KRANKENSTAND VERBOTEN? - Fragwürdige Maßnahmen unter dem Deckmantel eines effizienten "Krankenstandmanagements" - Gewerkschaft GPA
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KRANKENSTAND VERBOTEN? Fragwürdige Maßnahmen unter dem Deckmantel eines effizienten „Krankenstandmanagements“ Aus der Broschürenserie Gewerkschaft GPA – Abteilung Arbeit & Technik 1
IMPRESSUM: Herausgeber: Gewerkschaft GPA, 1030 Wien, Alfred-Dallinger-Platz 1 Redaktion: Alexander Pichler, Gewerkschaft GPA – Grundlagenabteilung Layout: Christina Schier, Gewerkschaft GPA – Abteilung Organisierung und Marketing Bilder/Fotos: iStock, Daniel Novotny, Michael Mazohl ÖGB ZVR-Nr.: 576439352 Stand: September 2021
AUTORINNEN © Daniel Novotny © Daniel Novotny © Daniel Novotny Dr.in Eva Angerler Mag.a Andrea Komar Mag.a Isabel Koberwein Abteilung Arbeit & Technik der Leiterin der Gewerkschaft GPA Grundlagenabteilung Gewerkschaft GPA Rechtsabteilung der Gewerkschaft GPA Die Inhalte sind nach bestem Wissen erstellt und sorgfältig geprüft. Es besteht jedoch keine Haftung seitens der AutorInnen oder der Gewerkschaft GPA. Inhalte dürfen unter Angabe der AutorInnen weiterverbreitet werden (CC-Urheberrecht). 3
VORWORT 4 © MichaelMazohl
VORWORT Die arbeitsbezogenen Gesundheitsprobleme nehmen infolge steigenden Arbeitsdrucks zu. Viele ArbeitnehmerIn- nen haben Angst um ihren Arbeitsplatz und vermeiden nötige Krankenstände. Langfristig schädigen sie durch dieses Verhalten ihre Gesundheit oft so nachhaltig, dass sie ernsthaft erkranken und letztendlich doch den Arbeitsplatz verlieren. Stressbedingte Erkrankungen, wie zum Beispiel Burn-out, sind ein Produkt unserer sich ständig intensivierenden Arbeitswelt. ArbeitnehmerInnen übersehen oft die ersten Signale, weil sie glauben, es sich nicht „leisten“ zu können, einen Krankenstand in Anspruch zu nehmen. Diese gesundheitspolitisch bedenkliche Entwicklung bedroht sozialpolitische Errungenschaften, wie zum Beispiel die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und belastet durch Langzeitkrankenstände auch unser Sozialsystem. Vor diesem Hintergrund kommen den fragwürdigen Methoden des „Krankenstands- oder Fehlzeitenmanage- ments“, die in Betrieben auftreten, besondere Brisanz zu. Die Möglichkeiten neuer technischer Systeme verführen immer mehr ArbeitgeberInnen dazu, sensible Daten wie Krankenstandsdaten in unzulässiger Weise aufzubereiten, auszuwerten und öffentlich zu machen. Sie werden zu einem Instrument der Kontrolle sowie der Leistungs- und Verhaltenssteuerung. ArbeitnehmerInnen, die eigentlich darauf vertrauen dürfen, dass diese Daten lediglich dem gesetzlichen Auftrag entsprechend verwendet werden, sehen sich plötzlich durch ebendiese Daten unter Druck gesetzt. Ihre Krankheit wird gegen sie ausgespielt. Durch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sind sensible personenbezogene Daten nicht nur besonders geschützt, der Missbrauch dieser Daten kann auch exorbitant hohe Strafen nach sich ziehen. Neben dem strengen Datenschutz, den der/die Einzelne für sich ins Treffen führen kann, bietet das Arbeitsver- fassungsgesetz (ArbVG) dem Betriebsrat starke Mitbestimmungs- sowie Gestaltungsrechte zum Schutz der Beschäf- tigtendaten. Ziel dieser Broschüre ist, fragwürdige Methoden im Umgang mit Krankenstandsdaten aufzuzeigen, einen verant- wortungsvollen Umgang mit diesen Daten zu fördern und den Beschäftigten und BetriebsrätInnen Möglichkeiten zu eröffnen, sich erfolgreich gegen Datenmissbrauch zu wehren. Außerdem werden Modelle dargestellt, die besser geeignet sind, die Gesundheit im Betrieb zu fördern als die geschilderten Methoden eines „Fehlzeitenmanagements“. Barbara Teiber, MA Vorsitzende 5
INHALT Zur Entwicklung von Krankenständen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Es beginnt schon beim Bewerbungsgespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Im betrieblichen Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Krankenstandsrückkehrgespräche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Entgeltsysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 „Rating“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Worauf ist während eines Krankenstandes zu achten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Rechte des/der Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Rechte und Möglichkeiten des Betriebsrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 § 96 Abs 1 Z 2 ArbVG (Notwendige Zustimmung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 § 96 Abs 1 Z 3 ArbVG (Notwendige Zustimmung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 § 96 a Abs 1 ArbVG (Ersetzbare Zustimmung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 § 97 Abs 1 Z 1 ArbVG (Erzwingbare Zustimmung). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 § 97 Abs 1 Z 8 und 9 ArbVG (Freiwillige Betriebsvereinbarung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 § 92 a ArbVG (Arbeitsschutz). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 „Kollision“ von Rechtsgrundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Gesundheit und Prävention im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Arbeitsplatzevaluierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Betriebliche Gesundheitsförderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Themen und Instrumente bei der betrieblichen Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . 25 Betriebliches Wiedereingliederungsmanagement (BEM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Wiedereingliederungsteilzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Praktische Beispiele Wertvolle Tipps Beispielrechnung 6
ZUR ENTWICKLUNG VON KRANKENSTÄNDEN E in Blick auf die langfristige Entwicklung von macht Arbeitslosigkeit krank, zum anderen trauen Krankenständen in Österreich zeigt, dass die sich Arbeitslose eher als Beschäftigte, sich krank Krankenstandszahlen seit 1980 sinken. 1980 la- zu melden, weil die mögliche Sanktion des Arbeits- gen die durchschnittlichen Krankenstandstage pro platzverlustes fehlt. Beschäftigtem bei 17,4 Tagen im Jahr. In den letzten Jahren sind es ziemlich konstant 12 bis 13 Tage. Dieser Die Praxis zeigt, dass die Angst der Beschäftigten, langfristige Rückgang der Krankenstände begann zu aufgrund von Krankenständen ihren Arbeitsplatz zu dem Zeitpunkt, als die Arbeitslosigkeit zu steigen be- verlieren, nicht unbegründet ist. So steigt etwa nach gann. Seit 1982 zeigt die Statistik einen engen Zusam- einem zwei- bis vierwöchigen Krankenstand das Risiko, menhang zwischen steigender Arbeitslosigkeit und im Jahr danach den Job zu verlieren, beträchtlich. Um- sinkender Krankenstandsquote. Das lässt den Schluss gekehrt haben ältere ArbeitnehmerInnen mit längeren zu, dass viele Beschäftigte aus Angst vor der Arbeits- Krankenständen kaum eine Chance, ins Erwerbsleben losigkeit einen notwendigen Krankenstand nicht in An- zurückzukehren. spruch nehmen. In der Krankenstand-Statistik zeigen sich teils erhebli- In der Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin wird das che Unterschiede je nach Branche, Beruf und regiona- Phänomen, trotz Krankheit am Arbeitsplatz zu erschei- lem Umfeld. nen, Präsentismus genannt. Dieses Phänomen tritt ins- besondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit verstärkt auf. Die wichtigsten Krankenstandsursachen sind heute vor allem auf Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems Der Arbeitsgesundheitsmonitor der AK OÖ, eine reprä- und des Atemsystems zurückzuführen. Zusammen ver- sentative Befragung von ArbeitnehmerInnen in Öster- ursachen diese Erkrankungen rund 50 % der Kranken- reich, bildet weitere betriebliche Faktoren ab, die Arbeit- standsfälle und 42 % aller Krankenstandstage. Arbeits- nehmerInnen veranlassen, krank zur Arbeit zu gehen. unfälle waren in den vergangenen Jahren rückläufig, Knappe Personalressourcen, fehlende Vertretungsre- während psychische Erkrankungen im vergangenen gelungen und ein hohes Verantwortungsbewusstsein Jahrzehnt stark gestiegen sind. der Beschäftigten spielen dabei wesentliche Rollen. Dafür verantwortlich sind Rahmenbedingungen wie Arbeitslose haben eine signifikant höhere Kranken- neue Formen prekärer Arbeitsverhältnisse, Arbeits- standsquote als Beschäftigte. Es ist zu vermuten, dass platzunsicherheit, die alternde Erwerbsbevölkerung, dabei zwei Faktoren eine Rolle spielen: Zum einen eine Intensivierung der Arbeit, hohe emotionale 7
ZUR ENTWICKLUNG VON KRANKENSTÄNDEN Anforderungen bei der Arbeit und die unzureichende ablegen müssen, der ohnedies schon gewaltige Druck, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.1 krank zur Arbeit zu gehen. Gesundheitspolitisch stellt der Präsentismus eine alarmierende Entwicklung dar. Die Krankenstandszahlen werden häufig als Indikator Wenn ArbeitnehmerInnen trotz des Fortschreitens von für den Gesundheitszustand eines Betriebes betrach- stressbedingten und sonstigen Erkrankungen heute tet. ArbeitgeberInnen und Vorgesetzte gehen aller- weniger Krankenstandstage haben als früher, ist ab- dings sehr unterschiedlich mit diesen Daten um. Die sehbar, dass dieser Umstand den Vormarsch psychi- Praxis zeigt, dass Krankenstandsdaten immer häufiger scher Erkrankungen nicht eindämmen, sondern forcie- zu einem Instrument des „Personalmanagements“ ren wird. Damit dreht sich die Spirale nach unten weiter. werden. Die technischen Möglichkeiten erlauben heut- zutage eine lückenlose und systematische Erfassung Das Thema „Krankenstand“ spielt von der Begrün- und Aufbereitung dieser Daten. Die Methoden sind un- dung bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses terschiedlich, lassen sich aber unter dem Begriff des eine große Rolle. Ob es um den betrieblichen Um- „Fehlzeitenmanagements“ zusammenfassen. Für die gang mit Krankenstandsdaten, deren Auswertung ArbeitnehmerInnen potenziert sich dadurch, dass sie oder verpflichtende Krankenstandsrückkehrgespräche zunehmend Rechenschaft über ihre Krankenstände geht, das Thema ist stets ein heikles. KRANKENSTANDSTAGE NACH KRANKHEITSGRUPPEN % 100 Sonstige Krankheiten 90 Psychische- und 80 Verhaltensstörungen 70 Krankheiten des Kreislaufsystems 60 Krankheiten des 50 Atmungssystems 40 Krankheiten des Verdauungssystems 30 Krankheiten des 20 Muskel-Skelett-Systems 10 Verletzungen und Vergiftungen 0 1994 2000 2005 2010 2019 Quelle: Fehlzeitenreport 2020, Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, Wifo 1 Quelle: Fehlzeitenreport 2020, Wifo, https://www.sozialversicherung.at/cdscontent/load?contentid=10008.741074&version=1606987636 8
ES BEGINNT SCHON BEIM BEWERBUNGS- GESPRÄCH W er einen Job sucht, ist darum bemüht, im Be- Beide Ansinnen sind – wenig überraschend – unzulässig. werbungsgespräch einen möglichst guten Aber welche Fragen sind im Bewerbungsgespräch er- Eindruck auf den/die potenzielle/n Arbeit- laubt, welche verboten? Was kann der/die Arbeitssu- geberIn zu machen. Schließlich ist davon auszugehen, chende tun, wenn ihm/ihr unzulässige Fragen gestellt dass sich auch viele andere Arbeitssuchende um die- werden? Und welche Möglichkeiten hat der Betriebsrat, sen Job bemühen. Um sich gegen MitbewerberInnen potenziellen neuen MitarbeiterInnen solche Fragen zu durchzusetzen, gilt es, nicht nur mit Qualifikation und ersparen? einnehmendem Auftreten zu punkten, sondern im Ge- Krankenstandsdaten und insbesondere Diagnosen spräch auch ein gutes Einvernehmen mit dem/der Ar- sind, was wohl niemand ernsthaft in Frage stellen wird, beitgeberIn herzustellen. höchstpersönliche und sensible Daten (Art. 9 DSGVO: Arbeitsverhältnisse sind wegen der wirtschaftlichen besondere Kategorie personenbezogener Daten). Abhängigkeit der ArbeitnehmerInnen ganz grund- Umso erstaunlicher ist der leichtfertige, mitunter gera- sätzlich von einem Ungleichgewicht der Kräfte – von dezu unverschämte Umgang mit diesen Daten durch zwei einander gegenüberstehenden, ungleich starken (potenzielle) ArbeitgeberInnen. Die Corona-Pandemie VerhandlungspartnerInnen – geprägt. In einem Bewer- hat die Begehrlichkeit von ArbeitgeberInnen, Gesund- bungsgespräch verschärft sich die Lage für Arbeitssu- heitsdaten der BewerberInnen abzufragen, noch er- chende noch, weil sie den Job, um den sie sich bemü- höht. Die Frage nach einer COVID-19-Schutzimpfung hen, in der Regel dringend brauchen. Die Gefahr des ist dabei eine der beliebtesten. Machtmissbrauchs durch den/die ArbeitgeberIn steigt Aus gutem Grund enthalten Krankenstandsbestätigun- durch diese Ausgangssituation. Tatsächlich nutzen Ar- gen, die dem/der ArbeitgeberIn vorzulegen sind, zwar beitgeberInnen die prekäre Lage, in der sich Stellen- Beginn und Ende des Krankenstandes, aber niemals werberInnen befinden, immer öfter aus, um an Informa- eine Diagnose. ArbeitnehmerInnen haben nämlich ein tionen zu gelangen, die ihnen gar nicht zustehen. Recht auf Datenschutz. Gewisse Fragen, welche die Intimsphäre des/der Ar- beitssuchenden betreffen, sind jedenfalls unzulässig und können nicht einmal mit einer allfälligen Zustimmung Beispiel 1: Im Zuge des Bewerbungsgespräches des Betriebsrates „legalisiert“ werden. Grundrechtswid- wird der/die Arbeitssuchende nicht nur nach rige bzw. sittenwidrige Fragen können somit auch mit der Anzahl und jeweiligen Dauer seiner/ihrer Betriebsvereinbarung nicht wirksam zugelassen werden. Krankenstände in den letzten zwei Jahren, son- Hierbei handelt es sich beispielsweise um Fragen nach dern auch nach den Diagnosen gefragt. ● Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder Beispiel 2: Im Zuge des Bewerbungsgespräches Gewerkschaft; wird der/die Arbeitssuchende aufgefordert, sich ● Religionszugehörigkeit; einem Gesundheitscheck zu unterziehen. ● Sexuellen Gewohnheiten bzw. sexueller Ausrichtung; 9
ES BEGINNT SCHON BEIM BEWERBUNGSGESPRÄCH ● Schwangerschaft; ArbeitgeberIn Arbeitssuchenden stellen darf. Nimmt ● Familiären Plänen (Kinderwunsch); man Fragen, die in die Persönlichkeitsrechte der Be- ● Vermögensverhältnissen; troffenen eingreifen und deshalb der Regelungskom- ● Gesundheitszustand (z. B. nach Erkrankungen, petenz der Betriebsparteien entzogen sind, aus, so Diagnosen, Heilungschancen); unterscheidet man bei den im Rahmen von Bewer- ● Verwandten und Bekannten. bungsgesprächen häufig verwendeten Personalfrage- bögen zwischen schlichten und qualifizierten. Solche Fragen verletzen die Intimsphäre des/der Ein- zelnen gröblich. Weil sie unzulässig sind, können Stel- Schlichte Fragebögen sind stets zulässig. Sie enthalten lenwerberInnen sie auch ohne nachteilige Folgen lediglich allgemeine Angaben zur Person sowie über die falsch oder gar nicht beantworten. Qualifikation für die in Aussicht genommene oder be- Ausnahmen finden sich lediglich bei Tätigkeiten, die reits ausgeübte Verwendung. Hierbei handelt es sich um bestimmte gesundheitliche Voraussetzungen erfor- dern. Dort, wo das Gesetz und/oder die Art der Tätig- ● Angaben, die aus sozialversicherungsrechtlichen keit Fragen zum Gesundheitszustand und/oder zu Ge- und steuerrechtlichen Gründen erforderlich sind; sundenuntersuchungen (z. B. Blutbild, Lungenröntgen ● Angaben, die zur ordnungsgemäßen Einstufung etc.) verlangen, gilt das bisher Gesagte nur bedingt. in den Kollektivvertrag erforderlich sind (z. B. Vor- So wird es wohl jedem einleuchten, dass überall dort, dienstzeiten); wo Leben und Gesundheit anderer auf dem Spiel ste- ● Arbeitszeugnisse; hen, notwendige Fragen zum Gesundheitszustand ● Ausbildung; und/oder Gesundenuntersuchungen zulässig sind. ● Name, Wohnort, Familienstand. Vorstellbar wären hier etwa medizinische Berufe, bei denen ein Austausch von Körperflüssigkeiten zwischen Qualifizierte Fragebögen gehen über diese Angaben Menschen möglich oder sehr wahrscheinlich ist sowie hinaus und dienen dem/der (potenziellen) Arbeitgebe- Berufe in Zusammenhang mit der Herstellung von Le- rIn nicht selten dazu, Informationen über persönliche bensmitteln. Umstände oder Meinungen der Betroffenen zu erhal- Auch die Zulässigkeit einer Frage nach einer COVID- ten, aus denen sich (auch) auf deren Persönlichkeit, 19-Schutzimpfung wird von der Art der Tätigkeit ab- Unfallgeneigtheit (z. B. gefährliche Sportart als Hobby) hängen. Wer in seiner Arbeit mit besonders vulnerab- und zeitliche Verfügbarkeit (familiäre Sorgepflichten, len Personen zu tun hat, wird eine solche Frage wohl Abendschule, rege Freizeitaktivitäten) schließen lässt. wahrheitsgemäß beantworten müssen, zumal es sich Aus all diesen Informationen lassen sich für Arbeitgebe- bei COVID-19 um eine meldepflichtige Krankheit nach rInnen durchaus interessante und für die Auswahl künf- dem Epidemiegesetz handelt und eine Schutzimpfung tiger MitarbeiterInnen auch relevante Schlüsse ziehen. empfohlen wird. Dasselbe gilt für den Nachweis der Impfung. Ein solcher darf von dem/der (potenziellen) In Betrieben mit Betriebsrat sind qualifizierte Fra- ArbeitgeberIn jedoch weder kopiert noch i. Z. m. per- gebögen nur mit dessen Zustimmung zulässig sonenbezogenen Daten gespeichert werden. (§ 96 Abs 1 Z 2 ArbVG). Der Betriebsrat kann die Ver- Aber auch der Betriebsrat kann bis zu einem gewis- wendung qualifizierter Fragebögen entweder verhin- sen Grad mitbestimmen, welche Fragen der/die dern oder die Fragestellungen mitgestalten. 10
IM BETRIEBLICHEN ALLTAG G ewisse Krankenstandsdaten muss der/die Ar- transparent gemacht werden („Rating“) und ande- beitgeberIn erheben, um seinen/ihren ge- rerseits auch eine strategische Grundlage für Per- setzlichen Verpflichtungen nachzukommen. sonalentscheidungen darstellen. Bei diesen Daten handelt es sich um Beginn, Ende und Dauer des Krankenstandes sowie die Angabe, ob es Abgesehen davon, dass diese Instrumente vielseitig sich um einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit einsetzbar sind und zum Missbrauch (Disziplinierung) handelt. verleiten, zeigt die Praxis auch, dass Führungskräften oft das Bewusstsein und die soziale Kompetenz fehlen, Diese Daten sind einerseits für die Entgeltfortzahlung, die für einen angemessenen Umgang mit Kranken- andererseits auch für Sozialversicherungsträger, Be- standsdaten erforderlich sind. triebskrankenkassen und andere berechtigte Instituti- onen erforderlich. Selbstverständlich sind diese Daten Dies sollen die folgenden Maßnahmen veranschauli- auch dem Betriebsrat und allenfalls dem Arbeitsins- chen. pektorat zugänglich zu machen. ArbeitgeberInnen und Vorgesetzte haben allerdings KRANKENSTANDSRÜCKKEHRGESPRÄCHE ein erhöhtes Interesse daran, zusätzliche Informatio- nen über Krankenstände und deren Ursachen zu erhal- Hierbei handelt es sich um die Einführung verbind- ten. Als primären Zweck nennen sie den Umstand, dass licher Gespräche der ArbeitnehmerInnen mit ihren Führungskräfte nützliche Informationen zu Hintergrün- Vorgesetzten nach der Rückkehr aus dem Kranken- den krankmachender Faktoren im Arbeitsumfeld und stand (oder aus bestimmten Krankenständen) im damit Wissen für konkrete Ansatzpunkte für ein effekti- Unternehmen/Betrieb. ves betriebliches Gesundheitswesen erwerben wollen. Häufig gibt es ein standardisiertes Formular mit vor- gesehenen Fragen als Grundlage für die Gesprächs- Die Instrumente, derer sie sich bedienen, sind unter führung. Das Gespräch wird dokumentiert und von anderem beiden GesprächspartnerInnen unterschrieben. ● Krankenstandsrückkehrgespräche, Immer wiederkehrende Gesprächsvorgaben sind: ● Entgeltsysteme, die einen Anreiz für möglichst we- nige Abwesenheiten bieten ● Fragen nach dem Befinden, die auf eine Bekannt- ● systematisch aufbereitete personenbezogene gabe der Diagnose und allfälliger Folgeerkrankun- Krankenstand-Statistiken, die einerseits im Betrieb gen abzielen; 11
IM BETRIEBLICHEN ALLTAG © iStock ● Fragen nach krankmachenden Ursachen am Ar- Intimsphäre der MitarbeiterInnen eingreifen. So genü- beitsplatz (Art der Tätigkeit, Arbeitsumfeld, Bezie- gen beispielsweise Informationen über bevorstehende hungen zu KollegInnen und Vorgesetzten); Abwesenheiten (Krankenhausaufenthalt, Kur etc.), um ● Erörterung von Verbesserungsvorschlägen, den einen reibungslosen Arbeitsablauf im Betrieb zu ge- Arbeitsplatz betreffend; währleisten; das Abfragen der Diagnose ist nicht er- ● Erörterung dienstrechtlicher Konsequenzen wie z. B. forderlich. Versetzung. Gemeinsam ist diesen Formularen jedoch, dass sie die Wegen ihrer Unterschiedlichkeit sind die Formula- Qualität von Personalfragebögen haben. Wie bereits re grundsätzlich differenziert zu betrachten. Sehr im Zusammenhang mit Einstellungsfragebögen aus- häufig überschneiden sich Fragen, an denen der/die geführt, muss man daher zwischen zulässigen schlich- ArbeitgeberIn ein legitimes Interesse hat, mit Fra- ten und zustimmungspflichtigen qualifizierten Frage- gen, die über dieses Interesse hinausgehen und in die bögen unterscheiden. 12
IM BETRIEBLICHEN ALLTAG Werden die Daten auch elektronisch erfasst, muss au- ßerdem darauf geachtet werden, ob sie mit anderen Daten verknüpft werden können, zu welchem Zweck dies geschehen soll und wer Zugriff auf die Daten und Beispiel 1: Der Grad der Erreichung vorgege- allfällige Verarbeitungsergebnisse hat. Daraus erge- bener Ziele führt zu einem Prämienanteil, der ben sich weitere Zustimmungserfordernisse des/der mit der Anzahl der tatsächlich im Betrieb ver- Einzelnen und des Betriebsrates. brachten Arbeitstage multipliziert wird. Der/die ArbeitnehmerIn erhält den Prämienanteil somit Standardisierte, verbindliche Krankenstandsrückkehr- pro Anwesenheitstag im Betrieb. gespräche haben den Charakter von Kontrollmaß- nahmen. Beispiel 2: Ein Entgeltsystem, in dem sich die Höhe des leistungsbezogenen Anteils nach er- Egal, ob sie nach jedem Krankenstand oder nach be- reichten Punkten bestimmt, enthält eine „Absen- stimmten Krankenständen (z. B. nach Anzahl der Kran- zenmatrix“, die – je nach Dauer der Abwesen- kenstände im Jahr oder nach Dauer eines Kranken- heit gestaffelt – einen Punkteabzug vorsieht. standes differenziert) geführt werden, sie signalisieren kranken ArbeitnehmerInnen Misstrauen und stigmati- Absenzen werden wie folgt definiert: Jene An- sieren deren Fehlzeiten. zahl der Kalendertage, an denen sich ein/eine ArbeitnehmerIn im Krankenstand oder auf Kur ArbeitgeberInnen, die Gespräche mit ArbeitnehmerIn- befindet, wobei Absenzen von bis zu 16 Kalen- nen nach Rückkehr aus Kurzkrankenständen (z. B. an dertagen pro Jahr unberücksichtigt bleiben. Freitagen, Montagen, Fenstertagen etc.) suchen, tun Es obliegt der Führungskraft zu entscheiden, ob dies offenkundig, weil sie den Verdacht hegen, diese es berücksichtigungswürdige Gründe gibt, um in ArbeitnehmerInnen hätten „krankgefeiert“. Hier steht Einzelfällen einen Punktezuschlag von maximal es den ArbeitgeberInnen ohnedies frei, bei verdächti- 50 % des automatischen Punkteabzugs zu ge- ger Häufung solcher Kurzkrankenstände eine Kranken- währen. Dieser Punktezuschlag ist zu begründen. standsbestätigung zu verlangen. Krankenstandsrück- Die Führungskraft bewertet somit, welche Krank- kehrgespräche sind somit nicht erforderlich. heit einen Krankenstand „rechtfertigt“ und wel- che nicht. Aber auch Gespräche nach längeren Krankenstän- den erzeugen ein Klima des Misstrauens, in dem ArbeitnehmerInnen ganz unweigerlich das Gefühl be- kommen, sich für ihre Erkrankung „rechtfertigen“ zu In beiden Fallbeispielen ist der (wirtschaftliche) An- müssen. reiz, auch krank zur Arbeit zu erscheinen, groß. Krankenstände werden in der Leistungsbeurteilung als Kriterium herangezogen und führen zu einer ENTGELTSYSTEME Minderung des Einkommens. Bei den sogenannten „Anwesenheitsprämien“ han- Ein weiterer, erschreckender Aspekt: In vielen leis- delt es sich um Entgeltbestandteile, die Arbeitneh- tungsbezogenen Entgeltsystemen stehen die Prämien merInnen (nur) in jenem Ausmaß erhalten, in dem sie einer Arbeits- oder Projektgruppe zu. Sind Kranken- in einem bestimmten Zeitraum (zumeist ein Jahr) im stände ein Faktor, der die Höhe der Gruppenprämie Betrieb anwesend – also z. B. nicht krank – waren. beeinflusst, werden kranke ArbeitnehmerInnen oft zu Opfern eines unbarmherzigen Gruppenzwangs. Solche „Anwesenheitsprämien“ finden sich oft ver- steckt in sehr komplexen leistungsbezogenen Entgelt- Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat die Gefahren, die systemen. „Anwesenheitsprämien“ mit sich bringen, erkannt. Er hat sie für sittenwidrig und daher nichtig erklärt, und begründet dies wie folgt: Solche Prämien verletzen den Schutzzweck der Entgeltfortzahlungsbestimmungen. 13
IM BETRIEBLICHEN ALLTAG Das Bedenkliche an der sogenannten Anwesenheits- Ein solches System könnte, weil Persönlichkeitsrechte prämie liegt in der Anreizwirkung, dass kranke Arbeit- verletzt werden, nicht einmal durch den Abschluss nehmerInnen, um finanzielle Einbußen zu vermeiden, einer Betriebsvereinbarung „legalisiert“ werden. keine Rücksicht auf ihren Geist und Körper nehmen Außerdem widerspricht es dem strengen Regime der und „Raubbau“ mit ihrer Gesundheit treiben, indem DSGVO. Besondere personenbezogene Daten dürfen sie, statt sich daheim auszukurieren, zur Arbeit erschei- nur insoweit gespeichert und verarbeitet werden, als nen (vgl. z. B. OGH 7. 6. 2001, 9 Ob A 295/00y). dies dem legitimen Zweck entspricht (also z. B. der Er- füllung gesetzlicher Pflichten). „RATING“ Selbstverständlich müssen Unternehmen die Kranken- Im Intranet eines Unternehmens werden die stände ihrer MitarbeiterInnen aufzeichnen, um ihren Krankenstände der einzelnen MitarbeiterInnen gesetzlichen Verpflichtungen – insbesondere der in einem Dokument dargestellt, kategorisiert Entgeltfortzahlungspflicht im Krankenstand – nach- und – je nach Anzahl der Krankenstandstage – kommen zu können. in unterschiedlichen Farben gekennzeichnet: Der Zweck dieser Aufzeichnungen ist vorgegeben (Ent- 0 bis 6 Krankenstandstage werden grün, geltfortzahlung, Meldung an die Sozialversicherung etc.). Die Aufzeichnungen sind vertraulich zu behan- 7 bis 10 Krankenstandstage gelb deln und nur einem sehr beschränkten Personenkreis zugänglich zu machen. 11 bis 14 Krankenstandstage orange und In letzter Zeit häufen sich allerdings Fälle, in denen ab 15 Krankenstandstage rot unterlegt Krankenstandsaufzeichnungen in einer weit über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehenden Art und Weise Wie bei einem Ampelsystem ist auf den ersten verwendet werden. Diverse Statistiken oder „Ratings“, Blick erkennbar, wer häufig und wer eher selten die personenbezogene Krankenstandsdaten enthal- krank ist. Zugleich signalisieren die gewählten ten, werden einer betrieblichen Öffentlichkeit zugäng- Farben bereits eine Beurteilung dieser Kranken- lich gemacht und erzeugen Druck auf kranke Arbeit- standszeiten. nehmerInnen. Alle MitarbeiterInnen können in diese „Rating- Kranke ArbeitnehmerInnen werden durch dieses Sys- Liste“ Einsicht nehmen. tem „an den Pranger gestellt“. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses System eine sehr strenge Beurteilung vornimmt. Es erweckt den Eindruck, als wäre lediglich ein Krankenstand von bis zu 6 Tagen im Jahr „in Ordnung“. Bereits ab 15 Kran- kenstandstagen werden ArbeitnehmerInnen offenbar zu „Problemfällen“. Wie streng dieses System ist, zeigt die Statistik, wonach die durchschnittliche Anzahl an Krankenstandstagen in Österreich bei ca. 12 Tagen per Jahr liegt. Ein solches System ist unzulässig, weil personenbe- zogene Daten nicht nur zweckwidrig verwendet, son- dern kranke MitarbeiterInnen auch (betriebs-)öffent- lich bloßgestellt und in ihrer Menschenwürde verletzt werden. 14
BEI BEENDIGUNG DES ARBEITSVERHÄLTNISSES U m gleich mit einem weit verbreiteten Irrtum auf- Eine krankheitsbedingte Entlassung ist verschulden- zuräumen: Ein Krankenstand schützt weder sunabhängig; der/die ArbeitnehmerIn behält z. B. den vor Kündigung noch vor Entlassung. Ganz im Anspruch auf gesetzliche Abfertigung Alt. Gegenteil: In der Praxis kann man häufig beobachten, dass vermehrte Krankenstände für ArbeitnehmerIn- Eine krankheitsbedingte Kündigung von Arbeitneh- nen die Gefahr bergen, ihren Job zu verlieren. Es fällt merInnen ist stets zulässig, es sei denn, es bestünde ein auch auf, dass es immer öfter während eines Langzeit- besonderer Kündigungsschutz. krankenstandes zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses kommt. Allerdings wird im Rahmen eines Kündigungs- Im Zuge einer Kündigungsanfechtung vor Gericht oder Entlassungsanfechtungsverfahrens vor Gericht kommt es jedoch zu einer Abwägung der Interessen nicht jeder Krankenstand als berechtigter Kündigungs- beider Seiten. Nicht jeder längere Krankenstand wird oder Entlassungsgrund angesehen. Die Judikatur legt vom Obersten Gerichtshof als tauglicher Kündigungs- diesbezüglich einen strengen Maßstab an. grund angesehen. Voraussetzung dafür, dass die Kündigung auch vor Gericht hält, ist die krankheits- Ein kranker/eine kranke ArbeitnehmerIn kann krank- bedingte Unmöglichkeit des planmäßigen Einsatzes heitsbedingt entlassen werden, wenn eines Arbeitnehmers/einer Arbeitnehmerin an einem Arbeitsplatz, sofern aufgrund der betrieblichen Situ- ● die Krankheit zu einer sehr lange andauernden Ar- ation eine Überbrückung durch eine Vertretung nicht beitsunfähigkeit führt, deren Ende nicht absehbar ist, erfolgen kann. ● krankheitsbedingt eine weitere Verwendung im Un- ternehmen nicht möglich ist, In der Judikatur wurden Krankenstände von einem ● die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit aus- halben Jahr ohne Aussicht auf Wiederherstellung, von sichtslos erscheint. über eineinhalb Jahren und von 126 „Kranktagen“ als für den/die ArbeitgeberIn nicht mehr zumutbar ange- sehen. Auch Krankenstände, die über den Großteil des Arbeitsjahres hinweg gehäuft auftreten, wurden als Prägnante Entscheidungen betreffen einen Kündigungsgrund anerkannt. querschnittgelähmten Berufsfussballspieler (vgl. OGH 9 Ob A 186/93), Alkoholismus, Können krankheitsbedingte Ausfälle von Arbeitneh- der eine weitere Verwendung sinnlos macht merInnen durch organisatorische Maßnahmen beho- (vgl. OGH 8 Ob A 218/95) sowie Kleptomanie ben werden, ohne dass größere betriebliche Schwie- einer Putzfrau (vgl. OGH 9 Ob A 186/93). rigkeiten entstehen, so ist die Weiterbeschäftigung der 15
BEI BEENDIGUNG DES ARBEITSVERHÄLTNISSES erkrankten ArbeitnehmerInnen dem/der ArbeitgeberIn erfolgt. Es hängt von der Art der Erkrankung ab, ob hingegen zumutbar. Auch krankheitsbedingte Minde- beispielsweise ein Spaziergang den Heilungsverlauf rungen der Arbeitsleistung sind im Normalfall (noch) günstig oder ungünstig beeinflusst. kein Kündigungsgrund. Auf die Frage, ob ArbeitnehmerInnen im Krankenstand Aber auch kranken ArbeitnehmerInnen wird die ge- für ihren/ihre ArbeitgeberIn erreichbar sein müssen – setzliche Möglichkeit eingeräumt, ihr Arbeitsverhältnis ob sie z. B. ihr Dienst-Handy eingeschaltet haben oder unter bestimmten Voraussetzungen unter Wahrung all ihre E-Mails lesen müssen –, hat der Oberste Gerichtshof ihrer Ansprüche vorzeitig aufzulösen. eine Antwort gegeben, die zu einigen falschen Schluss- folgerungen geführt hat. Fakt ist, dass ArbeitnehmerIn- So berechtigen gemäß § 26 Angestelltengesetz nen im Regelfall nicht erreichbar sein müssen. (AngG) zwei gesundheitsbedingte Gründe den/die Angestellte/n zum vorzeitigen Austritt: ● die Unfähigkeit, die Dienstleistung fortzusetzen und ● die Unmöglichkeit, die Dienstleistung ohne Scha- Wenn der/die ArbeitnehmerIn während seines/ den für seine/ihre Gesundheit fortzusetzen. ihres Krankenstandes für die Bekanntgabe un- bedingt erforderlicher Informationen, deren Ein Austrittsgrund liegt also nicht erst vor, wenn der/ Vorenthaltung zu einem wirtschaftlichen Scha- die Angestellte gesundheitlich nicht mehr in der Lage den des Arbeitgebers/der Arbeitgeberin füh- ist, die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Es ren würde, zur Verfügung stehen muss. Dies gilt genügt, wenn bei Fortsetzung der Arbeitsleistung in allerdings nur in einem Ausmaß – etwa telefo- absehbarer Zeit ein gesundheitlicher Schaden objektiv nisch –, welches ihren Genesungsprozess nicht zu befürchten ist. beeinträchtigt. Betroffen sind in erster Linie An- gestellte in gehobener Position. Aber auch hin- Die Dienstleistung muss nicht Ursache für die Gesund- sichtlich dieses Ausnahmefalles ist der Oberste heitsgefährdung sein. Auch ein anlagebedingtes Lei- Gerichtshof strikt: Der/die ArbeitgeberIn muss den kann zum Austritt berechtigen, wenn das Weiter- nämlich konkretisieren, um welche Informatio- arbeiten den Zustand verschlechtert. Ebenso können nen es sich handelt, warum diese nicht ander- negative Begleitumstände der Arbeit sowie das Ar- weitig beschafft werden können und warum beitsklima (Mobbing) einen Austrittsgrund bilden. aus dem Fehlen der Informationen ein schwerer wirtschaftlicher Schaden entstehen würde Bevor ein kranker/eine kranke ArbeitnehmerIn sich al- (OGH 26.11.2013, 9 ObA 115/13x). lerdings dazu entschließt, vorzeitig auszutreten, sollte er/sie sich rechtlich beraten lassen. Dem/der Arbeit- geberIn muss zunächst Gelegenheit gegeben werden, einen zumutbaren Ersatzarbeitsplatz anzubieten. Au- Anzumerken ist, dass ArbeitgeberInnen vermehrt ßerdem muss der Austrittsgrund objektiv nachvollzieh- Detektivbüros auf ihre kranken MitarbeiterInnen an- bar gemacht werden (z. B. ärztliches Attest). setzen, um deren Verhalten während des Krankenstan- des zu überprüfen. In einem gewissen Rahmen sieht die Rechtsprechung diese Maßnahme als zulässig WORAUF IST WÄHREND EINES an, insbesondere dann, wenn konkrete Verdachts- KRANKENSTANDES ZU ACHTEN? momente vorliegen, der/die ArbeitnehmerIn könn- te den Krankenstand „erschlichen“ haben. Für den Der/die kranke ArbeitnehmerIn darf kein Verhalten set- Fall, dass ein Missbrauch des Krankenstandes nach- zen, das der Heilung abträglich ist. Im Zweifelsfall sind gewiesen werden kann, muss der/die Betroffene geplante Aktivitäten mit dem/der behandelnden Arzt/ die Detektivkosten, sofern angemessen, tragen Ärztin abzuklären. Diverse Gerichtsentscheidungen (OLG Linz 09.11.2016, 12 Ra 78/16a). machen deutlich, dass eine Beurteilung des Verhaltens der kranken ArbeitnehmerInnen stets einzelfallbezogen 16
RECHTE DES/DER EINZELNEN A ufgrund ihrer Stellung als Individuen genießen rIn mitzuteilen, woran sie erkrankt sind. Siehe Ausnah- ArbeitnehmerInnen Persönlichkeitsrechte. Die men in Kapitel „Es beginnt schon beim Bewerbungs- in der Verfassung gewährleisteten Grundrechte gespräch“ (Seite 10). gelten mittelbar kraft zivilrechtlicher Generalklauseln (§§ 16, 879 ABGB) auch im Arbeitsverhältnis. Der/die Die Diagnose bleibt Privatangelegenheit des/der ArbeitgeberIn hat insbesondere die Privat- und In- Erkrankten. Dies gilt im aufrechten Arbeitsverhältnis timsphäre der Beschäftigten zu respektieren und das ebenso wie im Rahmen eines Bewerbungsgespräches. Recht auf Datenschutz (DSGVO und Datenschutzge- Krankenstandsrückkehrgespräche zwischen Arbeit- setz) zu achten. Jede einzelne Arbeitsanweisung ist vor nehmerIn und Führungskraft oder sonstige Frage- diesem Hintergrund zu betrachten. stellungen zu Krankenständen sind nur zulässig, wenn sie sich in allgemeinen Fragen nach dem Befinden Selbst durch kollektive Regelungswerke wie z. B. Be- erschöpfen oder dem/der ArbeitnehmerIn auf freiwil- triebsvereinbarungen dürfen die Persönlichkeits- liger Basis Gelegenheit geben, krankmachende Fakto- rechte des/der Einzelnen nicht verletzt werden. Der ren seiner/ihrer Arbeit wie z. B. erhöhten Stress, Zugluft Regelungskompetenz der BetriebspartnerInnen sind etc. aufzuzeigen. diesbezüglich Grenzen gesetzt. Natürlich können ArbeitnehmerInnen jederzeit die Ent- Die Frage nach Krankenstandsdiagnosen verletzt scheidung treffen, die Art ihrer Erkrankung im Unter- ganz unzweifelhaft die Persönlichkeitsrechte der Ar- nehmen kundzutun. Vielen Beschäftigten erscheint es beitnehmerInnen, sofern es sich nicht um eine melde- völlig unbedenklich, ihre KollegInnen und Vorgesetz- pflichtige Erkrankung handelt, von der auch der/die ten wissen zu lassen, dass sie z. B. saisonal bedingt an ArbeitgeberIn Kenntnis erlangen muss, um seiner/ihrer Grippe, Infekten oder einer starken Verkühlung leiden. Fürsorgepflicht nachkommen zu können. Dabei müssen sie aber stets im Hinterkopf behalten, Krankenstandsdaten sind eine besondere Kategorie dass ihr freimütiger Umgang mit derart sensiblen Da- personenbezogener Daten mit sehr hohem Schutz- ten ihre weniger mitteilsamen KollegInnen in eine un- niveau nach der DSGVO. ArbeitnehmerInnen haben angenehme Situation bringt. Je mehr ArbeitnehmerIn- zwar, um das Disponieren im Betrieb zu erleichtern, die nen ihre Diagnosen bekannt geben, desto höher ist Verpflichtung Krankenstände, notwendige Behand- die Wahrscheinlichkeit, dass jene KollegInnen, die dies lungen und deren voraussichtliche Dauer unverzüg- nicht zu tun bereit sind, auf wenig Akzeptanz bei ihren lich zu melden. Diese Verpflichtung umfasst jedoch Vorgesetzten stoßen, unter Druck gesetzt werden oder nicht Angaben über die Art der Erkrankung bzw. die womöglich sogar in Verdacht geraten, an Krankheiten Art der Behandlungen. ArbeitnehmerInnen sind also zu leiden, über die man gemeinhin nicht gerne spricht grundsätzlich nicht verpflichtet, dem/der Arbeitgebe- (z. B. Geschlechtskrankheiten, psychische Erkrankungen, 17
RECHTE DES/DER EINZELNEN Aids, Krebs). Es empfiehlt sich daher schon aus Grün- Gemäß Art. 9 DSGVO ist die Verarbeitung personen- den der Solidarität, mit Angaben zur Art von Erkran- bezogener Daten, aus denen die rassische und eth- kungen sparsam umzugehen. nische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder Durch Krankenstandsrückkehrgespräche kann Druck weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerk- auf ArbeitnehmerInnen ausgeübt werden. Kranken- schaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbei- stände bzw. Kranke werden quasi stigmatisiert. Die tung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur Konsequenz ist, dass viele ArbeitnehmerInnen selbst eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, im Fall einer Erkrankung lieber arbeiten gehen als sich Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder solchen Gesprächen zu stellen. Denkbare Folgen sind der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person der Raubbau am eigenen Körper, eine damit mögli- untersagt. cherweise einhergehende Gesundheitsbeeinträchti- Verarbeitet werden dürfen solche Daten dann, wenn gung und eine Belastung unseres Gesundheitssystems der/die ArbeitgeberIn sie zur Erfüllung seiner/ihrer durch Folgeerkrankungen/chronische Erkrankungen. gesetzlichen Verpflichtungen aufzeichnen und über- Das sind exakt jene Folgen, die der Oberste Gerichtshof mitteln muss. zum Anlass genommen hat, „Anwesenheitsprämien“ Ist dies nicht der Fall, bedarf die Verarbeitung der eine deutliche Absage zu erteilen. Im Licht seiner Judi- Zustimmung des/der Betroffenen. Diese Zustimmung katur kann man daher nur zu einem Schluss gelangen: muss jeweils auf eine konkrete Datenverwendung Wenn Krankenstandsrückkehrgespräche so eingesetzt (Zweck) bezogen und frei von Zwang abgegeben wor- werden, dass Beschäftigte unter Druck geraten, sind den sein. Eine „Blankoermächtigung“ z. B. im Arbeits- sie sittenwidrig. vertrag genügt dem strengen Erfordernis der Freiwil- Darauf hinzuweisen ist, dass die DSGVO (Datenschutz- ligkeit nicht. grundverordnung der EU) und das Datenschutzgesetz Nach dem Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) hat der sogenannte „Rechte der betroffenen Person“ kennen, Betriebsrat Möglichkeiten, die Datenschutzrechte der die u. a. vorsehen, dass jeder/jede Einzelne Anspruch MitarbeiterInnen zu wahren und verbindliche Regelun- auf Auskunft darüber hat, welche Daten über die ei- gen über den Umgang mit solchen Daten im Betrieb zu gene Person der/die ArbeitgeberIn gespeichert hat, zu treffen (Betriebsvereinbarungen). welchen Zwecken diese Daten verarbeitet werden und wann ihre Löschung erfolgt. Diese Rechte umfassen In Betrieben, in denen es keinen Betriebsrat gibt, re- auch einen Anspruch auf Richtigstellung von falsch gelt das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz gespeicherten bzw. auf Löschung von unberechtigt (AVRAG), dass die Einführung und Verwendung von ermittelten Daten, auf Einschränkung der Datenverar- Kontrollmaßnahmen und technischen Systemen, wel- beitung oder auf Widerspruch. che die Menschenwürde berühren, nur mit Zustim- mung des/der Einzelnen zulässig ist. 18
RECHTE UND MÖGLICHKEITEN DES BETRIEBSRATES D a Gesundheitsdaten höchst sensible Daten Angaben über die fachlichen Voraussetzungen für die sind, sind sie der Regelungskompetenz der Be- beabsichtigte Verwendung oder die verrichtete Tätigkeit triebspartnerInnen weitestgehend entzogen. hinausgeht (§ 96 Abs 1 Z 2 ArbVG). Es ist unbestritten, dass in die Privat- und Intimsphäre der ArbeitnehmerInnen auch durch Betriebsvereinba- Allgemeine Angaben zur Person sind z. B. Name, Wohn- rung nicht wirksam eingegriffen werden kann. ort, Familienstand (soweit für die Lohnverrechnung erforderlich); Angaben über die fachlichen Voraus- Aber auch dort, wo Fragen über den Gesundheits- setzungen umfassen Auskünfte über vorangegangene zustand bzw. das Befinden der ArbeitnehmerInnen Arbeitsverhältnisse (z. B. Dienstzeugnisse), die dortige (noch) nicht in Persönlichkeitsrechte eingreifen, gibt es Verwendung und die Qualifikation des Arbeitnehmers/ oft großen Regelungsbedarf. Je nach Art und Intensität der Arbeitnehmerin. der Ermittlung und des Umgangs mit Gesundheitsda- ten räumt das Arbeitsverfassungsgesetz (ArbVG) dem Darüber hinausgehende Angaben erfordern die Zu- Betriebsrat unterschiedlich starke Kompetenzen ein. stimmung des Betriebsrates; ohne diese Zustimmung dürfen die Fragebögen nicht verwendet werden. § 96 ABS 1 Z 2 ArbVG Diese strenge Regelung trägt dem traurigen Umstand (NOTWENDIGE ZUSTIMMUNG) Rechnung, dass ArbeitgeberInnen sich oft Informati- onen über persönliche Umstände der Beschäftigten Bewerbungsgespräche, Krankenstandsrückkehrge- verschaffen wollen, an deren Geheimhaltung diese ein spräche oder periodisch stattfindende Mitarbeite- Interesse haben (persönliche Meinungen, Hobbys, Ge- rInnengespräche werden häufig an Hand von vorge- sundheitszustand). gebenen Formularen strukturiert geführt. In diesen Formularen erfolgt auch eine entsprechende Doku- Das Gesetz gibt dem Betriebsrat die Möglichkeit, die mentation. In der Regel handelt es sich bei dieser Art Verwendung solcher Fragebögen entweder gänzlich von Aufzeichnungen um qualifizierte Personalfrage- zu unterbinden (Vetorecht) oder durch den Abschluss bögen. einer Betriebsvereinbarung auf die Gestaltung des Fragenkatalogs entscheidend Einfluss zu nehmen. Für all diese Gespräche gilt gleichermaßen, dass Hierbei geht es im Wesentlichen um eine Abwägung das Führen von qualifizierten Fragebögen zwingend der betrieblichen Interessen mit jenen der Beschäftig- der Zustimmung des Betriebsrates bedarf, sofern ten. ihr Inhalt über allgemeine Angaben zur Person sowie 19
RECHTE UND MÖGLICHKEITEN DES BETRIEBSRATES Wie schon mehrfach gesagt können Fragen, die in die § 96 A ABS 1 ArbVG Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingreifen, nicht (ERSETZBARE ZUSTIMMUNG) einmal mit Betriebsvereinbarung wirksam zugelassen werden. Solche Fragen wären aus Fragebogen-Ent- Werden die im Zuge der Gespräche gewonnenen per- würfen ersatzlos zu streichen. sonenbezogenen Informationen elektronisch ermit- telt, verarbeitet und/oder übermittelt, ist die Zustim- mung des Betriebsrates gemäß § 96 a Abs 1 ArbVG § 96 ABS 1 Z 3 ArbVG dann zwingend erforderlich, wenn das System über (NOTWENDIGE ZUSTIMMUNG) die Ermittlung von allgemeinen Angaben zur Person und fachlichen Voraussetzungen hinausgeht. Ledig- Die Art und Weise, in der Krankenstandsdaten erhoben lich eine Datenverwendung in Erfüllung gesetzlicher, und verwendet werden, kann eine unzulässige Kont- kollektiver oder einzelvertraglicher Verpflichtungen ist rollmaßnahme darstellen. Berührt eine Kontrollmaß- zustimmungsfrei. nahme nämlich die Menschenwürde, kann sie ohne Zustimmung des Betriebsrates nicht rechtswirksam Ohne Betriebsvereinbarung dürfen Systeme zur au- eingeführt werden. tomationsunterstützten Ermittlung, Verarbeitung und Übermittlung von personenbezogenen Daten nicht Die Interpretation des Begriffs „Menschenwürde“ er- verwendet werden. Die Zustimmung des Betriebsrates gibt sich aus der Summe der persönlichkeitsbezoge- kann allerdings durch die Schlichtungsstelle ersetzt nen Grund- und Freiheitsrechte (z. B. Recht auf Ach- werden. tung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und Regelungsinhalt einer solchen Betriebsvereinbarung des Briefverkehrs; Vereinsfreiheit; Meinungsfreiheit). sollte sein, welche Daten erhoben und in welcher Wei- Eines dieser Grundrechte ist das Recht auf Daten- se und zu welchem Zweck sie weiterverwendet und mit schutz; Krankenstandsdaten sind äußerst sensible und anderen Daten verknüpft werden dürfen. Außerdem, somit besonders geschützte Daten. nach welchem Zeitraum diese Daten wieder zu löschen sind. Dabei sind die datenschutzrechtlichen Vorgaben Selbstverständlich ist die Menschenwürde der Arbeit- (z. B. Zweckbindung, Rechte der betroffenen Personen, nehmerInnen auch im Arbeitsverhältnis zu wahren. Datenminimierung) einzuhalten. Der/die ArbeitgeberIn ist im Rahmen der sogenannten Fürsorgepflicht dazu angehalten, die Persönlichkeit der ArbeitnehmerInnen zu schützen. Dieser Schutz § 97 ABS 1 Z 1 ArbVG umfasst auch die Individualität, d. h. die persönliche (ERZWINGBARE ZUSTIMMUNG) Entwicklung, Selbstdarstellung und Bewahrung der Eigenständigkeit. Darin besteht auch der unmittel- Werden im Betrieb für alle ArbeitnehmerInnen nach bare Bezug zum Schutz der Daten einer Person, da der Rückkehr aus dem Krankenstand (oder aus be- sich in ihnen ein Teil ihrer Individualität widerspiegelt stimmten Krankenständen) verbindliche Gespräche mit (vgl. OGH vom 20.12.2006, 9 ObA 109/06d). ihren Vorgesetzten eingeführt, so handelt es sich hier- bei jedenfalls um eine Ordnungsvorschrift. Eine Verletzung der Menschenwürde durch Kont- Solange es keine Betriebsvereinbarung gibt, kann der/ rollmaßnahmen ist jedenfalls rechtswidrig; dort, wo die ArbeitgeberIn Ordnungsvorschriften einseitig er- durch eine Maßnahme die Menschenwürde nicht ver- lassen. Ist der Betriebsrat mit der vom Unternehmen letzt, aber zumindest berührt wird, kann der Betriebsrat vorgegebenen Regelung nicht einverstanden, kann er entweder durch Verweigerung seiner Zustimmung die- den Abschluss einer Betriebsvereinbarung verlangen se Maßnahme verhindern oder durch Abschluss einer und gegebenenfalls auch über die Schlichtungsstelle Betriebsvereinbarung die Maßnahme soweit entschär- erzwingen (§ 97 Abs 1 Z 1 ArbVG). Der Entscheidung fen, dass sie die Grundrechte der ArbeitnehmerInnen der Schlichtungsstelle kommt die Qualität einer Be- nicht mehr gefährdet. triebsvereinbarung zu. Dass standardisierte, verbindliche Krankenstandsrück- Ordnungsvorschriften regeln das Verhalten der kehrgespräche Kontrollmaßnahmen darstellen, wurde ArbeitnehmerInnen im Betrieb. Bei Abschluss ei- bereits ausführlich erläutert. ner Betriebsvereinbarung geht es also in erster Linie 20
RECHTE UND MÖGLICHKEITEN DES BETRIEBSRATES darum, Spielregeln zu finden, institutionalisierte Kran- ihm muss auch Einsicht in bezughabende Unterlagen kenstandsrückkehrgespräche zu einem sinnvollen in- gewährt werden. Den/die ArbeitgeberIn treffen außer- nerbetrieblichen Instrument zu machen, das es Arbeit- dem einige spezielle Informationspflichten. nehmerInnen ermöglicht, auf freiwilliger Basis, ohne Des Weiteren hat der/die ArbeitgeberIn mit dem Be- Druck und in entspannter Atmosphäre krankmachen- triebsrat über die beabsichtigte Bestellung oder Ab- de Faktoren am Arbeitsplatz aufzuzeigen und Wünsche berufung von Sicherheitsfachkräften, Arbeitsmedizi- hinsichtlich ihrer Arbeit (z. B. Arbeitszeitreduktion zum nerInnen sowie von Personen zu beraten, die für die Stressabbau) zu äußern. Erste Hilfe, die Brandbekämpfung und Evakuierung zuständig sind. Der Betriebsrat hat das Recht, den/ die ArbeitsinspektorIn zu den Beratungen beizuzie- § 97 ABS 1 Z 8 UND 9 ArbVG (FREIWILLIGE hen. Die Beratungspflicht entfällt nur dann, wenn die BETRIEBSVEREINBARUNG) beabsichtigte Maßnahme im Arbeitsschutzausschuss behandelt wird. In diesem Ausschuss sind nämlich Weiters gibt das Arbeitsverfassungsgesetz dem Be- auch Mitglieder des Betriebsrates vertreten. Eine ohne triebsrat die Möglichkeit, im Einvernehmen mit dem/ Beratung mit dem Betriebsrat oder Behandlung im Ar- der BetriebsinhaberIn ein betriebliches Gesundheits- beitsschutzausschuss vorgenommene Bestellung von wesen zu etablieren, dessen Ausgestaltung das ge- Sicherheitsfachkräften und ArbeitsmedizinerInnen ist samte Spektrum von Präventivmaßnahmen (Gesund- rechtsunwirksam. Einige seiner Befugnisse kann der heitsförderung) bis zu Regeln für den Umgang mit Betriebsrat mit Beschluss an die Sicherheitsvertrau- bereits erkrankten ArbeitnehmerInnen (Wiederherstel- enspersonen im Betrieb delegieren. lung der Gesundheit) umfassen kann. Das Arbeitsverfassungsgesetz spricht insbesondere Mehr zum ArbeitnehmerInnenschutz ist im Kapitel von Maßnahmen und Einrichtungen zur Verhütung von „Gesundheit und Prävention im Betrieb“ zu finden Unfällen und Berufskrankheiten sowie Maßnahmen (Seite 23 ff.). zum Schutz der Gesundheit der ArbeitnehmerInnen (Z 8) und von Maßnahmen zur menschengerechten Arbeitsgestaltung (Z 9). „KOLLISION“ VON RECHTSGRUNDLAGEN Maßnahmen zur menschengerechten Arbeitsgestal- tung sollen das Wohlbefinden der ArbeitnehmerInnen Es kommt immer wieder vor, dass in einem konkreten Fall im Betrieb fördern und sind umfassend zu verstehen. die Voraussetzungen für zwei oder mehrere der oben Fragen des Betriebsklimas und der Personalführung angeführten Ermächtigungen, eine Betriebsvereinba- können ebenso Inhalt solcher Betriebsvereinbarungen rung abzuschließen, vorliegen. Eine Betriebsvereinba- sein, wie die Gestaltung des Arbeitsplatzes, die Art der rung kann ohne weiteres auf mehrere Gesetzesgrund- zur Verfügung stehenden Betriebsmittel oder die Ar- lagen gestützt werden, wobei jene, die dem Betriebsrat beitsorganisation. das stärkste Mitwirkungsrecht einräumt, die führende ist. Ideen finden sich unter Abschnitt „Themen und Instru- Wenn ArbeitgeberInnen gelegentlich argumentieren, mente bei der betrieblichen Gesundheitsförderung“ sie dürften dem Betriebsrat aus datenschutzrechtli- (Seite 25 ff.). Eine solche Betriebsvereinbarung ist chen Gründen keine personenbezogenen Daten der nicht erzwingbar. MitarbeiterInnen zur Verfügung stellen bzw. müssten keine Betriebsvereinbarung mit ihm schließen, irren sie. Die Mitwirkungsrechte des Betriebsrates werden § 92 A ArbVG (ARBEITSSCHUTZ) durch das Regime der DSGVO nicht berührt. Dies ge- währleistet u. a. eine sogenannte „Öffnungsklausel“ in Wichtig ist in diesem Zusammenhang außerdem Art. 88 DSGVO (Datenverarbeitung im Beschäftigungs- § 92 a ArbVG (Arbeitsschutz). Der/die Arbeitgebe- kontext). Aufgrund der „Öffnungsklausel“ können im rIn hat den Betriebsrat in allen Angelegenheiten der Recht der Mitgliedstaaten oder in Kollektivvereinba- Sicherheit und des Gesundheitsschutzes rechtzeitig rungen (einschließlich „Betriebsvereinbarungen“) anzuhören und mit ihm darüber zu beraten. Dabei spezifische Vorschriften für die Verarbeitung per- handelt es sich um eine Generalklausel. Der Betriebs- sonenbezogener Beschäftigtendaten im Beschäfti- rat hat nicht nur ein Anhörungs- und Beratungsrecht, gungskontext vorgesehen werden. 21
GESUNDHEIT UND PRÄVENTION IM BETRIEB A rbeitgeberInnen tragen weitreichende Verant- Gesundheitsmanagements, werden im Folgenden wortung für den Schutz der Gesundheit und überblicksmäßig dargestellt. der Sicherheit ihrer Beschäftigten. Eine Legi- Weitergehende Informationen finden sich u. a. in der timation für einen oftmals bedenklichen Umgang mit Broschüre „Psyche in der Krise – Unterstützung, Lösun- Krankenstandsdaten lässt sich daraus aber in keiner gen und Präventionsmaßnahmen im Betrieb“. Weise ableiten, auch wenn dies ArbeitgeberInnen mit der Begründung, ein effektives betriebliches Gesund- heitssystem etablieren zu wollen, oftmals versuchen. ARBEITSPLATZEVALUIERUNG Vielmehr baut ein solches System auf funktionierenden Strukturen im ArbeitnehmerInnenschutz auf. Eine um- Das ArbeitnehmerInnenschutzgesetz (ASchG) ver- fassende Sichtweise auf das Thema Gesundheit und pflichtet ArbeitgeberInnen zum Schutz der Sicherheit Prävention erfordert über die Erfüllung der gesetzli- und Gesundheit der MitarbeiterInnen. Dafür ist es not- chen Vorgaben aus dem ArbeitnehmerInnenschutz wendig, die bestehenden Gefahren und Gesundheits- hinaus aber auch Maßnahmen und Programme zur risiken zu ermitteln und geeignete Schutzmaßnah- betrieblichen Gesundheitsförderung (BGF) wie auch men festzulegen. Dieser als Arbeitsplatzevaluierung zur Wiedereingliederung von Beschäftigten nach ei- bezeichnete Prozess ist das Kernstück im Arbeitneh- nem längeren Krankenstand. merInnenschutz. Er zielt darauf ab, durch ein syste- matisches und organisiertes Vorgehen, Belastungen Bei der Umsetzung von Vorschriften zum Arbeitneh- und Risiken zu minimieren und dadurch eine laufende merInnenschutz ist die Erhebung von Krankenstands- Verbesserung der Arbeitsbedingungen zu erreichen. In daten weder zweckmäßig noch legitim, geht es doch § 4 ASchG sind die dafür geltenden Anforderungen hier immer um die Verbesserung von Arbeitsbedin- und Grundsätze geregelt. gungen und nicht um die Entwicklung individueller Gesundheitsmaßnahmen. Das gilt auch bei der be- Seit 2013 ist im ASchG klargestellt, dass unter Gesund- trieblichen Gesundheitsförderung. Werden in diesem heit sowohl physische wie auch psychische Gesundheit Zusammenhang Erhebungen durchgeführt, etwa zur zu verstehen ist. In Konsequenz trägt der/die Arbeitge- Arbeitszufriedenheit, muss jedenfalls Anonymität ge- berIn die Verantwortung, auch psychische Belastun- währleistet sein. gen zu evaluieren. Das bedeutet, dass etwa die Gestal- tung der Arbeitsaufgaben und die Art der Tätigkeiten, Die einzelnen Prozesse und Instrumentarien, die in der Arbeitsumgebung, der Arbeitsabläufe sowie der der betrieblichen Präventionsarbeit maßgeblich Arbeitsorganisation zu berücksichtigen und hinsicht- sind sowie die Pfeiler innerhalb eines betrieblichen lich möglicher Gesundheitsrisiken zu beurteilen sind. 22
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