KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung

 
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KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
HUMBOLDT
Nr. 111 / 2020

                         KOSMOS Forschung – Diplomatie – Internationalität

                                                                                    DEUTSCHE
                   N G LISH :                                                   CYBER VALLEYS
                 E         N
                   E R SIO                                                      Wo die Hotspots der
                 V       ASE
                    PLE VER                                                  KI-Forschung entstehen
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                                                                               DIE WÜSTE LEBT
                                                                                  Wie Dürregebiete
                                                                                        gegen den
                                                                                Klimawandel helfen

                                    Besser
                                   vernetzt!
                                       Wie Zusammenarbeit
                                       der Forschung nutzt
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HUMBOLDTIANER PERSÖNLICH

                                              KWEEN
                                               KONG:
                                             COMEDY
                                              GEGEN
                                           RASSISMUS
                                            Die Aufnahme zeigt Lynette Mayowa Osinubi bei einer            begeisterte eine Fangemeinde von 400 Leuten. Als Gast­
                                            Diskussion im Anschluss an eine Vorführung ihres Films         geberin sorgte Mayowa für barrierefreien Zugang für Men-
                                            „Acting White“ in Berlin. Der Begriff des „Acting White“       schen in Rollstühlen und für Übersetzer für diejenigen, die
                                            wird in den Vereinigten Staaten herabwürdigend für Peo-        des Englischen nicht mächtig waren. Auf der Bühne nutzt
                                            ple of Colour verwendet, die angeblich die eigene Kultur       Mayowa das Mittel der Komik, um die Absurditäten einer
                                            verraten, indem sie die Verhaltensnormen und Erwartun-         sexistischen und rassistischen Gesellschaft herauszustellen
                                            gen der weißen Gesellschaft erfüllen. In der Dokumenta-        und gemeinsam mit dem Publikum das Lachen als heilende
                                            tion geht Mayowa, so ihr Künstlername, der Frage nach,         Kraft zu entdecken.
                                            wie sich diese negative Wertung auf die eigene Identität           Als dunkelhäutiger Mensch in Berlin zu leben entfremde
                                            auswirkt und welche Folgen sie für die Psyche hat.             einen manchmal von sich selbst, weil man das „Andere“ als
                                                 Mayowa stammt aus Atlanta, USA. 2018 kam sie als Bun-     Gegensatz zur mehrheitlich weißen Bevölkerung repräsen-
                                            deskanzler-Stipendiatin nach Berlin, um einen Dokumen-         tiert. Während des Stipendiums hat Mayowa die Erfahrung
                                            tarfilm über die Erfahrungen dunkelhäutiger Menschen           gemacht, dass die Berliner Gesellschaft nicht so tolerant ist,
                                            in Deutschland zu drehen. Mayowa ist Filmemacherin,            wie viele meinen. So wird sie weiterhin ihre Stimme er­-
                                            ­Youtuberin, Model und Moderatorin von Events. In Berlin       heben und Menschen eine Möglichkeit bieten, ihre ganz
                                             hat sie Stand-up-Comedy als Ausdrucksmittel für sich ent-     eigene Geschichte zu Gehör zu bringen – ob als Filme­
                                             deckt. Die Comedyszene werde insgesamt leider von sexis-      macherin oder Gastgeberin von Comedy-Shows. 
                                             tischem und rassistischem Humor beherrscht, bedauert                               Aufgezeichnet von MAREIKE ILSEMANN
                                             Mayowa. Deshalb hat sie vor zwei Jahren die ISSA Comedy
Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade

                                             Show ins Leben gerufen. Mittlerweile ist ISSA nicht nur die
                                             erste, sondern auch die größte Veranstaltung, die schwar-
                                             zen Künstlerinnen und Künstlern und Comedians aus der                  LYNETTE MAYOWA OSINUBI stammt aus Atlanta, USA, wo
                                             LGTB-Gemeinde eine Bühne bietet, ohne dass diese An­­                  sie eine eigene Filmproduktion unterhält. Ihr Dokumentar-
                                             feindungen oder Diskriminierung fürchten müssen.                       film „Acting White“ wurde für die Berlin Feminist Film Week
                                                 So eine Veranstaltung verlangt Mut. Mayowa ist es wich-            2020 ausgewählt. Als Bundeskanzler-Stipendiatin kam sie
                                             tig, dass ihre Veranstaltungen einen sicheren Ort bieten.              2018 nach Berlin und gründete die Comedy-Veranstaltungs-
                                             Das erste eigene abendfüllende Programm „Kween Kong“                   reihe ISSA.

                                                                                            HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                            3
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
EDITORIAL                                                                   INHALT
Foto: Humboldt-Stiftung / David Ausserhofer

                                              Liebe Leserinnen und Leser,

                                              wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, be­­
                                              herrscht wahrscheinlich die Corona-Krise immer
                                              noch die täglichen Nachrichten. In den Beiträgen
                                              dieser Kosmos-Ausgabe werden Sie wegen unse-

                                                                                                                                              06
                                              res frühen Redaktionsschlusses mit Ausnahme
                                              dieses Editorials nichts über die globale Pande-
                                              mie lesen. Jedenfalls nicht wortwörtlich.
                                                 Dennoch passt unser Titelthema genau in die
                                              Zeit: Globale Herausforderungen wie Corona
                                              oder der Klimawandel können nur mit gemein-
                                              samen weltweiten Anstrengungen und interna­
                                              tionaler Zusammenarbeit gelöst werden – in der
                                              Forschung wie in der Politik.
                                                 In unserem Schwerpunkt lesen Sie, wie interna-
                                              tionale Forschungsnetzwerke arbeiten und wie sie
                                              sich verändern unter dem Eindruck neuer Her-                                03      HUMBOLDTIANER PERSÖNLICH
                                              ausforderungen. Wie können digitale Instrumente                                     Kween Kong: Comedy gegen Rassimus
                                              hierbei helfen? Wie verändert sich die Mobilität
                                              von Forscherinnen und Forschern in Zeiten von                               06      NACHGEFRAGT
                                              Flugscham? Wie gelingt die praktische Zusam-                                        Was Forscher antreibt und woran sie arbeiten
                                              menarbeit beispielsweise in einem internationalen
                                              Netzwerk, das weltweit in Dürregebieten Boden­
                                              proben sammelt und analysiert, um hieraus Maß­
                                              nahmen gegen den Klimawandel zu entwickeln?
                                                 Zusammenarbeit, Vertrauen und Solidarität
                                              sind die Qualitäten, mit denen sich internationa­le
                                              Forschungsnetzwerke besonders in Krisenzeiten
                                              wie aktuell bewähren und Zeichen setzen gegen
                                              Abschottung und nationale Egoismen. Auch das
                                              ist eine Botschaft dieses Heftes vor dem Hinter-
                                              grund der aktuellen Corona-Krise.                                           TITELILLUSTRATION   Martin Rümmele / Raufeld Medien

                                              Viel Spaß beim Lesen!

                                              GEORG SCHOLL
                                              Chefredakteur

                                              4                                                     HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
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SCHWE
                    R PU N K
                               T ONLIN
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                                                                                                                                                            Fotos: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade, Silvia Steinbach, Illustration: Martin Rümmele / Raufeld Medien
                                 ation .d
                  ko s m o s              e/

                             12                                                                            24
        SCHWERPUNKT

12      Das Netz der Zukunft                                                           24        FORSCHUNG HAUTNAH
                                                                                                 Im Bann des Schwarzen Loches                          Mit
	Welchen Nutzen wissenschaftliche Netzwerke bringen                                                                                             KI - P
                                                                                                                                                        oste
                                                                                                                                                   in de r
  und wie sie sich weiterentwickeln müssen.                                            30        NACHRICHTEN                                    H ef t    r
                                                                                                                                                       mit t
                                                                                                                                                             e
20      Die Wüste lebt!                                                                32        GESICHTER AUS DER STIFTUNG
                                                                                                 Wer hinter den Kulissen dafür sorgt,
	Der spanische Ökologe Fernando T. Maestre über                                               dass alles läuft
     die Rolle von Trockenzonen im Kampf gegen den
    ­K limawandel.                                                                     33        DEUTSCHLAND IM BLICK
                                                                                                 KI in Deutschland – ein schnell lernendes System

IMPRESSUM HUMBOLDT KOSMOS 111

HERAUSGEBER Alexander von Humboldt-Stiftung    PRODUKTION & GRAFIK Raufeld Medien GmbH                DRUCK WM Druck + Verlag, Rheinbach
CHEFREDAKTION Georg Scholl (verantwortlich),   Nina Koch (Projektleitung), Carolin Kastner            REDAKTIONSANSCHRIFT
Mareike Ilsemann                               ­(Art­direktion), Martin Rümmele (Artdirektion)        Alexander von Humboldt-Stiftung
REDAKTION Ulla Hecken, Lena Schnabel           ERSCHEINUNGSWEISE 2 × jährlich                         Redaktion Humboldt kosmos
ÜBERSETZUNGEN INS ENGLISCHE                    AUFLAGE DIESER AUSGABE 42 000                          Jean-Paul-Straße 12, 53173 Bonn, Deutschland
Dr. Lynda Lich-Knight                                                                                 presse@avh.de, www.humboldt-foundation.de
                                                                                                      ISSN 0344-0354

                                                           HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                                     5
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
Foto: Humboldt-Stiftung / Nick Helderman

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                                                                      NACHGEFRAGT

HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
HERR RUESCH,
             WAS LERNEN WIR
             VOM MARS ÜBER
             DIE ERDE?
             In den nächsten Jahren soll ein Rover der europäischen ExoMars-
             Mission erstmals Gesteinsproben vom Mars zur Erde bringen. Der
             Geologe Ottaviano Ruesch wird die gesammelten Daten analysieren.
                Seit Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler den Mars. „Die zent-
             rale Frage ist natürlich, ob es dort Leben gibt“, sagt Ruesch, „oder
             zumindest Hinweise darauf, dass es mal welches gab.“ Bislang wurden
             keine eindeutigen Beweise gefunden. Aber selbst, wenn es diese nie
             geben sollte, erlaubt der Rote Planet uns dennoch einen Blick in die
             Erdvergangenheit. Denn wie das Leben auf unserem Planeten entstan-
             den ist, wissen wir nicht genau. Fast alle Spuren aus jener Zeit sind ver-
             wischt worden. „Der Mars ist quasi der kleine Bruder unserer Erde.
             Allerdings einer, der sich ab dem Kindesalter nicht weiterentwickelt
             hat“, erklärt Ruesch. Während die Erde vor dreieinhalb bis vier Milli-
             arden Jahren eine eigene Dynamik entwickelte, sich ihre Oberfläche
             durch Plattentektonik, Vulkanismus und die Wetterküche in ihrer dich-
             ten Lufthülle ständig veränderte, erstarrte der Mars mit der Zeit, und
             vor allem das Oberflächengestein veränderte sich kaum mehr. „Steine
             sind für Geologen wie Bücher aus der Vergangenheit“, sagt Ruesch. „In
             denen des Mars können wir womöglich nachlesen, welche Umstände
             herrschten, als sich auf der Erde die ersten Einzeller formten. Wir wol-
             len den Kontext verstehen, in dem aus organischem Material Leben
             hervorgehen kann.“
                Der ESA-Rover wird auf der Tiefebene Oxia Planum unterwegs sein,
             von deren Tongestein die Forscher wissen, dass es rund 3,9 Milliarden
             Jahre alt ist. „Wir werden alles bis ins kleinste Detail analysieren; von
             der Topographie der Oberfläche bis zur Mineralogie und Chemie des
             Gesteins“, sagt Ruesch.                           Text JAN BERNDORFF

             Der Schweizer Geologe DR. OTTAVIANO RUESCH hat im ­nieder­-
             ländischen Noordwijk für die Europäische Weltraum­organisation
             ESA und in Greenbelt, USA, für die ­amerikanische Raumfahrtbehörde
             NASA geforscht. Als Sofja Kovalevskaja-Preis­träger leitet er nun
             am Institut für Planetologie der Westfälischen Wilhelms-Universität
             Münster sein eigenes ­Forschungsprojekt.

HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                             7
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
NACHGEFRAGT

       FRAU BRKOVIĆ DODIG,
       WARUM SOLLTEN

                                                                                                                                                      Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade
       KINDER IM MUSEUM EIN
       HOCHHAUS BAUEN?

Wenn es im Museum um Architektur geht, werden Besucher häufig               scheidet und wie ihr Erfolg evaluiert werden kann. Warum aber sollen
eingebunden. Marta Brković Dodig hat viele solcher Mitmachakti-             Kinder an außerschulischen Lernorten Erfahrungen in Sachen Stadtpla-
onen für Kinder und Jugendliche geleitet. In dem jungen Forschungs-         nung sammeln? „Wir wollen sie zu kundigen Bürgerinnen und Bürgern
feld Baukulturelle Bildung reflektiert sie darüber mit Methoden der         machen, was Stadtplanung und -geschichte betrifft“, sagt Brković Dodig.
Wissenschaft.                                                               Am Ende geht es um Demokratie. „Die Stadt ist der Raum, in dem wir
    „Blockholm“ ist ein Paradebeispiel für BEE – Built Environment Edu-     gemeinsam leben. Deshalb ist es wichtig, dass wir dazu auch einen Bezug
cation. In der Ausstellung des schwedischen National Centre for Architec-   haben – zu Gebäuden und Plätzen, zu Denkmälern, aber auch zu Orten,
ture and Design haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Stadt Stock-   die für Menschen eine persönliche Bedeutung haben.“ 
holm mit dem Computerspiel „Minecraft“ nachgebaut. So sind mehr als                                                             Text RALF GRÖTKER
100.000 Entwürfe entstanden. Eine Jury wählte zehn Modelle aus, die im
Maßstab von 1:5 in einer Folgeausstellung präsentiert wurden. Ähnliche      DR. MARTA BRKOVIĆ DODIG ist Assistenzprofessorin für Archi­
Aktionen gab und gibt es in Museen in Chicago, München und Budapest.        tektur an der Universität Union – Nikola Tesla in Belgrad, Serbien.
    Marta Brković Dodig trägt mit ihrem Team Informationen darüber          Derzeit forscht sie als Humboldt-Forschungsstipendiatin am Institut
zusammen, wo auf der Welt BEE-Programme existieren, was sie unter-          für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin.

8                                                            HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
HERR CASADO,
                                                                                                                 WAS VERRÄT
                                                                                                                 DAS EIS DER
                                                                                                                 ANTARKTIS
                                                                                                                 ÜBER DEN
                                                                                                                 KLIMAWANDEL?
Foto: Humboldt-Stiftung / privat

                                   Im Herbst 2019 war er zwei Monate lang am Ende der Welt: Mathieu           nungen. Und nicht nur das: „Ich habe herausgefunden, dass die Isotope
                                   Casado erforscht das Eis der Antarktis, um die Klimaveränderun-            auch einiges über die Struktur des Schnees damals und sein Rückstrahl-
                                   gen der Erdgeschichte zu rekonstruieren. Dazu entnehmen die For-           vermögen für das Sonnenlicht aussagen.“ Diese sogenannte Albedo der
                                   scher mithilfe eines Bohrers Proben aus dem ewigen Eis – je tiefer,        Erdoberfläche spielt auch beim heutigen Klimawandel eine große Rolle.
                                   desto älter die Eisschichten.                                              Casados Forschung soll dazu dienen, aus der Klimahistorie Erkennt-
                                       Gebildet im Laufe von hunderttausenden von Jahren hat das Eis          nisse über die aktuellen Veränderungen zu ziehen.
                                   Informationen aus vergangenen Zeiten gespeichert. Pollen, Salze, kos-         Bislang reichen die ältesten Proben rund 800.000 Jahre zurück. Die
                                   mischer Staub und eingeschlossene Luftbläschen verraten zum Bei-           neueste Probe soll sogar über bis zu 1,5 Millionen Jahre Aufschluss geben.
                                   spiel, welche Gase die Atmosphäre seinerzeit enthielt, welche Vege­        Das antarktische Klimaarchiv wird immer umfangreicher. 
                                   tation vorherrschte und wann es heftige Vulkanausbrüche gab.                                                                   Text JAN BERNDORFF
                                       Mathieu Casado analysiert die Zusammensetzung der im Eis ent-
                                   haltenen Sauer- und Wasserstoffisotope. „Aus deren Mengenverhältnis        Der französische Humboldt-Forschungsstipendiat DR. MATHIEU
                                   in einer Schicht können wir auf die damalige Lufttemperatur ­schließen“,   CASADO forscht zurzeit an der Forschungsstelle Potsdam des
                                   sagt Casado. Das Eis liefert also prähistorische Temperaturaufzeich-       ­Alfred-Wegener-Instituts.

                                                                                               HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                               9
KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
NACHGEFRAGT

           FRAU MARCINIAK,
           WIE BEEINFLUSSEN NEPTUN,
           HERKULES UND CO.
           BIS HEUTE  DIE KINDER
           DER WELT?

                                                                                                                                                        Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade
Von Zeus bis zu den Argonauten: Früher begegneten Kinder und              Archetypen menschlichen Fühlens und Handelns und stiften so gerade
Jugendliche den antiken Göttern und Helden in Büchern, heute schauen      für Heranwachsende Identität, Sinn und Orientierung.
sie sich den Kampf um Troja als Film an. Mit einem internationalen            „Jede neue Adaption hält die Antike in unserem kulturellen Gedächt-
Forschungsteam untersucht die polnische Altphilologin Katarzyna           nis lebendig, sie ist universal und verankert uns in einem lokalen Kontext.
Marciniak, wie die antiken Stoffe heute adaptiert und rezipiert werden.   Die Figuren und Narrative bilden einen Kommunikationscode, der
    Längst sind die Epen aus dem alten Griechenland und Rom nicht mehr    ­Ländergrenzen und Generationen überschreitet. Wer ihn lesen gelernt hat,
nur ein europäisches Kulturerbe. Die neuseeländische Künstlerin Marian     erhält Zugang zur mythischen Gemeinschaft, die auf humanistischen
Maguire verbindet in ihrer Arbeit die Figur des Herkules mit Maori-­       ­Werten gebaut ist“, so Katarzyna Marciniak.  Text MAREIKE ILSEMANN
Traditionen. Auch die globale Populärkultur haben die antiken Mythen
durchdrungen. So basiert der Stoff von „Die Schöne und das Biest“ auf     Die ehemalige Humboldt-Forschungsstipendiatin und Humboldt-­
der Geschichte von Eros und Psyche.                                       Alumni-Preisträgerin PROFESSORIN DR. KATARZYNA MARCINIAK
    Es zeigt sich: Die Erzählmuster des Mythos bieten eine universale     leitet das ­internationale Forschungsprojekt „Our Mythical Childhood“
Thematik, wie etwa die Suche nach Liebe und inneren Werten im Falle       an der ­Universität Warschau, Polen. Sie ist Vertrauenswissenschaftlerin
von „Die Schöne und das Biest“. Die Götter- und Heldensagen ­erfassen     der Humboldt-­Stiftung in Polen.

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HERR ABATE UND
                                                                                                                FRAU TACHBELIE,
                                                                                                                WIE HILFT EINE
Foto: Humboldt-Stiftung / Axel Martens

                                                                                                                SPRACH-APP VOR
                                                                                                                GERICHT?

                                         In Äthiopien werden mehr als 80 Sprachen gesprochen. Für Gerichte          an einzelne Wörter erzeugt werden. Zudem existieren für die äthio­pischen
                                         ist es schwierig und teuer, Experten zu finden, die mündliche Zeugen­      Sprachen keine umfangreichen linguistischen Wörterbücher, die als
                                         aussagen in den unterschiedlichen Sprachen verschriftlichen. Selbst-       Datenbasis eingesetzt werden könnten. Das Ehepaar behilft sich d     ­ es­-
                                         lernende Computersysteme könnten Abhilfe schaffen.                         halb mit einem Trick. Auch wenn die äthiopischen Sprachen ein Symbol­
                                             Solomon Teferra Abate und seine Frau Martha Yifiru Tachbelie ent-      system verwenden, das sich von unserem Alphabet grundlegend unter-
                                         wickeln Verfahren zur automatischen Umwandlung von gesprochener            scheidet: Ein Großteil der Basis-Lauteinheiten ist mit jenen im Deut-
                                         Sprache in geschriebenen Text. „Viele Menschen in Äthiopien können         schen oder Englischen identisch. „Wir trainieren deshalb das Modell mit
                                         nicht lesen und schreiben, auch deshalb, weil die äthiopische Schrift-     akustischen Daten, die wir für andere Sprachen zur Verfügung haben –
                                         sprache ungleich schwieriger ist als etwa die englische“, erklärt Solo-    unter anderem für das Deutsche.“                   Text RALF GRÖTKER
                                         mon Abate. Eine App auf dem Smartphone, die das gesprochene Wort
                                         in Text umwandelt, wäre hier in vielen Belangen eine wertvolle Hilfe.      DR. SOLOMON TEFERRA ABATE und seine Ehefrau DR. MARTHA
                                             Eine Herausforderung ist dabei aber die Sprachstruktur. Für den Com-   YIFIRU TACHBELIE von der Addis Ababa University in Äthiopien
                                         puter ist es schwer, die verschiedenen Erscheinungsformen eines Wortes     sind als Georg Forster-Forschungsstipendiaten an der Universität
                                         zu erkennen, weil grammatische Unterschiede vor allem durch Anhänge        Bremen zu Gast.

                                                                                                     HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                                11
SCHWERPUNKT

12            HUMBOLDT KOSMOS 109/2018
DAS NETZ
DER ZUKUNFT                                                                   Welchen Nutzen wissenschaftliche

A
              ls Alexander von Humboldt im Juni 1802 vom                      Netzwerke bringen und wie sie sich
              Chimborazo aus auf die Anden blickt, beginnt                    weiterentwickeln müssen.
              er, die Welt mit anderen Augen zu sehen. „Die
              Erde erschien ihm als ein riesiger Organis-
                                                                              Text ANJA REITER und MAREIKE ILSEMANN
mus, in dem alles mit allem in Verbindung stand“, so
                                                                              Illustrationen MARTIN RÜMMELE
beschreibt es die Humboldt-Biografin Andrea Wulf. Hum-
boldts holistische Naturauffassung revolutionierte die Wis-
senschaft; heute ist längst bewiesen, dass von einzelnen
Zellen über unterirdische Pilzgeflechte ganze Ökosysteme
in Netzwerken miteinander verbunden sind, Austausch
betreiben und kommunizieren.                                  theoretikers Mark Granovetters in den 1970er-Jahren weiß
    Das Konzept des Netzwerks hat seitdem eine einzigar-      man, dass sich in Netzwerken gerade jene Kontakte als
tige Karriere gemacht. Ob von neuronalen Netzen, dem          besonders produktiv erweisen, die zwischen Menschen
Internet oder sozialen Netzwerken die Rede ist: Zur uni-      zustande kommen, die zuvor nichts oder nur wenig mit-
versalen Metapher wird das Netzwerk, als in der zweiten       einander zu tun hatten. Während man in seinem inners-
Hälfte des 20. Jahrhunderts „mit dem Paradigmenwech-          ten Zirkel aufgrund der Nähe oft dieselben Informationen
sel von der Physik zur Biologie und von der Soziologie zur    teilt und gleichförmiges Denken produziert, entstehen
Informatik nicht nur die biologischen Systeme des Leben-      neue Impulse durch fremde Einflüsse.
digen, sondern vor allem auch die informationellen Steu-
erungs-, Kontroll- und Kommunikationsnetze in den Mit-        SCHWACHE BINDUNGEN, STARKE IDEEN
telpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückten“,      Beispiele für die Stärke dieser „schwachen Bindungen“ las-
analysiert der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme von        sen sich auch im Humboldt-Netzwerk zuhauf finden. So
der Berliner Humboldt-Universität.                            kam Holger Schönherr, Professor am Lehrstuhl für Phy-
    Netzwerke können Grenzen überschreiten und ver-           sikalische Chemie I an der Universität Siegen, 2013 auf
meintlich geschlossene Einheiten aufbrechen. Sie schaffen,    einer Konferenz in Südkorea mit der Nachwuchsforsche-
wie im Falle des weltweiten Wissenschaftsnetzwerks der        rin Nowsheen Goonoo von der Insel Mauritius ins Ge­-
Humboldt-Stiftung, Verbindungen über Disziplinen, Ins-        spräch. Die beiden Forschenden stellten fest, dass sie mit
titutionen und Nationen hinweg.                               ähnlichen Materialklassen und Verfahren arbeiteten.
    Dabei sind Begegnungen mit Menschen aus anderen           „Dabei fielen uns beiden die vielversprechenden Synergie-
Lebenswelten als der eigenen besonders fruchtbar. Denn        effekte einer Kombination von Polyestern mit Polymeren
spätestens seit dem einflussreichen Essay „The Strength of    auf Basis einheimischer nachwachsender Rohstoffe für
Weak Ties“ des amerikanischen Soziologen und Netzwerk-        ­biomedizinische Anwendungen sofort in Auge“, so         ›

                                               HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                    13
SCHWERPUNKT

„
 MACHEN NEUE                                                          Was viele Mitglieder der Humboldt-Familie persönlich
                                                                 erleben, bestätigen nicht nur die Evaluationen der Stiftung,

­TECHNOLOGIEN                                                    sondern auch Arbeiten wie die von Caroline S. Wagner,
                                                                 Professorin für Internationale Beziehungen an der Ohio

 ­KLIMASCHÄDLICHE                                                State University, USA. Sie erforscht die Beziehungen zwi-
                                                                 schen dem Wissenschaftssystem eines Landes auf der einen

  FLUGREISEN ZU                                                  und Politik und Gesellschaft auf der andere Seite. Wagner
                                                                 hat gemeinsam mit Koen Jonkers von der britischen Uni-

  ­KONFERENZEN ODER                                              versity of Cambridge die Publikations- und Zitationsda-
                                                                 ten von 36 Nationen untersucht. Das Ergebnis: Die Stärke

   FORSCHUNGS­                                                   der Wissenschaft in einem Land, gemessen an der Zahl
                                                                 der Publikationen, der Zitationshäufigkeit und der Co-

 AUFENTHALTEN                                                    Autorenschaften, korreliert mit der Offenheit des Landes,
                                                                 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
   NICHT OBSOLET?“                                               aufzunehmen. „Wenn Menschen reisen können, entstehen
                                                                 Ideen und Kreativität. Je offener Staaten für den interna-
                                                                 tionalen Austausch sind, desto größer sind auch ihre
                                                                 ­w issenschaftliche Bedeutung und ihr Einfluss“, lautet
                                                                  Caroline S. Wagners Resümee. Die Mobilität von Wissen-
                                                                  schaftlern trägt also dazu bei, dass sich Netzwerke und
                                                                  Staaten den Herausforderungen der Zukunft stellen kön-
                                                                  nen. Doch inwiefern müssen Forschende in einer digita-
                                                                  lisierten Welt überhaupt physisch am gleichen Ort sein,
                                                                  um miteinander arbeiten und voneinander profitieren zu
     S­ chönherr. Aus der persönlichen Begegnung erwuchsen        können? Machen neue Technologien klimaschädliche
      mehrere Forschungskooperationen mit Aufenthalten von        Flugreisen zu Konferenzen oder Forschungsaufenthalten
      Nowsheen Goonoo in Siegen. Während die Siegener Wis-        nicht obsolet?
      senschaftler für ihre Forschung an biologisch abbaubaren
      Nanomaterialen von Goonoos Materialwissen über die in      DIGITAL IST OFFENER
      Mauritius einheimischen Pflanzen Aloe Vera und brau-       „Physische und virtuelle Mobilität dürfen sich nicht in
      nen Seetang profitierten, konnte die Gastforscherin aus    einer binären Opposition gegenüberstehen. Es gilt heraus-
      dem kleinen Inselstaat im Indischen Ozean Erfahrungen      zufinden, wie beide in dem hochflexiblen und dynami-
      in der Arbeit mit dem Rasterkraftmikroskop sammeln.        schen Geflecht von verzahnten Netzwerken am besten zur
          Als „Gewinn für beide Seiten“ beschreibt auch die      Anwendung kommen, damit das nötige Zukunftswissen
      Grünlandforscherin Nicole Wrage-Mönnig von der Uni-        produziert wird. In neuen, mehrdimensionalen Netzwer-
      versität Rostock ihre Zusammenarbeit mit dem Georg         ken ist dieses Wissen als Struktur, nicht nur als individu-
      Forster-Stipendiaten Chabi Djagoun aus Benin. Der Kon-     elles Gut zu begreifen. Es ist an uns allen, es zu gestalten,
      takt war ebenfalls durch das Humboldt-Netzwerk zustande    das ‚Humboldt-Netzwerk 4.0‘ “, appelliert Hans-Christian
      gekommen. Während der Ökologe aus dem afrikanischen        Pape, Präsident der Humboldt-Stiftung.
      Land die Rostocker Arbeitsgruppe dazu brachte, schein-         Die amerikanische Mikrobiologin Beronda Montgo-
      bar selbstverständliche Annahmen zum Beispiel zur Pho-     mery hat sich damit auseinandergesetzt, wie die sozialen
      tosynthese zu hinterfragen, konnte er am Lehrstuhl für     Medien und digitalen Plattformen genutzt werden kön-
      Grünland und Futterbauwissenschaften das Isotopenver-      nen, um nachhaltige und funktionierende Netzwerke zu
      hältnis-Massenspektrometer nutzen, um zu erforschen,       schaffen. Auch sie selbst ist in digitalen Netzwerken unter-
      von welchen Pflanzenarten sich die vom Aussterben          wegs: „In den letzten Jahren war ich selbst sehr aktiv auf
      bedrohte Leierantilope in seiner Heimat ernährt.           Twitter. Einige meiner Gruppen dienen vor allem dem

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fachlichen Austausch über meine Forschungsthemen.
Andere dienen dem Empowerment, etwa die Gruppe
#BLACKandSTEM, eine Community zur Unterstützung
von afroamerikanischen Menschen in den Naturwissen-
                                                                   „
schaften“, berichtet Montgomery. Sie sieht den Vorteil der
digitalen Netzwerke in ihrer Offenheit. „Der öffentliche           DER ÖFFENTLICHE
Charakter ist meiner Meinung nach ein Schlüssel zu mehr
Diversität. So können Individuen, die das Netz nach Res-           CHARAKTER ­DIGITALER
sourcen scannen, in Kontakt mit einer Gruppe treten, auf
die sie sonst gar nicht gestoßen wären. Außerdem können            NETZWERKE IST
Individuen, die nicht zur Fokusgruppe der Community
gehören, mitlesen und mithören. Sie können bei relevan-            EIN SCHLÜSSEL ZU
ten Themen Stellung beziehen und als Advokaten für Min-
derheiten eintreten“, so Montgomery.                               MEHR DIVERSITÄT.“
   Historisch betrachtet gehen neuartige Netze meist mit
technologischen Entwicklungen einher. Das gilt auch für
den Wissenschaftsbetrieb und erst recht für seine digita-
len Netze. So zählen die digitalen Wissenschaftsplattfor-
men ResearchGate und Academia.edu über 15 beziehungs-
weise 108 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer.
Rund 10 000 Forschende, die bei der Registrierung        ›

                                              HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                    15
SCHWERPUNKT

„                              lediglich eine Institutionszugehörigkeit angeben muss-
                               ten, loggen sich laut ResearchGate täglich ein, um mit-
                               einander in Kontakt zu treten und Zugang zu den Papers
                               zu bekommen, die dort schnell zur Verfügung gestellt
                               werden, da lange Editions- und Redaktionsprozesse in
NEUNZIG PROZENT                Verlagshäusern entfallen. So erhält eine breite Masse
                               einen leichten Zugriff auf Fachwissen, das sie weiterver-
MEINER                         arbeiten kann. Es entsteht damit ein neuer Rahmen, in
                               dem Wissen getauscht und produziert wird. Diese vir-
KOOPERA­TIONEN                 tuelle Mobilität von Wissen verändert die Form des Wis-
                               sens selbst.
SIND DURCH
                               SCHNELLER WISSENSTRANSFER
FACE-TO-FACE-­                 Auch andere Methoden wie das Crowdreviewing, mit
                               dem sich auch die Humboldt-Stiftung beschäftigt, nut-
KONTAKT                        zen die Möglichkeiten der Digitalisierung – in diesem
                               Fall, um online das Gutachtenverfahren zu entlasten und
ENTSTANDEN.“                   zu flexibilisieren.
                                  Auch für das Klima wäre es gut, nicht nur Wissens­
                               inhalte, sondern auch die Forschenden vermehrt virtuell
                               miteinander zu verbinden. „Ich selbst habe im vergangenen
                               Jahr an einigen Konferenzen nur über Twitter teilgenom-
                               men, um meinen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren.

16                HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
„
                                                                                                               Physische und
                                                                                                               ­virtuelle Mobilität
                                                                                                                dürfen sich nicht
                                                                                                                in einer binären
                                                                                                                Opposition gegen­-
                                                                                                                überstehen. Es gilt heraus­zufinden,
                                                                                                                wie beide in dem hoch­flexiblen
                                                                                                                und dynamischen Geflecht von ver-
                                                                                                                zahnten Netzwerken am besten
                                                                                                                zur Anwendung kommen, damit das
                                                                                                                nötige Zukunftswissen produziert
                                                                                                                wird. In neuen mehr­dimensionalen
                                                                                                                Netzwerken ist dieses Wissen als
                                                                                                                Struktur, nicht nur als indivi­duelles
                                                                                                                Gut zu begreifen. Es ist an uns allen,
                                                                                                                es zu gestalten, das ‚Humboldt-
                                                                                                                Netzwerk 4.0‘.“
                                                                                                               HANS-CHRISTIAN PAPE ,
                                                                                                               Präsident der Humboldt-Stiftung

                                        Digitale Plattformen erweitern die Möglichkeiten, sich in         Während es sich bei explizitem Wissen um klar formu-
                                        wissenschaftlichen Communities zu engagieren und ver-         lierbares und reproduzierbares Wissen handelt, hat impli-
                                        ringern zugleich Hürden in Bezug auf ökonomische und          zites Wissen immer eine persönliche Qualität. Explizites
                                        ökologische Bedenken“, findet Beronda Montgomery. Sie         Wissen lässt sich gut auf digitalem Wege vermitteln, etwa
                                        fühle sich mittlerweile auch wohl damit, Seminare über das    über eine Online-Präsentation bei einer Konferenz oder ein
                                        Internet zu geben. Was jedoch auf der Strecke bleibe, seien   Web-Seminar an der Uni, oder zum Teil über digitale Platt-
                                        die informellen Gespräche beim Kaffee oder beim Abend-        formen. Für das Erlernen und Nachahmen von implizitem
                                        essen, betont die Amerikanerin. Dabei seien gerade diese      Wissen, etwa bewährten Forschungspraktiken, ist die per-
                                        meist so fruchtbar, bestätigt auch Caroline S. Wagner.        sönliche Anwesenheit in einer anderen Forschungsumge-
                                        Neunzig Prozent ihrer Wissenschaftskooperationen seien        bung notwendig. Nur durch vertrauensvollen Umgang mit
                                        durch Face-to-Face-Kontakt entstanden, sagt Wagner.           erfahrenen Forschenden haben junge Wissenschaftlerin-
                                           Über 1 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler        nen und Wissenschaftler die Möglichkeit, von deren
                                        haben in Deutschland im letzten Jahr eine Petition unter-     Arbeitsweisen, Methoden und informellen Praktiken zu ler-
                                        zeichnet, mit der sie sich verpflichten, bei Dienstreisen     nen und so auch unerwartete Verknüpfungen zu bilden.
                                        unter 1 000 Kilometern auf das Flugzeug zu verzichten.            „Netze kommen immer nur als Netze in Netzen vor“,
Foto: Humboldt-Stiftung / Mario Wezel

                                        Während Organisationen überlegen können, zum Beispiel         ist die Beobachtung von Hartmut Böhme. Und so sind
                                        nur noch einzelne Repräsentanten mit dem Flugzeug auf         Forschende heute längst an vielen Netzwerken gleich-
                                        Konferenzen zu schicken, die dann später als Multiplika-      zeitig beteiligt, sowohl an analogen wie auch an digita-
                                        toren dienen, stellt trotz Klimawandel kein Experte den       len. Sie und ihr Wissen müssen frei kursieren können,
                                        Sinn und Zweck von Forschungsaufenthalten infrage. Ein        digital und analog. Reisen, insbesondere mit dem Flug-
                                        Hintergrund hierfür sind die unterschiedlichen Zugänge        zeug, werden seltener werden, diese Prognose sei gewagt.
                                        zu explizitem und implizitem Wissen, ein Konzept, das         Doch persönliche Begegnungen werden sich oft nicht
                                        auf den Philosophen Michael Polanyi zurückgeht.               ersetzen lassen.

                                                                                       HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                    17
SCHWERPUNKT

GEMEINSAM
MEHR ERREICHEN
Das weltweite Humboldt-Netzwerk ist ein wichtiger
Grundstein für die Zusammenarbeit von Wissen-
schaftlerinnen und ­Wissenschaftlern und somit für                                                                               THORSTEN BACH
exzellente Forschung. Bereits 55 Humboldtianer                                                                                        Professor für
                                                                                                                                       Organische
haben einen Nobelpreis erhalten. Im Jahr                                                                                              Chemie, TUM

2005 ging der Nobelpreis für Chemie an
                                                TECHNISCHE
Richard Schrock, 2016 wurden gleich             UNIVERSITÄT
                                                 MÜNCHEN
zwei Humboldtianer ausgezeichnet –
Ben Feringa und Fraser Stoddart.
Eine Übersicht ihrer Verbindungen
                                                            -

im Humboldt-Netzwerk.
                                                        gs
                                                    lt u n
                                                       16

                                                  ha ch
                                                    20

                                                nt r s
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                                                                                                               llo
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                                                                               20                ar
                                                                                                      y
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                                                                       sc              NONGNOTT
                                                                  Fi                   WONGKAEW
                                                              s
                                                       H   an
                                                                               Habilitandin am
                                                                          ­Institut für Analytische
                                                                                                                         G e o e n dia

                                                                                                                         201

                                                                             Chemie, ­Universität
                                                                                                                            S ti p

                                                                                 Regensburg
                                                                                                                               4 –2
                                                                                                                               rg F

                                                                                                                                    015
                                                                                                                                    ors
                                                                                                                                        ter-
                                                                                                                                         ti n

                                                                                       2011
                                                       Humboldt-Forschu
                                                                                                           ngspreis

                                                                                                                                                                     2007–2008

                                                                                                                                                              Humboldt-Stipendatin
            BEN L. FERINGA
         * 18. Mai 1951, Niederlande
                                                                                                                                                                   20
                                            20

        Spezialisiert auf Organische                                                                                                                       Alu        15 –
                                                                                                                                                                           20
                                              16

         Chemie, Nanotechnologie                                                                                                                               mn               16
                                                                                                                                   ANTJE BAEUMNER          Hu     ifö
                                                                                                                                                              m b rd e r
       und Asymmetrische Katalyse,                                                                                               Professorin am Institut         old        ung
                                                                                                                                                                      t-S
        gewann der niederländische                                                                                                                                        ti f t d e r
                                                                                                                                für Analytische Chemie,                         ung
       Professor von der Universität                                                                                            Chemo- und Biosensorik,
         Groningen den Nobelpreis                                                                                                Universität Regensburg
        für das Design und die Syn-
           these von molekularen
                 Maschinen
                                                           NOBELPREIS
                                                           FÜR CHEMIE

18                                                      HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
FRASER STODDART
                                                                                                         * 24. Mai 1942, Großbritannien
                                                                                                           Der Chemie-Professor des
                                                                                                         Kuratoriums der Northwestern
                                                                                                            University, Illinois, hat in
                                                                                                         50 Jahren Forschungstätigkeit
                                                                                                         bisher mehr als 500 Doktoran-                                                               HUMBOLDT-
                                                                                                           den und Postdocs betreut.                                                                UNIVERSITÄT
                                                                                                                                                                                                      ZU BERLIN

                                                                                                       20
                  16

                                                                                             Fe           09
                20

                                                                                                  od         –2
                                                                                             St       or        01
                                                                                                  ip               1

                                                            Feodor Ly
                                                                                                         L
                                                                                                     e n yn

                                                                             2008–2010
                                 Forschungs

                                                                                                             e
                                                              Stipendiat
                                                                                                        di     n
                                                                                                           at -
                                    H umboldt-

                                                                                                                                                                                   RAGNAR STOLL
                                                    1998

                                                                      nen-
                                                                                                                                                                                  Segment Manager
                                                                                                                                                                               ­Transportation, BASF
                                            preis

                                                                                                                                                                                Polyurethanes GmbH

                                                                                                                                                                                     DIETMAR SEYFERTH
                                                                                                                                                                                         Professor Emeritus,
              WOLFGANG A.
                                                                                                                                                                                          Massachusetts Institute
               HERRMANN
                                                                                                                                                                                           of Technology
                 Präsident der
                                                                     FLORIAN
                 Technischen
                                                                     BEUERLE
                  Universität
                                                            Privatdozent für
                 München bis
                                                              Organische                                                                                                                                     MASSACHUSETTS
                     2019
                                                           Chemie, Universität
                                                                                                                                                          e   is
                                                                                                                                                       pr                                                      INSTITUTE OF
                                                               Würzburg                                                                            s
                                                                                                                                               g
                                                                                                                           82               un                                                                 TECHNOLOGY
                                                                                                                     19                ch
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                                                                                                                                  rs
 M a ungs

                                                                                                                              o
  r sc

   199

                                                                                                                           -F
     x- P

                                                                                                                         dt
       h

                                                                                                                     l
         2

                                                                                                                bo
          l a n re i s

                                                                                                           um
               ck-

                                                                                                       H
                p

                                                                                                                                                                                               JANNA MICHAELIS
                                                                                                                                                                                               DE VASCONCELLOS
                                                                                                                                                                                                 Research Specialist,
                                                                                                                                                                                                  INEOS Styrolution
                                                                                                                                                                                    20
                                                                                                                                                                                    F e ti p e

                                                                                                                                                                                       11 –
                                                                                                                                                                                       od nd
                                                                                                                                                                                        S

                                                                                                                                                                                           20
                                                                                                                                                                                            o r ia

                                                                                                                                                  19
                   ALEXANDER                                                                                                                         94
                                                                                                                                                                                               12
                                                                                                                                                                                               Ly tin

                                                                                                                                       Fo H u m
                                                                                                                                                                                                  ne

                                                                                                                                         r sc     bo
                 VON HUMBOLDT-                                                                                                                hu
                                                                                                                                                                                                     n-

                                                                                                                                                     l
                                                                                                                                                 ng dt-
                                                                                                                                                   sp
                    STIFTUNG                                                                                                                           re
                                                                                                                                                          is
                                                                                                                7

                                                                                                                                                                             ium
                                                                                                            –198

                                                                                                                     tdoc

                                                                                                                                                                         end -
                                                                                                                                                                            13

                                                                                                                                                                             n
                                                                                                                                                                        yn e
                                                                                                                                                                         20
                                                                                                        19 85

                                                                                                                 Pos

                                                                                                                                                                   12 –

                                                                                                                                                                  s ti p
                                                                                                                                                          ckk or L
                                                                                                                                                               20

                                                                                                                                                             ehr
                                                                                                                                                                d
                                                                                                                                                           Fe o
                                                                                                                                                       Rü

                                                                                                                                                                         2016

                                                                                                                                                                                                    RICHARD SCHROCK
                                                    2004 –2006                                                                                                                                    * 4. Januar 1945, USA
                                                                                                                                                                                            Nach fast 50 Jahren Forschungs—
                                                     nthalt
                                      Forschungsaufe                                                                                                                                       tätigkeit ist Schrock seit 2018 Pro-
                                                                                                                                                                                           fessor Emeritus des Massachusetts
                                                                                                                                                                                          Institute of Technology. Der Nobel-
   SUDESHNA CHANDRA                                                                         HEINRICH LANG                                                                                 preis wurde ihm für seine Forschung
Associate Professor, Sunandan                                                                 Professor für                                                                                  zur Methathese in organischen
  Divatia School of Science,                                                              Anorganische Chemie,                                                                                    ­Synthesen verliehen.
  SVKM’s NMIMS University                                                                     TU Chemnitz

                                                                                         HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                                                                            19
SCHWERPUNKT

DIE WÜSTE
LEBT!
Der spanische Ökologe Fernando T. Maestre erforscht,
wie der Schutz von Dürregebieten gegen den Klimawandel
helfen kann. Ein Gespräch über ergrünende Wüsten
und darüber, wie aus einem kleinen Projekt ein globales
Forschungsnetzwerk entstand.

Interview GEORG SCHOLL

 20                                       HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
6

                                                                                                                    20
                                                                         11                                                                     3
                                                                                                                           10
                                                                                                                     9                  2

                                                                              9

                                                                                                                     6
                                                                                               6

                                                                                                                                        2
                                                                                       1

                                                                                                        3
                                                       X   Anzahl der durchgeführten       3
                                                           Feldstudien
                                                                                                                                 6
                                                      0       2 000 km                     15
                                                                                                                                                                                         9

                                                                                                12
                                                      ARIDITÄTSINDEX

                                                      0       1      8

                                                                                                            DAS BIOCOM-PROJEKT
                                                                                                            Die schwarzen Punkte auf der
                                                                                                            Weltkarte geben Lage und Zahl
                                                     KOSMOS      Herr Maestre, wenn es um den               der Versuchsfelder des EU-              Wissenschaft und Technik (CYTED), einem
                                                     Klimaschutz geht, denken viele zuerst an den           finanzierten Projekts BIOCOM            Förderverbund Spaniens, Portugals und 19
                                                     Regenwald und an Aufforstungsprojekte. Sie             an. In Zusammen­arbeit mit ­Kol­-       lateinamerikanischer Länder, bekamen. Da­-
                                                     dagegen erforschen, was Dürrezonen für den             leginnen und Kollegen in mitt-          mit konnten wir ein Netzwerk aufbauen, das
                                                     Klimaschutz leisten können.                            lerweile 19 Ländern auf fünf            die verschiedensten Forschergruppen zusam-
                                                     MAESTRE Es stimmt, den Trockenzonen                    Kontinenten konnte unter Lei-           menbrachte: erfahrene und solche, die gerade
                                                     wird traditionell leider nicht viel Aufmerk-           tung von Fernando T. Maestre            erst im Entstehen waren. So bekamen wir
                                                     samkeit geschenkt. Dabei machen sie über               erstmals systematisch verein-           plötzlich Partner in Argentinien, Chile, Vene-
                                                     40 Prozent der Erdoberfläche aus. Doch sie             heitlicht die Zusammensetzung           zuela, Brasilien, Nicaragua, Peru, Ecuador und
                                                     produzieren wenig Biomasse im Vergleich zu             der Lebensgemein­schaften der           Mexiko.
                                                     anderen Vegetationszonen, es fehlt einfach an          Ökosysteme in den Trockenzo-
                                                     Wasser. Hinzu kommt, dass wissenschaftliche            nen der Welt erforscht werden.          Wie gelang die Zusammenarbeit in so einer
                                                     Schwergewichte wie Deutschland und Groß-               In den Trockenzonen wie der             bunten Gruppe?
                                                     britannien keine Trockenregionen haben. Die            Pampa in der Nähe des Vulkan            Ich bat alle Forscherteams darum, alles genau
                                                     USA haben zwar Trockenregionen, aber im                Lanín, Argentinien, (Bild links)        so umzusetzen, wie wir es schon in Spanien
                                                     Fokus der Aufmerksamkeit standen dort                  übersteigt die mittlere jährliche       gemacht hatten. Unsere Vorgehensweise in
                                                     immer Ökosysteme mit mehr Vegetation.                  Verdunstung den mittleren jähr-         Spanien hatte sich bewährt, jetzt mussten wir
                                                                                                            lichen Niederschlag. Trocken­           sehen, ob sie auch in einem anderen Umfeld
                                                     Wie gelang es Ihnen trotzdem, ein Forschungs-          zonen machen 41 Prozent der             funktionierte. Und das tat sie!
                                                     netzwerk aufzubauen, das heute auf fünf Kon-           Erdoberfläche aus und beher-
                                                     tinenten aktiv ist und vom European Research           bergen mehr als ein Drittel der         So gut, dass es auch den ERC überzeugte?
                                                     Council (ERC) gefördert wird?                          Welt­bevölkerung. Für das Klima         Mein erster Antrag wurde noch abgelehnt. Im
                                                     Die Idee, die Trockengebiete der Welt zu erfor-        sind Trockenzonen von großer            Jahr drauf bewarb ich mich erneut, und dies-
                                                     schen, hatte ich schon ganz früh als junger            Be­deutung, denn auch dort              mal klappte es. Mein Labor und ich hatten
                                                     Doktorand. Als ich 2005 nach einem Postdoc-            können Boden und Vegetation             plötzlich genug Geld, um das nötige Personal
                                                     Aufenthalt in den USA nach Spanien zurück-             ­ent­scheidende Mengen Kohlen-          anzuwerben, die Unmengen an gesammelten
Foto: Pablo García-Palacios, Karte: Emilio Guirado

                                                     kehrte, erhielt ich für das Projekt zunächst nur       stoffdioxid speichern. Ein Er­-         Bodenproben zu analysieren und den Versand
                                                     eine so winzige Fördersumme, dass ich es erst          gebnis des BIOCOM-Projekts:             zu bezahlen Wir konnten neue Partnerschaf-
                                                     einmal nur in Spanien umsetzen konnte. Aber            Biodiversität in den Trocken­           ten in der ganzen Welt eingehen. Während
                                                     ich wusste schon damals, dass ich das Ganze            zonen ist ein entscheidender            meines Aufenthalts in Deutschland als Hum-
                                                     viel größer anlegen wollte.                            Faktor, damit sie der Mensch-           boldt-Forschungspreisträger sind auch zahl-
                                                                                                            heit als Lebensgrundlage und            reiche deutsche Kollegen mit eingestiegen. Sie
                                                     Wie ging es weiter?                                    im Kampf gegen die Erderwär-            haben selbst Feldstudien in Ländern wie
                                                     Der Durchbruch kam im Jahr darauf, als mein            mung nicht verloren gehen.              Ghana und Burkina Faso durchgeführt oder
                                                     Team und ich Geld von dem Ibero-Amerika-                                                       die Bodenproben auf ergänzende Variablen
                                                     nischen Programm für die Entwicklung von                    biocom.maestrelab.com              hin untersucht.                              ›

                                                                                                            HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                            21
SCHWERPUNKT

                                                                              ten sie besser wachsen. Doch dieser Effekt hat
Wie viel Kohlenstoff-                                                         in einigen Regionen schon sein Maximum
dioxid gibt der Boden                                                         erreicht, zumal durch den Klimawandel eine
ab? Professor Maestre
                                                                              Erwärmung stattgefunden hat und die Nie-
an einem Versuchs-
feld in der Nähe von
                                                                              derschlagsmengen immer geringer werden.
Alicante, Spanien.
                                                                              Was wird dann passieren, wenn der Wasser-
                                                                              mangel noch größer wird?
                                                                              Wir können noch keine allgemeingültigen
                                                                              Aussagen über die weltweiten Niederschlags-
                                                                              mengen der Zukunft treffen. Einige Gegenden
                                                                              mögen mehr Niederschlag, andere ausge-
                                                                              dehnte Dürren erleben. Aber wir gehen davon
                                                                              aus, dass durch die globale Erderwärmung die
                                                                              Verdunstung und der damit verbundene Was-
                                                                              sermangel ansteigen. Dieser Effekt wird nicht
                                                                              durch die positive Auswirkung des erhöhten
                                                                              Kohlenstoffdioxidgehalts in der Atmosphäre
                                                                              auf das Pflanzenwachstum kompensiert wer-
                                                                              den können. Hinzu kommt, dass die Trocken-
                                                                              gebiete in einigen Regionen der Welt in einem
                                                                              schlechten Zustand sind.

                                                                              Woran liegt das?
                                                                              Ein Grund ist in vielen dieser Gebiete die

„
                                                                              Abholzung von Bäumen und Sträuchern.
                                                                              Außerdem sind sie oft überweidet. Die Tro-
                                                                              ckenzonen beherbergen zwei Milliarden Men-
                                                                              schen, neunzig Prozent von ihnen leben in
                                                                              Entwicklungsländern, wo sie von dem leben,
                        Welche Ergebnisse brachte die Zusammen-               was die Umgebung liefert; von ihren Tieren,
                        arbeit?                                               die hier grasen, und von dem, was sie anbauen
                        Wir konnten den Beweis liefern, dass die Viel-        können.
                        falt von Pflanzen und Mikroben eine Schlüs-
                        selrolle spielt: Sie ist essenziell für die Funkti-   Was müsste sich ändern?
BIS VOR EINIGEN         onen des Ökosystems, welche die Fruchtbarkeit         Eine Menge könnte durch eine gute Steuerung
                        des Bodens und das Wachstum von pflanzli-             der Weidehaltung erreicht werden. Wir gewin-
JAHREN WUSSTE           cher Biomasse ermöglichen, – und von denen            nen sehr aufschlussreiche Daten darüber, wie
                        weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen            viele Tiere wie lange an einem Ort verweilen
NIEMAND, WAS            abhängig sind. Bis vor einigen Jahren konnte          können, bis dieser so abgegrast ist, dass er sich
                        sich niemand vorstellen, was für eine wichtige        nicht mehr erholen kann. Eine Schlüsselrolle
FÜR EIN GROSSER         Rolle der Biodiversität in Trockenzonen               spielen außerdem alle Maßnahmen, die dazu
                        zukommt. Außerdem konnte man in den letz-             beitragen, die Biodiversität zu erhalten.
CO2-SPEICHER            ten 30 bis 40 Jahren eine regelrechte Ergrü-
                        nung der Dürrezonen weltweit beobachten.              Wenn es ums Überleben geht, steht Umwelt-
DIE BÖDEN DER           Das weist darauf hin, dass viel CO2 zusätzlich        schutz nicht an erster Stelle. Stoßen ihre Rat-
                        gebunden wird.                                        schläge trotzdem auf offene Ohren?
TROCKEN­GEBIETE                                                               In den Entwicklungsländern ist es oft schwie-
                        Was hat zu der Ergrünung geführt?                     riger den Menschen zu erklären, dass sie
SIND.“                  Der gestiegene CO2-Anteil in der Atmosphäre           bestimmte Verhaltensweisen ändern müssen,
                        hat dazu geführt, dass die Pflanzen mehr Was-         nicht allein aus Gründen des Umweltschutzes,
                        ser aufnehmen können, und so ihre Fähigkeit           sondern weil sie ansonsten ihre eigene Exis-
                        zur Fotosynthese stimuliert. Dadurch konn-            tenzgrundlage aufs Spiel setzen.

22                                 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
Welchen Beitrag leisten Wissenschaftlerin-        Wagen Sie eine Prognose: Werden die Tro-
                                                      nen und Wissenschaftler aus Afrika in Ihren       ckengebiete in 20 Jahren grüner sein?
                                                      Teams?                                            Dafür müssten wir jetzt sofort ein ambitio-
                                                      Sie führen einen Großteil der Feldstudien         niertes Rettungsprogramm starten. Wir tun
                                                      durch. Zu unserem Netzwerk gehören For-           viel, um die Ergebnisse unserer Forschung
                                                      schende in Niger, Südafrika, Namibia, Bots-       bekannt zu machen; geben Interviews im
                                                      wana, in Algerien, Ghana, Marokko, Tunesien       Radio und im Fernsehen, nutzen die Sozialen
                                                      und Kenia. Wir versuchen, sie vor Ort auszu-      Medien, um unsere Ergebnisse zu kommuni-
                                                      bilden. So gehen wir sicher, dass die Kolle­      zieren, aber die Politiker haben sich bis jetzt
                                                      ginnen und Kollegen in den Ländern Afrikas        noch nicht wirklich dafür interessiert oder
                                                      die Methoden kennen und die Arbeitsweise          nach Rat gefragt.
                                                      beherrschen. Das kostet sicher sehr viel Zeit,
                                                      aber ich persönlich finde das sehr bereichernd.   Auch nicht in Ihrer Heimat Spanien, das in
                                                                                                        der EU eines der am meisten von Wüstenbil-
                                                      Sie standen von Anfang an im Zentrum des          dung bedrohten Länder ist?
                                                      Projekts und gaben die Methoden vor. Doch         Leider nein. Aber wenn wir jetzt nichts tun,       PROFESSOR DR. FERNANDO
                                                      ein Netzwerk besteht aus vielen Persönlich-       wird Südspanien in Zukunft eher den Cha-           T. MAESTRE ist Distinguished
                                                      keiten mit eigenen Vorstellungen. Hat nie-        rakter einer nordafrikanischen Landschaft          Researcher an der Universität
                                                      mals jemand auf den Tisch gehauen und             haben und wir laufen Gefahr, das Grundwas-         von Alicante, Spanien, und
                                                      gesagt, „meine Idee ist besser“?                  ser nicht mehr erschließen zu können. Ich          ­Professor für Ökologie an der
                                                      Nein, das ist nicht vorgekommen. Aber durch       würde mir wirklich wünschen, dass Spanien          Rey Juan Carlos Universität
                                                      die Ideen anderer sind wir auf Ansätze gesto-     und andere betroffene Länder endlich aufwa-        in Móstoles, Spanien. Der Pflan-
                                                      ßen, die wir gar nicht mitgedacht hatten. Es      chen und den Schutz ihrer Trockenzonen und         zenökologe wurde an der U
                                                                                                                                                                                   ­ ni-
                                                      erlaubte uns, Fragen zu beantworten, an die       Grundwasserressourcen als nationale Priori-        versität Alicante im Fach Bio­
                                                      ich im Traum nicht gedacht hätte.                 tät begreifen.                                     logie promoviert. Nach einem
                                                                                                                                                           Postdoc-Aufenthalt an der
                                                                                                                                                           Duke University, USA, erhielt er
                                                                                                                                                           für das globale Forschungsvor-
                                                                                                                                                           haben BIOCOM 2009 den Star-
                                                                                                                                                           ting Grant des Europäischen
                                                                                                                                                           Forschungsrats (ERC). Maestre
                                                                                                                                                           absolvierte unter anderem For-
                                                                                                                                                           schungsaufenthalte in Austra-
                                                                                                                                                           lien, Deutschland, China und
                                                                                                                                                           den USA. Im Jahr 2014 wurde
                                                                                                                                                           Maestre mit dem Humboldt-
                                                                                                                                                           Forschungspreis aus­gezeichnet.
                                                                                                                                                           Seitdem arbeitet er unter ande-
                                                                                                                                                           rem für die A
                                                                                                                                                                       ­ nalyse der in Tro-
                                                                                                                                                           ckenzonen gesammelten Daten
                                                                                                                                                           eng mit deutschen Kolleginnen
                                                                                                                                                           und ­Kollegen in Berlin und
Fotos: Jesús Cruces, Leo Barco, María Dolores Puche

                                                                                                                                                           ­Leipzig zusammen. 2014 konnte
                                                                                                                                                           er für das Nachfolgeprojekt
                                                                                                                                                           ­BIODESERT einen Consolidator
                                                                                                                                                           Grant des ERC anwerben. Bis
                                                                                                                                                           Ende 2020 untersucht Maestre

                                                                                                                                 Blick auf die Tabernas-   mit seinem Team an der Rey
                                                                                                                                 Wüste in der Region       Juan Carlos Universität im
                                                                                                                                 Almería, Spanien,         ­Rahmen von BIODESERT, wie
                                                                                                                                 eine der trockensten      die Ökosysteme in Trocken­
                                                                                                                                 Regionen Europas.
                                                                                                                                                           zonen auf den Klimawandel in
                                                                                                                                                           Zukunft reagieren könnten.

                                                                                                                  HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                23
FORSCHUNG HAUTNAH

ANTON ZENSUS im
Steuerungsraum des
Radioteleskops Effels-
berg in der Eifel.

  24                     HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
IM BANN DES
             SCHWARZEN
             LOCHES
             Ohne ein weltumspannendes Netzwerk wäre diese
             Sensation nicht möglich gewesen: Radioastronomen
             gelang das erste Foto eines Schwarzen Lochs im
             Weltraum. Wissenschaftler aus 20 Ländern haben
             dafür zusammengearbeitet. Führender Kopf des
             Verbundes: Humboldt-Forschungspreisträger
             Anton Zensus vom Max-Planck-Institut für Radio-
             astronomie.

             Text THORSTEN DAMBECK Fotos SILVIA STEINBACH

           E
                         s ist nicht leicht, Anton Zensus im Herbst 2019
                         zu treffen. Wer den Astrophysiker interviewen
                         will, muss erst einmal einen freien Termin ergat-
                         tern. Seien es Fachvorträge, öffentliche Auftritte
             vor faszinierten Laien oder Preisverleihungen: Zensus ist
             gefragt. Dann klappt es aber doch und zwar an seinem
             Arbeitsplatz, dem Max-Planck-Institut für Radio­astro­no­
             ­mie in Bonn, dessen Direktor Zensus ist. Zudem leitet er
              den Kollaborationsrat des Event Horizon Telescope Kon-
              sortiums, das aus rund 200 Forscherinnen und Forschern
              aus 60 Instituten besteht. Was fokussiert ein so starkes
              Interesse auf den Radioastronomen? Es ist gerade ein hal-
              bes Jahr her, als am 10. April 2019 das EHT-Team einen
              bahnbrechenden Erfolg meldete: Nach jahrzehntelangen
              Vorarbeiten war das gelungen, was Experten lange für
              unmöglich gehalten hatten: ein Schwarzes Loch zu port-
              rätieren.
                 Solch ein mysteriöses Objekt, wie es in einer fiktiven
              Version bereits Millionen Kinogänger im Weltraumepos
              „Interstellar“ bestaunt hatten, kann nun quasi in natura
              besichtigt werden. Das Bild wurde auf zeitgleich angesetz-
              ten Pressekonferenzen der weltweiten Öffentlichkeit prä-
              sentiert, in Brüssel in Anwesenheit des EU-Kommissars
              für Wissenschaft, Carlos Moedas. In den Worten des Por-
              tugiesen klingt die Bedeutung des Ereignisses an, er sprach
              von „einem Durchbruch für die gesamte Menschheit“. Ein
              Mitschnitt der Veranstaltung wurde bis heute über drei ›

HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                      25
FORSCHUNG HAUTNAH

                                                    TITELSTAR
                                                    Das erste Bild
                                                    von einem
                                                    Schwarzen
                                                    Loch ging 2019
                                                    um die Welt.

                                                                     gemeinen Relativitätstheorie denken. Aber obwohl der
                                                                     Physiker Karl Schwarzschild sie bereits 1916 aus den Ein-
                                                                     steinschen Gleichungen ableitete, bezweifelte Einstein sel-
                                                                     ber ihre Ex­istenz. Die heutige Astrophysik hatte zwar

      „
                                                                     kaum noch Zweifel, dass der Kosmos tatsächlich von solch
                                                                     bizarren Objekten bevölkert ist, jedoch gab es dafür bis
                                                                     zum vergangenen Frühjahr nur indirekte Belege.
                                                                         Trotzdem musste es möglich sein, Schwarze Löcher
                                                                     visuell nachzuweisen, diesem Credo folgte Anton Zensus
                                                                     seit langem in seiner Wissenschaftlerkarriere. Das Inter-
                                                                     esse am Weltall hatte den Physiker bereits seit dem Haupt-
                                                                     studium in Münster nicht mehr losgelassen. Doch erst ein
                                                                     langer Atem und die beharrliche Arbeit an wissenschaft-
                                                                     lichen und technischen Innovationen brachten schließlich

      SO ETWAS                                                       den Erfolg.

      KANN EINEM                                                     EIN WISSENSCHAFTLICHES FASZINOSUM
                                                                     Lange zuvor war bereits klar gewesen, dass sichtbares Licht

      WISSENSCHAFTLER                                                für die Abbildung Schwarzer Löcher ungeeignet ist. Nur
                                                                     besonders kurzwellige Radiostrahlung kann die kosmi-

      WOHL HÖCHSTENS                                                 schen Distanzen zwischen dem Studienobjekt und dem
                                                                     irdischen Beobachter ungehindert passieren. Doch die

      EINMAL IN                                                      infrage kommenden Antennen mussten erst für den Emp-
                                                                     fang der Millimeterwellen präpariert werden. Zudem

      SEINER KARRIERE                                                mussten Computer lernen, aus den Messdaten ein foto-
                                                                     ähnliches Bild zu errechnen. Auch konnten die Messun-

      PASSIEREN.“                                                    gen selbst nicht von einem einzelnen Radioobservatorium
                                                                     allein durchführt werden. Nur durch die Zusammenschal-
                                                                     tung von acht einzelnen Teleskopen in Chile, Mexiko,
                                                                     Hawaii, Arizona, Spanien und der Antarktis entstand ein
                                                                     ausreichend großes virtuelles Radioteleskop, dessen Ver-
      Millionen Mal im Internet angeklickt. Und die Aufnahme         größerung für das vergleichsweise winzige Schwarze Loch
      des Schwarzen Lochs sorgte für eine Welle von Schlagzei-       ausreichte. Im Jargon der Experten heißt das Very Long
      len in der Weltpresse. Ausgewählte Titelstorys hängen seit-    Baseline Interferometry. Insbesondere die 66 ALMA-
      dem als großes Poster an der Wand zu Zensus’ Bonner            Antennen („Atacama Large Millimeter Array“) in Chile,
      Büro. „Dieser Tsunami an öffentlichem Interesse hat uns        die in das EHT-Netzwerk integriert wurden, waren für den
      überrascht“, räumt er ein.                                     Erfolg entscheidend.
         Auch für einen nüchternen Physiker sind Schwarze                „Bei unserer Forschung ist internationale Zusammen-
      Löcher ein Faszinosum. Denn diese sind im wahrsten             arbeit unverzichtbar“, erklärt Zensus, der insgesamt 16 Jahre
      Sinne des Wortes anziehend: Wegen ihrer gewaltigen             seiner Karriere in den USA verbrachte. Die Stationen dort:
      Schwerkraft kann keinerlei Materie ihre Umgebung ver-          Caltech im kalifornischen Pasadena, Socorro in New
      lassen. Sogar Licht und anderen elektromagnetischen Wel-       Mexico und zuletzt Charlottesville in Virginia. An der dor-
      len misslingt es, aus ihnen zu entweichen, eben deshalb        tigen Zentrale des National Radio Astronomy Observatory
      sind sie „schwarz“. Als theoretisches Konzept geistern         schärfte er sowohl die technischen als auch die organisa-
      Schwarze Löcher seit über einem Jahrhundert durch das          torischen Fähigkeiten, die für seine spätere Leitungsposi-
      Universum, lassen sie sich doch als Konsequenz der All-        tion im EHT-Konsortium entscheidend waren. Denn das

26                                                   HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
ANTON ZENSUS mit Entwicklungsingenieur Gino Tuccari im Bonner Labor für Very Long Baseline Interferometry (VLBI)
                                                             vor einem Datenaufzeichnungsgerät.

                                                             Netzwerk aus Radioantennen musste auf eine solide orga-       förmig um das Objekt herum. Genau genommen zeigt das
                                                             nisatorische Basis gestellt werden. Zensus: „In zwei Jahren   Bild also nicht das Schwarze Loch selbst, sondern dessen
                                                             kamen rund 50 Meetings zusammen.“ Seine Aufgabe als           Schatten und die unmittelbare Umgebung.
                                                             Vorstandsvorsitzender war es, mit einem detaillierten Ver-
                                                             tragswerk die unterschiedlichen Interessen für das gemein-    WELTWEITES NETZ VON TELESKOPEN
                                                             same Ziel auszubalancieren. Zensus: „Das erforderte auch      Schwarze Löcher sind auch deshalb so populär, weil sie
                                                             manchmal Führung zu übernehmen.“                              eine mystische und bedrohliche Aura umweht. Das fiktive
                                                                 Nun kann sich jeder ein Bild von einem Schwarzen          Exemplar im Interstellar-Film heißt Gargantua, wie der
                                                             Loch machen. Das von den EHT-Forschern abgelichtete           Vater aller grotesken Riesen aus der gleichnamigen Renais-
                                                             Exemplar liegt im Sternbild Jungfrau und zwar im Zent-        sance-Erzählung von Rabelais. Für sein echtes Pendant in
Foto (links): SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG

                                                             rum der riesigen elliptischen Galaxie M87. Im Club der        der Galaxie M87 interessieren sich inzwischen auch jene
                                                             Schwarzen Löcher ist es ein besonders massives Mitglied,      Zeitgenossen, die Physik und Astronomie sonst eher kalt
                                                             es bringt 6,5 Milliarden Sonnenmassen auf die Waage. Auf      lassen. „Wir werden nun anders wahrgenommen“, so Zen-
                                                             dem Bild erkennt man einen zentralen Bereich, der tat-        sus. „Früher habe ich keine Vortragseinladungen bekom-
                                                             sächlich schwarz ist. Das eigentliche Loch verbirgt sich      men, um vor mittelständischen Unternehmen zu sprechen,
                                                             unsichtbar in dieser Dunkelzone. Sie ist umgeben von einer    jetzt schon.“ Auch bei jungen Menschen sei ein deutlich
                                                             hellen Region. Zensus erläutert: „Das ist heiße, strahlende   gewachsenes Interesse feststellbar, das gebe den naturwis-
                                                             Materie, die sich ringförmig um das Schwarze Loch ange-       senschaftlichen und technischen Fächer wieder Auftrieb.
                                                             sammelt hat.“ Ein beträchtlicher Teil der leuchtenden         Zensus: „Meine Söhne verfolgen beide Karrieren außer-
                                                             Materie befinde sich sogar hinter dem Schwarzen Loch.         halb der Naturwissenschaft. Jetzt werden sie von ihren
                                                             Das liege daran, dass ein derart massives Objekt Raum         Freunden angesprochen, dass der Vater und seine Kolle-
                                                             und Zeit so stark krümmt, dass es Licht ablenkt. Ab einem     gen ja faszinierende Forschung betreiben. Eine neue Erfah-
                                                             bestimmten Punkt laufen dann die Lichtstrahlen kreis-         rung für mich.“                                          ›

                                                                                                            HUMBOLDT KOSMOS 111/2020                                                    27
FORSCHUNG HAUTNAH

                                                                                                   DER RADIOASTRONOM PROFESSOR
                                                                                                   DR. ANTON ZENSUS ist Direktor am
                                                                                                   Max-Planck-Institut für Radioastronomie
                                                                                                   in Bonn, erhielt 1994 den Humboldt-­
                                                                                                   Forschungspreis und 1999 den Max-
                                                                                                   Planck-Forschungspreis. Hier auf dem
                                                                                                   Bild links in einer Besprechung mit
                                                                                                   ­Forschenden seiner Arbeitsgruppe im
                                                                                                  ­Max-Planck-­Institut für ­Radioastronomie.
                                                                                                   Anton Zensus studierte Physik und
                                                                                                   ­A stronomie in Köln und Münster, wo er
                                                                                                   1984 promoviert wurde. 1985 ging er als
                                                                                                   Postdoktorand in die USA an das Cali-
                                                                                                   fornia Institute of Technology in Pasa-
                                                                                                   dena in Kalifornien und 1988 an das
                                                                                                   ­National Radio Astronomy Observatory
                                                                                                   in Socorro, New Mexico und Charlottes-
                                                                                                   ville, Virginia. 1996 wurde Anton Zensus
                                                                                                   zum wissenschaftlichen Mitglied der
                                                                                                   Max-Planck-Gesellschaft und zum Direk-
                                                                                                   tor an das Bonner Institut berufen, wo er
                                                                                                   die Forschungsabteilung für Very Long
                                                                                                   Baseline Interferometry (VLBI) leitet.

      Auch von offizieller Seite ist für die Radioastronomie wie-   dem Prüfstand: Wegen ihrer extremen Gravitationsfel-
      der mehr Unterstützung feststellbar. Das sei auch nötig,      der muss sich die Allgemeine Relativitätstheorie nämlich
      wenn man die Spitzenposition bei dieser Forschung behal-      unter Bedingungen bewähren, die ihr zuvor niemals
      ten wolle, betont Zensus nachdrücklich. Mit zusätzlichen      abverlangt wurden. Bisher hält Einsteins Gedankenge-
      Radioteleskopen soll das Netzwerk verstärkt werden. Das       bäude dem Härtetest stand, den die EHT-Forscher ihm
      wird die Bildqualität künftiger Aufnahmen verbessern          zumuten.
      und deren wissenschaftliche Interpretation erleichtern.          Momentan arbeitet das Konsortium daran, das
      Dazu könnten auch Radioantennen auf Satelliten im Welt-       Schwarze Loch im Zentrum unserer eigenen Milchstraße
      raum beitragen.                                               abzulichten. Die Messungen dazu liegen vor, ihre Aus-
         Bei der Erforschung der Schwarzen Löcher geht es aber      wertung läuft auf Hochtouren. Obwohl es uns über 2 000-

„
      nicht nur um weit entfernte Himmelsobjekte. Vielmehr          mal näher ist als dasjenige in M87, ist die Ablichtung nicht
      steht auch die moderne Physik in ihren Grundfesten auf        einfacher. Zensus erklärt: „Die vergleichsweise schnellen
                                                                    Veränderungen im Zentrum der Milchstraße verursachen
                                                                    Störungen und machen es schwieriger ein Bild anzufer-
                                                                    tigen. Wir sind momentan dabei diesen Effekt herauszu-
                                                                    rechnen.“ Vorsichtig blickt Zensus nun auf die Uhr, bald
                                                                    steht die nächste Reise an. Dann fliegt er zur Verleihung
                                                                    des Breakthrough Prize für Fundamentalphysik, der 2019
                                                                    das gesamte EHT-Team ehrt. Der manchmal „Oscar der
                                                                    Physik“ genannte Preis wird am kalifornischen Ames-
DIE MODERNE                                                         Zentrum der NASA vergeben. Und wenige Tage später
                                                                    geht es zur „Falling-Walls“-Konferenz nach Berlin – auch
PHYSIK STEHT AUF                                                    dort will man mehr über den Durchbruch bei den Schwar-
                                                                    zen Löchern hören. Die Welle der Neugier und Faszina-
DEM PRÜFSTAND.“                                                     tion ebbt nicht ab.

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