KOSMOS - Alexander von Humboldt-Stiftung
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HUMBOLDT Nr. 111 / 2020 KOSMOS Forschung – Diplomatie – Internationalität DEUTSCHE N G LISH : CYBER VALLEYS E N E R SIO Wo die Hotspots der V ASE PLE VER KI-Forschung entstehen NO TUR DIE WÜSTE LEBT Wie Dürregebiete gegen den Klimawandel helfen Besser vernetzt! Wie Zusammenarbeit der Forschung nutzt
HUMBOLDTIANER PERSÖNLICH KWEEN KONG: COMEDY GEGEN RASSISMUS Die Aufnahme zeigt Lynette Mayowa Osinubi bei einer begeisterte eine Fangemeinde von 400 Leuten. Als Gast Diskussion im Anschluss an eine Vorführung ihres Films geberin sorgte Mayowa für barrierefreien Zugang für Men- „Acting White“ in Berlin. Der Begriff des „Acting White“ schen in Rollstühlen und für Übersetzer für diejenigen, die wird in den Vereinigten Staaten herabwürdigend für Peo- des Englischen nicht mächtig waren. Auf der Bühne nutzt ple of Colour verwendet, die angeblich die eigene Kultur Mayowa das Mittel der Komik, um die Absurditäten einer verraten, indem sie die Verhaltensnormen und Erwartun- sexistischen und rassistischen Gesellschaft herauszustellen gen der weißen Gesellschaft erfüllen. In der Dokumenta- und gemeinsam mit dem Publikum das Lachen als heilende tion geht Mayowa, so ihr Künstlername, der Frage nach, Kraft zu entdecken. wie sich diese negative Wertung auf die eigene Identität Als dunkelhäutiger Mensch in Berlin zu leben entfremde auswirkt und welche Folgen sie für die Psyche hat. einen manchmal von sich selbst, weil man das „Andere“ als Mayowa stammt aus Atlanta, USA. 2018 kam sie als Bun- Gegensatz zur mehrheitlich weißen Bevölkerung repräsen- deskanzler-Stipendiatin nach Berlin, um einen Dokumen- tiert. Während des Stipendiums hat Mayowa die Erfahrung tarfilm über die Erfahrungen dunkelhäutiger Menschen gemacht, dass die Berliner Gesellschaft nicht so tolerant ist, in Deutschland zu drehen. Mayowa ist Filmemacherin, wie viele meinen. So wird sie weiterhin ihre Stimme er- Youtuberin, Model und Moderatorin von Events. In Berlin heben und Menschen eine Möglichkeit bieten, ihre ganz hat sie Stand-up-Comedy als Ausdrucksmittel für sich ent- eigene Geschichte zu Gehör zu bringen – ob als Filme deckt. Die Comedyszene werde insgesamt leider von sexis- macherin oder Gastgeberin von Comedy-Shows. tischem und rassistischem Humor beherrscht, bedauert Aufgezeichnet von MAREIKE ILSEMANN Mayowa. Deshalb hat sie vor zwei Jahren die ISSA Comedy Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade Show ins Leben gerufen. Mittlerweile ist ISSA nicht nur die erste, sondern auch die größte Veranstaltung, die schwar- zen Künstlerinnen und Künstlern und Comedians aus der LYNETTE MAYOWA OSINUBI stammt aus Atlanta, USA, wo LGTB-Gemeinde eine Bühne bietet, ohne dass diese An sie eine eigene Filmproduktion unterhält. Ihr Dokumentar- feindungen oder Diskriminierung fürchten müssen. film „Acting White“ wurde für die Berlin Feminist Film Week So eine Veranstaltung verlangt Mut. Mayowa ist es wich- 2020 ausgewählt. Als Bundeskanzler-Stipendiatin kam sie tig, dass ihre Veranstaltungen einen sicheren Ort bieten. 2018 nach Berlin und gründete die Comedy-Veranstaltungs- Das erste eigene abendfüllende Programm „Kween Kong“ reihe ISSA. HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 3
EDITORIAL INHALT Foto: Humboldt-Stiftung / David Ausserhofer Liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, be herrscht wahrscheinlich die Corona-Krise immer noch die täglichen Nachrichten. In den Beiträgen dieser Kosmos-Ausgabe werden Sie wegen unse- 06 res frühen Redaktionsschlusses mit Ausnahme dieses Editorials nichts über die globale Pande- mie lesen. Jedenfalls nicht wortwörtlich. Dennoch passt unser Titelthema genau in die Zeit: Globale Herausforderungen wie Corona oder der Klimawandel können nur mit gemein- samen weltweiten Anstrengungen und interna tionaler Zusammenarbeit gelöst werden – in der Forschung wie in der Politik. In unserem Schwerpunkt lesen Sie, wie interna- tionale Forschungsnetzwerke arbeiten und wie sie sich verändern unter dem Eindruck neuer Her- 03 HUMBOLDTIANER PERSÖNLICH ausforderungen. Wie können digitale Instrumente Kween Kong: Comedy gegen Rassimus hierbei helfen? Wie verändert sich die Mobilität von Forscherinnen und Forschern in Zeiten von 06 NACHGEFRAGT Flugscham? Wie gelingt die praktische Zusam- Was Forscher antreibt und woran sie arbeiten menarbeit beispielsweise in einem internationalen Netzwerk, das weltweit in Dürregebieten Boden proben sammelt und analysiert, um hieraus Maß nahmen gegen den Klimawandel zu entwickeln? Zusammenarbeit, Vertrauen und Solidarität sind die Qualitäten, mit denen sich internationale Forschungsnetzwerke besonders in Krisenzeiten wie aktuell bewähren und Zeichen setzen gegen Abschottung und nationale Egoismen. Auch das ist eine Botschaft dieses Heftes vor dem Hinter- grund der aktuellen Corona-Krise. TITELILLUSTRATION Martin Rümmele / Raufeld Medien Viel Spaß beim Lesen! GEORG SCHOLL Chefredakteur 4 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
SCHWE R PU N K T ONLIN E Interak ti ve Kart und N e e tzwerk-G w w w.h rafik u m bold t- fou n d Fotos: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade, Silvia Steinbach, Illustration: Martin Rümmele / Raufeld Medien ation .d ko s m o s e/ 12 24 SCHWERPUNKT 12 Das Netz der Zukunft 24 FORSCHUNG HAUTNAH Im Bann des Schwarzen Loches Mit Welchen Nutzen wissenschaftliche Netzwerke bringen KI - P oste in de r und wie sie sich weiterentwickeln müssen. 30 NACHRICHTEN H ef t r mit t e 20 Die Wüste lebt! 32 GESICHTER AUS DER STIFTUNG Wer hinter den Kulissen dafür sorgt, Der spanische Ökologe Fernando T. Maestre über dass alles läuft die Rolle von Trockenzonen im Kampf gegen den K limawandel. 33 DEUTSCHLAND IM BLICK KI in Deutschland – ein schnell lernendes System IMPRESSUM HUMBOLDT KOSMOS 111 HERAUSGEBER Alexander von Humboldt-Stiftung PRODUKTION & GRAFIK Raufeld Medien GmbH DRUCK WM Druck + Verlag, Rheinbach CHEFREDAKTION Georg Scholl (verantwortlich), Nina Koch (Projektleitung), Carolin Kastner REDAKTIONSANSCHRIFT Mareike Ilsemann (Artdirektion), Martin Rümmele (Artdirektion) Alexander von Humboldt-Stiftung REDAKTION Ulla Hecken, Lena Schnabel ERSCHEINUNGSWEISE 2 × jährlich Redaktion Humboldt kosmos ÜBERSETZUNGEN INS ENGLISCHE AUFLAGE DIESER AUSGABE 42 000 Jean-Paul-Straße 12, 53173 Bonn, Deutschland Dr. Lynda Lich-Knight presse@avh.de, www.humboldt-foundation.de ISSN 0344-0354 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 5
HERR RUESCH, WAS LERNEN WIR VOM MARS ÜBER DIE ERDE? In den nächsten Jahren soll ein Rover der europäischen ExoMars- Mission erstmals Gesteinsproben vom Mars zur Erde bringen. Der Geologe Ottaviano Ruesch wird die gesammelten Daten analysieren. Seit Jahrzehnten erforschen Wissenschaftler den Mars. „Die zent- rale Frage ist natürlich, ob es dort Leben gibt“, sagt Ruesch, „oder zumindest Hinweise darauf, dass es mal welches gab.“ Bislang wurden keine eindeutigen Beweise gefunden. Aber selbst, wenn es diese nie geben sollte, erlaubt der Rote Planet uns dennoch einen Blick in die Erdvergangenheit. Denn wie das Leben auf unserem Planeten entstan- den ist, wissen wir nicht genau. Fast alle Spuren aus jener Zeit sind ver- wischt worden. „Der Mars ist quasi der kleine Bruder unserer Erde. Allerdings einer, der sich ab dem Kindesalter nicht weiterentwickelt hat“, erklärt Ruesch. Während die Erde vor dreieinhalb bis vier Milli- arden Jahren eine eigene Dynamik entwickelte, sich ihre Oberfläche durch Plattentektonik, Vulkanismus und die Wetterküche in ihrer dich- ten Lufthülle ständig veränderte, erstarrte der Mars mit der Zeit, und vor allem das Oberflächengestein veränderte sich kaum mehr. „Steine sind für Geologen wie Bücher aus der Vergangenheit“, sagt Ruesch. „In denen des Mars können wir womöglich nachlesen, welche Umstände herrschten, als sich auf der Erde die ersten Einzeller formten. Wir wol- len den Kontext verstehen, in dem aus organischem Material Leben hervorgehen kann.“ Der ESA-Rover wird auf der Tiefebene Oxia Planum unterwegs sein, von deren Tongestein die Forscher wissen, dass es rund 3,9 Milliarden Jahre alt ist. „Wir werden alles bis ins kleinste Detail analysieren; von der Topographie der Oberfläche bis zur Mineralogie und Chemie des Gesteins“, sagt Ruesch. Text JAN BERNDORFF Der Schweizer Geologe DR. OTTAVIANO RUESCH hat im nieder- ländischen Noordwijk für die Europäische Weltraumorganisation ESA und in Greenbelt, USA, für die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA geforscht. Als Sofja Kovalevskaja-Preisträger leitet er nun am Institut für Planetologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sein eigenes Forschungsprojekt. HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 7
NACHGEFRAGT FRAU BRKOVIĆ DODIG, WARUM SOLLTEN Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade KINDER IM MUSEUM EIN HOCHHAUS BAUEN? Wenn es im Museum um Architektur geht, werden Besucher häufig scheidet und wie ihr Erfolg evaluiert werden kann. Warum aber sollen eingebunden. Marta Brković Dodig hat viele solcher Mitmachakti- Kinder an außerschulischen Lernorten Erfahrungen in Sachen Stadtpla- onen für Kinder und Jugendliche geleitet. In dem jungen Forschungs- nung sammeln? „Wir wollen sie zu kundigen Bürgerinnen und Bürgern feld Baukulturelle Bildung reflektiert sie darüber mit Methoden der machen, was Stadtplanung und -geschichte betrifft“, sagt Brković Dodig. Wissenschaft. Am Ende geht es um Demokratie. „Die Stadt ist der Raum, in dem wir „Blockholm“ ist ein Paradebeispiel für BEE – Built Environment Edu- gemeinsam leben. Deshalb ist es wichtig, dass wir dazu auch einen Bezug cation. In der Ausstellung des schwedischen National Centre for Architec- haben – zu Gebäuden und Plätzen, zu Denkmälern, aber auch zu Orten, ture and Design haben Kinder, Jugendliche und Erwachsene die Stadt Stock- die für Menschen eine persönliche Bedeutung haben.“ holm mit dem Computerspiel „Minecraft“ nachgebaut. So sind mehr als Text RALF GRÖTKER 100.000 Entwürfe entstanden. Eine Jury wählte zehn Modelle aus, die im Maßstab von 1:5 in einer Folgeausstellung präsentiert wurden. Ähnliche DR. MARTA BRKOVIĆ DODIG ist Assistenzprofessorin für Archi Aktionen gab und gibt es in Museen in Chicago, München und Budapest. tektur an der Universität Union – Nikola Tesla in Belgrad, Serbien. Marta Brković Dodig trägt mit ihrem Team Informationen darüber Derzeit forscht sie als Humboldt-Forschungsstipendiatin am Institut zusammen, wo auf der Welt BEE-Programme existieren, was sie unter- für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin. 8 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
HERR CASADO, WAS VERRÄT DAS EIS DER ANTARKTIS ÜBER DEN KLIMAWANDEL? Foto: Humboldt-Stiftung / privat Im Herbst 2019 war er zwei Monate lang am Ende der Welt: Mathieu nungen. Und nicht nur das: „Ich habe herausgefunden, dass die Isotope Casado erforscht das Eis der Antarktis, um die Klimaveränderun- auch einiges über die Struktur des Schnees damals und sein Rückstrahl- gen der Erdgeschichte zu rekonstruieren. Dazu entnehmen die For- vermögen für das Sonnenlicht aussagen.“ Diese sogenannte Albedo der scher mithilfe eines Bohrers Proben aus dem ewigen Eis – je tiefer, Erdoberfläche spielt auch beim heutigen Klimawandel eine große Rolle. desto älter die Eisschichten. Casados Forschung soll dazu dienen, aus der Klimahistorie Erkennt- Gebildet im Laufe von hunderttausenden von Jahren hat das Eis nisse über die aktuellen Veränderungen zu ziehen. Informationen aus vergangenen Zeiten gespeichert. Pollen, Salze, kos- Bislang reichen die ältesten Proben rund 800.000 Jahre zurück. Die mischer Staub und eingeschlossene Luftbläschen verraten zum Bei- neueste Probe soll sogar über bis zu 1,5 Millionen Jahre Aufschluss geben. spiel, welche Gase die Atmosphäre seinerzeit enthielt, welche Vege Das antarktische Klimaarchiv wird immer umfangreicher. tation vorherrschte und wann es heftige Vulkanausbrüche gab. Text JAN BERNDORFF Mathieu Casado analysiert die Zusammensetzung der im Eis ent- haltenen Sauer- und Wasserstoffisotope. „Aus deren Mengenverhältnis Der französische Humboldt-Forschungsstipendiat DR. MATHIEU in einer Schicht können wir auf die damalige Lufttemperatur schließen“, CASADO forscht zurzeit an der Forschungsstelle Potsdam des sagt Casado. Das Eis liefert also prähistorische Temperaturaufzeich- Alfred-Wegener-Instituts. HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 9
NACHGEFRAGT FRAU MARCINIAK, WIE BEEINFLUSSEN NEPTUN, HERKULES UND CO. BIS HEUTE DIE KINDER DER WELT? Foto: Humboldt-Stiftung / Nikolaus Brade Von Zeus bis zu den Argonauten: Früher begegneten Kinder und Archetypen menschlichen Fühlens und Handelns und stiften so gerade Jugendliche den antiken Göttern und Helden in Büchern, heute schauen für Heranwachsende Identität, Sinn und Orientierung. sie sich den Kampf um Troja als Film an. Mit einem internationalen „Jede neue Adaption hält die Antike in unserem kulturellen Gedächt- Forschungsteam untersucht die polnische Altphilologin Katarzyna nis lebendig, sie ist universal und verankert uns in einem lokalen Kontext. Marciniak, wie die antiken Stoffe heute adaptiert und rezipiert werden. Die Figuren und Narrative bilden einen Kommunikationscode, der Längst sind die Epen aus dem alten Griechenland und Rom nicht mehr Ländergrenzen und Generationen überschreitet. Wer ihn lesen gelernt hat, nur ein europäisches Kulturerbe. Die neuseeländische Künstlerin Marian erhält Zugang zur mythischen Gemeinschaft, die auf humanistischen Maguire verbindet in ihrer Arbeit die Figur des Herkules mit Maori- Werten gebaut ist“, so Katarzyna Marciniak. Text MAREIKE ILSEMANN Traditionen. Auch die globale Populärkultur haben die antiken Mythen durchdrungen. So basiert der Stoff von „Die Schöne und das Biest“ auf Die ehemalige Humboldt-Forschungsstipendiatin und Humboldt- der Geschichte von Eros und Psyche. Alumni-Preisträgerin PROFESSORIN DR. KATARZYNA MARCINIAK Es zeigt sich: Die Erzählmuster des Mythos bieten eine universale leitet das internationale Forschungsprojekt „Our Mythical Childhood“ Thematik, wie etwa die Suche nach Liebe und inneren Werten im Falle an der Universität Warschau, Polen. Sie ist Vertrauenswissenschaftlerin von „Die Schöne und das Biest“. Die Götter- und Heldensagen erfassen der Humboldt-Stiftung in Polen. 10 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
HERR ABATE UND FRAU TACHBELIE, WIE HILFT EINE Foto: Humboldt-Stiftung / Axel Martens SPRACH-APP VOR GERICHT? In Äthiopien werden mehr als 80 Sprachen gesprochen. Für Gerichte an einzelne Wörter erzeugt werden. Zudem existieren für die äthiopischen ist es schwierig und teuer, Experten zu finden, die mündliche Zeugen Sprachen keine umfangreichen linguistischen Wörterbücher, die als aussagen in den unterschiedlichen Sprachen verschriftlichen. Selbst- Datenbasis eingesetzt werden könnten. Das Ehepaar behilft sich d es- lernende Computersysteme könnten Abhilfe schaffen. halb mit einem Trick. Auch wenn die äthiopischen Sprachen ein Symbol Solomon Teferra Abate und seine Frau Martha Yifiru Tachbelie ent- system verwenden, das sich von unserem Alphabet grundlegend unter- wickeln Verfahren zur automatischen Umwandlung von gesprochener scheidet: Ein Großteil der Basis-Lauteinheiten ist mit jenen im Deut- Sprache in geschriebenen Text. „Viele Menschen in Äthiopien können schen oder Englischen identisch. „Wir trainieren deshalb das Modell mit nicht lesen und schreiben, auch deshalb, weil die äthiopische Schrift- akustischen Daten, die wir für andere Sprachen zur Verfügung haben – sprache ungleich schwieriger ist als etwa die englische“, erklärt Solo- unter anderem für das Deutsche.“ Text RALF GRÖTKER mon Abate. Eine App auf dem Smartphone, die das gesprochene Wort in Text umwandelt, wäre hier in vielen Belangen eine wertvolle Hilfe. DR. SOLOMON TEFERRA ABATE und seine Ehefrau DR. MARTHA Eine Herausforderung ist dabei aber die Sprachstruktur. Für den Com- YIFIRU TACHBELIE von der Addis Ababa University in Äthiopien puter ist es schwer, die verschiedenen Erscheinungsformen eines Wortes sind als Georg Forster-Forschungsstipendiaten an der Universität zu erkennen, weil grammatische Unterschiede vor allem durch Anhänge Bremen zu Gast. HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 11
SCHWERPUNKT 12 HUMBOLDT KOSMOS 109/2018
DAS NETZ DER ZUKUNFT Welchen Nutzen wissenschaftliche A ls Alexander von Humboldt im Juni 1802 vom Netzwerke bringen und wie sie sich Chimborazo aus auf die Anden blickt, beginnt weiterentwickeln müssen. er, die Welt mit anderen Augen zu sehen. „Die Erde erschien ihm als ein riesiger Organis- Text ANJA REITER und MAREIKE ILSEMANN mus, in dem alles mit allem in Verbindung stand“, so Illustrationen MARTIN RÜMMELE beschreibt es die Humboldt-Biografin Andrea Wulf. Hum- boldts holistische Naturauffassung revolutionierte die Wis- senschaft; heute ist längst bewiesen, dass von einzelnen Zellen über unterirdische Pilzgeflechte ganze Ökosysteme in Netzwerken miteinander verbunden sind, Austausch betreiben und kommunizieren. theoretikers Mark Granovetters in den 1970er-Jahren weiß Das Konzept des Netzwerks hat seitdem eine einzigar- man, dass sich in Netzwerken gerade jene Kontakte als tige Karriere gemacht. Ob von neuronalen Netzen, dem besonders produktiv erweisen, die zwischen Menschen Internet oder sozialen Netzwerken die Rede ist: Zur uni- zustande kommen, die zuvor nichts oder nur wenig mit- versalen Metapher wird das Netzwerk, als in der zweiten einander zu tun hatten. Während man in seinem inners- Hälfte des 20. Jahrhunderts „mit dem Paradigmenwech- ten Zirkel aufgrund der Nähe oft dieselben Informationen sel von der Physik zur Biologie und von der Soziologie zur teilt und gleichförmiges Denken produziert, entstehen Informatik nicht nur die biologischen Systeme des Leben- neue Impulse durch fremde Einflüsse. digen, sondern vor allem auch die informationellen Steu- erungs-, Kontroll- und Kommunikationsnetze in den Mit- SCHWACHE BINDUNGEN, STARKE IDEEN telpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückten“, Beispiele für die Stärke dieser „schwachen Bindungen“ las- analysiert der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme von sen sich auch im Humboldt-Netzwerk zuhauf finden. So der Berliner Humboldt-Universität. kam Holger Schönherr, Professor am Lehrstuhl für Phy- Netzwerke können Grenzen überschreiten und ver- sikalische Chemie I an der Universität Siegen, 2013 auf meintlich geschlossene Einheiten aufbrechen. Sie schaffen, einer Konferenz in Südkorea mit der Nachwuchsforsche- wie im Falle des weltweiten Wissenschaftsnetzwerks der rin Nowsheen Goonoo von der Insel Mauritius ins Ge- Humboldt-Stiftung, Verbindungen über Disziplinen, Ins- spräch. Die beiden Forschenden stellten fest, dass sie mit titutionen und Nationen hinweg. ähnlichen Materialklassen und Verfahren arbeiteten. Dabei sind Begegnungen mit Menschen aus anderen „Dabei fielen uns beiden die vielversprechenden Synergie- Lebenswelten als der eigenen besonders fruchtbar. Denn effekte einer Kombination von Polyestern mit Polymeren spätestens seit dem einflussreichen Essay „The Strength of auf Basis einheimischer nachwachsender Rohstoffe für Weak Ties“ des amerikanischen Soziologen und Netzwerk- biomedizinische Anwendungen sofort in Auge“, so › HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 13
SCHWERPUNKT „ MACHEN NEUE Was viele Mitglieder der Humboldt-Familie persönlich erleben, bestätigen nicht nur die Evaluationen der Stiftung, TECHNOLOGIEN sondern auch Arbeiten wie die von Caroline S. Wagner, Professorin für Internationale Beziehungen an der Ohio KLIMASCHÄDLICHE State University, USA. Sie erforscht die Beziehungen zwi- schen dem Wissenschaftssystem eines Landes auf der einen FLUGREISEN ZU und Politik und Gesellschaft auf der andere Seite. Wagner hat gemeinsam mit Koen Jonkers von der britischen Uni- KONFERENZEN ODER versity of Cambridge die Publikations- und Zitationsda- ten von 36 Nationen untersucht. Das Ergebnis: Die Stärke FORSCHUNGS der Wissenschaft in einem Land, gemessen an der Zahl der Publikationen, der Zitationshäufigkeit und der Co- AUFENTHALTEN Autorenschaften, korreliert mit der Offenheit des Landes, internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler NICHT OBSOLET?“ aufzunehmen. „Wenn Menschen reisen können, entstehen Ideen und Kreativität. Je offener Staaten für den interna- tionalen Austausch sind, desto größer sind auch ihre w issenschaftliche Bedeutung und ihr Einfluss“, lautet Caroline S. Wagners Resümee. Die Mobilität von Wissen- schaftlern trägt also dazu bei, dass sich Netzwerke und Staaten den Herausforderungen der Zukunft stellen kön- nen. Doch inwiefern müssen Forschende in einer digita- lisierten Welt überhaupt physisch am gleichen Ort sein, um miteinander arbeiten und voneinander profitieren zu S chönherr. Aus der persönlichen Begegnung erwuchsen können? Machen neue Technologien klimaschädliche mehrere Forschungskooperationen mit Aufenthalten von Flugreisen zu Konferenzen oder Forschungsaufenthalten Nowsheen Goonoo in Siegen. Während die Siegener Wis- nicht obsolet? senschaftler für ihre Forschung an biologisch abbaubaren Nanomaterialen von Goonoos Materialwissen über die in DIGITAL IST OFFENER Mauritius einheimischen Pflanzen Aloe Vera und brau- „Physische und virtuelle Mobilität dürfen sich nicht in nen Seetang profitierten, konnte die Gastforscherin aus einer binären Opposition gegenüberstehen. Es gilt heraus- dem kleinen Inselstaat im Indischen Ozean Erfahrungen zufinden, wie beide in dem hochflexiblen und dynami- in der Arbeit mit dem Rasterkraftmikroskop sammeln. schen Geflecht von verzahnten Netzwerken am besten zur Als „Gewinn für beide Seiten“ beschreibt auch die Anwendung kommen, damit das nötige Zukunftswissen Grünlandforscherin Nicole Wrage-Mönnig von der Uni- produziert wird. In neuen, mehrdimensionalen Netzwer- versität Rostock ihre Zusammenarbeit mit dem Georg ken ist dieses Wissen als Struktur, nicht nur als individu- Forster-Stipendiaten Chabi Djagoun aus Benin. Der Kon- elles Gut zu begreifen. Es ist an uns allen, es zu gestalten, takt war ebenfalls durch das Humboldt-Netzwerk zustande das ‚Humboldt-Netzwerk 4.0‘ “, appelliert Hans-Christian gekommen. Während der Ökologe aus dem afrikanischen Pape, Präsident der Humboldt-Stiftung. Land die Rostocker Arbeitsgruppe dazu brachte, schein- Die amerikanische Mikrobiologin Beronda Montgo- bar selbstverständliche Annahmen zum Beispiel zur Pho- mery hat sich damit auseinandergesetzt, wie die sozialen tosynthese zu hinterfragen, konnte er am Lehrstuhl für Medien und digitalen Plattformen genutzt werden kön- Grünland und Futterbauwissenschaften das Isotopenver- nen, um nachhaltige und funktionierende Netzwerke zu hältnis-Massenspektrometer nutzen, um zu erforschen, schaffen. Auch sie selbst ist in digitalen Netzwerken unter- von welchen Pflanzenarten sich die vom Aussterben wegs: „In den letzten Jahren war ich selbst sehr aktiv auf bedrohte Leierantilope in seiner Heimat ernährt. Twitter. Einige meiner Gruppen dienen vor allem dem 14 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
fachlichen Austausch über meine Forschungsthemen. Andere dienen dem Empowerment, etwa die Gruppe #BLACKandSTEM, eine Community zur Unterstützung von afroamerikanischen Menschen in den Naturwissen- „ schaften“, berichtet Montgomery. Sie sieht den Vorteil der digitalen Netzwerke in ihrer Offenheit. „Der öffentliche DER ÖFFENTLICHE Charakter ist meiner Meinung nach ein Schlüssel zu mehr Diversität. So können Individuen, die das Netz nach Res- CHARAKTER DIGITALER sourcen scannen, in Kontakt mit einer Gruppe treten, auf die sie sonst gar nicht gestoßen wären. Außerdem können NETZWERKE IST Individuen, die nicht zur Fokusgruppe der Community gehören, mitlesen und mithören. Sie können bei relevan- EIN SCHLÜSSEL ZU ten Themen Stellung beziehen und als Advokaten für Min- derheiten eintreten“, so Montgomery. MEHR DIVERSITÄT.“ Historisch betrachtet gehen neuartige Netze meist mit technologischen Entwicklungen einher. Das gilt auch für den Wissenschaftsbetrieb und erst recht für seine digita- len Netze. So zählen die digitalen Wissenschaftsplattfor- men ResearchGate und Academia.edu über 15 beziehungs- weise 108 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer. Rund 10 000 Forschende, die bei der Registrierung › HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 15
SCHWERPUNKT „ lediglich eine Institutionszugehörigkeit angeben muss- ten, loggen sich laut ResearchGate täglich ein, um mit- einander in Kontakt zu treten und Zugang zu den Papers zu bekommen, die dort schnell zur Verfügung gestellt werden, da lange Editions- und Redaktionsprozesse in NEUNZIG PROZENT Verlagshäusern entfallen. So erhält eine breite Masse einen leichten Zugriff auf Fachwissen, das sie weiterver- MEINER arbeiten kann. Es entsteht damit ein neuer Rahmen, in dem Wissen getauscht und produziert wird. Diese vir- KOOPERATIONEN tuelle Mobilität von Wissen verändert die Form des Wis- sens selbst. SIND DURCH SCHNELLER WISSENSTRANSFER FACE-TO-FACE- Auch andere Methoden wie das Crowdreviewing, mit dem sich auch die Humboldt-Stiftung beschäftigt, nut- KONTAKT zen die Möglichkeiten der Digitalisierung – in diesem Fall, um online das Gutachtenverfahren zu entlasten und ENTSTANDEN.“ zu flexibilisieren. Auch für das Klima wäre es gut, nicht nur Wissens inhalte, sondern auch die Forschenden vermehrt virtuell miteinander zu verbinden. „Ich selbst habe im vergangenen Jahr an einigen Konferenzen nur über Twitter teilgenom- men, um meinen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. 16 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
„ Physische und virtuelle Mobilität dürfen sich nicht in einer binären Opposition gegen- überstehen. Es gilt herauszufinden, wie beide in dem hochflexiblen und dynamischen Geflecht von ver- zahnten Netzwerken am besten zur Anwendung kommen, damit das nötige Zukunftswissen produziert wird. In neuen mehrdimensionalen Netzwerken ist dieses Wissen als Struktur, nicht nur als individuelles Gut zu begreifen. Es ist an uns allen, es zu gestalten, das ‚Humboldt- Netzwerk 4.0‘.“ HANS-CHRISTIAN PAPE , Präsident der Humboldt-Stiftung Digitale Plattformen erweitern die Möglichkeiten, sich in Während es sich bei explizitem Wissen um klar formu- wissenschaftlichen Communities zu engagieren und ver- lierbares und reproduzierbares Wissen handelt, hat impli- ringern zugleich Hürden in Bezug auf ökonomische und zites Wissen immer eine persönliche Qualität. Explizites ökologische Bedenken“, findet Beronda Montgomery. Sie Wissen lässt sich gut auf digitalem Wege vermitteln, etwa fühle sich mittlerweile auch wohl damit, Seminare über das über eine Online-Präsentation bei einer Konferenz oder ein Internet zu geben. Was jedoch auf der Strecke bleibe, seien Web-Seminar an der Uni, oder zum Teil über digitale Platt- die informellen Gespräche beim Kaffee oder beim Abend- formen. Für das Erlernen und Nachahmen von implizitem essen, betont die Amerikanerin. Dabei seien gerade diese Wissen, etwa bewährten Forschungspraktiken, ist die per- meist so fruchtbar, bestätigt auch Caroline S. Wagner. sönliche Anwesenheit in einer anderen Forschungsumge- Neunzig Prozent ihrer Wissenschaftskooperationen seien bung notwendig. Nur durch vertrauensvollen Umgang mit durch Face-to-Face-Kontakt entstanden, sagt Wagner. erfahrenen Forschenden haben junge Wissenschaftlerin- Über 1 700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nen und Wissenschaftler die Möglichkeit, von deren haben in Deutschland im letzten Jahr eine Petition unter- Arbeitsweisen, Methoden und informellen Praktiken zu ler- zeichnet, mit der sie sich verpflichten, bei Dienstreisen nen und so auch unerwartete Verknüpfungen zu bilden. unter 1 000 Kilometern auf das Flugzeug zu verzichten. „Netze kommen immer nur als Netze in Netzen vor“, Foto: Humboldt-Stiftung / Mario Wezel Während Organisationen überlegen können, zum Beispiel ist die Beobachtung von Hartmut Böhme. Und so sind nur noch einzelne Repräsentanten mit dem Flugzeug auf Forschende heute längst an vielen Netzwerken gleich- Konferenzen zu schicken, die dann später als Multiplika- zeitig beteiligt, sowohl an analogen wie auch an digita- toren dienen, stellt trotz Klimawandel kein Experte den len. Sie und ihr Wissen müssen frei kursieren können, Sinn und Zweck von Forschungsaufenthalten infrage. Ein digital und analog. Reisen, insbesondere mit dem Flug- Hintergrund hierfür sind die unterschiedlichen Zugänge zeug, werden seltener werden, diese Prognose sei gewagt. zu explizitem und implizitem Wissen, ein Konzept, das Doch persönliche Begegnungen werden sich oft nicht auf den Philosophen Michael Polanyi zurückgeht. ersetzen lassen. HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 17
SCHWERPUNKT GEMEINSAM MEHR ERREICHEN Das weltweite Humboldt-Netzwerk ist ein wichtiger Grundstein für die Zusammenarbeit von Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftlern und somit für THORSTEN BACH exzellente Forschung. Bereits 55 Humboldtianer Professor für Organische haben einen Nobelpreis erhalten. Im Jahr Chemie, TUM 2005 ging der Nobelpreis für Chemie an TECHNISCHE Richard Schrock, 2016 wurden gleich UNIVERSITÄT MÜNCHEN zwei Humboldtianer ausgezeichnet – Ben Feringa und Fraser Stoddart. Eine Übersicht ihrer Verbindungen - im Humboldt-Netzwerk. gs lt u n 16 ha ch 20 nt r s fe o F w llo au dt- 11 Fe l bo 20 ar y um IT or SE on H H h er sc NONGNOTT Fi WONGKAEW s H an Habilitandin am Institut für Analytische G e o e n dia 201 Chemie, Universität S ti p Regensburg 4 –2 rg F 015 ors ter- ti n 2011 Humboldt-Forschu ngspreis 2007–2008 Humboldt-Stipendatin BEN L. FERINGA * 18. Mai 1951, Niederlande 20 20 Spezialisiert auf Organische Alu 15 – 20 16 Chemie, Nanotechnologie mn 16 ANTJE BAEUMNER Hu ifö m b rd e r und Asymmetrische Katalyse, Professorin am Institut old ung t-S gewann der niederländische ti f t d e r für Analytische Chemie, ung Professor von der Universität Chemo- und Biosensorik, Groningen den Nobelpreis Universität Regensburg für das Design und die Syn- these von molekularen Maschinen NOBELPREIS FÜR CHEMIE 18 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
FRASER STODDART * 24. Mai 1942, Großbritannien Der Chemie-Professor des Kuratoriums der Northwestern University, Illinois, hat in 50 Jahren Forschungstätigkeit bisher mehr als 500 Doktoran- HUMBOLDT- den und Postdocs betreut. UNIVERSITÄT ZU BERLIN 20 16 Fe 09 20 od –2 St or 01 ip 1 Feodor Ly L e n yn 2008–2010 Forschungs e Stipendiat di n at - H umboldt- RAGNAR STOLL 1998 nen- Segment Manager Transportation, BASF preis Polyurethanes GmbH DIETMAR SEYFERTH Professor Emeritus, WOLFGANG A. Massachusetts Institute HERRMANN of Technology Präsident der FLORIAN Technischen BEUERLE Universität Privatdozent für München bis Organische MASSACHUSETTS 2019 Chemie, Universität e is pr INSTITUTE OF Würzburg s g 82 un TECHNOLOGY 19 ch Fo rs M a ungs o r sc 199 -F x- P dt h l 2 bo l a n re i s um ck- H p JANNA MICHAELIS DE VASCONCELLOS Research Specialist, INEOS Styrolution 20 F e ti p e 11 – od nd S 20 o r ia 19 ALEXANDER 94 12 Ly tin Fo H u m ne r sc bo VON HUMBOLDT- hu n- l ng dt- sp STIFTUNG re is 7 ium –198 tdoc end - 13 n yn e 20 19 85 Pos 12 – s ti p ckk or L 20 ehr d Fe o Rü 2016 RICHARD SCHROCK 2004 –2006 * 4. Januar 1945, USA Nach fast 50 Jahren Forschungs— nthalt Forschungsaufe tätigkeit ist Schrock seit 2018 Pro- fessor Emeritus des Massachusetts Institute of Technology. Der Nobel- SUDESHNA CHANDRA HEINRICH LANG preis wurde ihm für seine Forschung Associate Professor, Sunandan Professor für zur Methathese in organischen Divatia School of Science, Anorganische Chemie, Synthesen verliehen. SVKM’s NMIMS University TU Chemnitz HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 19
SCHWERPUNKT DIE WÜSTE LEBT! Der spanische Ökologe Fernando T. Maestre erforscht, wie der Schutz von Dürregebieten gegen den Klimawandel helfen kann. Ein Gespräch über ergrünende Wüsten und darüber, wie aus einem kleinen Projekt ein globales Forschungsnetzwerk entstand. Interview GEORG SCHOLL 20 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
6 20 11 3 10 9 2 9 6 6 2 1 3 X Anzahl der durchgeführten 3 Feldstudien 6 0 2 000 km 15 9 12 ARIDITÄTSINDEX 0 1 8 DAS BIOCOM-PROJEKT Die schwarzen Punkte auf der Weltkarte geben Lage und Zahl KOSMOS Herr Maestre, wenn es um den der Versuchsfelder des EU- Wissenschaft und Technik (CYTED), einem Klimaschutz geht, denken viele zuerst an den finanzierten Projekts BIOCOM Förderverbund Spaniens, Portugals und 19 Regenwald und an Aufforstungsprojekte. Sie an. In Zusammenarbeit mit Kol- lateinamerikanischer Länder, bekamen. Da- dagegen erforschen, was Dürrezonen für den leginnen und Kollegen in mitt- mit konnten wir ein Netzwerk aufbauen, das Klimaschutz leisten können. lerweile 19 Ländern auf fünf die verschiedensten Forschergruppen zusam- MAESTRE Es stimmt, den Trockenzonen Kontinenten konnte unter Lei- menbrachte: erfahrene und solche, die gerade wird traditionell leider nicht viel Aufmerk- tung von Fernando T. Maestre erst im Entstehen waren. So bekamen wir samkeit geschenkt. Dabei machen sie über erstmals systematisch verein- plötzlich Partner in Argentinien, Chile, Vene- 40 Prozent der Erdoberfläche aus. Doch sie heitlicht die Zusammensetzung zuela, Brasilien, Nicaragua, Peru, Ecuador und produzieren wenig Biomasse im Vergleich zu der Lebensgemeinschaften der Mexiko. anderen Vegetationszonen, es fehlt einfach an Ökosysteme in den Trockenzo- Wasser. Hinzu kommt, dass wissenschaftliche nen der Welt erforscht werden. Wie gelang die Zusammenarbeit in so einer Schwergewichte wie Deutschland und Groß- In den Trockenzonen wie der bunten Gruppe? britannien keine Trockenregionen haben. Die Pampa in der Nähe des Vulkan Ich bat alle Forscherteams darum, alles genau USA haben zwar Trockenregionen, aber im Lanín, Argentinien, (Bild links) so umzusetzen, wie wir es schon in Spanien Fokus der Aufmerksamkeit standen dort übersteigt die mittlere jährliche gemacht hatten. Unsere Vorgehensweise in immer Ökosysteme mit mehr Vegetation. Verdunstung den mittleren jähr- Spanien hatte sich bewährt, jetzt mussten wir lichen Niederschlag. Trocken sehen, ob sie auch in einem anderen Umfeld Wie gelang es Ihnen trotzdem, ein Forschungs- zonen machen 41 Prozent der funktionierte. Und das tat sie! netzwerk aufzubauen, das heute auf fünf Kon- Erdoberfläche aus und beher- tinenten aktiv ist und vom European Research bergen mehr als ein Drittel der So gut, dass es auch den ERC überzeugte? Council (ERC) gefördert wird? Weltbevölkerung. Für das Klima Mein erster Antrag wurde noch abgelehnt. Im Die Idee, die Trockengebiete der Welt zu erfor- sind Trockenzonen von großer Jahr drauf bewarb ich mich erneut, und dies- schen, hatte ich schon ganz früh als junger Bedeutung, denn auch dort mal klappte es. Mein Labor und ich hatten Doktorand. Als ich 2005 nach einem Postdoc- können Boden und Vegetation plötzlich genug Geld, um das nötige Personal Aufenthalt in den USA nach Spanien zurück- entscheidende Mengen Kohlen- anzuwerben, die Unmengen an gesammelten Foto: Pablo García-Palacios, Karte: Emilio Guirado kehrte, erhielt ich für das Projekt zunächst nur stoffdioxid speichern. Ein Er- Bodenproben zu analysieren und den Versand eine so winzige Fördersumme, dass ich es erst gebnis des BIOCOM-Projekts: zu bezahlen Wir konnten neue Partnerschaf- einmal nur in Spanien umsetzen konnte. Aber Biodiversität in den Trocken ten in der ganzen Welt eingehen. Während ich wusste schon damals, dass ich das Ganze zonen ist ein entscheidender meines Aufenthalts in Deutschland als Hum- viel größer anlegen wollte. Faktor, damit sie der Mensch- boldt-Forschungspreisträger sind auch zahl- heit als Lebensgrundlage und reiche deutsche Kollegen mit eingestiegen. Sie Wie ging es weiter? im Kampf gegen die Erderwär- haben selbst Feldstudien in Ländern wie Der Durchbruch kam im Jahr darauf, als mein mung nicht verloren gehen. Ghana und Burkina Faso durchgeführt oder Team und ich Geld von dem Ibero-Amerika- die Bodenproben auf ergänzende Variablen nischen Programm für die Entwicklung von biocom.maestrelab.com hin untersucht. › HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 21
SCHWERPUNKT ten sie besser wachsen. Doch dieser Effekt hat Wie viel Kohlenstoff- in einigen Regionen schon sein Maximum dioxid gibt der Boden erreicht, zumal durch den Klimawandel eine ab? Professor Maestre Erwärmung stattgefunden hat und die Nie- an einem Versuchs- feld in der Nähe von derschlagsmengen immer geringer werden. Alicante, Spanien. Was wird dann passieren, wenn der Wasser- mangel noch größer wird? Wir können noch keine allgemeingültigen Aussagen über die weltweiten Niederschlags- mengen der Zukunft treffen. Einige Gegenden mögen mehr Niederschlag, andere ausge- dehnte Dürren erleben. Aber wir gehen davon aus, dass durch die globale Erderwärmung die Verdunstung und der damit verbundene Was- sermangel ansteigen. Dieser Effekt wird nicht durch die positive Auswirkung des erhöhten Kohlenstoffdioxidgehalts in der Atmosphäre auf das Pflanzenwachstum kompensiert wer- den können. Hinzu kommt, dass die Trocken- gebiete in einigen Regionen der Welt in einem schlechten Zustand sind. Woran liegt das? Ein Grund ist in vielen dieser Gebiete die „ Abholzung von Bäumen und Sträuchern. Außerdem sind sie oft überweidet. Die Tro- ckenzonen beherbergen zwei Milliarden Men- schen, neunzig Prozent von ihnen leben in Entwicklungsländern, wo sie von dem leben, Welche Ergebnisse brachte die Zusammen- was die Umgebung liefert; von ihren Tieren, arbeit? die hier grasen, und von dem, was sie anbauen Wir konnten den Beweis liefern, dass die Viel- können. falt von Pflanzen und Mikroben eine Schlüs- selrolle spielt: Sie ist essenziell für die Funkti- Was müsste sich ändern? BIS VOR EINIGEN onen des Ökosystems, welche die Fruchtbarkeit Eine Menge könnte durch eine gute Steuerung des Bodens und das Wachstum von pflanzli- der Weidehaltung erreicht werden. Wir gewin- JAHREN WUSSTE cher Biomasse ermöglichen, – und von denen nen sehr aufschlussreiche Daten darüber, wie weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen viele Tiere wie lange an einem Ort verweilen NIEMAND, WAS abhängig sind. Bis vor einigen Jahren konnte können, bis dieser so abgegrast ist, dass er sich sich niemand vorstellen, was für eine wichtige nicht mehr erholen kann. Eine Schlüsselrolle FÜR EIN GROSSER Rolle der Biodiversität in Trockenzonen spielen außerdem alle Maßnahmen, die dazu zukommt. Außerdem konnte man in den letz- beitragen, die Biodiversität zu erhalten. CO2-SPEICHER ten 30 bis 40 Jahren eine regelrechte Ergrü- nung der Dürrezonen weltweit beobachten. Wenn es ums Überleben geht, steht Umwelt- DIE BÖDEN DER Das weist darauf hin, dass viel CO2 zusätzlich schutz nicht an erster Stelle. Stoßen ihre Rat- gebunden wird. schläge trotzdem auf offene Ohren? TROCKENGEBIETE In den Entwicklungsländern ist es oft schwie- Was hat zu der Ergrünung geführt? riger den Menschen zu erklären, dass sie SIND.“ Der gestiegene CO2-Anteil in der Atmosphäre bestimmte Verhaltensweisen ändern müssen, hat dazu geführt, dass die Pflanzen mehr Was- nicht allein aus Gründen des Umweltschutzes, ser aufnehmen können, und so ihre Fähigkeit sondern weil sie ansonsten ihre eigene Exis- zur Fotosynthese stimuliert. Dadurch konn- tenzgrundlage aufs Spiel setzen. 22 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
Welchen Beitrag leisten Wissenschaftlerin- Wagen Sie eine Prognose: Werden die Tro- nen und Wissenschaftler aus Afrika in Ihren ckengebiete in 20 Jahren grüner sein? Teams? Dafür müssten wir jetzt sofort ein ambitio- Sie führen einen Großteil der Feldstudien niertes Rettungsprogramm starten. Wir tun durch. Zu unserem Netzwerk gehören For- viel, um die Ergebnisse unserer Forschung schende in Niger, Südafrika, Namibia, Bots- bekannt zu machen; geben Interviews im wana, in Algerien, Ghana, Marokko, Tunesien Radio und im Fernsehen, nutzen die Sozialen und Kenia. Wir versuchen, sie vor Ort auszu- Medien, um unsere Ergebnisse zu kommuni- bilden. So gehen wir sicher, dass die Kolle zieren, aber die Politiker haben sich bis jetzt ginnen und Kollegen in den Ländern Afrikas noch nicht wirklich dafür interessiert oder die Methoden kennen und die Arbeitsweise nach Rat gefragt. beherrschen. Das kostet sicher sehr viel Zeit, aber ich persönlich finde das sehr bereichernd. Auch nicht in Ihrer Heimat Spanien, das in der EU eines der am meisten von Wüstenbil- Sie standen von Anfang an im Zentrum des dung bedrohten Länder ist? Projekts und gaben die Methoden vor. Doch Leider nein. Aber wenn wir jetzt nichts tun, PROFESSOR DR. FERNANDO ein Netzwerk besteht aus vielen Persönlich- wird Südspanien in Zukunft eher den Cha- T. MAESTRE ist Distinguished keiten mit eigenen Vorstellungen. Hat nie- rakter einer nordafrikanischen Landschaft Researcher an der Universität mals jemand auf den Tisch gehauen und haben und wir laufen Gefahr, das Grundwas- von Alicante, Spanien, und gesagt, „meine Idee ist besser“? ser nicht mehr erschließen zu können. Ich Professor für Ökologie an der Nein, das ist nicht vorgekommen. Aber durch würde mir wirklich wünschen, dass Spanien Rey Juan Carlos Universität die Ideen anderer sind wir auf Ansätze gesto- und andere betroffene Länder endlich aufwa- in Móstoles, Spanien. Der Pflan- ßen, die wir gar nicht mitgedacht hatten. Es chen und den Schutz ihrer Trockenzonen und zenökologe wurde an der U ni- erlaubte uns, Fragen zu beantworten, an die Grundwasserressourcen als nationale Priori- versität Alicante im Fach Bio ich im Traum nicht gedacht hätte. tät begreifen. logie promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der Duke University, USA, erhielt er für das globale Forschungsvor- haben BIOCOM 2009 den Star- ting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC). Maestre absolvierte unter anderem For- schungsaufenthalte in Austra- lien, Deutschland, China und den USA. Im Jahr 2014 wurde Maestre mit dem Humboldt- Forschungspreis ausgezeichnet. Seitdem arbeitet er unter ande- rem für die A nalyse der in Tro- ckenzonen gesammelten Daten eng mit deutschen Kolleginnen und Kollegen in Berlin und Fotos: Jesús Cruces, Leo Barco, María Dolores Puche Leipzig zusammen. 2014 konnte er für das Nachfolgeprojekt BIODESERT einen Consolidator Grant des ERC anwerben. Bis Ende 2020 untersucht Maestre Blick auf die Tabernas- mit seinem Team an der Rey Wüste in der Region Juan Carlos Universität im Almería, Spanien, Rahmen von BIODESERT, wie eine der trockensten die Ökosysteme in Trocken Regionen Europas. zonen auf den Klimawandel in Zukunft reagieren könnten. HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 23
FORSCHUNG HAUTNAH ANTON ZENSUS im Steuerungsraum des Radioteleskops Effels- berg in der Eifel. 24 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
IM BANN DES SCHWARZEN LOCHES Ohne ein weltumspannendes Netzwerk wäre diese Sensation nicht möglich gewesen: Radioastronomen gelang das erste Foto eines Schwarzen Lochs im Weltraum. Wissenschaftler aus 20 Ländern haben dafür zusammengearbeitet. Führender Kopf des Verbundes: Humboldt-Forschungspreisträger Anton Zensus vom Max-Planck-Institut für Radio- astronomie. Text THORSTEN DAMBECK Fotos SILVIA STEINBACH E s ist nicht leicht, Anton Zensus im Herbst 2019 zu treffen. Wer den Astrophysiker interviewen will, muss erst einmal einen freien Termin ergat- tern. Seien es Fachvorträge, öffentliche Auftritte vor faszinierten Laien oder Preisverleihungen: Zensus ist gefragt. Dann klappt es aber doch und zwar an seinem Arbeitsplatz, dem Max-Planck-Institut für Radioastrono mie in Bonn, dessen Direktor Zensus ist. Zudem leitet er den Kollaborationsrat des Event Horizon Telescope Kon- sortiums, das aus rund 200 Forscherinnen und Forschern aus 60 Instituten besteht. Was fokussiert ein so starkes Interesse auf den Radioastronomen? Es ist gerade ein hal- bes Jahr her, als am 10. April 2019 das EHT-Team einen bahnbrechenden Erfolg meldete: Nach jahrzehntelangen Vorarbeiten war das gelungen, was Experten lange für unmöglich gehalten hatten: ein Schwarzes Loch zu port- rätieren. Solch ein mysteriöses Objekt, wie es in einer fiktiven Version bereits Millionen Kinogänger im Weltraumepos „Interstellar“ bestaunt hatten, kann nun quasi in natura besichtigt werden. Das Bild wurde auf zeitgleich angesetz- ten Pressekonferenzen der weltweiten Öffentlichkeit prä- sentiert, in Brüssel in Anwesenheit des EU-Kommissars für Wissenschaft, Carlos Moedas. In den Worten des Por- tugiesen klingt die Bedeutung des Ereignisses an, er sprach von „einem Durchbruch für die gesamte Menschheit“. Ein Mitschnitt der Veranstaltung wurde bis heute über drei › HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 25
FORSCHUNG HAUTNAH TITELSTAR Das erste Bild von einem Schwarzen Loch ging 2019 um die Welt. gemeinen Relativitätstheorie denken. Aber obwohl der Physiker Karl Schwarzschild sie bereits 1916 aus den Ein- steinschen Gleichungen ableitete, bezweifelte Einstein sel- ber ihre Existenz. Die heutige Astrophysik hatte zwar „ kaum noch Zweifel, dass der Kosmos tatsächlich von solch bizarren Objekten bevölkert ist, jedoch gab es dafür bis zum vergangenen Frühjahr nur indirekte Belege. Trotzdem musste es möglich sein, Schwarze Löcher visuell nachzuweisen, diesem Credo folgte Anton Zensus seit langem in seiner Wissenschaftlerkarriere. Das Inter- esse am Weltall hatte den Physiker bereits seit dem Haupt- studium in Münster nicht mehr losgelassen. Doch erst ein langer Atem und die beharrliche Arbeit an wissenschaft- lichen und technischen Innovationen brachten schließlich SO ETWAS den Erfolg. KANN EINEM EIN WISSENSCHAFTLICHES FASZINOSUM Lange zuvor war bereits klar gewesen, dass sichtbares Licht WISSENSCHAFTLER für die Abbildung Schwarzer Löcher ungeeignet ist. Nur besonders kurzwellige Radiostrahlung kann die kosmi- WOHL HÖCHSTENS schen Distanzen zwischen dem Studienobjekt und dem irdischen Beobachter ungehindert passieren. Doch die EINMAL IN infrage kommenden Antennen mussten erst für den Emp- fang der Millimeterwellen präpariert werden. Zudem SEINER KARRIERE mussten Computer lernen, aus den Messdaten ein foto- ähnliches Bild zu errechnen. Auch konnten die Messun- PASSIEREN.“ gen selbst nicht von einem einzelnen Radioobservatorium allein durchführt werden. Nur durch die Zusammenschal- tung von acht einzelnen Teleskopen in Chile, Mexiko, Hawaii, Arizona, Spanien und der Antarktis entstand ein ausreichend großes virtuelles Radioteleskop, dessen Ver- Millionen Mal im Internet angeklickt. Und die Aufnahme größerung für das vergleichsweise winzige Schwarze Loch des Schwarzen Lochs sorgte für eine Welle von Schlagzei- ausreichte. Im Jargon der Experten heißt das Very Long len in der Weltpresse. Ausgewählte Titelstorys hängen seit- Baseline Interferometry. Insbesondere die 66 ALMA- dem als großes Poster an der Wand zu Zensus’ Bonner Antennen („Atacama Large Millimeter Array“) in Chile, Büro. „Dieser Tsunami an öffentlichem Interesse hat uns die in das EHT-Netzwerk integriert wurden, waren für den überrascht“, räumt er ein. Erfolg entscheidend. Auch für einen nüchternen Physiker sind Schwarze „Bei unserer Forschung ist internationale Zusammen- Löcher ein Faszinosum. Denn diese sind im wahrsten arbeit unverzichtbar“, erklärt Zensus, der insgesamt 16 Jahre Sinne des Wortes anziehend: Wegen ihrer gewaltigen seiner Karriere in den USA verbrachte. Die Stationen dort: Schwerkraft kann keinerlei Materie ihre Umgebung ver- Caltech im kalifornischen Pasadena, Socorro in New lassen. Sogar Licht und anderen elektromagnetischen Wel- Mexico und zuletzt Charlottesville in Virginia. An der dor- len misslingt es, aus ihnen zu entweichen, eben deshalb tigen Zentrale des National Radio Astronomy Observatory sind sie „schwarz“. Als theoretisches Konzept geistern schärfte er sowohl die technischen als auch die organisa- Schwarze Löcher seit über einem Jahrhundert durch das torischen Fähigkeiten, die für seine spätere Leitungsposi- Universum, lassen sie sich doch als Konsequenz der All- tion im EHT-Konsortium entscheidend waren. Denn das 26 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
ANTON ZENSUS mit Entwicklungsingenieur Gino Tuccari im Bonner Labor für Very Long Baseline Interferometry (VLBI) vor einem Datenaufzeichnungsgerät. Netzwerk aus Radioantennen musste auf eine solide orga- förmig um das Objekt herum. Genau genommen zeigt das nisatorische Basis gestellt werden. Zensus: „In zwei Jahren Bild also nicht das Schwarze Loch selbst, sondern dessen kamen rund 50 Meetings zusammen.“ Seine Aufgabe als Schatten und die unmittelbare Umgebung. Vorstandsvorsitzender war es, mit einem detaillierten Ver- tragswerk die unterschiedlichen Interessen für das gemein- WELTWEITES NETZ VON TELESKOPEN same Ziel auszubalancieren. Zensus: „Das erforderte auch Schwarze Löcher sind auch deshalb so populär, weil sie manchmal Führung zu übernehmen.“ eine mystische und bedrohliche Aura umweht. Das fiktive Nun kann sich jeder ein Bild von einem Schwarzen Exemplar im Interstellar-Film heißt Gargantua, wie der Loch machen. Das von den EHT-Forschern abgelichtete Vater aller grotesken Riesen aus der gleichnamigen Renais- Exemplar liegt im Sternbild Jungfrau und zwar im Zent- sance-Erzählung von Rabelais. Für sein echtes Pendant in Foto (links): SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG rum der riesigen elliptischen Galaxie M87. Im Club der der Galaxie M87 interessieren sich inzwischen auch jene Schwarzen Löcher ist es ein besonders massives Mitglied, Zeitgenossen, die Physik und Astronomie sonst eher kalt es bringt 6,5 Milliarden Sonnenmassen auf die Waage. Auf lassen. „Wir werden nun anders wahrgenommen“, so Zen- dem Bild erkennt man einen zentralen Bereich, der tat- sus. „Früher habe ich keine Vortragseinladungen bekom- sächlich schwarz ist. Das eigentliche Loch verbirgt sich men, um vor mittelständischen Unternehmen zu sprechen, unsichtbar in dieser Dunkelzone. Sie ist umgeben von einer jetzt schon.“ Auch bei jungen Menschen sei ein deutlich hellen Region. Zensus erläutert: „Das ist heiße, strahlende gewachsenes Interesse feststellbar, das gebe den naturwis- Materie, die sich ringförmig um das Schwarze Loch ange- senschaftlichen und technischen Fächer wieder Auftrieb. sammelt hat.“ Ein beträchtlicher Teil der leuchtenden Zensus: „Meine Söhne verfolgen beide Karrieren außer- Materie befinde sich sogar hinter dem Schwarzen Loch. halb der Naturwissenschaft. Jetzt werden sie von ihren Das liege daran, dass ein derart massives Objekt Raum Freunden angesprochen, dass der Vater und seine Kolle- und Zeit so stark krümmt, dass es Licht ablenkt. Ab einem gen ja faszinierende Forschung betreiben. Eine neue Erfah- bestimmten Punkt laufen dann die Lichtstrahlen kreis- rung für mich.“ › HUMBOLDT KOSMOS 111/2020 27
FORSCHUNG HAUTNAH DER RADIOASTRONOM PROFESSOR DR. ANTON ZENSUS ist Direktor am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn, erhielt 1994 den Humboldt- Forschungspreis und 1999 den Max- Planck-Forschungspreis. Hier auf dem Bild links in einer Besprechung mit Forschenden seiner Arbeitsgruppe im Max-Planck-Institut für Radioastronomie. Anton Zensus studierte Physik und A stronomie in Köln und Münster, wo er 1984 promoviert wurde. 1985 ging er als Postdoktorand in die USA an das Cali- fornia Institute of Technology in Pasa- dena in Kalifornien und 1988 an das National Radio Astronomy Observatory in Socorro, New Mexico und Charlottes- ville, Virginia. 1996 wurde Anton Zensus zum wissenschaftlichen Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und zum Direk- tor an das Bonner Institut berufen, wo er die Forschungsabteilung für Very Long Baseline Interferometry (VLBI) leitet. Auch von offizieller Seite ist für die Radioastronomie wie- dem Prüfstand: Wegen ihrer extremen Gravitationsfel- der mehr Unterstützung feststellbar. Das sei auch nötig, der muss sich die Allgemeine Relativitätstheorie nämlich wenn man die Spitzenposition bei dieser Forschung behal- unter Bedingungen bewähren, die ihr zuvor niemals ten wolle, betont Zensus nachdrücklich. Mit zusätzlichen abverlangt wurden. Bisher hält Einsteins Gedankenge- Radioteleskopen soll das Netzwerk verstärkt werden. Das bäude dem Härtetest stand, den die EHT-Forscher ihm wird die Bildqualität künftiger Aufnahmen verbessern zumuten. und deren wissenschaftliche Interpretation erleichtern. Momentan arbeitet das Konsortium daran, das Dazu könnten auch Radioantennen auf Satelliten im Welt- Schwarze Loch im Zentrum unserer eigenen Milchstraße raum beitragen. abzulichten. Die Messungen dazu liegen vor, ihre Aus- Bei der Erforschung der Schwarzen Löcher geht es aber wertung läuft auf Hochtouren. Obwohl es uns über 2 000- „ nicht nur um weit entfernte Himmelsobjekte. Vielmehr mal näher ist als dasjenige in M87, ist die Ablichtung nicht steht auch die moderne Physik in ihren Grundfesten auf einfacher. Zensus erklärt: „Die vergleichsweise schnellen Veränderungen im Zentrum der Milchstraße verursachen Störungen und machen es schwieriger ein Bild anzufer- tigen. Wir sind momentan dabei diesen Effekt herauszu- rechnen.“ Vorsichtig blickt Zensus nun auf die Uhr, bald steht die nächste Reise an. Dann fliegt er zur Verleihung des Breakthrough Prize für Fundamentalphysik, der 2019 das gesamte EHT-Team ehrt. Der manchmal „Oscar der Physik“ genannte Preis wird am kalifornischen Ames- DIE MODERNE Zentrum der NASA vergeben. Und wenige Tage später geht es zur „Falling-Walls“-Konferenz nach Berlin – auch PHYSIK STEHT AUF dort will man mehr über den Durchbruch bei den Schwar- zen Löchern hören. Die Welle der Neugier und Faszina- DEM PRÜFSTAND.“ tion ebbt nicht ab. 28 HUMBOLDT KOSMOS 111/2020
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