise
hatten. Das gilt auch für die Jugendarbeits-   hat die tägliche Arbeit weiter digitalisiert.
losigkeit.                                     Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in der
    Aufgrund der zweiten Pandemiewelle ist     Privatwirtschaft. Ich gehe davon aus, dass
allerdings in den kommenden Monaten mit        die Arbeitswelt auch mittel- und langfristig
einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit    digitaler wird. Allerdings ist es heute noch zu
zu rechnen. Die Covid-19-Krise ist noch        früh, um über die langfristigen Auswirkun-
nicht ausgestanden. Wir können leider nicht    gen der Pandemie hinsichtlich neuer Arbeits­
ausschliessen, dass sich Unternehmen           formen Aussagen zu machen.
mittelfristig an neue Bedingungen anpassen
und dabei zum Teil auch Entlassungen               Das Sorgenbarometer zeigt, wie gross
vornehmen müssen.                                  das Bedürfnis nach Sicherheit in der
                                                   aktuellen Situation ist. Insbesondere
    Wo sehen Sie persönlich die grössten           gaben die Befragten an, dass für sie die
    Herausforderungen für unser Land?              Versorgungssicherheit (z. B. Energie und
Wir müssen alles daransetzen, dass sich die        medizinische Produkte) von zentraler
Wirtschaft nach der Coronakrise möglichst          Bedeutung ist. Wie sehen Sie hier das
rasch und vollständig erholt. Dazu benötigen       Zusammenspiel zwischen Wirtschaft
wir nach wie vor gut ausgebildete Leute.           und Staat? Wie soll sich die Schweiz mit
Wir dürfen bei den Aus- und Weiterbildungen        dem Ausland koordinieren?
keine Abstriche machen. Auch die Inno­         Die Schweiz als exportorientierte Volks­
vationstätigkeit und damit unsere Wettbe-      wirtschaft ist stark in die internationalen
werbsfähigkeit muss erhalten bleiben           Liefer- und Produktionsketten eingebunden.
und weiter gefördert werden.                   Die Beschaffung von Vorprodukten aus
                                               dem Ausland sowie die Absatzmöglichkeiten
                                               für unsere Produkte auf ausländischen
                                               Märkten sind für die Schweizer Wirtschaft
                                               zentral. Schätzungen des Seco gehen

22           Credit Suisse
davon aus, dass die aussenwirtschaftlichen     Aber: Wir müssen einen gewissen Struktur-
Tätigkeiten rund 1/ 3 zum BIP der Schweiz      wandel auch zulassen. Mittel- und langfristig
beisteuern. Im Verlauf der letzten Monate      geht es nicht nur darum, bestehende Jobs
sind wir uns der enormen Bedeutung des         zu sichern, sondern darum, die Erwerbstäti-
internationalen Handels für unser Land, aber   gen so aus- und weiterzubilden, dass sie
auch unserer Abhängigkeit von internatio­      im Arbeitsmarkt eine Chance auf Beschäfti-
nalen Produk­tions- und Lieferketten erneut    gung haben. Sie sehen also: Das Aus- und
bewusst geworden. Für mich ist klar: Ein       Weiterbildungssystem spielt eine entschei­
hindernis- und diskriminierungsfreier Zugang   dende Rolle.
zu ausländischen Märkten muss weiterhin
gewährleistet bleiben. Der Bundesrat und           Ein Dauerbrenner im Sorgenbarometer
das Seco engagieren sich dafür insbesonde-         ist die Zukunft der AHV und der
re im Rahmen der WTO, der OECD und                 Altersvorsorge. Welches sind mittel- bis
der G-20. Selbstverständlich erweitern und         langfristig die wichtigsten Schritte,
pflegen wir unser Netz von Freihandelsab-          um unser System der Altersvorsorge
kommen.                                            nachhaltig zu sichern?
                                               Wir alle wissen, dass es äusserst schwierig ist,
    Die Arbeitslosigkeit rangiert wieder       hier eine Lösung zu finden, um die Alters­
    höher im Sorgen-Ranking. Was braucht       vorsorge so zu sichern, dass sie möglichst
    es, um die Stärken des Schweizer           vielen Menschen in unserem Land gerecht
    Arbeitsmarktes auch künftig sicher­        wird. Diese Hausforderung beschäftigt mei-
    zustellen?                                 nen Kollegen im Eidgenössischen Departe-
In der ersten Phase war es entscheidend,       ment des Innern EDI schon seit Jahren und
die Beschäftigung und die Einkommen            wird ihn wohl auch noch geraume Zeit be-
zu stützen, um einen schädlichen und über-     schäftigen. Der Bundesrat wird sich in abseh-
mässigen Stellenabbau zu vermeiden. Das        barer Zeit auch wieder mit dieser Frage zu
ist uns mit einer guten Absicherung durch      befassen haben.
Kurzarbeitsentschädigung, Arbeitslosen­
entschädigung und arbeitsmarktliche Mass-
nahmen recht gut gelungen. Bei der Bewälti-
gung der zweiten Infektionswelle werden
diese Elemente wichtig bleiben. Langfris-
tig wird es entscheidend sein, dass wir in
unseren Sozialwerken Anreize schaffen
können, damit die Betroffenen wieder eine
Arbeit finden. Das heisst, wir müssen so
weit wie möglich verhindern, dass Menschen
in die Langzeitarbeitslosigkeit rutschen.

                          «Wir müssen einen gewissen
                            Strukturwandel auch zulassen.»

                                                                               Kompass für die Schweiz   23
Ein weiterer Klassiker der Schweizer
    Politik sind die Beziehungen der
    Schweiz zur EU. Eine Weiterentwick-
    lung des bilateralen Verhältnisses wird
    zwar von einer Mehrheit gewünscht,
    doch wie dies erfolgen soll, wird
    kontrovers diskutiert. Wie möchte die
    Landesregierung hier vorgehen?
Für die Schweiz als mittelgrosse Volks­
wirtschaft mit vergleichsweise kleinem Bin-
nenmarkt bleibt der möglichst diskrimi­
nierungsfreie, rechtlich abgesicherte und
entwicklungsfähige Zugang zu ausländi-
schen Märkten zentral, um den Wohlstand
zu erhalten. Der Bundesrat setzt sich für
die Tragfähigkeit der für die Schweiz essen-
ziellen internationalen Wirtschaftsbezie­
hungen ein. Die EU ist unser wichtigster
Handelspartner. Mit einem institutionellen
Abkommen möchte der Bundesrat den
gegenseitigen Marktzugang konsolidieren
und zukunftsfähig machen. Es soll Rechts-
sicherheit über den bestehenden Markt­
zugang schaffen und die Grundlage für              Bei den Akteuren aus Politik und Behör-
einen Ausbau der Handelsbeziehungen                den hat der Bundesrat deutlich an
bilden. Ein Abschluss erfordert aber eine          Vertrauen in der Bevölkerung gewonnen
Klärung in drei für die Schweiz zentralen          und geniesst aktuell, nach der Polizei,
Punkten. Sie betreffen den Schutz der              den zweithöchsten Vertrauenswert. Wie
Lohn- und Arbeitsbedingungen, die Unions-          interpretieren Sie diese Entwicklung?
bürgerschaft sowie staatliche Beihilfen.       Da hat zweifellos die rasche und unbüro­
                                               kratische Hilfestellung des Bundesrats in
                                               der Coronakrise eine wichtige Rolle gespielt.
                                               Wir konnten viele Unternehmerinnen und
                                               Unternehmer sowie viele Arbeitnehmende
                                               unterstützen. Heute wäre das Umfrage­
                                               ergebnis aber möglicherweise bereits wieder
                                               ein anderes. Unzufriedene, denen wir nicht
                                               oder nicht genug helfen konnten, gibt es nicht
                                               wenige!

24           Credit Suisse
«Der Bundesrat setzt sich für die
                                   Tragfähigkeit der für die Schweiz
                                   essenziellen internationalen
                                   Wirtschaftsbeziehungen ein.»

    Das Interesse an der Politik steigt seit    Oft geht in den aktuellen Diskussionen über
    2016 kontinuierlich und in der Schweiz      Trinkwasser, Landwirtschaft und Umwelt­
    hat sich seit 2018 der Anteil Jugend­       belastungen vergessen, dass wir als Land
    licher, die an politischen Demonstratio-    darauf angewiesen sind, Handel zu betreiben.
    nen teilnehmen, verdoppelt. Gleich­         Die Schweiz kann sich nur zur Hälfte selber
    zeitig bleibt der Anteil Junger, die        ernähren. Die andere Hälfte kommt aus dem
    selber einer Partei beitreten möchten,      Ausland. Das dürfen wir in all den Diskus­
    sehr tief. Wie ordnen Sie dies ein und      sionen nie vergessen.
    welchen Zugang hatten Sie als Jugend-
    licher zur Politik?                             Als Vizepräsident des Bundesrats
Für die heutige Jugend bin ich kein typisches       steht für Sie im Dezember die Wahl
Beispiel mehr. Ich wuchs auf dem Land auf           zum Bundespräsidenten an. Was
und da gab es Vereine, in denen die lokale          wünschen Sie sich für die Schweiz
Bevölkerung ihre Treffpunkte hatte. Dazu            sowie für sich persönlich während
gehörte für mich eines Tages auch das               des Präsidialjahres?
politische Engagement in einer Partei. Die      Bevor ich mich zu einem allfälligen Präsidial-
heutige Jugend sieht sich mit einem viel        jahr äussere, muss ich gewählt werden.
grösseren Angebot von Freizeitaktivitäten       Und die Wahl findet im Dezember statt. Aber
konfrontiert und hat die Qual der Wahl.         abgesehen davon wünsche ich mir für die
Eine Parteimitgliedschaft ist da nur noch       Schweiz und auch für mich persönlich, dass
selten erste Wahl.                              wir als Land mit all seinen Regionen und
                                                als Bevölkerung durch alle Generationen hin-
     Die Jugendlichen werden stark mobili-      durch trotz Covid-19 zusammenhalten und
     siert durch Umweltthemen. Als ge­          dieses Virus bald nur noch eine schlechte
     lernter Landwirt und Winzer haben Sie      Erinnerung sein wird.
     sicher einen besonderen Zugang zu
     diesem Thema. Wie nehmen Sie die
     aktuelle Diskussion wahr?
Ja, in der Tat verstehe ich die Anliegen der
jungen Leute sehr gut und beobachte eben-
falls mit wachsender Besorgnis, wie Kultur-
land zubetoniert und sehr verschwenderisch
mit den natürlichen Ressourcen umge­
gangen wird. Ich würde es aber begrüssen,
wenn nicht nur Kritik geübt, sondern ver-
mehrt Lösungen gesucht sowie aktive Bei-
träge zur Bewältigung der Umweltprobleme
geleistet würden.

   Foto: Markus A. Jegerlehner                                                  Kompass für die Schweiz   25
SUSTAINABLE FINANCE
     Eine umwelt- und sozialverträg­liche
     Wirtschaft wünschen sich immer
     mehr Leute. Die Finanz­industrie
     spielt dabei eine zentrale Rolle.
     Die richtigen Rahmen­bedingungen
     beschleunigen den Prozess
     zusätzlich.
     Von Sabine Döbeli

Finanzflüsse
nachhaltig
gestalten                                   Auch dieses Jahr stehen im Sorgenbarome-
                                            ter der Credit Suisse Themen, die direkt
                                            oder indirekt mit einer nachhaltigen Entwick-
                                            lung verbunden sind, ganz weit oben auf
                                            der Skala. Von der Altersvorsorge über den
                                            Umweltschutz / Klimawandel bis hin zur
                                            Gesundheit: Immer mehr Menschen sorgen
                                            sich um die Zukunft unserer Welt und wün-
                                            schen sich einen Wandel hin zu einer sozial
                                            gerechten, klimafreundlichen und ressour-
                                            censchonenden Wirtschaft und Gesell-
                                            schaft. Dabei wachsen auch die Erwartun-
                                            gen an die Finanzindustrie, die einen aktiven
                                            Beitrag zum notwendigen Wandel leisten
                                            soll. Die Klima-Jugend verschafft ihren
                                            Forderungen für einen grünen Finanzplatz
                                            auf der Strasse und in den Medien laut
                                            Gehör. Auch das Parlament hat die Finanz-
                                            wirtschaft im nun verabschiedeten CO ²-
                                            Gesetz in die Pflicht genommen und festge-
                                            halten, dass Finanzflüsse klimaverträglich
                                            werden sollen. Und was macht die Finanz-
                                            industrie?

26       Credit Suisse
Trend zu Anlagen mit positiver Wirkung         Enormer Kapitalbedarf für Nachhaltigkeit
Tatsächlich existieren nachhaltige Anlagen     Wenn wir uns vor Augen führen, wie viel
in der Schweiz schon seit fast vier Jahr­      Kapital nötig ist, um die globalen Nachhaltig-
zehnten und der Trend zu solchen Anlage­       keitsziele zu erreichen, wird aber schnell
formen hat sich in jüngster Zeit noch          klar, dass noch viel mehr geschehen muss.
einmal massiv beschleunigt. Gemäss der         Jährlich werden bis 2050 Investitionen
aktuellen Marktstudie zu nachhaltigen          im Umfang von weltweit durchschnittlich
Anlagen von Swiss Sustainable Finance          3,5 Billionen US-Dollar benötigt, um die
sind in der Schweiz derzeit Gelder im          weltweiten Energiesysteme so umzubauen,
Umfang von 1163 Milliarden Franken nach-       dass das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klima­
haltig angelegt, was bereits rund einem        abkommens erreicht wird. Auf diese enorme
Drittel der in der Schweiz verwalteten Ver-    Summe kommt das International Panel on
mögen entspricht.                              Climate Change (IPCC) in einem viel beach-
    Gegenüber dem Vorjahr hat sich das         teten Bericht – und dabei sind notwendige
Volumen um eindrückliche 62 Prozent            Massnahmen in anderen Sektoren wie
gesteigert. Diese Entwicklung ist Ausdruck     der Landwirtschaft oder der Immobilienwirt-
veränderter Prioritäten sowohl von priva-      schaft noch nicht mitgezählt, geschweige
ten wie auch institutionellen Anlegern, die    denn Massnahmen zur Erreichung anderer
erkannt haben, dass sich gesellschafts-        Nachhaltigkeitsziele wie verbesserte
und umweltpolitische Notwendigkeiten mit       Bildung, Bekämpfung des Hungers oder
wirtschaftlichen Entscheidungen verbinden      Zugang zu Wasser. Doch wie können
lassen und damit ein dringend notwendiger      jährlich Mittel in dieser Grössenordnung
Veränderungsprozess beschleunigt wird.         generiert werden?
    Was in der jüngsten Marktstudie beson-
ders auffällt, ist das starke Wachstum         Finanzflüsse aller Bereiche relevant
unterschiedlicher Ansätze, die alle zum Ziel   Die gesteckten Nachhaltigkeitsziele können
haben, einen aktiven Beitrag zu einer          nur erreicht werden, wenn sämtliche Finanz-
Veränderung zu leisten. Dazu gehört bei-       flüsse nachhaltig gestaltet werden, was
spielsweise der verstärkte Dialog mit          öffentliche Ausgaben ebenso sehr wie
Unternehmensleitungen, damit diese ihr         Direktinvestitionen von Unternehmen, Finan-
Geschäftsgebaren vermehrt nachhaltig           zierungen durch Banken und Investitionen
ausrichten. Auch die aktive Stimmrechtsaus-    von Anlegern umfasst. Die EU hat im Dezem-
übung oder Anlageformen, die direkt zur        ber 2019 einen «Green Deal» vorgestellt,
Armutsbekämpfung beitragen oder in grüne       der sich genau das zum Ziel gesetzt hat:
Lösungen investieren, gewinnen an Be­          Möglichst alle Finanzflüsse sollen nachhaltig
deutung. Es scheint so, als ob Anleger in      ausgestaltet werden.
zunehmendem Masse ihre Einflussmög­
lichkeiten entdecken und diese auch wahr-
nehmen.
                                                         SABINE DÖBELI
                                                         ist Geschäftsleiterin von Swiss Sustainable
                                                         Finance, dem Verband zur Förderung nachhaltiger
                                                         Finanzen in der Schweiz, und seit über 25 Jahren
                                                         in verschiedenen Funktionen im Bereich der nach­
                                                         haltigen Finanzierung tätig.

                                                                               Kompass für die Schweiz      27
Es braucht einen CO₂-
Preis, der sicherstellt,
dass sich klimafreund­liche                                 Richtige Preissignale sind nötig

Technologien rasch                                          Es wäre allerdings falsch, den Handlungs­
                                                            bedarf alleine bei den Banken und Vermö-

durchsetzen und CO₂-                                        gensverwaltern zu orten. Entscheidend für
                                                            eine vermehrte Nachhaltigkeit von Finanz-

intensive Technologien                                      flüssen sind zu einem wesentlichen Teil die
                                                            richtigen Preissignale in der Realwirt-

obsolet werden.                                             schaft: Letztlich braucht es einen CO²-Preis,
                                                            der sicherstellt, dass sich klimafreund-
                                                            liche Technologien rasch durchsetzen und
                                                            CO²-intensive Technologien obsolet wer-
                                                            den. Gefordert sind auch die Unternehmen.
                                                            Sie müssen sich und ihren Stakeholdern
            Investitionen in umweltfreundliche Techno-      transparent Rechenschaft darüber ablegen,
            logien sollen wachsen und Innovationen in       welche Massnahmen zum Schutz des
            der Industrie gefördert werden. Das Energie-    Klimas, zu einem schonenden Umgang mit
            und das Mobilitätssystem sind klimafreund-      Ressourcen oder zu fairen Arbeitsbedin­
            lich und Gebäude möglichst energieeffizient     gungen umgesetzt wurden. Aber auch bei
            auszugestalten. Als Basis dazu ist damit        Finanzpro­dukten ist mehr Transparenz zur
            begonnen worden, in einer um­fangreichen        Nachhaltigkeit von Investitionen angezeigt
            Taxonomie alle wirtschaftlichen Tätigkei-       – gerade im Hinblick darauf, dass es heute
            ten zu beschreiben, die das Prädikat «grün»     noch an einheitlichen Standards mangelt. Die
            verdienen. Unternehmen sollen da­rüber          Finanzbranche hat dies erkannt und arbei-
            Bericht erstatten, in welchem Umfang ihre       tet intensiv daran, mehr Klarheit im Nachhal­
            Produkte und Tätigkeiten diesen Vor­gaben       tigkeitsuniversum zu schaffen.
            entsprechen.
                Darauf basierend sollen dann Banken         Alle gleichermassen gefordert
            und Vermögensverwalter Produkte an-             Die kommenden Jahre sind entscheidend,
            bieten, welche Finanzmittel in diese Rich-      wenn es darum geht, die Weichen für
            tung lenken. Wenn es um die Rolle der           eine nachhaltige Zukunft zu stellen. Gefor-
            Finanzwirtschaft geht, sind nachhaltige An-     dert sind dabei alle Akteure gleichermassen:
            lageprodukte längst nicht die einzigen          Politiker, welche die richtigen Rahmen­
            Finanzprodukte, die dabei eine Rolle spielen.   bedingungen schaffen, Kunden, die ihren
            Andere Instrumente wie Green Bonds,             Wunsch nach umwelt- und sozialverant­
            grüne Hypotheken, Versicherungslösungen         wortlichen Produkten klar zum Ausdruck
            für erneuerbare Energien oder Gemein-           bringen, und Banken, die passende
            schaftsfinanzierungen für Solaranlagen, die     Produkte bereitstellen und diese auch
            direkt neue grüne Projekte fördern, sind        aktiv anbieten.
            vielleicht sogar noch effektiver. Das Poten-
            zial vieler der genannten Finanzlösungen
            ist aber bei Weitem noch nicht ausgeschöpft,
            bestehen doch zum Teil noch erhebliche
            Barrieren für deren breitere Verwendung.

28   Credit Suisse
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