Konferenzberichte - Ingenta Connect

Die Seite wird erstellt Georg Nagel
 
WEITER LESEN
Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 3, S. 665–679

Konferenzberichte

Die Geschichtlichkeit des Briefs. Kontinuität und Wandel einer Kommunikationsform
(Internationale Tagung in Marburg v. 27.–28.2.2020)

Die Veranstalter*innen Norman K asper (Halle/S.),                  anthropologische Basisphänomene die Kontinuität
Jana K ittelmann (Halle/S.), Jochen Strobel                        schriftlicher Distanzkommunikation begründen
(Marburg) und Robert Vellusig (Graz) hatten                        können.
an die Philipps-Universität Marburg geladen, um                        Yulia Mevissen (Boston) („und ja, ich weiß, daß
sich gemeinsam dem Medium ,Brief ‘ in seinem                       wir uns nicht kennen, aber…“. Epistolare Distanz-
Wesen zwischen Gebrauchstext und Literatur,                        Spiele), ebenfalls Literaturwissenschaftlerin,
seiner Funktionsweise als „sozialem Distanz-                       übertrug Vorüberlegungen zu epistolaren Distanz-
regulator“ und in seiner Eigenart als Objekt                       markern auf digitale Korrespondenzen und wid-
multiperspektivisch zu nähern. Dabei sollte diese                  mete sich anhand von Tilman Rammstedts Roman
Kommunikationsform auf Konstanten sowie Ent-                       Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters
wicklungslinien in ihrer mehrere Jahrtausende                      (2012) räumlicher, sozialer und zeitlicher Distanz
währenden Geschichte untersucht werden. Zu                         in der E-Mail-Kommunikation. Dabei fokussierte
diesem Zweck trafen sich Briefforschende verschie-                 sie Mechanismen der digitalen Kontaktaufnahme
dener Disziplinen, die Brief und Briefkommunika-                   sowie eine spezifische Online-Zeitlichkeit.
tion von der Antike bis zur Gegenwart hin anhand                       In der zweiten Sektion betrachtete Rüdiger
signifikanter Beispiele auf Aspekte wie etwa                       G ör ner (London) (Der Brief als Denkform)
Kommunikationsvoraussetzungen und -funk-                           anhand der Briefe von Friedrich Hölderlin und
tionen, Sprachspiele, Denk- und Schreibräume,                      John Keats verschiedene epistolare Denk- und
Distanzmarker und Rezeptionsmöglichkeiten                          Schreibmodi. Der Brief frage „nach personaler
betrachteten. Zugleich standen Fragen nach dem                     Voraussetzung denkerischer Prozesse“, die sich
Werkstatus bzw. der Relation von Briefen zu                        mal mehr, mal weniger dem Adressaten zuwende.
Werken sowie das inszenatorische Potenzial von                     Jener sei durch die Methode und Ordnung des
Briefen zur Diskussion. Eine Kulturgeschichte                      Briefes genötigt, der ,Systematik‘ desselben und
des Briefs sei, so Robert Vellusig, immer auch                     somit auch des Absenders zu folgen. Besonders
Teil einer Kulturgeschichte zwischenmenschlicher                   Hölderlins Turmbriefe zeichneten sich durch Re-
Umgangsformen.                                                     petition und die Notwendigkeit eines ,Du‘, eines
    Die erste der fünf Sektionen wurde von der                     angesprochenen Gegenübers, aus. Keats Briefe
Literaturwissenschaftlerin Sophia Wege (Halle/S.)                  hingegen befinden sich Görner zufolge in einem
(Spurenlesen. Evolvierte Fähigkeiten als Vorausset-                Spannungsfeld zwischen ästhetischer Distanz und
zungen brieflicher Kommunikation) eröffnet, die,                   intimer Nähe. Die „Verfertigung der Gedanken
ausgehend von einem evolutionsbiologischen An-                     beim (Brief-)Schreiben“ ermögliche ein Denken
satz, das Medium Brief innerhalb der kognitiven                    in Briefform, das bei beiden Autoren zugleich ein
Literaturtheorie verortete und dabei die zur schrift-              Bedenken der Briefform sei.
lichen Kommunikation notwendigen kognitiven,                           Jochen Strobel (Brief und Netzwerk), Ger-
technischen und soziokulturellen Mindestvor-                       manist und Editor, reflektierte ausgehend von
aussetzungen rekonstruierte. Die Fähigkeit zum                     Manuel Castells Netzwerkgesellschaft (1996) den
Werkzeuggebrauch, zur menschlichen Bindung                         Netzwerkbegriff in der Briefforschung und proble-
(Theory of Mind) und zum Spurenlesen sind                          matisierte dabei besonders die Überlieferungslage,
demnach zeitenüberdauernde Faktoren, die als                       die Voraussetzungen editorischer Praxis sowie

© 2020 The author(s) - http://doi.org/10.3726/92167_665 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
Internationalen Lizenz              Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0
666 | Konferenzberichte

die Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten von         ästhetische Kategorien der Galanterie und galanten
Personennetzwerken. Im Rahmen dessen unter-           Epistolographie am Beispiel der Briefe Aurora von
schied er zwischen Darstellungs- und Zugriffs-        Königsmarcks. Die eindrucksvoll innovativ-freie,
modi und sensibilisierte für die Differenz zwischen   galante Briefform eröffnete einen neuen Abschnitt
Menschen- und Maschinenlesbarkeit von Briefen.        der Briefgeschichte. Stauffer demonstrierte anhand
Unabhängig von Netzwerk- und Graphenzusam-            der untersuchten Brieftexte, dass ein locker-unge-
menhängen sei jedoch zur adäquaten Erfassung die      zwungener Briefstil, der nicht durch ein rhetori-
Lektüre des Einzelbriefs unumgänglich.                sches Dispositionsschema determiniert war, bereits
    Der Historiker und Digital Humanist A ndreas      vor Gellerts Brieflehre existierte und der galante
Kuczera (Gießen/Mainz) (Briefe mit der digita-        Brief sogar als Wegbereiter des post-Gellert’schen
len Brille – Briefmodellierungen in drei digitalen    ,natürlichen‘ Briefstils angesehen werden kann.
Projekten von Augustinus bis zu den Sozinianern)          In der vierten Sektion durchschritt Jana K ittel-
illustrierte anhand von Augustinus-Briefen, der       mann (Kabinett. Garten. Spaziergang. Räume des
Barbarossa-Korrespondenz im Liber epistolarum         Briefs) Wissens- und Erkenntnisräume in Briefen
der Hildegard von Bingen sowie dem soziniani-         und in Gärten mit Fokus auf dem 18. Jahrhundert,
schen Briefwechsel die Potenziale und Grenzen der     wobei sie ,Raum‘ als den Ort gesellschaftlicher
Visualisierungen und Modellierungen von Briefen       Interaktion verstand. Sie zog Parallelen zwischen
und Briefdaten im digitalen Raum und reicherte        der Garten- und Briefgestaltung sowohl im Ent-
Jochen Strobels vorhergehende theoretisch-abs-        wurf als auch in der Darstellung, Beschreibung
trakte Ausführungen mit praktischen Beispielen        und Inszenierung. Gärten dienten in Kittelmanns
an. Dabei bestätigte er dessen Plädoyer, dass Vi-     Exempeln als Schreib- sowie als Lektüreorte und
sualisierungen stets als Reduktionen und Graphen      letztlich auch als Brieftopoi, wobei ein vermeint-
primär als Zugriffshilfen auf das dahinterliegende    lich natürlicher Briefstil mit einer vermeintlichen
Material zu verstehen seien.                          Naturwildnis im Garten verschränkt werden kann.
    Den Auftakt zur dritten Sektion machte am         Gärten und Briefe fungierten hierbei als Schnitt-
darauffolgenden Tag die Theologin Eve-M arie          stellen zwischen Authentizität und Literarizität.
Becker (Münster) (Distanz oder Nähe? Das Pa-              Anschließend betrachtete Claudia Bamberg
rousia-Motiv bei Paulus und Seneca im Vergleich),     (Marburg) (Schau-Objekte der Literatur. Funktio-
die nach der Nachhaltigkeit und dauerhaften           nen des Briefs in Sammlungen und Ausstellungen
Gültigkeit eines Briefs vor dem Hintergrund des       des frühen und des späten 19. Jahrhunderts) den
Parousia-Motivs, also der ,Präsentmachung‘ des        Brief in seiner Eigenschaft als Gegenstand, spe-
Schreibers durch seine schriftliche Mitteilung,       ziell als Ausstellungsobjekt, und stellte die Frage,
fragte. Ein Brief kann hierbei als Technik der        was denn überhaupt ausgestellt werde, wenn
räumlichen Überwindung zum Erreichen des              ein Brief exponiert wird – mit dem Ergebnis,
abwesenden Freundes dienen – er ermöglicht            dass eine Funktionsverschiebung von Briefen in
eine Vergegenwärtigung des Verfassers sowohl          Sammlungen und Ausstellungen stattgefunden
für den direkt adressierten Empfänger als auch        hat. Während Briefe im 18. Jahrhundert noch
für die mögliche Nachwelt, denn was Parousia          „als materialisierte Subjektivität“ und primär als
zu Lebzeiten leistet, wird postum von Memoria         Andachtsobjekte dienten und Briefsammlungen
übernommen. Parousia, so Becker, scheint an die       in einer Art ,Wunderkammermodell‘ präsentiert
Lebenszeit gebunden; durch das Memoria-Motiv          wurden, wandelte sich das Interesse am Brief im 19.
hingegen ist es etwa bei Senecas Briefen möglich,     Jahrhundert eher in Richtung eines objektiveren,
den Brief als Medium der Selbstartikulation und       museal-wissenschaftlich motivierten Ansatzes.
der Identitätsstiftung von biographischen Situatio-   Bestehen blieb jedoch – wenngleich mit anderer
nen zu lösen und potenziell auch auf infinite Zeit    Gewichtung – die Fähigkeit des Briefs, „Vergan-
hin urbar zu machen.                                  genes in die Gegenwart“ zu transportieren und
    Nach einem Zeitsprung von der Antike in           durch seine Materialität einerseits den Verfasser
die frühe Neuzeit präsentierte Isabelle Stauffer      zu vergegenwärtigen, andererseits als reichhaltige
(Eichstätt) (Der galante Brief. Aurora von Königs-    Quelle zu dienen, wodurch er zum auratisierten
marck) wesentliche Gestaltungselemente und

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                              Peter Lang
Konferenzberichte | 667

Fetischobjekt werden konnte, dessen Lesarten über     Nähe und Distanz. Elemente einer Anthropologie
die Epochen hinweg aber changierten.                  des Briefs war, hat abermals verdeutlicht, wie di-
   Die Materialität stellte auch Sophia V. K rebs     vers und vielseitig das Kommunikationsmedium
(Wuppertal) (Papier, Raum, Distanz. Lektürehin-       ,Brief‘ ist und wie viele Desiderate bezüglich seiner
weise zum,Brief ‘ um 1800) in den Vordergrund,        Erforschung bestehen. Der Brief in seiner Text-
indem sie auf Basis einer Auswertung von Brief-       ualität, Medialität und Materialität ermöglicht
stellern Gestaltungsnormen herausstellte und          einerseits eine Erweiterung von Spielräumen der
diese mit authentischen Briefen, in diesem Fall       Selbstdarstellung, andererseits eine Erweiterung
von August Wilhelm Schlegel, abglich. Dabei           des Denkens durch Briefaustausch. Der ‚Werk-
wurde eine semantisierte Schreibraumgestaltung        stattcharakter‘ des Briefs, der Brief als geschützter
sichtbar, die sich auf nahezu jedes materielle        ‚Erprobungsraum‘ für Gedanken und Texte vor der
Element des Briefs übertragen lässt und inhalt-       Überführung in eine breite mediale Öffentlichkeit
liche Aussagen bereits anhand der Gestalt eines       wurde während der Tagung ebenso hervorgeho-
Briefes ermöglicht – wenngleich freilich, analog      ben wie sein Potenzial, retrospektiv Zugriff auf
zu den Netzwerkausführungen tags zuvor, diese         spezielle Zeiträume, Epochen, Personen, Denk-
Zugriffsmöglichkeit nicht die Lektüre des Verbal-     weisen und Kommunikationsmodi zu eröffnen.
textes ersetzen kann.                                 Der Brief bot und bietet Möglichkeiten zum
   Die fünfte Sektion war N or m a n K a sper         schriftlichen Kontakt und Austausch fernab der
(Profunde Post. Ernst Jünger und die Tradition        Literatur – erlaubt aber dennoch eine (schriftlich
des Gelehrtenbriefs) vorbehalten, der sich mit der    fixierte) Orientierungssuche und Verewigung des
Sammlung, Sortierung und Praxis eines Gelehr-         ,Selbst‘. Antworten auf Fragen nach Erfolg der
tenbriefwechsels am Beispiel von Ernst Jünger         Briefkommunikation, der Glaubwürdigkeit des
und der Ägyptologin Emma Brunner-Traut                Briefs als Form, seiner Überzeitlichkeit und seinen
auseinandersetzte. Jünger, der aufgrund seines        epochenspezifischen Kommunikationsstandards
Nachlassbewusstseins auch als ,Archivautor‘ be-       konnten nur andeutungsweise gegeben werden.
trachtet werden kann, lässt in seinem Korrespon-         Eine Publikation von Beiträgen der beiden
denzverhalten eine „weltanschauliche Forschung“       Tagungen ist geplant.
erahnen. Im Kontext einer wissenspoetologischen
Auswertung des Briefwechsels wurde darin ein                                     Sophia Victoria Krebs
Abstecken des weltanschaulichen Rahmens mit           Bergische Universität Wuppertal
Rückversicherung durch brieflichen Kontakt mit        Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften
den Naturwissenschaften erkannt, was wiederum         Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissen-
in Jüngers Abhandlung Das spanische Mondhorn          schaft und Editionswissenschaft
(1962) Niederschlag fand.                             Gaußstraße 20
   Die Tagung, die ihrerseits die Fortsetzung eines   D–42285 Wuppertal
2018 in Graz abgehaltenen Kongresses zum Thema        

Werk und Beiwerk. Zur Edition von Paratexten (18. Internationale Tagung der Arbeits-
gemeinschaft für germanistische Edition im Deutschen Literaturarchiv Marbach v. 12.–
15.2.2020)

Was ist Gegenstand einer Edition? Das heißt im-       hierzu in das Deutsche Literaturarchiv in Marbach
mer auch: Was ist nicht ihr Gegenstand? Diesem        am Neckar. Die interdisziplinäre Plenartagung
weitgreifenden, freilich auch unter ‚digitalen Vor-   wurde in Kooperation mit der Fachgruppe Freie
zeichen‘ fortlaufend virulenten Problemkomplex        Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikfor-
widmete die Arbeitsgemeinschaft für germanistische    schung und der Arbeitsgemeinschaft philosophischer
Edition ihre 18. Internationale Tagung und lud        Editionen durchgeführt und fand erstmals an

Peter Lang                                                       Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
668 | Konferenzberichte

jenem, Archiv und Bibliothek zusammenführen-           Beiwerkbegriffs, (c) die Fragen nach der Werk-
dem Ort statt, der Werke sowie Vor- und Nachlässe      politik und (d) eine konkrete Operationalisierung
von Autor*innen des 19. und 20. Jahrhunderts in        des Werkbegriffs.
exzeptioneller Vielfalt versammelt.                        Monik a S chmitz-E mans (Bochum) hob in
    Im Anschluss an das Paratext-Verständnis           ihrem Plenarvortrag die Bedeutung sinnkonsti-
Gérard Genettes führte die Tagung übergreifende        tutiver Materialeigenschaften im Rahmen edito-
Fragestellungen insofern eng, als sich Forschende      rischer Repräsentationen hervor. Anhaltspunkte
der Literatur-, Geschichts- und Musikwissen-           für die besondere Geltung der Materialität liegen
schaft wie auch der Philosophie theoretisch und        etwa vor, wenn Erwähnungen oder Anspielungen
am Beispiel laufender Editionsprojekte darüber         im schriftlichen Text (etwa durch Sprachbilder)
austauschen sollten, wie mit jenen Elementen           erfolgen. Wenn Materialität und Buchgestaltung
editorisch umzugehen sei, die – wie es im Call         zum literarischen Ereignis zu rechnen sind, werden
for Papers hieß – zwar „mit dem zu edierenden          die Herausforderungen, diese editorisch darzu-
Text bzw. Werk materiell verbunden sind, aber          stellen, und der Anspruch, solcher ‚Buchliteratur‘
nicht seine eigentlichen Textsorten (‚Peritexte‘)      gerecht zu werden, besonders groß. Am Beispiel der
bilden“. Indem Genettes prägende Monographie           unterschiedlichen Ausgaben von Laurence Sternes
Seuils (dt. Paratexte) von 1987 schon begriff-         Tristram Shandy wurden entsprechend markante
lich Pate stand, begründete die darin vollzogene       Aspekte herausgearbeitet. Sterne hatte in das
Unterscheidung von ‚Text‘ und ‚Werk‘ das zen­          Manuskript eine Anweisung für den Buchbinder
trale Problembewusstsein und wies damit auf ein        integriert, der zufolge im Produktionsprozess zwei
Bündel editorischer Herausforderungen hin. Aus         leere Buchseiten mit stets zufällig herangezogenem
der freilich ergänzungsbedürftigen, terminologisch     Marmorpapier beklebt werden sollten. Im Roman-
unscharfen Begriffsapparatur und dem, zumal            text spricht der Erzähler unmittelbar davor von
aus editorischer Sicht, begrenztem Phänomenbe-         der „marbled page“ als „emblem of my work“.
wusstsein hatten die Veranstalter die entscheidende    Neben dem Anteil der ‚marmorierten Seite‘ am
Wahrnehmung geborgen, dass sich „Text“ – wie           Sinngehalt des Werkes verdient aber auch der Um-
Genette schreibt – „selten nackt, ohne Begleit-        stand Beachtung, dass der Produktionsprozess der
schutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht    ersten Ausgaben im 18. Jahrhundert ausschließlich
verbaler Produktionen“ präsentiert. So wurde die       Unikate hervorgebracht hat. Wie lässt sich nun das
Aufmerksamkeit auf jene Merkmale von Werken            Zufällige, Einmalige und Individuelle der Erstaus-
gelegt, die Autoren, Herausgeber und Verlage           gaben erhalten, wenn die Charakteristika der Pro-
dem ‚nackten Text‘ hinzugeben, um ihn ‚präsent‘        duktion mit zentralen Inhalten des Textes in enger
zu machen: Titel und Illustrationen, Vor- und          Verbindung stehen? Die offensichtliche Kongruenz
Nachworte, Motti und Widmungen, Typographie            von Literatur und Materialität hatte – im Fall
und Buchumschläge. Folgt man der Genett’schen          dieses Romans – sehr unterschiedliche editorische
Heuristik „Peritext + Epitext = Paratext“ weiter, so   Lösungen hervorgebracht: In den darauffolgenden
gehören auch Epitexte in den reflexionsbedürftigen     Ausgaben wurde entweder die je Buchexemplar
Bezirk moderner Editorik: Als werkexterne Para-        singuläre Form des marmorierten Blattes homo-
texte sind Epitexte autoreigene oder fremde Do-        genisierend reproduziert, nur die schriftliche An-
kumente wie Tagebuch- und Notizbucheinträge,           weisung des Autors ohne das entsprechende Blatt
Briefäußerungen oder Interviews. Nach Genette          wiedergegeben oder gar beides einfach weggelas-
bildet die Gesamtheit dieser Paratexte das „Bei-       sen. Während sich dieser Umstand leicht aus den
werk, durch das ein Text zum Buch wird und als         reproduzierenden und teils nunmal unachtsamen
solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die        Kulturtechniken erklären lässt, weist der Fall der
Öffentlichkeit tritt.“1                                „black page“ auf ein anderes Phänomen hin. Die je
    Im Folgenden sollen aus der Fülle der insgesamt    nach Drucktechnik unterschiedlich ausgeformte,
rund 50 Tagungsbeiträge vier ausgewählte The-          vom Autor klar als schwarz markierte Seite wurde
menbereiche nachvollzogen werden, die grund-           nicht nur nicht immer im technisch möglichst
legende Aspekte des Themas verhandelt haben:           dunklen Schwarz, sondern auch in verschiedenen
die Problematisierung des (a) Werk- und (b) des        Formen reproduziert: beispielsweise in Form eines

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                             Peter Lang
Konferenzberichte | 669

Grabsteins. Der editorische Umgang mit der se-          (Heidelberg) und Christine Vogl (München/
mantisch aufgeladenen Seite fußt auf der jeweils        Halle). Sie arbeiteten spezifische, langfristig
interpretierten Anweisung des Autors. Wie auch          wirksame Entscheidungen der Editoren heraus,
die „marbled page“, so erhält auch die „black page“     die sich im Licht des Tagungsthemas als proble-
ihre Bedeutung in Bezug auf den geschriebenen           matisch erweisen. Ausgehend von Lessings – in
Text, wodurch das vermeintliche Beiwerk zum             den Jahren 1753–1755 selbstständig publizierter
Teil des Werkes wird.                                   – Werkausgabe konstatierte Reibold, dass die
    Vom Beiwerk in Richtung Werk arbeitete sich         Konzeption der Schrifften auf einem durchdach-
Barbara Hunfeld (Würzburg) problembewusst               ten und erfolgreichen werkpolitischen Kalkül
an dem Begriff der Werk-‚Vorarbeit‘ und seinen          basiert, wobei Paratexte bedeutenden Anteil an
editorischen Konsequenzen ab. Aus der Anfangszeit       der Autorkomposition hatten. Überzeugende Be-
der Jean-Paul-Philologie stamme eine traditionelle      lege hierfür lieferten Hinweise zum Sinngehalt der
Vorstellung von der „Klassizität des Dichterwerks“      Frontispize und zur Bedeutung der Textarrange-
und habe im Bereich der Literaturwissenschaft zur       ments in den sechs Bänden.2 Die paratextuellen
Ratifizierung teleologischer Annahmen geführt:          Besonderheiten dieser Werkausgabe fanden in
Wenn Schreiben ausschließlich auf die Schaf-            den zahlreichen Lessing-Ausgaben (von K. G.
fung von Text und Werk gerichtet sei, gehörten          Lessing über Lachmann/Muncker bis Göpfert
Handschriften in den Bereich der „den Werken            und Barner) gleichwohl keine editorische Auf-
beizuordnenden Materialien“. Hieraus zogen Jean-        merksamkeit: Nie seien die Schrifften – der Erst-
Paul-Editoren die Konsequenz, diese Materialien         ausgabe gemäß – gemeinsam mit ihren Paratexten
nicht zu edieren, sondern lediglich rubrizierend        ediert worden. De facto wurden die von Lessing
– in Auswahl oder Paraphrase – „mitzuteilen“.           angeordneten und paratextuell gerahmten Texte
Weil ihnen kein eigenständiger Sinn zugeschrieben       in den späteren Werkausgaben unter anderen
wurde, interpretierte man sie, ohne sie zugleich        Gesichtspunkten ediert und das heißt: aus ihrem
per Edition mitzuteilen. Wenn auch die neuere           von Lessing konzipierten Rahmen herausgelöst.
Jean-Paul-Edition eine relative Aufwertung der          Vogl konzentrierte sich im Rahmen ihres Refe-
Handschriftenkonvolute vollzog, blieb dieses Kor-       rats auf Lessings kunsttheoretische Hauptschrift
pus dem Werk nachgeordnet: Als Beitexte wurden          Laokoon (1766) und stellte heraus, dass zwischen
die Handschriften Teil der Kommentar-, nicht der        der rezeptiven Geltung des Textes und dem Be-
Werkbände. Demgegenüber suchte Hunfeld den              streben, eine zuverlässige Textedition herzustellen,
Eigensinn dieser Konvolute zu begründen, indem          ein Ungleichgewicht bestehe. Dieses „eklatante
sie ihre Bedeutung als „Labyrinth polyvalenter          Missverhältnis“ zeige sich an der – editorisch nie
Ideennotate“ herausstellte. So perspektiviert, stelle   reflektierten und in Folge revidierten – Auswahl
sich die Bedeutung bezogen auf das spezifische          jener Epitexte, die für die Fortsetzung relevant
Schaffen Jean Pauls neu dar; es müsse von einem         waren und sozusagen zum avant-texte zu rechnen
„Allwerk“ gesprochen werden, in dem das „Parer-         seien. Die erstmals von Lachmann/Muncker
gon“ zum hierarchisch gleichberechtigten „Ergon“        1898 vorgenommene Auswahl und Beschränkung
werde. Aus der Spezifik des Jean-Paulsch’en Œuvre       auf 30 Nachlassstücke hat auch Wilfried Barner
und der komplexen Verschränkung von publizier-          in seine Studienausgabe übernommen und den
tem Werk, Textfassungen und der Vorstellung             Begriff ‚Paralipomena‘ verwendet. Die neuere
eines Gesamtwerks gewann Hunfeld die These,             Lessing-Philologie habe demgegenüber den Nach-
dass sich die Handschriften und die publizierten        weis erbracht, dass diese Beschränkung die Sich-
Texte komplementär zueinander verhalten, folglich       tung, folglich auch die Analyse des tatsächlichen
das eine für das jeweils andere Werk und Beiwerk        Umfangs von Lessings groß angelegtem Projekt
sei. Die gegenwärtig erarbeitete Ausgabe negiert        behindere. Zahlreiche „(Epi-)Textstücke“ seien
damit das Klassizitätspostulat und reagiert mit der     in anderen Zusammenhängen überliefert, ohne
Edition der sogenannten Vorarbeiten im Rahmen           dass dadurch ihr Ausschluss zu rechtfertigen sei:
eigener Texteditionsbände.                              in den Anmerkungen in Lessings Handexemplar
    Der umfangreichen Editionsgeschichte von            von Winckelmanns Kunstgeschichte, in diver-
G. E. Lessing widmeten sich Janina R eibold             sen Notizen in Kollektaneen und in brieflichen

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
670 | Konferenzberichte

Äußerungen, sowie, als epitextuelle Elemente,          gewinnbringend unter den Begriffen „Werk“ und
in Lessings antiquarischen Schriften. Vogl strich      „Beiwerk“ fassen. Einerseits konnte damit eine
heraus, dass der Unterschied zwischen Text und         erste Ausmessung des Verhältnisses beider Begriffe
Epitext schwierig zu definieren sei, sodass sich be-   zueinander geleistet und deren zentrale Stellung
sondere Herausforderungen für die Repräsentation       im editorischen Aufgabenapparat herausgestellt
im Rahmen einer historisch-kritischen Ausgabe          werden (man denke an das kleine, sowohl verbin-
ergäben.                                               dende als auch trennende „und“ im Tagungstitel);
   Dass das Verhältnis von „Werk“ und „Beiwerk“        andererseits wurde deutlich, dass es hier noch einer
auch in anderen Bereichen virulent wird, zeigte der    terminologischen Schärfung bedarf. Um diffe-
Beitrag von K arin Schmidgall (Marbach) und            renziert beschreiben zu können, was auf welche
A rno Barnert (Weimar). Denn die herkömmli-            Weise Gegenstand einer spezifischen Edition ist
cherweise bloß als Hilfswissenschaft begriffene Bi-    und was nicht – und dies also auch argumentativ
bliothekswissenschaft muss sich neben dem – nicht      nachvollziehbar zu machen –, besteht ein erhöhter
nur technischen – Wandel innerhalb der digitalen       Bedarf nicht nur an einer angemessenen Termino-
Bibliothekskataloge nun auch mit literaturwissen-      logie, sondern auch einer neuerlichen editorischen
schaftlichen Fragen beschäftigen: Im Rahmen des        Aufgaben- und Methodenreflexion. Wie gewohnt
sich etablierenden Standards der Functional Requi-     werden die Plenarvorträge in den kommenden
rements for Bibliographic Records (FRBR) tritt die     beiden Bänden der editio (Nr. 34/35, 2020/2021)
Frage, was ein spezifisches Werk ausmache – und        erscheinen; die Sektionsvorträge werden von den
was nicht –, auch aus bibliothekssystematischer        Veranstaltern in der Reihe Beihefte zu editio 2021
Sicht in den Fokus. In diesem Standard wird            herausgegeben.
zwischen der Werk-, Expressions-, Manifestations-
und der Exemplar-Ebene unterschieden, wobei eine
Ebene jeweils als die Realisation bzw. Materialisa-    Anmerkungen
tion der jeweils vorhergehenden verstanden wird.
Gegenüber der üblichen Darstellung (top-down)          1   Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk
zeigten Schmidgall und Barnert allerdings die              des Buches. Frankfurt a. M. 2001, S. 9 f.
Möglichkeit auf, dieses System ‚von unten‘ her zu      2   G. E. Leßings Schrifften. 6 Tle. Berlin 1753–1755.
denken: nämlich ausgehend von den materialiter
konkret vorliegenden Exemplaren hin zu den                                             Andreas Dittrich
abstrakteren Werkeinheiten. Hier wird deutlich,        Bergische Universität Wuppertal
dass die bibliothekarischen Systeme, mit denen im      GRK 2196: Dokument – Text – Edition
akademischen Alltag gearbeitet wird, nicht nur mit     Gaußstr. 20
einem zentralen Begriff der Editions- und Litera-      D–42119 Wuppertal
turwissenschaft operieren, sondern dass hier ge-       
troffene Entscheidungen auch maßgebliche Effekte
auf wissenschaftliche Recherchen haben können.                                         Mike Rottmann
   Abschließend lässt sich sagen, dass im Rahmen       Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
der Tagung ein breites Spektrum editorischer           Germanistisches Institut
Problemlagen ins Bewusstsein gebracht wurde;           Ludwig-Wucherer-Straße 2
viele Editionsprojekte und die in ihnen bearbei-       D–06018 Halle
teten Texte, Werke und Materialien lassen sich         

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                                Peter Lang
Konferenzberichte | 671

Das Regiebuch. Zur Lesbarkeit theatraler Produktionsprozesse in Geschichte und
Gegenwart (Tagung in Hamburg v. 20.–21.2.2020)

In seiner Einführung im Warburg-Haus strich              gedruckten Lesedramas zu einem Regiebuch.
der Organisator M artin Schneider (Hamburg)              Dieses wurde durch handschriftliche Angaben zur
heraus, dass bereits der Begriff des ‚Regiebuchs‘        Ausstattung, hinzugefügte Regiebemerkungen,
Probleme aufwerfe. Könne davon nicht erst die            Erweiterungen und Kürzungen des gesprochenen
Rede sein, seitdem es Regisseur*innen gebe, ob-          Textes sowie Angaben zur Gestaltung der Zwi-
gleich die Tagung mit Aufführungsmaterial aus            schenakte für eine Inszenierung ausgearbeitet.
dem 16. Jahrhundert einsetze? Untersucht werden          Jahn betonte, dass es zwar viele Dramendrucke
sollte, ob sich Gemeinsamkeiten zwischen den             aus dieser Zeit gebe, aber Ausgaben wie diese von
Regiebüchern der letzten Jahrhunderte feststellen        Areteugenia singulär seien. Dennoch ließen sich
ließen. Schneider betonte die Materialität des           hier, ebenso wie bei den zuvor vorgestellten Re-
Regiebuchs als Sammlung von Aufführungsmate-             giebüchern, nur bedingt Aussagen über die realen
rialien und Regiearbeit und verwies auf seine Form       Aufführungen treffen, da immer noch Distanz
als Palimpsest. Mit Blick auf Schriften um 1900          zwischen Aufführung und Regiebuch bestehe.
zeigte Schneider, dass mit dem Beginn des Drucks             Dirk Niefanger (Erlangen) (Schillers Bearbei-
von Regiebüchern und dem damit verbundenen               tung von Lessings „Nathan“ – und die Stuttgarter
Urheberrecht eine besondere Fixierung von In-            Regiebücher) untersuchte vier Regiebücher, die alle
szenierungen notwendig geworden sei.                     aus Schillers Bearbeitung von Lessings Nathan der
    Im Anschluss hielt Ju li a G old (Gießen)            Weise für das Weimarer Theater entstanden: eine
(Ersetzung, Streichung, Zettelsammlung. Zur Mate-        Subskriptionsausgabe, die Marbacher Reinschrift
rialität des Luzerner Apostelspiels [1585/1599]) einen   ‚h‘, ein Dirigierbuch und ein „Inspicir“-Buch. Die
Vortrag über ein handschriftliches Regiebuch der         daraus hervorgehende Fassung wurde an andere
Luzerner Apostelspiele, welches bereits Ende des         Theater verkauft, so auch nach Stuttgart. Nie-
16. Jahrhunderts Charakteristika späterer Re-            fanger arbeitete u. a. heraus, dass das Stuttgarter
giebücher aufweist, so bspw. Rollenverzeichnisse,        Dirigierbuch sich inhaltlich eher an Lessings
Regieanweisungen und Stellpläne für die Spie-            Fassung hält als an Schiller. Gemeinsamkeiten
ler*innen. Gold rekonstruierte die Arbeit, die an        zwischen den Büchern bestehen vor allem in ihrer
dem Regiebuch vorgenommen wurde, und lieferte            intensiven Bearbeitung, in verschiedenen Farben
Belege für die These, dass die handschriftlichen         und Handschriften, die auf eine lange Nutzung
Aufzeichnungen Grundlage für den Spielleiter             der Bücher hinweisen.
waren, um die Inszenierung zu gestalten.                     Über das Regiebuch als Protokoll von Ver-
    Anschließend entwickelte Cora Dietl (Gießen)         änderungen im Probenprozess und die daraus
(„Nota bene: Abeunt.“ Das Zuger Oswald-Spiel als         ablesbare „Maschinen-Dramaturgie“ sprach Meike
missverstandenes Regiebuch) Argumente dafür,             Wagner (Stockholm) (Maschinen-Dramaturgie.
dass eine um 1600 datierte Handschrift eben-             „Der Zauberflöte zweyte Theil. Das Labyrinth oder
falls als frühes Regiebuch aufzufassen sei. Dietl        Der Kampf mit den Elementen“ am Berliner Natio-
machte dies besonders an den handschriftlichen           nal-Theater 1803). Die Regiebücher des Berliner
Eintragungen von Regieanweisungen und dem                Theaters beinhalten neben Textergänzungen
regelmäßig an aufführungsrelevanten Stellen              u. ä. auf der jeweils rechten Seite drei Spalten, in
vermerkten „Nota bene“ fest, das als möglicher           denen Dekorationsvorschläge, Arbeitsaufträge
Hinweis für die Spielleitung und die Spieler*innen,      und die Notizen des Bühnenmalers zu finden
diese Momente in der Aufführung besonders zu             sind. Aus diesen Notizen lassen sich einerseits die
beachten, zu lesen sei.                                  Probleme des Probenprozesses, andererseits der
    Bernhard Jahn (Hamburg) (Das Wolfenbüt-              szenische Sinn der Theatertechnik ablesen. In den
teler Exemplar von Daniel Cramers „Areteugenia“.         Regiebüchern ist die Institution Theater als pro-
Ein barockes Regiebuch?) zeigte an einem baro-           duktive Maschine zu erkennen. Wagner betonte
cken Dramendruck die Transformation eines                deren besondere Dramaturgie, die sich nicht nur

Peter Lang                                                          Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
672 | Konferenzberichte

im Text und in der Bühnenmalerei, sondern bspw.         Dokuments warf für Ernst die Frage auf, warum
auch in der Technik der Bühnenbeleuchtung               das Theater, die gerade entstehende Dramaturgie
erkennen lasse.                                         und die Problematisierung der Regie von Jessner
    Den letzten Vortrag des ersten Tagungstages         nicht öffentlich verhandelt wurden.
hielt K atrin Dennerlein (Würzburg) (Kleists                Eine besondere Form des Regiebuchs stand im
„Zerbrochner Krug“ in seiner ersten erfolgreichen       Fokus des Vortrags von A nna H äusler (Dresden)
Bühnenbearbeitung). Das Inspektionsbuch der             (Modelltheater. Brechts Modellbücher). Die soge-
Hamburger Aufführung von 1820 basiert auf               nannten Modellbücher wurden als dreibändige
Friedrich Ludwig Schmidts Bearbeitung von               Ausgaben publiziert, welche den Text des Stücks,
Kleists Text, die als erste erfolgreiche Fassung        Fotoreihen der Produktionen sowie Anmerkun-
auch in anderen Städten gespielt wurde. Das             gen Brechts und seines Teams boten. Die Bücher
vorhandene handschriftliche Buch beinhaltet             wurden an andere Theater unter der Bedingung
wenige Ergänzungen neben dem eigentlichen               verkauft, dass die Dramen in eben dieser Form
Text, dennoch lassen sich Requisitenlisten sowie        aufgeführt würden, was für die Verbreitung der
eine Skizze des Bühnenbilds finden. Da dieses In-       Brecht’schen Regieform sorgte. Auch wenn diese
spektionsbuch kein Soufflierbuch ist, sondern für       Bedingung später gelockert wurde, bieten die Mo-
den Inspizienten z. B. Auf- und Abtritte vermerkt       dellbücher Brechts nicht nur eine detaillierte Nach-
sind, kommt es bereits dem Begriff ‚Regiebuch‘          vollziehbarkeit seines Arbeitens, sondern belegen
recht nahe. Dennerlein verwies in diesem Kontext        den Versuch der Etablierung eines künstlerischen
darauf, dass der Inspizient um 1820 häufig gleich-      Standards für die Inszenierung seiner Texte.
zeitig als Regisseur fungierte.                             Nina Birkner (Jena) („Im Krieg ist die Welt
    Jörg K r ämer (Erlangen) (Was verraten Re-          dem Menschen bloß Schicksal“ – Hansgünther
giebücher? Erkenntnispotentiale von Musiktheater-       Heymes Bearbeitung von Schillers „Wallenstein“
Regiebüchern des langen 19. Jahrhunderts) eröffnete     für das Schauspiel Köln (1969)) ging anhand der
den zweiten Tagungstag mit einem Vortrag über           Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe zu Heymes
mehrere Regiebücher aus der Theaterbibliothek           Schiller-Inszenierung der Frage nach, ob diese für
des Staatstheater Nürnbergs von 1800 bis 1918.          den Druck bearbeitete Fassung als echtes Regie-
Krämer zeigte die Entwicklung von Partituren            buch Heymes gelten darf. Der Druck enthält
als Regiebüchern hin zu durchschossenen Klavier-        neben Szenenfotos an den entsprechenden Stellen
auszügen, die im Regelfall ab 1908 für Regie, In-       auch Quellentexte und Erfahrungsberichte und
spizient und Souffleur dreifach vorhanden waren.        protokolliert die Regiearbeit Heymes minutiös.
Neben den eingetragenen Besetzungsstärken sowie         Somit darf die Veröffentlichung nach Birkner als
Anweisungen zu Requisiten, Dekoration und der           Regiebuch gelten, da sie die Spielvorlage mit Be-
Mimik und Gestik der Spieler*innen erschienen           arbeitungen enthält. Als Dokumentation erlaubt
ab 1828 vermehrt gedruckte Musterregiebücher,           das Buch vor allem eine hermeneutische Deutung
durch die Pariser Inszenierungen identisch in           der Inszenierung.
Nürnberg aufgeführt werden konnten. Krämer                  Über ein zeitgenössisches Phänomen sprach
stellte die These auf, dass dieses Nachspielen der      A nika Tasche (Göttingen) (Dea Loher & Andreas
Regiehefte die Regie normierte und stabilisierte.       Kriegenburg. Text und/versus Regie am Beispiel von
    Wolf-Dieter Ernst (Bayreuth) (Das Regiebuch         „Das letzte Feuer“), die mit Blick auf Kriegenburgs
als Beweisstück? Die kulturpolitische Kontroverse um    Hamburger Inszenierung von Das letzte Feuer das
die ‚Klassiker‘-Inszenierung Leopold Jessners) analy-   besondere Verhältnis von Autorin und Regisseur
sierte ein „Meta-Regiebuch“ Leopold Jessners, wel-      beleuchtete und die Frage aufwarf, inwiefern
ches als Dramaturgie-Traktat die machtpolitische        Inszenierungen von Autor*innen mitgedacht
Dimension des Theaters in Bezug auf Verhältnis          werden. Loher lässt im Text bewusst Lücken für
von Regie und Text behandelt. Die schöpferische         die Regie, die Kriegenburg aufgreift. So schlägt
Freiheit der Regie im Umgang mit Klassikern wird        sich Tasche zufolge das Verhältnis von Regie und
dabei anhand des ‚Klassikers‘ als Streitfall zwischen   Text bereits im Dranmentext selbst fest und hat
Revolution und Revisionismus thematisiert. Der          Auswirkungen auf das Regiebuch sowie auf die
politische Aspekt des damals nicht publizierten         letztliche Aufführung.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                               Peter Lang
Konferenzberichte | 673

   Mit dem Regiebuch im digita len Zeit-               des Theaters auftauchen. Während das Regiebuch
alter beschäftigte sich M artin Jörg S chäfer          jedoch eine Inszenierung speichert und bei jeder
(Hamburg) (Textentwicklung und Textausdrucke           Aufführung erneut gebraucht wird, verbraucht sich
von René Polleschs „Ich kann nicht mehr“ (2017)).      das Drehbuch im Laufe der Filmproduktion selbst.
Wie er an Polleschs Hamburger Inszenierung                Die Tagung hat deutlich gemacht, dass sich his-
zeigte, ist das Regiebuch heutzutage im Regelfall      torische Kongruenzen zwischen den Aufführungs-
eine digitale Datei, die bearbeitet und je nach Be-    materialien feststellen lassen, die die Rede vom
darf ausgedruckt wird. In diesen Dateien gilt: Was     Regiebuch bereits vor der eigentlichen Position
weg ist, ist weg, denn die ständigen Ergänzungen       der Regie plausibel erscheinen lassen. Die hand-
und Durchstreichungen der als Palimpsest auf-          schriftliche Bearbeitung der Regiebücher wurde
tauchenden älteren Regiebücher sind nicht länger       auch durch den Buchdruck nicht abgelöst, jedoch
dokumentiert. Zwar gebe es häufig eine Master-         scheint sie in jüngerer Zeit durch digitale Va-
datei, die alle Vermerke sammelt, jedoch werde         rianten ersetzt zu werden. In den Diskussionen
diese zumeist aufgeteilt in eine besondere Fassung     wurde wiederholt bemerkt, dass die jeweiligen
für Spieler*innen, Bühnentechniker*innen oder          Regiebücher trotz zeitlicher und örtlicher Diffe-
die Soufflage. Eine allen zur Verfügung stehende       renzen überraschend ähnlich aussehen und sich
Datei, ein allumfassendes Regiebuch, gebe es hier-     bestimmte Elemente der Notation und Formen
bei jedoch nicht.                                      der Bearbeitung über einen weiten Zeitrahmen
   Den letzten Vortrag der Tagung hielt J an           hin wiederholen.
Henschen (Erfurt) (Das Drehbuch als prozessualer          Die Publikation eines Tagungsbandes ist
Text), der den Blick auf das Regiebuch in der Diffe-   geplant.
renz zum Drehbuch schärfte. Henschen stellte das
Produktionsdrehbuch, also die finale Version des                                        Tobias Funke
Drehbuches, als dem Regiebuch ähnlichste Fas-          Universität Hamburg
sung dar. In diesem Buch sind u. a. Bewegung, Re-      Fakultät für Geisteswissenschaft
quisiten und Klang fixiert. Produktionsdrehbücher      Überseering 35
enthalten ebenfalls diverse Streichungen und           D–22297 Hamburg
Bearbeitungen, wie sie auch in den Regiebüchern        

An den Schnittstellen von Fakt und Fiktion. Formen und Funktionen dokufiktionalen
Erzählens in der Gegenwart (Tagung in Erlangen v. 7.–9.11.2019)

In der Einführung durch die Organisatorinnen           der Authentizität des Dargestellten stelle. Der sog.
Christine Lubkoll und Agnes Bidmon entfal-             ‚semi-dokumentarische Vertrag‘ beinhalte das
tete Bidmon die zu beleuchtenden Perspektiven:         Versprechen der impliziten Andeutung oder des
Das seit einiger Zeit in den Künsten und ihren         expliziten Ausstellens, dass die Erzählungen „als
unterschiedlichen medialen Dispositiven enorm          Grenzgänger zwischen Fakt und Fiktion angelegt
populäre Format Dokufiktion – die Annäherung           sind“. Erzähltheoretisch und -ethisch seien damit
an die Wirklichkeit unter dem konstitutiven Ein-       untrennbar verbunden die Frage nach dem gene-
bezug von dokumentarischem, in die fiktionale          rellen Status der Kategorien ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘
Erzählumgebung einmontiertem Material – sei            sowie die Frage nach der Glaubwürdigkeit der
medienhistorisch nicht neu, habe aber in den           Erzählungen.
letzten Jahrzehnten eine neue Qualität gewonnen.           Die erste Sektion, „Theoriehorizonte“, eröffnete
Als seine Spezifik könne gelten, dass es an den        Monik a Schmitz-E mans (Bochum) (Zwischen
Schnittstellen der Kategorien ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘     Fiktion, Dokufiktion und Metafiktion: Umberto
auf einer Metaebene immer auch die grundlegende        Ecos Roman „Il cimitero di Praga“ im Kontext
Frage nach der Erzählbarkeit des Faktischen und        seiner Recherchen zu den ‚Weisen von Zion‘) mit

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
674 | Konferenzberichte

Betrachtungen von Umberto Ecos fingierter                konjekturales bzw. vermutendes Erzählen, größere
Entstehungsgeschichte einer realhistorisch sehr          Distanzierung vom nicht Dokumentierten durch
wirkmächtigen Verschwörungstheorie, den Proto-           thematische Verlagerung zum Dokumentierbaren,
kollen der Weisen von Zion. Eco führe mit seinem         hypothetisches Erzählen, Legitimation fiktionaler
Roman, in dem mit der fiktionalen Erzählung um           Textteile durch rahmend abgegrenzte nichtfiktio-
einen Vorlagenverfasser der Protokolle sowie um          nale Teile, Protokollstil (Wirklichkeit dokumen-
deren realhistorische Bedingungszusammenhänge            tieren, ohne sie abzubilden) sowie Autofiktion
Fiktionales und Faktuales miteinander vermischt          mit unbestimmter erster Person Singular. Diesen
sind, vor, wie mit faktualem Bildmaterial Fiktio-        Verfahren als Modi entsprächen insbesondere die
nales ‚dokumentiert‘ werde. Er entlarve damit eine       verbalgrammatischen Modi Nezessativ, Potentialis
Strategie, wie Bilder zur Genese und Popularisie-        und Konditionalis – die es zur Präzisierung des Be-
rung von Fiktionen beitrügen, wodurch sich der           griffsfeldes der Dokufiktion genauer zu bestimmen
Fiktion entstammende Verschwörungstheorien auf           und zu analysieren gälte.
die Realgeschichte auswirkten.                               Im Zentrum des ersten Vortrags der zweiten
    Woher das spezifische Irritationspotential           Sektion, „Mediale Inszenierungen“, von A nto -
dokufiktionaler Texte, in denen sich faktuale            nius Weixler (Wuppertal) (Die Konstruktion von
und fiktionale Darstellungsweisen oft kaum               Wirklichkeit. Authentifizierungsstrategien in doku-
voneinander unterscheiden lassen, kommt, fragte          fiktionalem Erzählen), standen Überlegungen zum
Eva-M aria Konrad (Frankfurt am Main) („Was              Konzept der Authentizität. Spezifikum dokufik-
aber feststand, waren ein paar Daten, Fakten.“ Do-       tionalen Erzählens sei es, die angewandten fiktio-
kufiktion aus fiktionalitätstheoretischer Perspektive)   nalisierenden Erzählverfahren auszustellen, um auf
und beantwortete diese Frage ausgehend von den           die Unmöglichkeit rein referentieller Authentizität
traditionellen Regeln der aktuellen Fiktiona-            hinzuweisen. Dies folge aus dem Bewusstsein, dass
litätspraxis: die bei den Leser(innen) vorausgesetzte    Authentizität nur relational, durch Verfahren der
fiktionalitätstypische Rezeptionshaltung und die         Produktion und/oder Rezeption, herstellbar sei
Gebote, weder von den fiktionalen Äußerungen             und es überdies den Rezipient(inn)en obliege,
auf deren Wahrheit noch auf die diesbezüglichen          medialen Kommunikationen das Prädikat ‚au-
Überzeugungen des Autors zu schließen. Doku-             thentisch‘ zuzuschreiben. Zentrales Beispiel für
fiktionen brächen mit den Konventionen des               eine solche Authentifizierungsstrategie war das
faktualen und denen des fiktionalen Diskurses            Verfahren der Textschwärzung, das Weixler u. a.
und lösten so die eingangs erwähnte Irritation aus.      anhand von F.C. Delius’ Unsere Siemens-Welt. Eine
Bei der fiktionalitätstheoretischen Einordnung           Festschrift zum 125-jährigen Bestehen des Hauses S.
argumentierte Konrad in Abgrenzung von Kom-              vorführte.
positionalitätstheorien für die Betrachtung doku-            Authentizität war auch im Vortrag von Stepha-
fiktionaler Texte als Grenzfälle zwischen Faktizität     nie C atani (Saarbrücken) (Kunst und Kritik. Das
und Fiktionalität und dergestalt als „bewusste           politische Kino Jafar Panahis) zentral. Anhand von
Provokationen“ des Kategorisierungsbedürfnisses          Grenzfällen zwischen Spielfilm und Dokumenta-
der Rezipient(inn)en.                                    tion des iranischen Kinoschaffenden Jafar Panahi
    Erzählverfahren und -techniken dokufiktio-           zeigte sie, wie dieser die klare Unterscheidung von
nalen Erzählens zwischen Montage und Amal-               afilmischer und profilmischer Referentialisierung
gamierung exemplifizierte M icha el Niehaus              verunmögliche. So sei etwa in Taxi (2015), das im
(Hagen) (Erzählverfahren und Erzähltechniken             Mittelpunkt von Catanis Ausführungen stand, un-
dokufiktionalen Erzählens) anhand vierer Texte aus       klar, welche Teile davon der physischen Wirklich-
der unmittelbaren Gegenwart: Florian Illies’ 1913        keit jenseits der filmischen Inszenierung zugehören
(2012), Helmut Lethens Die Staatsräte. Elite im          (= afilmisch) und welche für den Film generiert
Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch,       und arrangiert sind (= profilmisch). Panahis Filme
Schmitt (2018), Hans Joachim Schädlichs Felix und        hinterfragten mit ihrer fast permanenten Referen­
Felka (2018) sowie Judith Schalanskys Verzeichnis        tialität konsequent den Binarismus von Fiktion
einiger Verluste (2018). Zentrale Verfahren des          und Wirklichkeit und reflektierten damit den
dokufiktionalen Erzählens sind Niehaus zufolge           Begriff der Authentizität.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                                Peter Lang
Konferenzberichte | 675

    Fragen nach dem Umgang von Reality-TV mit           Beweis und Dokumentation, die Fotografie als
der Wirklichkeit und dem produktions- wie re-           Präsenz und Abwesenheit des unverstellten Realen
zeptionsseitigen Anspruch des Dokumentarischen          mit Vorbildfunktion für das eigene literarische
ging Thomas Schröder (Innsbruck) (Reality-TV            Schaffen, die Fotografie als kontrafaktische Ge-
und die Wirklichkeit. Überlegungen aus medienwis-       schichte und die Fotografie als Geschichtsspeicher,
senschaftlicher Perspektive) nach. Er systematisierte   der Geschichten generiert.
das Format und nahm dabei – nach der einführen-             Mit gedruckten Inter views befasste sich
den Unterscheidung von narrativen (authentische         Thomas Wegmann (Innsbruck) (In weiter Ferne
oder nachgestellte Wiedergabe tatsächlichen             wohl dagewesen. Interviews als Fiktionen der Wirk-
Geschehens) und performativen (erkennbare pro-          lichkeit) und damit mit einem journalistischen
duktionsseitige Eingriffe in die Handlungen der         Format, dem gemeinhin ein sehr hoher Grad von
Mitwirkenden) Formaten – das Phänomen der               Faktualität zugeschrieben wird, da sein Anspruch
Scripted Reality in den Fokus. Schröder unter-          ist, ein tatsächlich stattgefundenes Gespräch zu
suchte deren gezeigte Wirklichkeit qualitativ und       dokumentieren. Vorwiegend anhand von fingier-
bot quantitative Studien über die Rezeption hin-        ten Interviews führte er die Bedingtheiten der
sichtlich Realitätsnähe und Fiktionalität.              Fiktionalisierung vor, denen auch vermeintlich rein
    Das aktuell sehr populäre Format des dokumen-       faktuale Interviews notwendigerweise unterliegen,
tarischen Historiendramas untersuchte Daniel            in welchen immer Präsenz und Absenz sowie
Schäbler (Hildesheim) (Inszenierungsstrategien          Oralität und Literalität interferierten.
von Diskrepanz und Kongruenz. Eine Ökonomie                 Die Relationen zwischen Fakt und Fiktion im
des Wissens in dokufiktionalem seriellen Erzählen)      Gegenwartstheater untersuchten A ndré Studt
anhand der TV-Miniserie Chernobyl (HBO/sky              und Hans-Friedrich Bormann (Erlangen) (Neuer
2019) und entwarf dabei eine Ökonomie des               Realismus – neue Illusionen? Kunst als Politik im
Wissens zwischen Medium und Rezipient(in). Er           Gegenwartstheater) anhand von Jacques Rancières
zeigte konkrete Ausgestaltungen der für die Zu-         Unterscheidung zwischen Polizei (verstanden als
schreibung von Authentizität dominanten Modi            Gesamtheit von Prozessen der Distribution von
der Objektauthentizität (authentische Zeugnisse)        Mächten, Funktionen und Legitimationen, die
sowie der Subjektauthentizität (authentisches Er-       Verbindung und Einwilligung von Gemeinschaf-
leben) und exemplifizierte die Wissenskongruenz         ten hervorbringen) und Politik (als dem Aufbe-
und -diskrepanz zwischen Figuren und Rezi-              gehren gegen die polizeilichen Normierungen mit
pient(inn)en sowie deren jeweiligem Wissensvor-         der Voraussetzung der Gleichheit aller an diesen
sprung bzw. -rückstand. Objektauthentizität und         Prozessen beteiligten Individuen). Den Begriff
Wissenskongruenz sowie Subjektauthentizität             der Polizei exemplifizierten sie mit der Aktion
und Wissensdiskrepanz korrelierten miteinander:         Holocaust-Mahnmal Bornhagen des Zentrums für
Die detailgetreue Ausstattung etwa decke sich           politische Schönheit – die Aktion habe die für das
mit den Vorstellungen des Publikums, und der            Aufbegehren gegen Normierungen notwendige
Wissensvorsprung des Publikums gegenüber den            Reflexion durch Affekt- und Aufmerksamkeitsme-
Figuren erzeuge stellenweise dramatische Ironie         chanismen ersetzt. Das Politische illustrierten sie
und ermögliche Empathie mit den Figuren.                mit Milo Raus Theaterinszenierung Five Easy Pie-
    Grundlegend für den Vortrag von B er nd             ces über die Geschehnisse um den Kindermörder
Stiegler (Konstanz) (Photo-Fiction. Fotografien         Marc Dutroux, die zur Herstellung von Gleichheit,
als Wirklichkeitssimulatoren in literarischen Texten)   etwa in den Perspektivierungen des Täters, seines
war die Annahme, dass Fotografien als Teil einer        Umfelds und den gängigen Urteilen, fähig sei.
Praxis, bei der Wirklichkeitsvorstellungen ver-             Agnes Bidmon moderierte nach der zweiten
handelt werden, immer auch Fiktionen sind. In           Sektion eine öffentliche Podiumsdiskussion
chronologischer Ordnung stellte er fünf Modi li-        zum Thema Fakt, Fake, Fiktion mit den Dis-
terarischer Photo-Fictions mit Modellcharakter vor      kutant(inn)en Silke Steiner (Drehbuchautorin),
und bot damit eine extrem geraffte Geschichte der       Timur Vermes (Autor, Journalist, Übersetzer),
Photo-Fiction der letzten einhundert Jahre: Den         A lexander Jungkunz (Chefredakteur Nürnberger
„Hoax“, die Fotografie im Text als vermeintlicher       Nachrichten) und M artin Hundhausen (Physiker,

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)
676 | Konferenzberichte

Regionalgruppenleiter Scientists for Future), in        Mockumentary aus Jan Böhmermanns Fernseh-
der die Schnittstellen von Fakt und Fiktion in den      sendung Neo Magazin Royale. Laut Podskalsky
Bereichen Medien (filmisches und literarisches          erfolge in Mockumentarys auf mehreren Ebenen
Erzählen), Journalismus und Wissenschaft be-            eine Reflexion des Verhältnisses von Geltungsan-
leuchtet wurden.                                        spruch (Frage nach Fiktionalität oder Faktualität),
    Die dritte Sektion, „Narrative und interaktive      der Einordnung einer Aussage als wahr oder falsch
Verfahren“, eröffnete Markus Wiegandt (Leipzig)         und dem Moment der Täuschung. Sie zeigte in-
(„If the kids are united…“ Geschichtsschreibung/        terne und externe imitierte Dokumentations- und
Geschichtenschreibung als literarischer Roundtable      Legitimationsstrategien von Mockumentarys und
am Beispiel von Jürgen Teipels Doku-Roman „Ver-         wies Phänomene der Entertainisierung bzw. der
schwende deine Jugend“) mit der Untersuchung des        Public History und dem Histotainment nach.
Genres Doku-Roman aus der Popkulturgeschichts-              Christine Lubkoll hob in ihrer tagungsab-
schreibung. Hauptmerkmal der Genrevertreter sei         schließenden Zusammenfassung hervor, dass der
die Kompilation der erzählten Geschichte aus poly-      aus den Medienwissenschaften stammende Begriff
phonem Erzählen von Geschichten und Anekdoten           der ‚Dokufiktion‘ sich für eine medienübergrei-
aus tatsächlich geführten Interviews. Er grenzte das    fende und eben auch literaturwissenschaftliche
Genre ab von der verwandten Oral History und            Betrachtung von Mischformen inzwischen offen-
bot charakteristische Faktoren für die Selektion        sichtlich bewährt habe. Er schärfe das Bewusstsein
und das Arrangement des verwendeten Materials.          für verschiedene Grade, Kompositionsweisen,
    Anhand der dokuf iktionalen Videospiele             Modi und Funktionen einer Verbindung des
Valiant Hearts. The Great War und Never Alone           Dokumentarischen mit dem Fiktionalen. Für eine
beleuchtete M ar en C onr ad (Erlangen) (Das            differenzierte Betrachtung seien außerdem neben
Dokumentarische als interaktiver Wissens- und Er-       den Verfahrensweisen selbst auch die rezeptions-
fahrungsraum? Dokumentarspiele zwischen musealer        bedingten Zuschreibungen zu berücksichtigen.
Wissensinszenierung und ludischer Immersion)            Angesichts der Vielfalt und Kreativität doku-
Kombinationen aus klassischem, nicht-narrativem         fiktionaler Formen und Funktionen sollte der
Abenteuer-Rätselspiel und den Erzählverfahren           Phänomenbereich nicht zu eng eingegrenzt, aber
des Dokumentarfilms sowie den literarisch-narra-        auch nicht zu vage bestimmt werden: Trotz einer
tiven Verfahren von Sachliteratur: Die fiktionale       relativ offenen Breite der Beispiele konnten doch
Handlung um die Spielfigur(en) dieser Spiele sei        die Entscheidungsverfahren und die Analysekri-
jeweils in einen spezifischen kulturellen Kontext       terien für die Bestimmung des Dokufiktionalen
bzw. ein spezifisch kulturelles Ereignis eingebettet.   erheblich präzisiert werden. – Die Beiträge er-
Conrad zeigte dabei Verfahren der Übernahme             scheinen Anfang 2021 in einem Sammelband im
musealer Strategien der Wissensaufbereitung und         Verlag Walter de Gruyter.
-archivierung.
    Mit dem Format Mockumentary (Mock-                                                  Andreas Lugauer
Documentary, fingierte Dokumentation mit                Friedrich-Alexander-Universität
intern und extern markierter Täuschungsabsicht)         Erlangen-Nürnberg
beschäftigte sich Ver a Podsk alsky (Freiburg)          Department Germanistik und Komparatistik
( Jan Böhmermanns „Unternehmen Reichspark“              Bismarckstraße 1
– Satirische Mockumentaries und ihre Bedeutung          D–91054 Erlangen
für faktuale Wahrheitsansprüche) anhand einer           

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)                                               Peter Lang
Sie können auch lesen