RECHT - KOMPASS - Ge-igkeit - Katholische Militärseelsorge

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RECHT - KOMPASS - Ge-igkeit - Katholische Militärseelsorge
KOMPASS
                                   Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr

                                   Soldat in Welt und Kirche                                     06I21

                                   Ge-
                                   RECHT
© Nejron Photo – stock.adobe.com

                                      -igkeit
ISSN 1865-5149
RECHT - KOMPASS - Ge-igkeit - Katholische Militärseelsorge
INHALT

                                               14
Titelthema
Gerechtigkeit

                                                                                                                                     © 2013 by marog-pixcells – stock.adobe.com
4    Frieden küsst Gerechtigkeit
     von Pater G. M. Roers SJ

6    Gerechtigkeit – oder: vom Problem
     der richtigen Entscheidung
     von Jörg Benedict

9    Wie ist das eigentlich bei Ihnen ...

10 Gerechtigkeit. Wer strebt sie nicht an?
   von Sylvia vom Holt

Glaube, Kirche, Leben                                                            Rubriken

14 Auslegeware: Jeder Mensch ist                                                 12 Kolumne der Wehrbeauftragten
   ein Homo oder jeder Homo ist
   ein Mensch                                                                    22 Web-Tipp: Sophie ist jetzt auf Instagram

                                                                                 23 zum LKU: Kompetenz
Aus der Militärseelsorge
                                                                                 24 Auf ein Wort: Freiheit ohne die Frage nach
16 WEB-PMI 2021                                                                     ihrer Begrenzung?
   Regionale Miniwallfahrten
                                                                                 25 Film-Tipp: Der Sturm
20 Eine Pilgerreise auf dem
   deutschen Jakobsweg                                          16               26 Buch-Tipp: Cool – Unbeugsam – Inspirierend

                                                                                 26 VORSCHAU: Unser Titelthema im Juli/August

Titelbild: © Nejron Photo – stock.adobe.com                                      27 Rätsel

    Impressum                                  Herausgeber                             Hinweis
    KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche         Der Katholische Militärbischof          Die mit Namen oder Initialen gekennzeich-
    ISSN 1865-5149                             für die Deutsche Bundeswehr             neten Beiträge geben nicht unbedingt die
                                                                                       Meinung des Herausgebers wieder. Für das
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    Chefredakteurin Friederike Frücht (FF)
    Redakteur Jörg Volpers (JV)                                                        Social Media
    Bildredakteurin, Layout Doreen Bierdel
    Lektorat Schwester Irenäa Bauer OSF

2                              Kompass 06I21
RECHT - KOMPASS - Ge-igkeit - Katholische Militärseelsorge
EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,
„Das ist doch ungerecht!“ Ein Ausspruch, den jedes
Kind kennt. Schon früh entwickeln wir ein Gerechtig-
keitsempfinden. Gerade unter Geschwistern findet sich
dieses Phänomen: „Warum darf mein Bruder länger
aufbleiben als ich?“, ist da sicherlich nur ein Bespiel.
Doch viel zu oft schauen wir nur dann auf andere, wenn
diese mehr „dürfen“. Kein Kind würde wahrscheinlich
laut äußern: „Mein Bruder darf weniger Eis essen als
ich, also möchte ich auch weniger Eis.“

Auch als Erwachsene erwischt man sich gelegentlich
bei solchen Gedanken. Als ich das erste Mal in einem
irakischen Flüchtlingslager war, traf mich eine andere
Frage mit großer Wucht: Was habe ich eigentlich da-
für getan, dass ich in Sicherheit in Deutschland in
einer liebevollen Familie geboren wurde? Resigniert

                                                                                                              © KS / Doreen Bierdel
musste ich feststellen: nichts. Wo auf der Welt eine
jede und ein jeder von uns geboren wird, können wir
nicht beeinflussen. Es ist eine Realität, die wir nicht
ändern können.

Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit begleitet unseren
Alltag, mal mehr, mal weniger. Dass Generationen-
gerechtigkeit im Klimaschutz von ausschlaggebender
Relevanz ist, zeigte zuletzt das Bundesverfassungsge-
richt. Auch die Corona-Pandemie stellt uns regelmä-
ßig vor Gerechtigkeitsfragen. Wie gerecht sind unsere
Gesetze, unser Recht? Braucht es Gerechtigkeit für
Frieden?                                                      „In   der kleinen Welt,
                                                                „In der kleinen Welt,
Ich wünsche Ihnen eine abwechslungsreiche Lektüre
mit vielen unterschiedlichen Dimensionen von Recht            ininwelcher    Kinder
                                                                    welcher Kinder      leben,
                                                                                    leben,
                                                              gibt
                                                                gibtes  nichts,    dass
                                                                                     so so
und Gerechtigkeit.
                                                                     es nichts, dass
                                                              deutlich    vonihnen
                                                                deutlich von     ihnen
                     Friederike Frücht, Chefredakteurin
                                                              erkannt    undgefühlt
                                                                erkannt und     gefühlt
                                                                                      wird,wird,
                                                              alsalsUngerechtigkeit.“
                                                                    Ungerechtigkeit.“
                                                                                        Charles Dickens

                                                                        Kompass 06I21                     3
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Frieden

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			küsst

			Gerechtigkeit
			von                     Pater G. M. Roers SJ

    S   elbstverständlich regt sich die westli-
        che Welt darüber auf, wenn der soge-
    nannte „Islamische Staat“ (IS) im Tal von
                                                  Weniger regt sich der Westen darüber
                                                  auf, was im April 2003 durch US-Streit-
                                                  kräfte in ihrem Basislager Camp Alpha
    Bamiyan (2001) die größten stehenden          im alten Babylon geschah. Ist das nicht
    Buddha-Statuen der Welt zerstört. Oder in     unfair und ungerecht? Die Residenz von
    Palmyra (2015) UNESCO-Weltkulturerbe          König Nebukadnezar II. – er hatte einst
    auslöscht wie den rund 2.000 Jahre alten      die Ägypter in der Schlacht von Karke-
    Baals-Tempel sowie u. a. den Triumphbo-       misch (605 v. Chr.) völlig besiegt – war
    gen und Teile des römischen Theaters.         umgeben von allem, was es für einen
    Nicht nur die Deutsche UNESCO-Kommis-         modernen Bodenkrieg braucht. 2003 wa-
    sion verurteilte die Zerstörung dieser Kul-   ren Hubschrauber im Einsatz. Landeplät-
    turstätten der Menschheit als „Akt der        ze waren vorher Ausgrabungsorte. Aber
    Barbarei und des Fanatismus“. Leider          wen interessierte das schon? Ende des
    ist die UNESCO zu schwach. Der IS hat         19. Jahrhunderts war das anders, als
    auch das Kloster Mar Elian zerstört, ein      hier deutsche Archäologen forschten.
    syrisch-katholisches Kloster, das im 5.       Unter der Leitung von Robert Koldewey
    Jahrhundert gegründet wurde. Hier sollte      wurden Bauwerke freigelegt wie der be-
    eine Begegnungsstätte zwischen Chris-         rühmte Turm zu Babel oder die Prozessi-
    ten und Muslimen entstehen.                   onsstraße mit dem Ischtartor, die heute

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HIntergrundbild: © Boris – stock.adobe.com

                                             im Pergamonmuseum in Berlin steht.          die Weltmacht von morgen. Wer Kriege            In Augsburg sind die drei wichtigsten
                                             Sollte man sie zurückgeben an den Irak?     anfangen will, sollte vorher die Kultur ken-    Brunnen Augustus, Merkur und Herkules
                                             Besser nicht. Aber ist das gerecht?         nen. Dann wird der Schaden begrenzt             gewidmet. Es ging um Frieden (Pax Au-
                                                                                         sein. Eine Besatzungsmacht sollte zum           gusta), List und Tücke (Fugger) sowie um
                                             Gut, dass Franziskus als erster Papst       Ziel haben, möglichst bald wieder abzu-         Gewalt. Schon als Kind soll Herkules eine
                                             überhaupt 2021 im Irak war, um dort         ziehen. Aber wann ist der Zeitpunkt der         Schlange getötet haben. In Regensburg
                                             für die Menschen zu beten. Sein „Herr,      richtige? Sind die Bemühungen um Frie-          sind drei Brunnen den Tugenden Gerech-
                                             erbarme Dich“, ein Gebet für Moslems,       den nicht das wichtigste? Als Deutsch-          tigkeit, Tapferkeit und Frieden gewidmet.
                                             Jesiden und Christen in Mossul war ein      land noch in vier Besatzungszonen aufge-        Für die Reichsstadt war das im 17. Jahr-
                                             Zeichen für Versöhnung, Frieden und Ge-     teilt war, lag das Land am Boden. Ohne          hundert ungeheuer wichtig. Gerechtig-
                                             rechtigkeit. Er betete in einer Kirche in   die Befreier von damals wären wir nicht         keitsbrunnen gibt es auch anderswo.
                                             Bagdad, in der Christen 2010 bei einem      „auferstanden aus Ruinen“. So wurde es          1610 ging es darum, die Verteidigung
                                             Anschlag starben. In Ur rief Franziskus     in der DDR gesungen.                            der Stadt zu fördern, wehrhaft zu bleiben,
                                             dazu auf, dem Hass abzuschwören. Ur                                                         also tapfer zu sein. So baute man den
                                             ist die Geburtsstadt Abrahams. Er gilt      Gott sei Dank gibt es Helden wie die in         ersten Brunnen. Nach dem Dreißigjäh-
                                             als der Vater aller monotheistischen Re-    The Monuments Men (Kinofilm 2014).              rigen Krieg 1656 war die Gerechtigkeit
                                             ligionen.                                   Wie ist es in Friedenszeiten? Vor einem         (Justitia) wichtiger. Mit dem Friedens-
                                                                                         Jahr, als am 4. August in Beirut der Ha-        brunnen (1661) konnte eine neue Zeit
                                             Die Kultur sollte die Menschen zusam-       fen explodierte, war das Chaos perfekt.         beginnen. Die Quelle für die Schönheit
                                             menbringen und wie die Religion Nahrung     Auch das Nationalmuseum war in Gefahr,          sind Pax und Justitia. Aber nur, wenn der
                                             für die Seele sein. Ist eine Menschheit     denn die Fassade hatte plötzlich Löcher.        Frieden die Gerechtigkeit küsst, können
                                             ohne Gebet, ohne Musik, ohne Kunst          Schnell bildeten Soldaten einen schüt-          wir uns am Leben erfreuen. So lesen wir
                                             überhaupt denkbar? In allen Kulturen gilt   zenden Ring um das Gebäude. Holzplat-           in Psalm 85.
                                             es, die Riten und Sprachen zu studieren.    ten wurden angebracht. Kulturgut, teils
                                             Heute ist jede Sprache, die man spricht,    aus der Bronzezeit, konnte so gerettet
                                             ein Kapital, z. B. Chinesisch. China ist    werden.

                                                                                                                                        Kompass 06I21                            5
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TITELTHEMA

                                              Gerechtigkeit – oder:
                    vom Problem der richtigen Entscheidung
              von Jörg Benedict, Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock

E  in Team von Navy Seals unter der Lei-
   tung von Lieutenant Michael Murphy
war 2005 an der Operation „Red Wings“
                                               Leben des kleinen Spähtrupps war in
                                               unmittelbarer Gefahr. Die Männer waren
                                               isoliert, ohne Kontakt zur Einsatzleitung
                                                                                           Als Marcus Luttrell ein Jahr nach den
                                                                                           Ereignissen die Hinterbliebenen seiner
                                                                                           gefallenen Kameraden aufsucht, wird
im Nordosten Afghanistans beteiligt. Ziel      und der Gegner um ein Vielfaches überle-    ihm jeder Besuch zu einer Höllenqual.
dieser Operation war es, einen Anführer        gen. Zwei Männer stimmten für den Tod,      In seinem Gewissen nagt immer wieder
der Taliban gefangen zu nehmen oder            zwei für das Leben der Hirten. Die Stim-    diese eine Frage: Hätte er gegen das Vo-
zu eliminieren (capture or kill). Dem vier-    me des Einsatzleiters gab den Ausschlag.    tum seines besten Freundes opponieren
köpfigen Team um Murphy oblag hierbei          Die Operation wurde abgebrochen, man        sollen? Könnte er die Zeit zurückdrehen,
die Aufklärung und Überwachung des             musste sich zurückziehen. Es begann ein     er würde es tun.
Taliban-Dorfes. Sie wurden als erste in        verzweifelter Kampf ums Überleben, der
das Zielgebiet eingeflogen und bezogen         nicht zu gewinnen war. Michael Murphy,               Klassisches Dilemma
auf einem Beobachtungspunkt Position.          Matthew Axelson und Danny Dietz star-
Hier wurden die Männer von Hirten aus          ben in dem ungleichen Feuergefecht mit      Damit sind wir beim Kern des Themas:
dem Dorf entdeckt. Die Debatte unter           den von den Hirten alarmierten Taliban.     Die Frage nach der richtigen Entschei-
den vier Männern war ebenso emotional          Auch ein zur Rettung des Teams entsand-     dung ist das zentrale Problem hinter
wie kontrovers: laufen lassen oder liqui-      ter Hubschrauber wurde abgeschossen.        dem, was unter dem Begriff der Gerech-
dieren? Ließ man die Hirten gehen, so          Alle 16 Insassen starben. Nur einer aus     tigkeit verhandelt wird.
musste nicht nur die gesamte Operation         Murphys Team überlebte schwer verwun-
abgebrochen werden, sondern auch das           det: der „Lone Survivor“.                   Wäre es richtig, drei Hirten, die zufällig
                                                                                           zur falschen Zeit am falschen Ort waren,
                                                                                           zu liquidieren, um den Gang einer mili-
                                                                                           tärischen Operation und vor allem das
                                                                                           Leben der eigenen Leute nicht zu gefähr-
                                                                                           den? Oder war es richtig, unbewaffnete
                                                                                           Zivilisten zu verschonen und damit den
                                                                                           eigenen Tod in Kauf zu nehmen? Diese
                                                                                           Frage ist nach den Regeln der humanen
                                                                                           Kriegsführung offenbar klar entschieden.

                                                                                           Die Frage, ob es gerecht sei, einige zu
                                                                                           opfern, um andere zu retten, ist seit
                                                                                           Menschengedenken immer bejaht wor-
                                                                                           den. Man denke nur an den bekanntes-
                                                                                           ten Ausspruch des Hohepriesters Kai-
                                                                                           phas: „Es ist besser, wenn ein Mensch
                                                                                           stirbt und nicht das ganze Volk zugrunde
                                                                                           geht“ (Joh 11,50). Der Opfergedanke der
                                                                                           Religionsgeschichte zeugt von einer ritu-
                                                                                                                                        © veneratio – stock.adobe.com

                                                                                           alisierten Kosten-Nutzen-Analyse ebenso
                                                                                           wie die Strategien der Kriegsplanung. Vor
                                                                                           allem aber für die Gegenwart moderner
                                                                                           Gerechtigkeitstheorien liegt mittlerweile
                                                                                           in der Frage der Aufrechnung von Men-
                                                                                           schenleben keineswegs mehr ein heroi-
                                                                                           scher Topos oder auch nur ein ethisches
                                                                                           Dilemma, sondern vielmehr ein ethischer
                                                                                           Skandal.

6                           Kompass 06I21
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                                Terror und Luftsicherheit            Menschenleben – gegeneinander abzu-             Ein kategorisches Verbot hat demgegen-
                                                                     wägen. Juristen werden demgegenüber             über den Vorteil der Einfachheit. Katego-
                         Als nach den Terroranschlägen auf die       vom ersten Semester an darauf konditio-         rische Ge- oder Verbote folgen der Logik
                         Twin Towers des World Trade Center in       niert, ihre Alltagsintuition gegen die Wahr-    einer „Reduktion von Komplexität“. Sie
                         New York auch in Deutschland die Rea-       heiten der juristischen Dogmatik einzu-         liegen uns daher häufig näher, bereits
                         lität dieser Debatte mit dem Erlass des     tauschen. Die Abwägung ist das Symbol           aufgrund ihrer kategorischen Klarheit
                         Luftsicherheitsgesetzes unmittelbar prä-    der Justitia und der kritische Diskurs          und Einfachheit. Kategorische Entschei-
                         sent wurde, zeigte sich, dass der deut-     das Lebenselixier der Demokratie. Wo            dungen zeugen von Selbstsicherheit und
                         sche Idealismus, mit seiner Haltung für     aber die Waage der Maßstab für Recht            Charakter. Menschen, die Güter und
                         kategorische Gerechtigkeit, in der akade-   und Gerechtigkeit ist, da ist schwerlich        mögliche Konsequenzen gegeneinander
                         mischen Jurisprudenz fest verankert ist.    Platz für unhinterfragbare kategorische         abwägen, erscheinen demgegenüber
                         Das Bundesverfassungsgericht erklärte       Dogmen.                                         grüblerisch und unsicher. Also sind ka-
                         § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz und                                                       tegorische Richtigkeits-Entscheidungen
                         die dahinter stehende Möglichkeit, eine          Sie kennen „Prinzipienreiter“?             vorzugswürdig?
                         von Terroristen gekaperte Passagierma-
                         schine gegebenenfalls abzuschießen,         Prinzipienreiter sind die Inkarnation               Das Problem des Widerstandes
                         für verfassungswidrig. Es sei mit dem       kategorischer Gerechtigkeit, und ihr
                         Grundsatz der Menschenwürde unver-          klassischer Vertreter in der Philosophie-       Rudolf Petershagen war Oberst der
                         einbar, Leben gegen Leben abzuwägen:        geschichte ist Immanuel Kant (1724–             Wehrmacht. Nach seiner Verwundung
                         „Eine solche Behandlung missachtet die      1804). Das achte Gebot „Du sollst nicht         im Stalingrader Kessel wurde er in der
                         Betroffenen als Subjekte mit Würde und      lügen!“ galt für ihn ausnahmslos, was           Endphase des 2. Weltkriegs Stadtkom-
                         unveräußerlichen Rechten. Sie werden        bereits zu seinen Lebzeiten erheblichen         mandant von Greifswald. Die Front im
                         dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur    Widerspruch von konsequenzialistischen          Osten war zusammengebrochen und die
                         Rettung anderer benutzt wird, verding-      Theoretikern provozierte: Soll man etwa         Rote Armee war bereits vorgedrungen.
                         licht und zugleich entrechtlicht; indem     einem potenziellen Mörder, der an der           Der Befehl war eindeutig: Jede größere
                         über ihr Leben von Staats wegen ein-        Wohnungstür klopft, freundlich den Weg          Stadt sollte zur Festung ausgebaut und
                         seitig verfügt wird, wird den als Opfern    in die Dachkammer weisen, wo sich das           bis zum letzten Mann verteidigt werden.
                         selbst schutzbedürftigen Flugzeuginsas-     verfolgte Opfer versteckt? Benjamin Con-        Das bedeutete weitere Tote, Verwunde-
                         sen der Wert abgesprochen, der dem          stant (1767–1830) präzisierte das Pro-          te, zerstörte Leben und eine weitere zer-
                         Menschen um seiner selbst willen zu-        blem auf den Begriff der „Pflicht“: Eine        störte Stadt. Demmin und Anklam lagen
                         kommt“ (Bundesverfassungsgericht, Ur-       Pflicht, die Wahrheit zu sagen, bestehe         bereits in Trümmern. Und die sowjeti-
                         teil vom 15.2.2006).                        nur dort, wo der andere ein Recht auf           sche Artillerie war nun auch um Greifs-
                                                                     die Wahrheit besitzt. Wann aber besitzt         wald in Stellung gebracht. Doch es fiel
                         Im Klartext bedeutet das also, dass         jemand das Recht auf die Wahrheit? Kon-         kein Schuss. Petershagen hatte sich ge-
                         zivile Passagiere niemals Opfer staatli-    sequenzialistische Gerechtigkeitstheore-        gen den kategorischen Kampfbefehl und
                         chen Eingriffshandelns werden dürften,      tiker haben das Problem, ein komplexes          für die kampflose Übergabe entschieden.
                         auch wenn die terroristischen Entführer     Problem komplex ausdifferenzieren zu            Ein Verbrecher in den Augen des unter-
                         drohen, das gekaperte Flugzeug, einer       wollen:                                         gehenden Regimes (er wurde sofort in
                         tödlichen Waffe gleich, in eine vollbe-                                                     Abwesenheit zum Tode verurteilt), doch
                         setzte Arena mit 70.000 Zuschauern zu             Darf ich in der Not lügen?                es ist bis heute sicher unzweifelhaft,
                         stürzen.                                         Zur Rettung eines anderen?                 dass seine Güter und Leben abwägende
                                                                          Zum Vorteil eines anderen?                 Entscheidung die richtige gewesen ist. In
                         Gerechtigkeitspsychologen sind da nüch-          Um niemanden zu verletzen?                 seinen Erinnerungen bekannte er, dass
                         terner: Es entspricht ganz allgemein un-              Warum nicht auch                      diese Abwägung auf einer militärischen
                         serer Intuition, Schäden – und ja, auch             zum eigenen Vorteil?                    Lagebeurteilung basierte, in der es einen
                                                                                                                                                            >>

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    „Als Marcus Luttrell ein Jahr nach den Ereignissen die
    Hinterbliebenen seiner gefallenen Kameraden aufsucht,
    wird ihm jeder Besuch zu einer Höllenqual.
    In seinem Gewissen nagt immer wieder diese eine Frage:
    Hätte er gegen das Votum seines besten Freundes opponieren sollen?
    Könnte er die Zeit zurückdrehen, er würde es tun.“

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großen Unbekannten gab: nämlich den         hieß das auch, dass sie ihn gegen die       ten Entscheidung. Vermutlich gibt es kei-
von der Angst-Propaganda der Nazis in       Taliban verteidigen mussten: „Forderte      nen klaren Vorzug für den einen oder den
das Hirn der Deutschen fest verankerten     eine wütende Taliban-Armee den Kopf         anderen Weg der Entscheidungsfindung.
„bösen Russen“.                             eines amerikanischen Soldaten, dann         Denn jede Entscheidung hängt ab von
                                            war sein Leben keine lahme Ziege mehr       den konkreten Umständen des jeweiligen
Als dies Petershagen elf Jahre nach der     wert.“ Aber auch nicht das Leben der        Falls. Erfordert werden vielmehr Erfah-
Übergabe Greifswalds anlässlich des         Dorfbewohner. Die Paschtunen berieten       rung, Intuition, Weisheit und Urteilskraft.
500-jährigen Bestehens der Ernst-Moritz-    sich; ihre Entscheidung war kategorisch     Es gibt keine von ihren Umständen losge-
Arndt-Universität seinem einstigen Geg-     klar: Es galt ein uraltes Stammesgesetz     löste Gerechtigkeit – nur immer das Di-
ner General Borstschow bekannte, ent-       über die Gastfreundschaft zu Fremden,       lemma konfligierender Entscheidungsop-
gegnete dieser: „Wir hatten Befehl, jede    die ihrer Hilfe bedürfen. Damit war das     tionen. Es gibt keine Gerechtigkeit ohne
sich bietende Möglichkeit auszunutzen,      ganze Dorf zum Schutz für den einen         Weisheit und Urteilskraft. Beten wir also,
um sinnlose Kämpfe und Zerstörungen         überlebenden Navy-Seal aufgerufen,          dass diejenigen, die über unser Wohl und
zu vermeiden.“ Befehle sind also nicht      aber zugleich dem Zorn der Taliban aus-     Wehe zu entscheiden haben, über bei-
per se „kategorisch“, wenn ihnen eine       gesetzt. Der Überlebenskampf des einen      des verfügen. Und beten wir, dass wir in
ausgewogene Entscheidung der Befeh-         wurde so zum Überlebenskampf für ein        jeder uns persönlich gestellten Heraus-
lenden vorausgeht.                          ganzes Dorf.                                forderung die Weisheit und die Kraft in
                                                                                        uns finden, kategorisch klar oder ausge-
        Nochmals Afghanistan                Was lehrt uns all dies? Die zentrale Leh-   wogen richtig zu entscheiden. Billiger ist
                                            re, die Luttrell mit seinem Buch und sei-   Gerechtigkeit leider nicht zu erlangen.
Kehren wir noch einmal zu unserer Aus-      nen Vorträgen nicht müde wird zu verkün-
gangsgeschichte von Marcus Luttrell zu-     den, ist die klare kategorische Prämisse:
rück. Wie konnte er ganz allein, schwer     Handle stets so, dass die Konsequenzen
verwundet und von den Taliban-Kämpfern      deines Handelns das eigene und das Le-
gehetzt in einer ihm völlig fremden und     ben deiner Kameraden nicht gefährden.
unwirtlichen Umgebung überleben? Er         Was er erstaunlicherweise nicht sieht,
wurde ein zweites Mal entdeckt – von        ist, dass die Negation dieser Prämisse
Paschtunen. Diesmal war es nicht an         bei den Paschtunen, die ihn aufnahmen
ihm, die richtige oder falsche Entschei-    und schützten, dazu geführt haben wür-
                                                                                                       WEBTIPP:
dung zu treffen. Diese Last lag nun bei     de, dass sie ihn als Schwerverwunde-
den Männern des Dorfes, die ihn gefun-      ten seinem Schicksal hätten überlassen
                                                                                                  Lesen Sie den
den hatten. Und wieder ging es um Leben     müssen. Das wäre sein Tod gewesen.                kompletten Artikel mit
und Tod, doch nicht nur für den letzten     Die Abwägung möglicher Konsequenzen             noch mehr anschaulichen
überlebenden Amerikaner der Red-Wings-      einer Handlung auf der einen und die                 Beispielen unter
Operation im Hindukusch, sondern für        kategorische Entscheidung auf der Basis          milseel.de/gerechtigkeit
die einheimischen Familien des gesam-       eines einfachen, aber klaren ethischen
ten Dorfes. Wenn sie sich dafür entschie-   Prinzips auf der anderen Seite, sind häu-
den, dem Verwundeten zu helfen, ihn         fig unvereinbare konträre Prämissen für
zu beherbergen und zu verpflegen, dann      die Frage nach der richtigen, der gerech-

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RECHT - KOMPASS - Ge-igkeit - Katholische Militärseelsorge
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                  Wie ist das eigentlich bei Ihnen ...
                           Flottillenarzt Leonard Lütjens, Personalamt der Bundeswehr in Köln

                           Was fanden Sie zuletzt ungerecht?
                           Zuletzt fand ich ungerecht, wie unter den „entwickelten“ Ländern um
                           COVID-Impfstoff gefeilscht, gezetert und geklagt wird, während in
                           ärmeren Regionen der Welt kaum etwas ankommt, obwohl dort
                           die gesundheitliche Versorgung deutlich schlechter ist.

                           Was fanden Sie zuletzt gerecht?
                           Zuletzt fand ich gerecht, dass der Polizist, der George Floyd
                           getötet hatte, deshalb auch verurteilt wurde.

                           Wie fühlt sich Gerechtigkeit für Sie an?

                                                                                                                                                                © Bundeswehr
                           Gerechtigkeit ist für mich, wenn Gutes mit Gutem und Schlechtes
                           mit Schlechtem vergütet wird. Gerechtigkeit fühlt sich für mich nach
                           einer Genugtuung an, ein im Gewissen wärmendes Gefühl. Neben der
                           reinen Gerechtigkeit ist aber meiner Meinung nach auch Milde und Vergeben
                           wichtig, um ein würdiges Miteinander in Nächstenliebe führen zu können.

                                                                                 Ge|rech|tig|keit                                             [die]

                                                                                                                           Substantiv, feminin
                                                                      Stabsgefreiter Annemarie Lux

                                                                      Was fanden Sie zuletzt ungerecht?
© Selfie / Annemarie Lux

                                                                      Dass ich enorm dafür angegriffen wurde, weil meine
                                                                      Meinung nicht der meines Gegenübers entsprach.

                                                                      Was fanden Sie zuletzt gerecht?
                                                                      Dass meine bisher geleistete Arbeit im                 WEBTIPP:
                                                                      Dienstalltag gewürdigt wurde.
                                                                                                                      Im Internet finden
                                                                      Wie fühlt sich Gerechtigkeit                         Sie unter
                                                                      für Sie an?                                  milseel.de/gerechtigkeit
                                                                      Gerechtigkeit ist ein Gefühl von             ausführliche Antworten
                                                                      Gleichbehandlung. Gerechtigkeit benötigt          zum Thema.
                                                                      in meinen Augen ganz klar formulierte
                   Fregattenkapitän Dirk Müller,                      Vorgaben und hat viel mit Moral
                   Marinekommando Rostock                             und ethischen Grundsätzen zu tun.

                   Ich persönlich empfinde Regelungen oder
                   Entscheidungen immer dann als gerecht,
                   wenn sie logisch nachvollziehbar sind und
                   durch ihre Begründung und Umsetzung nicht
                   den Eindruck von Willkürlichkeit erwecken.
                   Gerechtigkeit heißt aus meiner Sicht nicht, es allen recht zu ma-
                   chen und auch nicht, immer allen gleichzeitig das Gleiche zu ge-
                   ben. Vielmehr geht es darum, klare, nachvollziehbare und für alle
                   Betroffenen gleiche Entscheidungsgrundlagen zu nutzen. Leider
                                                                                                                                        © KS / Doreen Bierdel

                   hapert es hier aber oft schon an Klarheit und Nachvollziehbarkeit,
                   was dann bei den Betroffenen schnell zu Vertrauensverlust und
                   einer Art Ohnmachtsgefühl führen kann. Besonders im dienstlichen
                   Bereich hat Gerechtigkeit daher für mich viel mit guter Kommuni-
                   kation zu tun.

                                                                                                      Kompass 06I21                                                            9
RECHT - KOMPASS - Ge-igkeit - Katholische Militärseelsorge
TITELTHEMA

                                                                      „Die von der Liebe
                                                                  ausgehende Gerechtigkeit
                                                                         ist Erlösung;
                                                                 die vom Gesetz ausgehende
                                                                   Gerechtigkeit ist Strafe.“
                                                                 							Gandhi

                                   G   erechtigkeit. Wer strebt sie nicht an?
                                       Doch welche Herkunft können wir
                                   diesem so gewichtigen Begriff zuordnen?
                                                                                  und Situationen ein. Oftmals fällt der Be-
                                                                                  griff Ungerechtigkeit im Zusammenhang
                                                                                  mit dem eigenen Gehalt, der jeweiligen
                                                                                                                                 noch immer in vielen Ländern ein unaus-
                                                                                                                                 gewogenes Verhältnis von Recht und Ge-
                                                                                                                                 rechtigkeit zwischen Mann und Frau. Die
                                   Die Gerechtigkeit ist ein Zentralbegriff       „Obrigkeit“ oder der Ressourcenvertei-         langersehnte Gleichberechtigung lässt
                                   der antiken Welt und prägt seit jeher un-      lung, beispielsweise von Wasser. Aber ist      vielfach nach wie vor zu wünschen übrig.
                                   ser Handeln und Denken. Nicht umsonst          es denn immer so klar definierbar, was         Dass Frauen in manchen Ländern nicht
                                   wird sie seit Platon zu den vier Kardinaltu-   wir als gerecht und ungerecht einord-          ohne männliche Begleitung das Haus
                                   genden gezählt, und zwar an der Spitze         nen und letzten Endes auch verstehen           verlassen dürfen, ist mehr als nur un-
                                   von diesen. Doch wer entscheidet heute,        dürfen? Das Substantiv Gerechtigkeit           gerecht, es ist schlicht skandalös. Dass
                                   was Gerechtigkeit ausmacht? Wie viel           beinhaltet ganz klar das Lemma Recht.          Frauen selbst in Deutschland bei gleicher
                                   Recht steckt in diesem Begriff und wann        Demzufolge ordnen wir es rasch in die          Arbeit immer noch weniger Gehalt be-
                                   kommen wir Menschen bezüglich der Ge-          Kategorien Gesellschaft, Staat, mitunter       ziehen als ihre männlichen Mitstreiter,
                                   rechtigkeit an unsere Grenzen?                 auch in politische Themen und in Fragen        ist ebenfalls ungerecht. Dass homose-
                                                                                  der Wirtschaft ein. Ebenso beziehen wir        xuelle Paare immer noch um Akzeptanz
                                   Lässt man kleine Kinder bestimmte              es meist auf die Justiz, wenn zum Bei-         und Wertschätzung kämpfen müssen,
                                   Mengen und Berechnungen anstellen,             spiel jemand für eine schwere Straftat         ist ebenfalls sehr ungerecht. Diese Liste
                                   so fällt es ihnen oft schwer, ein Gefühl       nur wenige Jahre Freiheitsentzug erhält        ließe sich beliebig erweitern.
                                   für Anzahl und tatsächliche Menge zu           oder für eine leichtere Straftat unverhält-
                                   bekommen. Aber interessanterweise ist          nismäßig viel. Frei nach dem Motto: „vin-      Es stellt sich so die Frage, liegt die Ge-
                                   dennoch das Gefühl für ungerechte Si-          cit iustitia – die Gerechtigkeit siegt.“ Bei   rechtigkeit im Auge des Betrachters?
                                   tuationen oftmals sehr früh ausgeprägt.        einer sogenannten Wiedergutmachung             Schaut man sich den Begriff Gerech-
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                                   Ein Beispiel hierfür wäre das Verteilen        hinsichtlich der Opfer sind manche (zu)        tigkeit in der Hebräischen Bibel an, so
                                   ungleicher Kuchenstücke. Wenn man              schnell geneigt, von (ausgleichender) Ge-      korrespondiert er unausweichlich mit
                                   Erwachsene auffordert, „definieren sie         rechtigkeit zu sprechen oder auch von          dem Begriff Schalom. Der Friede kann
                                   den Begriff Gerechtigkeit“, dann kommen        Ungerechtigkeit, sollte das Strafmaß zu        nicht ohne den Begriff der Gerechtigkeit
                                   sie schnell an ihre Grenzen. Jedoch für        milde ausgefallen sein. Ungerechtigkeit        gedacht werden. Schließlich heißt es im
                                   den Begriff der Ungerechtigkeit fällt den      macht sich in allen Formen unserer Ge-         Psalter „Gerechtigkeit und Friede küssen
                                   Meisten gleich eine Reihe von Themen           sellschaft breit. Beispielsweise herrscht      sich“ (Ps 85,11).

                                   10                           Kompass 06I21
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Die Gerechtigkeit ist zudem das Ergebnis    an alles ganz genau halten und mitun-         euch auf die rechte Wange schlägt, dem
eines gerechten Handelns. Demnach ist       ter scheitern wir Menschen nun mal ab         halte auch die andere hin“ (Mt 5,39).
Gerechtigkeit stets auch an die rechte      und an, wenn es darum geht, Regeln zu         Also wenn du ungerecht behandelt wirst,
Tat gebunden. Aber trotzdem Vorsicht.       befolgen. Diese Menschen von Frieden          dann freue dich darüber und liebe deine
Eine theologische Richtung in der Heb-      und Gerechtigkeit auszugrenzen, wäre          Feinde. Schwer nachvollziehbar. Aber
räischen Bibel kennt den sogenannten        ebenso nicht gerecht. Gleichzeitig muss       nach Jesu Rat ist Gerechtigkeit nichts,
Tun-Ergehen- Zusammenhang. Das heißt:       betont werden, dass die Gerechtigkeit         was wir Menschen selbst leisten kön-
Der Mensch, welcher sich stets recht-       auch auf kodifiziertem Recht beruht, das      nen, sondern eine Gabe Gottes (Mt 5,6).
schaffend verhält und die Gebote JHWHs      für alle einsehbar ist. Schließlich geht      Vor diesem Hintergrund kann auch eine
beherzigt, der lebt im Frieden und Heil.    es darum, gerechte Entscheidungen zu          andere Seligpreisung einsichtiger wer-
Der Mensch ist somit nahezu kausal an       treffen (Dtn 1,16).                           den: „Glückselig, die arm sind vor Gott,
diesen Zusammenhang gebunden. Es                                                          denn ihnen gehört das Himmelreich“
gibt also so etwas wie einen Deal mit       Schaut man nun ins Neue Testament, so         (Mt 5,3). Das ist nun gerecht? Letzten
Gott. Wer sich an die Regeln hält und       finden sich dort ebenso Aussagen zum          Endes können wir der Gerechtigkeit auf
mitspielt, der genießt Gottes Privilegien   Thema Gerechtigkeit. Der Tun-Ergehen-         Erden eben doch nicht hundertprozentig
und darf ein friedvolles Leben führen.      Zusammenhang löst sich in der frühjüdi-       gerecht werden. Dies jedoch auf ein Le-
Aber verhält es sich wirklich immer so?     schen Apokalyptik auf und das Verständ-       ben nach dem Tod zu vertrösten, bleibt
Gibt es nicht auch die gegenteiligen Er-    nis von (Un-)Gerechtigkeit verändert sich.    hier nur ein schwacher Trost.
fahrungen (Ps 73,3)?                        Die Akzeptanz von persönlichem Leid
                                            verwandelt sich zu einer Symbiose vom                                  Sylvia vom Holt
Nicht zuletzt benötigt auch Freiheit eine   eigenen Schicksal und der Heilserwar-
Eingrenzung. Das Recht kann also nur        tung Gottes. Der Gedanke, dass Gott
ausgeübt werden, wenn es erstens ver-       der Ungerechtigkeit ein Ende setzen
bindliche Regeln gibt, welche als Richt-    wird, überwiegt den rein menschlichen
schnur dienen, und zweitens Menschen,       Drang nach Gerechtigkeit (vgl. Joachim
die sich bedingungslos daran halten. Die    Kügler). Jesus akzentuiert die Vorstellung
Frage ist, was ist mit den Grauzonen?       von Gerechtigkeit enorm: „Wehrt euch
Denn der Mainstream wird sich nicht         nicht, wenn euch jemand Böses tut. Wer

                                                                                         Kompass 06I21                         11
KOLUMNE

Liebe Soldatin, lieber Soldat,

unsere Soldatinnen und Soldaten sind aktuell im In- und Aus-     parlamentarische Begleitung und Unterstützung kann so nicht
land sehr stark gefordert. Es ist ein Kraftakt, Grundbetrieb,    gewährleistet werden. Zwar ist das Eckpunkte-Papier Ausdruck
Ausbildung und Übung unter Pandemie-Bedingungen durch-           exekutiven Handelns der politischen und militärischen Führung.
zuführen. Zehntausende sind in der Amtshilfe gebunden. Der       Allerdings kann die politische Führung nach September eine
Abzug aus Afghanistan läuft auf Hochtouren. Der Einsatz in       ganz andere sein – mit anderen Ideen und Schwerpunkten.
Mali steht mit dem Bau eines Ausbildungszentrums in Sévaré       Kurzum: Vor der Bundestagswahl ein so ein großes Reform-
vor einem neuen Kapitel. Nicht zu vergessen unsere Bündnis-      Projekt anzugehen, ist nicht sinnvoll.
verpflichtungen, die mit Blick auf die russischen Truppenbewe-
gungen der letzten Wochen wichtiger denn je sind.                Dabei ist das zentrale Anliegen des Eckpunkte-Papiers durch-
                                                                 aus richtig: Führungsstrukturen verschlanken und Stabslastig-
Angesichts dieser Vielzahl herausfordernder Aufgaben ist es      keit abbauen, Zuständigkeiten klarer fassen und der Truppe
ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, genau jetzt große Reformen    vor Ort mehr Verantwortung geben. Damit sollen Kaltstart-
anzustoßen, wie sie die Bundesministerin für Verteidigung mit    fähigkeit, Reaktionsfähigkeit sowie Durchsetzungsfähigkeit
ihren „Eckpunkten für die Bundeswehr der Zukunft“ vorgestellt    verbessert werden. Das ist mit Blick auf die Refokussierung
hat. Dieses Timing zeugt nicht gerade von Gespür für die Trup-   auf Landes- und Bündnisverteidigung notwendig. Ob jedoch die

                                                                                                                                  © SidorArt – stock.adobe.com
pe. Unsere Soldatinnen und Soldaten beschäftigen zurzeit         Umorganisation des Sanitätsdiensts und der Streitkräftebasis
ganz andere Fragen.                                              die geeigneten Maßnahmen sind, diese Ziele zu erreichen,
                                                                 bleibt abzuwarten. Zumal wesentliche Details der geplanten
Auch in anderer Hinsicht verwundert der Zeitpunkt: Große         Umstrukturierungen noch keineswegs feststehen.
Reformvorhaben werden für gewöhnlich zu Beginn einer Le-
gislaturperiode begonnen. Schließlich müssen sie gut begrün-     Ich hätte mir zudem gewünscht, dass das Eckpunkte-Papier die
det, behutsam und transparent angegangen werden. Doch            täglichen Belange unserer Soldatinnen und Soldaten stärker
im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Eine breite       berücksichtigt. Denn die Truppe hat viele Herausforderungen

12                        Kompass 05I21
KOLUMNE

                                                                     „Angesichts        der Vielzahl
                                                                               „Angesichts der Vielzahl
                                                                                herausfordernder
                                                                            herausfordernder Aufgaben
                                                                    Aufgaben       ist es ein denk-
                                                                        ist es ein denkbar ungünstiger
und erheblichen Reformbedarf. Das ist offenkundig. Das erle-              bar   ungünstiger Zeit-
be ich bei jedem meiner Truppenbesuche und in all meinen                   Zeitpunkt, genau jetzt große
Gesprächen mit Soldatinnen und Soldaten.                             punkt, genau        jetzt große
                                                                                Reformen anzustoßen.“
Hochspezialisiertes Personal fehlt. Persönliche Ausrüstung
fehlt oder passt nicht. Großgerät ist nicht in ausreichendem
                                                                      Reformen anzustoßen.“
Maß einsatzbereit. Instandsetzungen dauern zu lange, eben-
so Beschaffungen. Selbst bei der Beschaffung von kleinen            Das Eckpunkte-Papier der Ministerin bietet somit wenig Konkre-
Ausrüstungsgegenständen wie Kälteschutzanzügen, Helmen              tes. Etliches ist Gegenstand weiterer Prüfungen und Untersu-
oder Rucksäcke kommt es zu erheblichen Verzögerungen.               chungen. Die offenen Fragen sollten nun schnell beantwortet
Gebäude – von Unterkünften über Lagerhallen bis hin zu OHGs         werden. Ein monatelanger Schwebezustand ist nicht tragbar
und UHGs – sind zum Teil in desolatem Zustand. Neubauten            und sorgt für erhebliche Unruhe in der Truppe. Im weiteren
brauchen Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte.                          Prozess sollten daher auch alle Soldatinnen und Soldaten, vor
                                                                    allem die Beteiligungsgremien, umfassend beteiligt werden.
Doch zu all diesen Themen – Personal, Material, Beschaffung         Mitbestimmung, Klarheit und Gewissheit, wann es wie nun
und Infrastruktur – findet sich in den Eckpunkten leider herzlich   weitergeht –, das verdienen unsere Soldatinnen und Soldaten.
wenig. Viele Optionen werden zwar angerissen, sollen jedoch
erst mal geprüft werden. Wann diese Prüfungen abgeschlos-           Mit herzlichen Grüßen
sen werden und mit welchem Ergebnis, bleibt unklar. An dem
selbsterklärten Ziel der Vollausstattung mit modernem Gerät
wird festgehalten. Ebenso an der Zielgröße von 203.300 Sol-
datinnen und Soldaten. Doch wie beides erreicht werden soll,
bleibt ebenfalls unklar.                                                            Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages

                                                                                                                                     © Bundeswehr / GebJgBrig 23
AUSLEGEWARE

                 Jeder Mensch ist ein Homo
               oder jeder Homo ist ein Mensch

W      as verbindet gegenwärtig die vatika-
       nische Glaubenskongregation, die
katholischen Bischöfe in Deutschland,
                                               Homosexualität galt lange Zeit
                                                                                        „Du darfst nicht mit einem Mann schla-
                                                                                        fen, wie man mit einer Frau schläft; das
                                                                                        wäre ein Gräuel.“ Noch schärfer formu-
                                                  in Kreisen amtskirchlich-
den Synodalen Weg sowie katholische                                                     liert Levitikus 20,13: „Schläft einer mit
Theologinnen und Theologen miteinan-          dogmatischer Verfasstheit auch            einem Mann, wie man mit einer Frau
der? Sie werden vielleicht lachen. Sie              mit Berufung auf das                schläft, dann haben sie eine Gräueltat
alle sprechen über Homosexualität. Der          sogenannte Naturrecht als               begangen; beide haben den Tod ver-
Zeitpunkt aber, darüber ins Gespräch zu         Irregularität, und sogar als            dient; ihr Blut kommt auf sie selbst.“ Und
kommen, ist insofern mehr als ungüns-            schwere Sünde, wenn sie                auch im scheinbar so friedfertigen Neuen
tig, als die katholische Kirche auch in                                                 Testament ist an prominenter Stelle, und
Deutschland vom (selbst verursachten)                  ausgelebt wird.                  zwar im Römerbrief – für viele der paulini-
Missbrauchsskandal erschüttert wird.                                                    sche Brief schlechthin – zu lesen: „Ihre
Ebenso könnte man sagen: Der Vertrau-         Neben dem vermeintlichen Naturrecht,      Frauen vertauschten den natürlichen Ver-
ensverlust in die Amtskirche, und hier ist    nach dem gelebte Sexualität ihren Platz   kehr mit dem widernatürlichen; ebenso
dieser Ausdruck mal keiner im Nebel, ist      nur in der Ehe zwischen Mann und Frau,    gaben auch die Männer den natürlichen
enorm. Dies trifft vor allem auf ihre Rolle   näherhin zur Zeugung von Kindern habe,    Verkehr mit der Frau auf und entbrannten
als sogenannte sittliche Institution zu, in   wird bezüglich Homosexualität immer       in Begierde zueinander; Männer treiben
der sie sich bisher oft, zu oft, ob gerufen   wieder auf Bibelstellen sowohl im Alten   mit Männern Unzucht und erhalten den
oder ungerufen, bei Themen der Sexua-         als auch im Neuen Testament verwiesen.    ihnen gebührenden Lohn für ihre Verir-
lität zu Wort gemeldet hat, und zwar mit      Wie sieht ein diesbezüglicher Befund      rung“ (Röm 1,26f.). Und wie sieht dieser
Anspruch auf Beachtung.                       aus? Im Buch Levitikus 18,22 heißt es:    Lohn aus? „Wer so handelt, verdient den

                                                                                                                                      © 2013 by marog-pixcells – stock.adobe.com

14                          Kompass 06I21
AUSLEGEWARE

                                   Tod.“ Und weiter heißt
                                   es: „Trotzdem tun sie
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                                   es nicht nur selbst,
                                   sondern stimmen be-
                                   reitwillig auch denen
                                   zu, die so handeln“
                                   (Röm 1,32).

                                   Man kann es nun drehen
                                   und wenden, wie man will,
                                   Homosexualität wird nach bibli-
                                   schem Befund abgelehnt.

                                   Auch der immer wieder gern vorgetra-
                                   gene Hinweis auf David und seinen
                                   Freund sowie Schwager Jonatan
                                   sticht nicht. Zwar heißt es im                                      Frage auf, welche    teinischen Begriff sexus (Geschlecht)
                                   Text: „Weh ist mir um dich,                                     biblischen Texte denn    dann gleichgeschlechtlich. Hingegen im
                                   mein Bruder Jonatan. Du warst                              heute uneingeschränkt Gül-    Lateinischen hat homo die Bedeutung
                                   mir sehr lieb. Wunderbarer                              tigkeit beanspruchen dürfen      Mensch oder auch Mann. Und dass je-
                                   war deine Liebe für mich als                 und welche nicht. Wo verläuft die Gren-     der Mensch auf je eigene Weise seine
                                   die Liebe der Frauen“ [2 Sam 1,26 (EÜ)].     ze? Wer legt den Maßstab fest? Wer be-      Sexualität lebt, ist eine Binse. Ist also
                                   Aber an „eine homosexuelle Beziehung         stimmt den Grenzverlauf? Gibt es einen      selbst dieses Wort etwa patriarchalisch
                                   denkt auch dieser Text nicht, gleichwohl     sogenannten Erkenntnisfortschritt oder      angehaucht? Hingegen für die Liebe
                                   diese Freundschaft das gewöhnliche           ist einem wortwörtlichen Bibelverständ-     zwischen Frauen hat sich seit dem 19.
                                   Maß zu überschreiten scheint“ (Ulrich        nis der Vorzug zu geben? Wäre Letzteres     Jahrhundert in Deutschland der Begriff
                                   Berges, Bonn). Wer beispielsweise ein-       der Fall, so müssten dann alle Christin-    lesbisch eingebürgert. Darüber hätte sich
                                   mal in einer streng patriarchalisch struk-   nen und Christen mindestens Hebräisch       vielleicht die griechische Dichterin Sap-
                                   turierten Gesellschaft wie Afghanistan       und Griechisch lesen und verstehen;         pho (zwischen 630 und 612 v. Chr. bis
                                   einander händchenhaltende Männer in          denn nur original ist legal. Fragen über    ca. 570 v. Chr.) gefreut. Sie lebte auf der
                                   der Öffentlichkeit gesehen hat, selbst       Fragen.                                     Insel Lesbos und pries in Gedichten die
                                   Bundeswehrsoldaten haben dies als Zei-                                                   Liebe zwischen Frauen.
                                   chen der Wertschätzung gelegentlich er-      Apropos Homo-Sexualität. Weshalb wird
                                   fahren, der weiß, dass Zuneigungsbekun-      dieses Wort meist nur in Bezug auf die      Kurzum. Da sich eine fundamentalisti-
                                   dungen, die im europäischen Kulturkreis      Liebe zwischen Männern verwendet? Im        sche Lesart der Bibel nicht empfiehlt, ist
                                   eher mit Mann und Frau in Verbindung         Griechischen bedeutet homos (ὁμός)          in Bezug auf Fragen der Sexualität auch
                                   gebracht werden, anderswo eben anders        gleich und in Verbindung mit dem la-        die Humanwissenschaft entsprechend
                                   sind, ohne jedoch sexuell konnotiert zu                                                  zur Kenntnis zu nehmen. Denn gerade
                                   sein. Was ist nun aber mit der Homose-                                                   hinsichtlich individuell gestalteter Le-
                                   xualität?                                                                                bensweisen und deren Bewertung durch
                                                                                                TIPP:                       andere kommt einem Heinrich Heine wie-
                                   Biblische Texte können heute nicht im-                 Sie fragen sich:                  der in den Sinn: „Ich kenne die Weise,
                                   mer in allen Punkten als letztgültiger            „Was bedeutet denn das                 ich kenne den Text, ich kenn auch die
                                   Maßstab angesehen werden. Wie stünde                                                     Herren Verfasser; ich weiß, sie tranken
                                   es dann um die Todesstrafe oder um die           schon wieder in der Bibel?“             heimlich Wein und predigten öffentlich
                                   Polygamie, die biblisch als gefordert bzw.             Senden Sie uns                    Wasser.“ (Deutschland. Ein Wintermär-
                                   durchaus als erlaubt angesehen wer-                 Ihre Frage – hier wird               chen. Caput I)
                                   den. Dies aber wirft zugleich die dornige                                                                       Thomas R. Elßner
                                                                                            sie geklärt.

                                                                                                                           Kompass 06I21                            15
WEB-PMI 2021 – REGIONAL

Getrennt und
doch gemeinsam
unterwegs

E  in Hauch von Lourdes lag in der Luft.
   Eigentlich wären viele der Anwesen-
den auf der Internationalen Soldaten-
wallfahrt in dem französischen Marien-
wallfahrtsort. Doch pandemiebedingt
konnte diese auch im Mai 2021 nicht
wie gewohnt stattfinden. Auf die Atmo-
sphäre dieser Pilgerfahrt wollten viele
nicht verzichten, und so fanden nun
überall in Deutschland regionale Mini-
Wallfahrten statt.                         schof, Franz-Josef Overbeck, der es sich      Insgesamt ließen die Teilnehmenden
                                           nicht nehmen ließ, an der Wallfahrt in        über 15 Kilometer Strecke hinter und
                                           seinem Bistum teilzunehmen. „Lourdes          etwas über 100 Höhenmeter unter sich.
                                           ist nicht ersetzbar, aber zumindest ist       „Überlegen war keine Option“ für Haupt-
                                           es ein schönes Zeichen, dass wir mit          feldwebel Sabrina Tietz und Obermaat
                                           einigen Soldatinnen und Soldaten unter-       Anja Biedermann. Beide waren schon
                                           wegs sind und damit zeigen, dass die          mehrmals in Lourdes und haben die
                                           Wallfahrt weiterhin eine Bedeutung hat“,      Atmosphäre, den internationalen Aus-
                                           so Overbeck.                                  tausch und die Natur geschätzt. „Essen
                                                                                         ist nicht Lourdes“, stellte Tietz fest,
                                                      Pilgerweg im Ruhrtal               „aber ich habe die Gespräche auch mit
                                           Nach einer kurzen historischen Einfüh-        dem Bischof heute sehr genossen.“
                                           rung in die Geschichte der Region ging es
                                           mit Sonnenschein über schmale Pfade,          Vier Stunden später begrüßte das Luft-
                                           Brücken und Wälder los. „Als ich zusag-       waffenmusikkorps Münster die Pilgern-
     Ein Hauch von Lourdes                 te, an der Mini-Wallfahrt des Militärpfarr-   den im Bischofsgarten. Der Tag endete
            in Essen                       amts Wesel teilzunehmen, ging ich vom         wie er begann, mit einem Hauch von
                                           wunderbar überschaubaren und flachen          Lourdes. Denn in Lourdes schallt wäh-
Mit warmen Croissants und heißem Kaf-      Niederrhein aus. Die alpenähnlichen Ver-      rend der Soldatenwallfahrt in jeder Gas-
fee begrüßte Militärseelsorger Constan-    hältnisse hier in Essen überraschen mich      se Musik und Gesang. Das gemeinsame
tin Rhode Soldatinnen und Soldaten in      ein wenig“, stellte Leitender Militärdekan    Gebet beim Abschlussgottesdienst im
Essen am Hengsbachhaus. Wozu? Zur          Rainer Schnettker fest. Nach einer kur-       Essener Dom verband die Gruppe mit
Fußwallfahrt zum Essener Dom.              zen Stärkung stieß auch der erfahrene         allen anderen Pilgernden in Deutschland.
                                           Lourdes-Pilger Generalleutnant Klaus Ha-      Essen ist nicht Lourdes, aber der Geist
Als gebürtiger Essener nutzte Militär-     bersetzer zur Wallfahrt dazu.                 von Lourdes war zu spüren.
seelsorger Rhode die Gelegenheit, das                                                                            Friederike Frücht
Ruhrgebiet von seiner schönsten Seite
zu zeigen. Von Essen-Werden ging es
über einen Pilgerweg des Bistums Essen                                                    Lourdes-Miniwallfahrt in Berlin
durch das Ruhrtal bis zum Dom in die
                                                                                                                                     © KS / Doreen Bierdel (2)

Innenstadt.                                                                              Eine Berliner Lourdes-Grotte, einst von
                                                                                         französischen Kriegsgefangenen errich-
Elf Soldatinnen und Soldaten aus We-                                                     tet, war in diesem Jahr der Ort, an dem
sel, Hilden, Kalkar und Wulfen waren mit                                                 Mitarbeiter:innen der Katholischen Mili-
Vorfreude am Morgen zusammengekom-                                                       tärseelsorge für Frieden beten.
men. Begleitet wurden sie von niemand                                                    Doch auch Berlin ist nicht Lourdes. Das
anderem als dem Katholischen Militärbi-                                                  machte Militärgeneralvikar Reinhold Bart-

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                          mann aus seiner Sicht deutlich: „Der              Fußwallfahrt zum Marien-

                                                                                                                                                             © KMBA / Manuela Fehse (3)
                          Donnerstag ist für mich als Generalvikar           wallfahrtsort Etzelsbach
                          in Lourdes mein individueller Tag: Früh-
                          stück mit französischem Kaffee, danach        Mit der coronabedingt notwendigen Ab-
                          zu den Italienern, um einen Espresso zu       sage der alljährlichen Soldatenwallfahrt
                          trinken, anschließend an die Grotte, wo       nach Lourdes wurde den Pfarrämtern für
                          so früh noch Ruhe ist und schließlich auf     2021 der Vorschlag zu einer Fußwallfahrt
                          zum Bahnhof, wo die Sonderzüge ankom-         zu einer Lourdesgrotte oder einer Mari-
                          men. Ich vermisse das.“                       enkirche im jeweiligen regionalen Bereich
                                                                        unterbreitet. Wir vom Katholischen Mili-     Der Pilgerzug war mit der vorausgehen-
                              Lourdesgrotte in Berlin-Lankwitz          tärpfarramt Bad Frankenhausen haben          den Fahne der Militärseelsorge unter-
                          In Berlin-Lankwitz feierte er mit Angehöri-   diese Idee sofort aufgegriffen und uns       wegs und lief dann die insgesamt etwa
                          gen des Katholischen Militärbischofsam-       zur Umsetzung mit den Militärpfarräm-        zehn Kilometer lange Strecke, die auch
                          tes und der Kurie einen Gottesdienst an       tern Erfurt und Frankenberg zusammen-        die mitgehenden Kinder gut bewältigen
                          der dortigen Lourdes-Grotte. Diese steht      getan. So nahmen die Planungen für eine      konnten. Die unterstützende Truppe
                          im Garten des Klosters der Gemeinschaft       Fußwallfahrt im Eichsfeld immer mehr         sorgte mit organisierten Getränkepausen
                          von Chemin Neuf. Erbaut wurde sie von         Gestalt an. Als Ziel unseres Pilgertages     für Erfrischung. An einem landschaftlich
                          französischen Kriegsgefangenen in den         wählten wir Etzelsbach, einen Marienwall-    besonders reizvollen Punkt unterwegs
                          Jahren 1944/45 als „Dank für christli-        fahrtsort mit einem bekannten Bild der       hielten wir eine geistliche Zwischensta-
                          che und menschliche Hilfe“. Dadurch war       Schmerzhaften Muttergottes und auch          tion und haben erneut unsere Wallfahrt
                          auch die Verbindung zu den regionalen         einer Lourdesgrotte auf dem Wallfahrts-      mit all ihren Anliegen der Gottesmutter
                          Miniwallfahrten der Katholischen Militär-     gelände.                                     anvertraut. Die Anliegen der Militärseel-
                          seelsorge in ganz Deutschland und zur                                                      sorge ebenso wie die der Bundeswehr
                          WEB-PMI 20.21, der diesjährigen Inter-                                                     haben uns den ganzen Tag begleitet.
                          nationalen Soldatenwallfahrt hergestellt.
                                                                                                                     Am Pilgerziel, der Wallfahrtskapelle Et-
                                                                                                                     zelsbach, konnten wir eine wunderbar
                                                                                                                     organisierte Marienmesse feiern und ha-
                                                                                                                     ben darin wiederum den Dank und die
                                                                                                                     Bitten zur Gottesmutter getragen. Dabei
                                                                                                                     betrachteten wir die starke katholische
© KS / Norbert Stäblein

                                                                                                                     Tradition des Eichsfeldes und seine le-
                                                                                                                     bendige Gegenwart ebenso wie das Bild
                                                                                                                     Mariens, das uns hier gleichermaßen in
                                                                        Am Morgen sammelten sich am Aus-             Gestalt der Schmerzhaften Mutter im
                                                                        gangspunkt in Duderstadt Soldatinnen         Pilgerbild wie in der Maria im Lourdes-
                                                                        und Soldaten, Zivilangestellte und auch      Bildnis begegnet.
                                                                        Angehörige von Soldatinnen und Solda-
                                                                        ten aus den Standorten der Seelsorge-        Gerade auch bei denen, die zum ersten
                                 Keine Wallfahrt ohne „Ave“             bereiche Bad Frankenhausen, Erfurt und       Mal auf einer Fußwallfahrt mitgelaufen
                          Verständlich, dass bei dieser Bindung         Frankenberg, insgesamt fünfzig Pilgern-      sind, war eine große Freude spürbar.
                          das bekannte „Ave, ave, ave Maria …“          de. Nach der Begrüßung begannen wir                               Clemens Dzikowski
                          gesungen wurde und Monsignore Bart-           mit einer Andacht zur Eröffnung unse-
                          mann seine Lourdes-Kerze dabeihatte           res Pilgerweges bei schönstem Sonnen-
                          und zeigte. Wie es sich für eine echte        schein, natürlich alles im Freien.                  Lourdes auf Abstand
                          Wallfahrt gehört, erhielten die Besucher                                                              in Vallendar
                          den Wallfahrtsbeutel und durften nach
                          der seelsorglichen Stärkung im Kloster-                                                    Natur, Rosenkranzgebet, Steine mit Ge-
                          garten kurz „rasten“. Die Miniwallfahrten                                                  betsanliegen und eine kleine Lichterpro-
                          sind Ausdruck der Gemeinsamkeit und                                                        zession ließen Soldat:innen näher zur
                          des Wunsches, dass im Jahr 2022 die In-                                                    „Quelle des Lebens“ kommen.
                          ternationale Soldatenwallfahrt in Lourdes
                          die Soldatinnen und Soldaten zahlreicher                                                   Schon am Morgen standen in Vallendar
                          Länder zusammenkommen lässt.                                                               alle Zeichen auf Lourdes. Zwei Soldaten
                                                   Norbert Stäblein                                                  mit gelben Westen erinnerten die erfah-
                                                                                                                                                          >>

                                                                                                                    Kompass 06I21                          17
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renen Lourdes-Pilger an die Ordner der                                                                           Schibelius überzeugt. Auch erprobte
Grotte in Lourdes. Alle anderen waren                                                                            Lourdes-Pilger wie Hauptfeldwebel Son-
dankbar für die erkennbare Hilfe. So tra-                                                                        ja Silberkuhl waren zuversichtlich: „Es
fen sich Soldatinnen und Soldaten, aber                                                                          war eine Ausnahmesituation. Heute war
auch Zivilisten in der Pallottikirche, einer                                                                     es Lourdes-Feeling auf Abstand. Völlig
alten Wallfahrtskirche, die den Pallotti-                                                                        ungewohnt, aber total schön.“
nern gehört.
                                                                     gereist. Oberstabsfeldwebel Lunkenhei-      Am Ende des Tages erinnerte Militärde-
       Lourdes-Grotte in Vallendar                                   mer, der bereits mehrfach in Lourdes        kan Michael Kühn im Abschluss-Gottes-
Der Wallfahrtsort wurde von der Gemein-                              war, musste nicht lange überlegen: „Die     dienst: „Wir müssen nicht nach Lourdes
schaft der Pallottiner am Ende des zwei-                             Kameradschaft, die Atmosphäre in Frank-     fahren, um die Quelle des Lebens zu
ten Weltkrieges an ihrer Hochschule er-                              reich ist einfach unbeschreiblich. Des-     sehen. Auch die Eucharistiefeier ist das
richtet. Lange in Vergessenheit geraten,                             halb musste ich an dieser Mini-Wallfahrt    Fest des Glaubens, die Quelle des Le-
belebte Militärseelsorger Pater Roman                                unbedingt teilnehmen.“                      bens.“ Dennoch freue er sich, nächs-
Fries die Pilgerstätte und erweckte sie                                                                          tes Jahr, dann zum ersten Mal auch als
aus ihrem Dornröschenschlaf.                                         Erklangen an der ersten Station noch Ma-    geistlicher Pilgerleiter, wieder in Lourdes
                                                                     rienlieder, so stand das zweite Innehal-    zu singen und beten.
Nach Wallfahrtsgebet und Segen durch                                 ten ganz im Sinne der Stille. Nach einem                               Friederike Frücht
Militärdekan Jonathan Göllner setzte sich                            Impuls durch Militärdekan Göllner lausch-
die aus 80 Frauen und Männern beste-                                 ten alle der so gar nicht stillen Natur.
hende Wallfahrtsgruppe in Bewegung.                                  Vögel zwitscherten, der Wind wehte leise
Ein anstrengender Aufstieg führte sie                                durchs Gras und durch die Blätter, die
zur ersten Station der Fußreise. Mit aus-                            Sonne wärmte die Haut. Mit dem Rosen-
reichend Abstand und Masken erklan-                                  kranzgebet setzte sich die Pilgergruppe

                                                                                                                                                                © KMBA / Ronny Weber
gen Mariengebete, wie sie sonst immer                                wieder in Bewegung zu ihrem vorletzten
in Lourdes durch alle Straßen hallen.                                Ziel: der Lourdes-Grotte.
Pfarrhelfer Christian Törner überraschte
die Gruppe mit einem Stein, den jeder                                Dort angekommen, wurden sie vom
und jede in den ausgeteilten Lourdes-                                Lourdeslied (Ave Maria) empfangen. Der
Rucksäcken finden konnte. Diese wur-                                 Lichterprozession nachempfunden und
den mit Gebetsanliegen beschriftet und                               verbunden, stimmten alle in den Lobsang
abgelegt.                                                            ein. Auch die brennenden Kerzen ließen
                                                                     den Geist von Lourdes erahnen.                     Pilgerfahrt in Belgien
                                                                              Lourdes auf Abstand,               Auch die deutsche Katholische Militär-
                                                                                   aber schön                    seelsorge in Belgien beteiligte sich an
                                                                     „Das war eine tolle Erfahrung. In zwölf     den diesjährigen Regional-Wallfahrten.
                                                                     Jahren Bundeswehr habe ich noch nie
                                          © KS / Friederike Frücht

                                                                     darüber nachgedacht mit nach Lourdes        Die Pilgerfahrt in Belgien fand von SHAPE
                                                                     zu pilgern. Im nächsten Jahr werde ich      (Supreme Headquarters Allied Powers Eu-
                                                                     es wahrscheinlich machen“, ist Steffen      rope) aus sogar an drei einzelnen Tagen
                                                                                                                 statt. Das Hauptziel des Pilgerwegs war
                                                                                                                 die Klosterruine Abbaye d‘Aulne.
                                                                                                                                               Ronny Weber

          Beten mit Worten und
              mit Schweigen                                                                                           Zur Lourdesgrotte der
                                                                                                                                                                © KS / Doreen Bierdel (2)

Nachdem die Militärpfarrämter Koblenz                                                                             Heiligkreuz­kapelle Neuenburg
I, II und III das Angebot der Mini-Wall-
fahrten bekannt gegeben hatten, waren                                                                            Pünktlich um 9.30 Uhr war eine kleine
die zulässigen Teilnehmerplätze schnell                                                                          Gruppe von Soldaten der Deutsch/Fran-
vergeben. Einige Soldaten waren sogar                                                                            zösischen-Brigade und des Landeskom-
aus über 100 Kilometer Entfernung an-                                                                            mandos Baden-Württemberg zusammen

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                                                            Dabei zeigte sich die Sonne weiterhin
© KMBA / Lisa Lay

                                                            von ihrer besten Seite, so dass das
                                                            schöne Wetter und die unterschiedlichen
                                                            Gespräche den Rückweg sehr kurzweilig
                                                            gestalteten. Gegen 14.15 Uhr fanden
                                                            sich dann alle Pilger wieder vollzählig am

                                                                                                                                                                      © KS / Doreen Bierdel
                                                            Kasernentor ein und die Tageswallfahrt
               mit Pastoralreferentin Lisa Lay und Pfarr-   ging mit vielen bereichernden Eindrücken
               helferin Marie-Luise Holzreiter-Weidner      zu Ende.
               von der Robert-Schuman-Kaserne in Müll-
               heim zur Lourdesgrotte der Heiligkreuz­      Mit den insgesamt zurückgelegten 170
               kapelle Neuenburg aufgebrochen.              Kilometern konnten die neun Pilger auch
                                                            einen schönen Beitrag zur Wegstrecke
               Mit im Gepäck hatten sie einen Pilger-       des fiktiven Sonderzug 1 der Katholi-                             Nach einem gemeinsamen Frühstück ver-
               rucksack, gefüllt mit Gesangbuch, Pilger-    schen Militärseelsorge von Hamburg                                lief die Wallfahrt bei strahlendem Wet-
               abzeichen, Pilgerpatch, Pilger­halstuch,     nach Lourdes leisten.                                             ter durch traumhafte Eifel-Landschaft
               der Prayer-Box, einer Kerze, sowie einer                          Michael Bargmann                             bis zum Unterwegshalt am Bahnhof Ur-
               FFP2-Maske.                                                                                                    mersbach. Von dort wurden wir durch
                                                                                                                              einen Bus der Bundeswehr bis Martental
               Direkt am Kasernentor gab es von Militär-                                                                      gefahren. Vor Ort erwartete uns bereits
               seelsorgerin Lay einen Eröffnungs­impuls,                                                                      ein Pater, der den dortigen Wallfahrtsort
               bevor der Pilgerweg in mehreren Klein-                                                                         betreut.
                                                                                                   © KMBA / Michael Bendel

               gruppen begangen wurde. Nach knapp
               anderthalb Stunden erreichte die Pilger-                                                                       Er erzählte, dass der Name „Martental“
               gruppe die Lourdesgrotte in Neuenburg.                                                                         wahrscheinlich auf christliche Märtyrer-
               Pünktlich mit der Ankunft kam auch die                                                                         Soldaten aus der römischen Verfolgungs-
               Sonne heraus und erfreute die Pilgern-                                                                         zeit zurückgeht. Passend und sehr be-
               den. An der Lourdesgrotte wurde dann                                                                           eindruckend, dass auch im Mai 2021
               miteinander gebetet. Gesungen werden                                                                           christliche Soldatinnen und Soldaten nun
               durfte aufgrund der aktuellen Lage nicht,      Soldaten pilgern zur Gnaden-                                    an diesen Ort pilgerten.
               und Frau Lay beschrieb die Eigenschaf-           kapelle Maria Martental
               ten der Schutzmantelmadonna.                                                                                   Den gelungenen Abschluss bildete dann
                                                            Soldatinnen und Soldaten aus dem Be-                              eine Heilige Messe in der Gnadenkapelle
               Am Ende der Andacht konnte jeder seine       reich des Katholischen Militärpfarramts                           von Maria Martental.
               Kerze an­zünden und diese mit seinem         Nörvenich schlossen sich der Pilgerwan-                           Insgesamt sind 8 Personen, jeweils eine
               Anliegen vor die Gottesmutter Maria brin-    derung des Katholischen Militärpfarramts                          Strecke von 14 Kilometern gepilgert, ins-
               gen. Wer wollte, konnte noch kurz in der     Mayen an und kamen morgens um 8.00                                gesamt haben wir 112 Kilometer erwan-
               Heiligkreuzkapelle ver­weilen, bevor der     Uhr in die Mayener Oberst-Hauschild-                              dert.
               Rückweg über Auggen angetreten wurde.        Kaserne.                                                                                    Michael Bendel

                                                                                   Schaffen wir es gemeinsam von Hamburg – der
                                                                                   fiktive Start des Sonderzug 1 – nach Lourdes?

                                                                                  Das haben wir uns zu Beginn gefragt. Jeder gepilgerte Kilometer
                                                                                  von jeder einzelnen Person wurde gezählt. Zu Fuß wurden ins-
                                                                                  gesamt weit über 2.000 Kilometer zurückgelegt. Die hohe Zahl
                                                                                  von 14.076 Kilometern entstand, weil viele Soldat:innen auch
                                                                                  an Fahrrad- und Motorradwallfahrten teilgenommen haben.

                                                                                                                             Kompass 06I21                          19
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