KRITIK Goethes Werther im Digitalzeitalter FSJK Wie es das Leben verändern kann SCHLÜSSELERLEBNISSE Zehn Kulturschaffende erzählen WAS KUNST KANN ...

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Magazin der LAG Kinder- und Jugendkultur Hamburg                    Sommer 2021

             KRITIK Goethes Werther im Digitalzeitalter
             FSJK Wie es das Leben verändern kann
             SCHLÜSSELERLEBNISSE Zehn Kulturschaffende erzählen
             WAS KUNST KANN Dr. Julia F. Christensen im Interview
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Inhalt

03   Editorial                                                          Herausgeber
		   Heike Roegler
                                                              LAG Kinder- und Jugendkultur e.V.

                                                               www.kinderundjugendkultur.info
                                                             Ehrenbergstraße 51, 22767 Hamburg
04   Schlüsselerlebnisse
                                                                 Telefon: 040 - 524 78 97 10
		   Zehn Kulturschaffende berichten
                                                       Die LAG Kinder- und Jugendkultur vernetzt die
                                                     Hamburger Akteur*innen und vertritt die Interessen
15   Warum tut Kultur gut?                           ihrer Mitglieder gegenüber Politik und Verwaltung.
     Dr. Julia F. Christensen erklärt es
                                                    Redaktion: Christine Weiser, Claas Greite, Dörte Nimz
                                                                 Grafik: Meike Gerstenberg
                                                               Das nächste Heft erscheint im
18   Kritik
                                                                       September 2021
		   punktlive spielt werther.live
                                                               www.kinderundjugendkultur.info

                                                      Gefördert von der Behörde für Kultur und Medien
19   Freiwilliges Soziales Jahr Kultur
                                                            der Freien und Hansestadt Hamburg.
		   Drei Ehemalige erzählen
                                                                         Bildnachweise:
                                                       Titel: Meike Gerstenberg, Seite 3: privat, Seite 4:
21   Serie                                           Meike Gerstenberg, Seite 5: Sinje Hasheider, Seite 6:
		   Die Landesvereinigung Kulturelle                 privat, Seite 7: Helge Krückeberg, Seite 8: TIDE TV,
		   Jugendbildung Berlin e.V.                      Seite 9/10: privat, Seite 11: Seiteneinsteiger e.V., Seite
                                                     12: privat, Seite 13: Nepomuk Derksen, Seite 14: pri-
                                                    vat, Seite 15: Mansur Nazali, Seite 17: Thomas Dashu-
23   Meldungen                                      ber, Seite 19: privat (2), Seite 20: TIDE/Timo Remmers,
                                                    privat, Seite 22: LKJ Berlin, Seite 23: Raoul Doré, Seite
                                                     24: Lukulule e.V., Brakula, BKJ, Bunte Kuh e.V., Vorle-
24   Tipps                                                      severgnügen, StockSnap/Pixabay.

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E D I TO R I A L

                               Hoffnung in Zeiten
                                 der Pandemie
                                                              TEXT: HEIKE ROEGLER

                                                                                  einfach so gut, weil sie Teilhabe ermöglicht, Interessen weckt, hilft, Stär-
„Zuviel des Guten kann wundervoll sein.“ (Mae West)
                                                                                  ken zu finden. Kultur hilft, Möglichkeiten zu entdecken, und öffnet Per-
                                                                                  spektiven. Sie baut Brücken. Kultur hat die Kraft zur Transformation, die
Was haben wir uns dabei gedacht, zum Sommer ein Heft zu dem Thema
                                                                                  wir für die Zukunft brauchen.
„Kultur tut gut“ zu machen? Es ist vielleicht ein besonders sehnsüchtig
erwarteter Sommer für viele von uns. Es gibt Hoffnung auf Lockerun-
                                                                                  Ich wünsche allen einen wundervollen Sommer. Erholen Sie sich und
gen in Pandemiezeiten. Ferien stehen an. Der Wunsch, durchzuschnau-
                                                                                  genießen Sie den Sommer mit möglichst viel Kultur. Sie tut uns allen
fen und sich etwas gehen lassen zu können, scheint erfüllbar. Ich per-
                                                                                  so gut.
sönlich stelle mir vor, wie ich draußen in einem Buch lese und versun-
ken bin. Ich träume von einem Theaterstück im Freien, wünsche mir ein
Konzert. Es macht mich ganz kribbelig, wenn mir das alles in den Sinn
kommt. Es hat etwas Verheißendes.

Auch zu Hochzeiten der Pandemie war die Kultur nie weg. Sie hat mich
im Lockdown weiter mit anderen Menschen verbunden und berührt.
Gleichwohl freue ich mich auf mehr Kultur, auf gemeinsame Erlebnisse,
die die digitalen Begegnungen ergänzen. Der Hamburger Kultursom-
                                                                                                       HEIKE ROEGLER
mer kommt dazu gerade recht. Für diese kju-Ausgabe haben wir Kultur-
schaffende und Jugendliche nach besonderen Erlebnissen gefragt, die
                                                                                  Heike Roegler leitet die Bildung und Vermittlung im Altonaer
sie mit Kultur hatten. Ihre Geschichten, die von besonderen Momenten
                                                                                  Museum und Jenisch Haus für die Stiftung Historische Museen
und ihrer starken Wirkung erzählen, stehen im Mittelpunkt und laden
                                                                                  Hamburg. Freiberuflich übernimmt sie Arbeiten in der Leseförde-
ein, Wohlbefinden zu erzeugen.
                                                                                  rung, oft als Dozentin für das Feld der digitalen Lesewelten. Als Vor-
                                                                                  stand der LAG ist sie u.a. Ansprechpartnerin für den Bereich Politik,
Wir wissen es und sollten uns trotzdem einfach auch einmal die Zeit
                                                                                  Diversität sowie Teil des Redaktionsteams des kju-Magazins.
gönnen, uns die Freude unserer Arbeit vor Augen zu führen. Kultur tut

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Zehn Kulturschaffende erzählen von
 persönlichen Schlüsselerlebnissen

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Als die Chipstüte
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Klaus Schumacher, Künstlerischer                  war aufmerksam, folgte der Geschichte, in der     entstand nicht, weil sie ermahnt wurden, son-
Leiter des Jungen Schauspielhauses                zunächst der Alltag des männlichen Jugendli-      dern weil hier jemand, den sie mochten, um
                                                  chen gezeigt wird, der in den Tag hineinlebt,     seine Geschichte kämpfte und ihr einen Wert
Im Jahr 2006 haben wir mit dem Jungen             mit seiner Gang abhängt, viel Mist macht.         gab. Und von da an lauschte wirklich jede*r
Schauspielhaus das Stück „Sagt Lila“ auf die      Dann verliebt er sich in das Mädchen Lila, die    gebannt. Das Ensemble führte das Publikum
Bühne gebracht, nach dem gleichnamigen            eine Art Engelsgestalt mit sehr derber Sprache    sehr leicht durch den Rest der Vorstellung.
Roman eines Autors, der sich nur „Chimo“          ist. Wir hatten ein fantastisches Ensemble, das   Jeder Satz erzeugte Resonanz. Es ging um
nennt. Der Text erzählt eine Liebesgeschichte     sich das Stück wirklich zu eigen machte, es auf   Liebe und Tod in unmöglichen Verhältnissen
zwischen zwei Jugendlichen, die in der Pari-      der Bühne lebte, mit Renato Schuch und Julia      mit wunderbaren, rauen Helden.
ser Banlieue leben. Der Schweizer Regisseur       Nachtmann als Protagonist*innen. Bei dieser
Daniel Wahl inszenierte das Stück, das wir im     einen Vorstellung gab es einen ganz besonde-      Am Ende gab es den schönsten Applaus, den
Malersaal aufführten. Wir wollten mit dem         ren Moment. Die männliche Hauptfigur erzählt      man sich nur vorstellen kann. Einen Applaus,
Stück durchaus Jugendliche aus allen Schich-      gerade von den schlimmen Umständen, unter         der nichts mit Konventionen und Höflichkeit
ten erreichen. Das ist unser Anspruch: Wir        denen Lila starb. Renato Schuch stand im Zen-     zu tun hatte. Eine regelrechte kurze Explosion.
wollen Schwellenängste abbauen und ein Pro-       trum, da knisterte plötzlich eine Chipstüte im    Dieser Moment zeigte mir, was Geschichten
gramm anbieten, das alle meint. „Sagt Lila“ ist   Publikum. Das ist bei so einem Publikum gar       tatsächlich können: Grenzen überwinden und
ein Stoff, mit dem das möglich ist. Im Publi-     nicht mal so unüblich und normalerweise auch      Menschen zusammenbringen.
kum saßen bei vielen Vorstellungen Jugendli-      in Ordnung. Aber Renato unterbrach sein Spiel
che, bei denen der Ton rauer, das Leben durch-    und sagte ins Publikum: „Hey, wenn du jetzt
aus härter ist.                                   Chips isst, dann verpasst du was!“

Eine der Vorstellungen stach heraus, die werde    Es herrschte absolute Stille. Im Publikum gab
ich nie vergessen. Wir merkten an dem Tag von     es ein regelrechtes Erschrecken über Renatos
Anfang an, dass es funktionierte. Das Publikum    direkte Ansprache. „Der meint das.“ Die Stille      JUNGESSCHAUSPIELHAUS.DE

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Wie ich zur Lockerheit
beim   Clara Paulick, 17, Stipendiatin der              ten große Flächen malen. Na herrlich. Es ist

Malen
       Lichtwark-Gesellschaft Hamburg                   echt anstrengend, macht keinen Spaß und
       e.V.                                             sieht auch nicht gut aus. Mir wird immer wie-
                                                        der gesagt, ich solle nicht so viel basteln,
       Im vergangenen Jahr habe ich ein Stipendi-       einfach mal locker lassen. Aber ich fand,

fand
       um der Lichtwark-Gesellschaft für die Talent-    das sah nicht gut aus. Irgendwie sah in die-
       schmiede bekommen, einen einjährigen Kursus      sem Moment gar nichts mehr gut aus. Was
       für Begabtenförderung, der von der Künstlerin    machte ich denn hier? Schon wieder wird
       Adriane Steckhan an der Hochschule für Ange-     mir gesagt: Nicht so viel basteln! Lass doch
       wandte Wissenschaften (HAW) geleitet wird.       mal locker!

       Das Kunststipendium war anders als der Kunst-    Schließlich habe ich die Stifte genommen und
       unterricht in der Schule. Ich habe dort Leute    wütend auf dem Blatt herumgekritzelt. Ein-
       kennen gelernt, die genauso motiviert waren      fach nur die Stifte über das Blatt geschrappt.
       wie ich. Wir konnten uns auf Augenhöhe über      Ich habe nicht mehr gebastelt, sondern die
       unsere Kunst unterhalten. Auch die Aufgaben,     Stifte einfach unkontrolliert über das Blatt flie-
       die wir bekommen haben, waren viel freier.       gen lassen. Und das war der Moment, an dem
       Man konnte zeichnen, worauf man Lust hatte,      ich für mich entdeckt habe, was Malen über-
       mit den anderen über seine Zeichnungen reden     haupt bedeutet. Ich hatte mir bei diesem wüten-
       oder sich gegenseitig porträtieren.              den Bild überhaupt keine Gedanken über das
                                                        Ergebnis gemacht, sondern einfach nur aus
       Aber dann sollte ich malen. Nicht zeich-         dem Moment heraus gehandelt. Und gerade
       nen, sondern malen. Wegen des Lockdowns          das machte dieses Bild so lebendig. Dieses Bild
       mussten wir aber in Räume mit Parkettbo-         drückte etwas aus. Man konnte sehen, was ich
       den umziehen, in denen wir keine Farben          dabei gefühlt hatte. Seitdem habe ich verstan-
       benutzen durften. Wie sollte ich also malen,     den, was es bedeutet, wenn man sagt, ein Bild
       ohne Farbe? Nur mit Buntstiften? Dann eben       drücke etwas aus.
       ohne Farbe malen. Was auch immer Adria-
       ne damit gemeint hatte. Ich fing einfach an,     Ich habe an diesem Tag zu einer Lockerheit
       ein Gesicht zu zeichnen. Mit Buntstiften. Aber   gefunden, die ich auch später beim richtigen
       ich sollte doch malen. Mache ich das nicht       Malen beibehalten habe. Für mich bedeu-
       die ganze Zeit? Was ist Malen überhaupt?         tet Zeichnen seitdem, etwas darzustellen;
       Hauptsache es ist farbig, oder nicht? Ich soll   was ich aber male, wirkt auf mich lebendig.
       jetzt keine Linien mit dem Stift machen, son-
       dern Flächen. Ich sitze vor einem riesigen
       Blatt Papier und soll mit winzigen Buntstif-      LICHTWARKGESELLSCHAFT.DE

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Wenn der Funke überspringt
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                                                                                                 ballverein. Es waren ganz, ganz besondere
                                                                                                 Gespräche. Zusätzlich haben die Musiker*in-
                                                                                                 nen zwischendurch kurze Duette vorgetra-
                                                                                                 gen; ein kleines Live-Musik-Erlebnis gab es
                                                                                                 also noch dazu. Die Künstler*innen waren
                                                                                                 begeistert und die Lehrkräfte ebenfalls. Das
                                                                                                 war sehr schön für uns, gerade in dieser Zeit,
                                                                                                 in der man sehr wenig direktes Feedback für
                                               in die Kaistudios der Elbphilharmonie bege-       seine Arbeit erhält. Der anschließende Kon-
                                               ben, von dort aus haben wir eine Live-Schal-      zertbesuch wurde durch ein digitales Angebot
Franziska Embach, Mitarbeiterin der            te ermöglicht. Vor der Kamera saßen jeweils       ersetzt: Die Kinder konnten zu Hause oder in
Education-Abteilung der Elbphilhar-            zwei Künstler*innen und eine Mitarbeite-          der Klasse einen Konzertmitschnitt ansehen.
monie                                          rin der Education-Abteilung. Technisch war
                                               das eine gewisse Herausforderung und wir          An einigen der Künstlerbegegnungen habe ich
In diesem Frühjahr haben wir das Format        haben uns auch gefragt, ob der Funke auf          selbst teilgenommen und auch mir haben die
„Künstlerbegegnungen“ neu eingeführt.          diese Weise wohl überspringen würde. Aber         Kinder Fragen gestellt. Ein Schüler wollte wis-
In dem Format bringen wir Schulklassen         erstaunlicherweise tat er das. Die Künstlerbe-    sen, warum ich meinen Beruf gewählt habe,
von Klassenstufe 2 bis 7 mit Musiker*innen     gegnungen waren jeweils ein richtiges High-       warum ich Musikvermittlerin geworden bin.
zusammen. Die Schulklasse schaut zuerst zur    light für die Schulkinder, die ja auch zu Hause   Ich antwortete ihm, dass ich mit Musik auf-
Vorbereitung ein Einführungsvideo zu einem     vor ihren Bildschirmen saßen. Sie waren toll      gewachsen bin und dass es für mich immer
Konzert, das wir produziert haben. Dann        vorbereitet, einige hatten für dieses Treffen     ein riesiges Glück war, sie zu haben. Deshalb
wollten wir zusammen mit der*dem Musi-         sogar Bilder gemalt. Und die Kinder stellten      habe ich mich entschieden, dass ich möglichst
ker*in die Schulklasse besuchen, die sich      unglaublich viele Fragen. Sie wollten zum         vielen Menschen auch dieses Glück ermög-
anschließend ein Konzert in der Elbphilhar-    Beispiel wissen, welche Vorbilder die Musi-       lichen möchte. Bei den Künstlerbegegnun-
monie ansehen sollte. Aber in Pandemie-Zei-    ker*innen haben oder wie es sich anfühlt,         gen wurde mir klar, dass das wirklich gelingt:
ten lief natürlich manches anders, als wir     eine bestimmte Melodie zu spielen. Ande-          dass der Funke überspringt und Kinder sich für
uns das überlegt hatten. Die Besuche in den    re fragten, wie die Künstler*innen mit Ner-       Musik begeistern. In solchen Momenten wird
Schulen haben wir im März noch durchge-        vosität umgehen – das sind ja Herausforde-        mir klar, was der Sinn meiner Arbeit ist.
führt, mit einem Hygienekonzept. Danach        rungen, die sich auch dann stellen können,
waren nur noch digitale Treffen möglich. Wir   wenn man in einer Schulband spielt. Es gab
haben uns also für jede Künstlerbegegnung      auch sehr viele persönliche Fragen, wie zum              ELBPHILHARMONIE.DE

                                                                     7
Die Sendung meines Lebens
    Jonas Apel 19, Redaktionsmitglied                   Irgendwann war es dann so weit, im Studio
    von Schnappfisch                                    waren die Vertreter*innen der Parteien, meis-
                                                        tens selbst noch ziemlich junge Leute. Ich habe
    Seit 2017 bin ich Mitglied im Team von              gemeinsam mit meinem Kollegen Jennik mode-
    Schnappfisch, das ist die Jugendredaktion           riert und war viel angespannter als sonst. Auf-
    von Hamburgs Community-Sender Tide. Wir             geregt bin ich sonst nie, ich habe eigentlich
    machen zusammen Hörfunk- und TV-Beiträge            schon Routine. Aber dieses Mal war es anders,
    sowie Podcasts. Zwischen fünf und zehn Leu-         man weiß ja, Politiker*innen sind rhetorisch
    ten sind normalerweise dabei – je nachdem,          stark und im Wahlkampfmodus. Da muss man
    wie viel Arbeit gerade für die Schule anfällt. Es   sich als Moderator durchsetzen. Wir hatten
    gibt einen guten Teamgeist, jede*r hat seine        das vorher in Trainings geübt. Als es dann los-
    Aufgabe, jede*r kann sich auf jede*n verlas-        ging, war die Gesprächsatmosphäre eigent-
    sen. Bei Schnappfisch mitzumachen, das ist          lich recht entspannt – mich erstaunte, wie
    eine einzigartige Erfahrung – wo kann man           freundlich und nett die Vertreter*innen mitei-
    sonst schon als Schüler*in mit Profi-Equipment      nander umgingen. Wenn zu viel geschwafelt
    in einem echten Studio arbeiten? Die tech-          wurde, haben wir als Moderatoren eingehakt.
    nischen Dinge wie Ton, Kamera und Schnitt           Ich wurde im Laufe der Aufzeichnung mutiger
    machen bei uns aber eher andere Redaktions-         und bin am Schluss mit einem sehr zufriedenen
    mitglieder, mein Ding ist die Moderation. Und       Gefühl rausgegangen.
    die Recherche von Beiträgen. Am besten finde
    ich es, wenn man richtig lange an einer großen      Unsere Wahlsendung war nicht nur unser bisher
    Sache arbeitet, die einem am Anfang erst ein-       größtes Projekt, sie war mit 44 Minuten auch
    mal irrwitzig vorkommt. Ein Beispiel dafür ist      doppelt so lang wie unsere üblichen Beiträge.
    unsere Sendung zur Hamburger Bürgerschafts-         Manchmal werden wir auf der Straße oder pri-
    wahl, die wir Anfang 2020 gemacht haben.            vat darauf angesprochen, das macht einen dann
    Das war uns extrem wichtig. 2019 war ja ein         schon stolz. Uns hat das als Team zusammenge-
    sehr politisches Jahr, Stichwort: „Fridays for      schweißt und mir noch mal klar gemacht, was
    Future“. Wir haben vorher sehr lange geplant        ich nach der Schule machen möchte: Ich will in
    und überlegt. Schließlich haben wir beschlos-       den politischen Journalismus gehen.
    sen, Vertreter*innen aller Parteien in der Bür-
    gerschaft einzuladen.                                              TIDENET.DE

                           8
Fernanda Ortiz, Künstlerische                      dem Stuhl steht ein Laptop, auf dem Laptop-
          Leiterin des K3 Jugendclubs am                     Bildschirm tanzt der Jugendklub. Auf dem Dis-
          K3 Zentrum für Choreografie                        play sehe ich nach über einem Jahr die Höhen
          Tanzplan Hamburg                                   und Tiefen einer*s jeden von uns. Ein Jahr Pan-

Tanzen,
                                                             demie. Die Welt bleibt stehen und dreht sich
          Ich sitze allein zu Hause vor dem Computer         weiter. Für manche schneller als für andere.
          und warte auf den Jugendklub. Es ist März          Ich sehe die kleinen Kacheln der Zoom-Mee-
          2020 und nichts wird so sein, wie wir es kann-     tings, in denen verschiedene junge Menschen

 als ob
          ten, nur wissen wir das noch nicht. Trotz der      gemeinsam tanzen möchten – mit strahlenden
          Ungewissheit kommt der Jugendklub voller           Gesichtern oder nach einem miesen Tag, nach
          Energie und tanzt, als ob es kein Morgen gäbe.     dem sechsten Zoom-Meeting oder nach den
          Es bleiben das Zusammengehörigkeitsgefühl          Abi-Vorbereitungen.

es kein
          und eine improvisierte Handy-Videoaufnahme,
          die ein paar Monate später im Video ABOUT Z        Ich erinnere mich an eine nicht allzu ferne Zeit,
          im K3 Magazin veröffentlicht wird.                 in der der schwarze Tanzteppich einfach ein
                                                             schwarzer Tanzteppich ohne weißes Tape und

Morgen
          Spätsommer 2020: Ich stehe allein in einem         ohne acht Bereiche war, auf dem man über-
          leeren Tanzstudio. Der schwarze Tanzteppich        all tanzen durfte. Ich erinnere mich an nah
          ist mit weißem Tape in acht Bereiche unterteilt.   beieinander tanzende Menschen, Körper, die
          In jedem Bereich gibt es ein Kreuz und um das      schwitzen durften und meiner Überzeugung

  gäbe
          Kreuz gibt es einen gestrichenen Kreis, in dem     nach durch Tanzen verschiedene Beziehungen
          man tanzen darf. Ein Gerät misst den Kohlen-       zu sich selbst und zur Welt um sich herum auf-
          dioxid-Gehalt in der Raumluft. Wir müssen 2,5      bauen konnten.
          Meter Abstand halten und dürfen nicht schwit-
          zen. Wenn ich nicht wüsste, dass dies der ein-     Eine Tanzimprovisation vorbereiten. Passende
          zige Weg ist, uns wiederzusehen, würde ich         Musik für ungewisse Zeiten suchen. Ich warte
          denken, es ist ein Science-Fiction Film. Oder      auf den Jugendklub. Wir tanzen zusammen, als
          ein einziger Albtraum.                             ob es kein Morgen gäbe.

          Frühjahr 2021: Ich tanze allein in einem leeren
          Tanzstudio. Auf einem Tisch steht ein Stuhl, auf              K3-HAMBURG.DE

                                 9
Zirkus ist
                                                         Verständigung
                                                         ohne Sprache
Marlene Ganz, 19, Artistin im                     und präsentiert. Die Atmosphäre ist immer        polnischen Hauptstadt Warschau: Wenn wir
Circus Rotznasen                                  toll. Als Kind habe ich diese Fahrten geliebt    mit gleichaltrigen Jugendlichen zusammen-
                                                  und mein Zuhause keine Sekunde vermisst.         kamen, brauchte es keine Sprachkenntnis-
Zirkus ist für mich Gemeinschaft. Er schafft      Heute begleite ich als Trainerin diese Reisen    se. Die Verständigung klappt trotzdem sofort,
sofort ein Verbundenheitsgefühl, er lässt Frei-   und darf beobachten, wie auch zurückhal-         wenn man die gleiche Begeisterung für etwas
räume, in denen man sich ausprobieren, etwas      tendere Kinder in dieser Zeit aufblühen. Wie     teilt. Natürlich ist es spannend zu sehen, wie
lernen und andere Menschen kennenlernen           sie mutiger und selbständiger werden und         andere Gruppen arbeiten, ihr Repertoire ken-
kann. Seit meinem sechsten Lebensjahr trai-       ihre ganz persönlichen Erfolgserlebnisse sam-    nenzulernen. Aber meist bleibt es nicht dabei,
niere ich einmal die Woche beim Circus Rotz-      meln. Jeder Auftritt vor Publikum kostet Über-   sich nur gegenseitig das eigene Programm
nasen. Ich habe verschiedene Disziplinen aus-     windung, aber bislang hatten wir nie negative    vorzuführen. Richtig toll ist es immer dann,
probiert, Jonglieren und Einradfahren zum Bei-    Rückmeldungen, sondern immer das Gefühl,         wenn man gemeinsam etwas Neues erarbei-
spiel. Aber ich habe schnell gemerkt, dass mir    den Menschen eine Freude gemacht zu haben.       tet. In Polen beispielsweise haben die Jugend-
Akrobatik am meisten Spaß macht, gern auch                                                         lichen Musikstücke zu unseren Zirkusnum-
zu zweit oder am Vertikaltuch.                    Schlüsselerlebnisse für mich waren unsere        mern geschrieben und aufgeführt. Das war
                                                  internationalen Zirkusreisen. Diese Fahrten,     beeindruckend. Die Erinnerung daran, wie
Alle zwei Jahre geht es im Sommer für Kin-        bei denen wir oft Zirkusgruppen besuchen,        wir gemeinsam Volkstänze einstudiert haben,
der ab neun Jahre auf Zirkusreise durch Nord-     sind etwas ganz anderes als ein Urlaub mit       bleibt für immer.
deutschland. Das große Zirkuszelt kommt mit,      Familie oder Freunden. Es ist etwas, was
ein Küchenwagen und alles, was wir brauchen.      nur denen gehört, die mitfahren. Egal ob in
Zwei Wochen lang wird gemeinsam trainiert         Cornwall in England oder in der Nähe der               CIRCUS-ROTZNASEN.DE

                                                                       10
Eine Zeit, die den
                                                  Blick für das
                                                  Wesentliche schärft
Nina Kuhn, Geschäftsführender                     gung war groß, und an den vielen Kinderbrie-    Das vergangene Jahr war für uns, wie für viele
Vorstand von Seiteneinsteiger e.V.                fen haben wir gemerkt, mit welcher Freude       Kulturschaffende, ein Jahr der Reflexion, das
                                                  sie sich in die Welt der Geschichten entfüh-    den Blick auf das Wesentliche geschärft hat.
Den Seiteneinsteigerinnen war zu Beginn der       ren ließen.                                     Einerseits wurde uns im Stillstand bewusst,
Pandemie eines klar: Wir wollen so wenige For-                                                    wie selbstverständlich uns die vielfältigen kul-
mate wie möglich absagen. Bei den rund 3000       Corona bedeutet für unsere Arbeit: Alle         turellen Angebote der Stadt geworden sind,
Veranstaltungen pro Jahr, die wir im Auftrag      Lesungen oder Workshops an Schulen müs-         wie gut sie uns tun – und wie sehr sie uns
der Sprach- und Leseförderung initiieren bezie-   sen realisierbar sein, egal ob im Home-         gerade fehlen. Andererseits haben wir auch
hungsweise veranstalten, waren die letzten 14     schooling, hybrid oder beim Regelunter-         sehr positive Erfahrungen gemacht.
Monate für uns eine spannende und berei-          richt. Bei Familienveranstaltungen gilt es,
chernde Herausforderung.                          die Abstandsregeln zu berücksichtigen, dar-     In 16 Jahren unserer Arbeit haben wir vermut-
                                                  über hinaus möchten wir die Kinder vom          lich noch nie so viel Feedback und Dank von
Das Frühjahr 2020 hat bei uns eine Arbeits-       Bildschirm weglocken und im besten Fall         Eltern, Ehrenamtlichen, Mentor*innen oder
euphorie ausgelöst. Der Flut an beklemmen-        Leseförderung mit körperlicher Aktivität ver-   Lehrer*innen bekommen wie in den vergan-
den Nachrichten wollten wir Positives entge-      binden. Besonders erfreulich hat dies bei der   genen 14 Monaten. Die große Resonanz und
genstellen. Wir begannen jedes Projekt abzu-      Detektiv-Comic-Rallye ULF in den Märzferien     Dankbarkeit ist für uns ein Schlüsselerlebnis,
klopfen, Konzepte neu zu denken. Statt im         geklappt. Die fantasievollen Materialien der    weil uns klar wird, wie viel wir tatsächlich
März Kirsten Boies 70. Geburtstag groß im         Künstlerin Tanja Esch wurden uns aus den        anstoßen und erreichen können – auch unter
Ernst Deutsch Theater zu feiern, starteten wir    Händen gerissen, 1500 gedruckte Mappen          so veränderten Bedingungen in Zeiten eines
zusammen mit dem Hamburger Abendblatt             fanden in nur drei Tagen Abnehmer*innen,        Lockdowns. Wir haben viel gelernt, und es ist
einen Lesewettbewerb für Schulkinder – zu         dazu gab es über 3000 Downloads – und 14        viel Neues entstanden. Ganz bestimmt wird
den Büchern der Jubilarin. Wer sich ein Buch      Tage lang sah man in Winterhude rund um         das unsere Arbeit über die Zeit der Pandemie
nicht leisten konnte, bekam es geschenkt oder     den Schinkelplatz schon ab den frühen Mor-      hinaus prägen.
konnte es sich kostenlos downloaden. Manche       genstunden kleine Detektiv*innen, die etwa
Lehrer*innen brachten Kindern die Bücher mit      zwei Stunden lang den kniffeligen Fall Ein-
dem Fahrrad bis vor die Haustür. Die Beteili-     stein lösten.                                   SEITENEINSTEIGER-HAMBURG.DE

                                                                      11
Ich möchte gehört werden,
        deshalb stehe ich
           auf der Bühne
         Lorena Scotti, 18, Sängerin bei                    Überall sonst wäre ich falsch. Einen Job im
         Lukulule e.V.                                      Büro kann ich mir für mich nicht vorstellen. Ich
                                                            möchte, dass mir die Menschen zusehen und
         Kunst und Musik gehörten schon immer zu            mir zuhören. Denn ich habe etwas zu sagen
         meinem Leben. Ich war fünf Jahre alt, als ich      und das Bedürfnis, gehört zu werden. In der
         zum Verein Lukulule kam. Dort konnte ich im        Fernsehsendung bin ich dann zwar früh aus-
         Laufe der Jahre viel lernen, mit tollen Menschen   geschieden, aber die Erfahrung hat mich
         zusammenarbeiten und alles Mögliche auspro-        bestärkt, meine Leidenschaft, die Musik, kon-
         bieren. Ich habe Songtexte geschrieben, getanzt,   sequent weiterzuverfolgen. Und das mache
         Theaterstücke kreiert und an Aufführungen teil-    ich seither. Gerade habe ich meinen ersten
         genommen.                                          Song „Mindblow“ und ein Video dazu ver-
                                                            öffentlicht. Zum ersten Mal den fertig pro-
         In dem Moment, als es Klick machte, war ich elf    duzierten eigenen Song zu hören, war unbe-
         Jahre alt. Ich hatte gerade an der TV-Casting-     schreiblich.
         show „The Voice Kids“ teilgenommen und auf
         einer großen Bühne live vor Tausenden Zuschau-     Es gibt da noch etwas, dass mir persönlich sehr
         er*innen und einer Jury gesungen. Vor dem Auf-     wichtig ist. Als Künstlerin bin ich stark und
         tritt war ich unglaublich aufgeregt, alles fühl-   unabhängig. Damit möchte ich andere Frau-
         te sich surreal an. Ich werde nie vergessen,       en ermutigen, ihre Schönheit und ihre Talen-
         wie ich da stand. Während ich sang, fühlte ich,    te zu zeigen. Ich möchte dazu beitragen, dass
         wie das Adrenalin durch meinen ganzen Kör-         wir alle so sein können, wie wir sein wollen,
         per rauschte.                                      ohne Angst, beurteilt zu werden oder irgend-
                                                            welche Label angeklebt zu bekommen, die wir
         Danach wusste ich: Kreativ sein, mich als Künst-   uns nicht selbst ausgesucht haben.
         lerin ausdrücken, das ist es, was ich machen
         möchte. Die Bühne ist der Ort, an den ich gehö-
         re, den ich brauche. Dort fühle ich mich wohl.                   LUKULULE.DE

                               12
Selbstgebaute Räume
                                                 der Begegnung
Karen Derksen, PR- und Öffentlich-               Flyer an geflüchtete Menschen in den Unter-        eigenen Leib erlebt haben. Am Nebentisch
keitsarbeiterin bei Bunte Kuh e.V.               künften verteilt.                                  hat der 15-jährige Raad aus einer Basisklasse
                                                                                                    seine Schafherde geformt. Wie ich von seiner
Von Weitem ist das Zeltdach von Bunte Kuh        Ich habe einen besonderen Arbeitsplatz, denn       Lehrerin erfahre, musste seine Familie sie im
e.V. mit dem Banner „Bauen mit Lehm für Groß     die Mitmach-Aktion bietet einen Ort, den es in     Irak zurücklassen. Die detailgetreue Nachbil-
und Klein“ vor der Rindermarkthalle St. Pauli    der Großstadt viel zu selten gibt: Hier treffen    dung zeigt, wie innig er mit den Tieren verbun-
zu sehen. Näher kommend, höre ich meinen         sich Alt und Jung sowie Arm und Reich, Men-        den ist. Aus Lehm hat er seine verlorene Welt
Kollegen Tarik singen; im Takt dazu klopfen      schen mit und ohne Behinderungen aus unter-        neu geschaffen. Als er sie mir zeigt, lächelt
etwa 40 Kita- und Schulkinder dicke Lehmbat-     schiedlichen Nationen, angezogen vom Bau-          er stolz. In nächster Nähe bauen Kita-Kinder
zen auf die Mauern der riesigen Lehmskulptu-     material Lehm und seiner sozialen und kultu-       Monster, Burgen, Prinzessinnen und Dinos aus
ren. Auch die Tische und Bänke zum Modell-       rellen Klebekraft. Fasziniert halte ich mit der    ihrer Fantasie. Nicht nur beim Bauen begegnen
bauen sind gut besetzt. Kinder und Jugend-       Kamera Augenblicke fest, in denen aus dem          sich ihre Welten; die zahlreichen Kunstwerke
liche arbeiten konzentriert an ihren eigenen     Nebeneinander ein Miteinander wird.                werden gemeinsam ausgestellt.
fantasievollen Entwürfen, von denen einige in
Groß nachgebaut werden.                          Was ich in diesem Jahr sehe, trifft mich mitten    Selten habe ich stärker gespürt, dass unser
                                                 ins Herz. Vor mir am Tisch sitzen zwei Jugend-     Konzept „Dabeisein, sich künstlerisch ausdrü-
Mein Arbeitswerkzeug ist die Kamera. Als PR-     liche aus Syrien. Sie haben Panzer und Kano-       cken und gesehen werden“ aufgeht, und dass
und Öffentlichkeitsarbeiterin für die Bunte      nen aus Lehm geformt. Diese zielen auf die         Kunst im wahrsten Sinne des Wortes „notwen-
Kuh bin ich jetzt mittendrin und dokumentie-     zerschossenen Mauern eines Hauses und auf          dig“ ist.
re das bunte Treiben auf dem für alle kosten-    tote Menschen, darunter ein Kind. Ich frage,
los zugänglichen Platz. In diesem Jahr haben     ob ich sie mit ihrem Modell fotografieren darf,
wir nicht nur 90 Institutionen aus benachtei-    sie nicken freundlich – aber ihr Blick in meine
ligten Stadtteilen eingeladen – Kitas, Schulen   Kamera spricht Bände. Was sie gebaut haben,
und Behinderten- und Stadtteileinrichtungen –    ist viel mehr als ein Modell; ihr Blick spiegelt
sondern auch englisch- und arabischsprachige     den Krieg, den sie vor nicht langer Zeit am             BUNTEKUH-HAMBURG.DE

                                                                       13
Ich dachte, Songs schreiben
                                      können nur Produzent*innen

Maria Krivenkov, 20, Kursteilneh-                 Produzent*innen. Das Thema hat mich inter-        Songs schreiben. Und noch etwas habe ich
merin beim Jugendkunsthaus Esche                  essiert, also bin ich hingegangen und geblie-     gelernt: Nicht alles, was sich reimt, ist auto-
                                                  ben. Unsere Coaches sind Profis, sie verdie-      matisch gut.
Momentan studiere ich im zweiten Semester         nen ihr Geld als Sängerin, Tänzerin und Cho-
Expressive Arts in Social Transformation mit      reografin. Sie geben uns Freiraum und Impul-      Am liebsten schreibe ich Songs in der Grup-
dem Schwerpunkt Bildende Kunst und dem            se, genau das, was wir in dem Moment brau-        pe. Das ist einfach eine ganz andere Ener-
Nebenfach Poesie an der Medical School in         chen. Nebenbei erfahren wir auch etwas über       gie. Außerdem sind Inspiration und Motivation
Hamburg. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich kürz-    den Berufsalltag im Kulturbereich.                größer, wenn man gemeinsam mit anderen an
lich in einer Prüfung. Ich habe überlegt, wie                                                       einem Song arbeitet. Jeder bringt etwas von
ich das Thema angehe, und anstatt die Aufga-      Aktuell beschäftigt mich ein Zitat: „Ich singe,   sich ein, eine Melodie, eine Strophe oder einen
be schriftlich zu beantworten, habe ich einfach   was ich nicht sagen kann“. Ich habe es kürz-      Refrain. Am Ende bin ich immer wieder über-
einen Song geschrieben.                           lich gelesen und weiß nicht, von wem es ist.      rascht, wie toll die Songs geworden sind. Der
                                                  Aber es beschreibt ganz gut ein Gefühl, das       perfekte Abschluss ist der Auftritt mit einem
Vor drei Jahren wäre ich weder auf die Idee       ich kenne. Musik ist direkt, geht ohne Umwe-      selbst geschriebenen Song. Wenn ich sehe,
gekommen, noch hätte ich mir das zugetraut.       ge ins Herz. Um Menschen zu berühren, muss        wie das Lied Menschen berührt, macht mich
Als ich damals in die Esche kam, war ich sehr     ich beim Schreiben offen und authentisch sein.    das glücklich.
beeindruckt. Es gab so viele kreative Angebo-     Das heißt, ich muss micht trauen, meine Emoti-
te! Darunter einen Songwriting-Kurs, das fand     onen offenzulegen und mich verletzlich zeigen.
ich toll. Ich dachte immer, das können nur        Nur wenn ich das beherzige, kann ich wirklich                     ESCHE.EU

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Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin
               Dr. Julia F. Christensen im KJU-Interview

Kunst - die beste Medizin für
Körper und Psyche
                15
KJU-Magazin: Das Motto dieses Heftes lautet „Kultur tut                     leicht, dass die Person, die das Kunstwerk gemacht hat, über etwas
gut!“. Stimmt das überhaupt?                                                räsoniert, was auch mit uns zu tun hat.

Julia F. Christensen: Ein großes Ja! Regelmäßige Kulturerlebnis-            Und was passiert, wenn wir selbst aktiv werden – also
se können sich positiv auf unsere psychische und sogar körperliche          tanzen, singen, dichten oder malen?
Gesundheit auswirken. Erste Studien zeigen, dass sie dazu beitragen         Da wird die Person als Ganzes gefordert. Weitere Bereiche des Gehirns
können, wichtige Körperprozesse auszubalancieren. Das betrifft etwa         werden aktiviert. Wer selbst kreativ wird, trainiert auch die Fähigkeit, in
das Hormonsystem, die Immunabwehr sowie den Stoffwechsel. Das               sich selbst hineinzuspüren. Er bekommt also eine bessere Verbindung zu
kommt dadurch, dass man durch Kulturerlebnisse direkt oder indirekt         sich selbst. Durch diese so genannte Interozeption nehmen wir biologi-
einen Entspannungszustand in seinem Körper aktivieren kann. Der             sche Prozesse wie etwa unseren Herzschlag wahr – und unsere Gefühle.
wiederum kurbelt diese Regulierungsprozesse an.                             Mit anderen Worten: Wenn wir singen oder tanzen, sind wir ganz
                                                                            bei uns.
Können Sie beschreiben, was im Gehirn passiert, wenn
wir Kunst rezipieren, also z.B. ein Musikstück hören                        Außerdem schafft künstlerisches Schaffen neue Verknüpfungen im
oder ein Bild betrachten?                                                   Gehirn, die beim Denken und bei Problemlösungen helfen. Dies könn-
Die Rezeption von Kunst, also beispielsweise die Betrachtung einer          te ursächlich dafür sein, dass einige Studien zeigen konnten, dass zum
Tanzaufführung oder das Anhören eines Musikstücks, passiert natür-          Beispiel regelmäßiges Tanzen vor Demenz oder Herzkrankheiten schüt-
lich vorerst über unsere Sinne. Ein Zusammenspiel verschiedener             zen kann. Und dann ist da noch der soziale Aspekt. Gemeinsames Tan-
Gehirnsysteme kann dann, zum Beispiel bei Kunst- und Kulturerleb-           zen oder Musizieren kann ein ganz besonderes Gemeinschaftsgefühl
nissen, sogenannte ästhetische Gefühle erzeugen. Dabei werden im            schaffen, das sich ebenfalls sehr positiv auf die Gesundheit auswirkt.
Gehirn bestimmte Empfindungen getriggert, wie leichte Aufregung
oder Ehrfurcht. Oder wir sind ergriffen und empfinden Mitgefühl, zum        Lassen sich ähnliche Effekte beobachten, wenn ein
Beispiel, wenn wir eine traurige Geschichte erzählt bekommen. Wich-         Mensch z.B. Sport treibt oder eine Mathematikaufgabe
tig ist, dass wir – weil es sich ja um Kunst handelt – diese Gefühle        löst, oder ist ein Kulturerlebnis etwas ganz Singuläres,
in einer sicheren Umgebung empfinden. Wenn wir eine dramatische             auch neurowissenschaftlich betrachtet?
Szene in der Oper erleben, empfinden wir nicht den Stress, den wir          Da scheiden sich die wissenschaftlichen Geister noch, die Forschung
fühlen würden, wenn das in Wirklichkeit passieren würde.                    zu dem Thema läuft auf Hochtouren. Die Schwierigkeit besteht darin,
                                                                            genau abzugrenzen, was als „Kunst“ gilt, und was nicht. Aber man
Einige Studien haben auch gezeigt, dass traurige emotionale Regun-          kann wohl schon sagen, dass es besonders einfach ist, durch die Küns-
gen dazu führen, dass das Bindungshormon Prolaktin ausgeschüttet            te besondere Aktivierungen in Körper und Geist zu erzielen. Dadurch ist
wird. Dieses Hormon ist dafür mitverantwortlich, dass wir uns aufge-        Kunst schon etwas Besonderes, auch weil kreatives Schaffen eben neue
hoben und geborgen fühlen. Außerdem: Wer Kunst genießt, fühlt sich          neuronale Verknüpfungen schafft – und uns gleichzeitig Genuss ver-
in dem Moment nicht allein. Denn je nach Kunstwerk spüren wir viel-         schafft. Andere Aktivitäten, die das Belohnungssystem aktivieren, gibt

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es natürlich auch. Sport zum Beispiel. Aber sportlicher Wettkampf führt         und Erinnerungsvermögen zu tun haben. Aber davon bekommen
wiederum zur Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, und das ist auf           wir zu wenig.
Dauer nicht so gut für unser Immunsystem. Das scheint allerdings auch
zu passieren, wenn Kunst professionell oder zu perfektionistisch betrie-        Und wie ist die Situation aus Ihrer Sicht im Alltag von
ben wird. Das Gesündeste ist, Kunst als Hobby zu betreiben. Mein Rat            Kita- und Schulkindern?
deshalb: Seid nicht so perfektionistisch, habt Mut zur Lücke!                   Ich glaube, auch in deren Alltag ließe sich die Kunst sehr viel stärker
                                                                                integrieren. Je mehr Kunst, desto besser! Warum nutzt man beispiels-
Sie forschen ja ausschließlich an Erwachsenen. Lassen                           weise nicht stärker die Liebe des menschlichen Gehirns für Geschichten,
sich diese Ergebnisse Ihrer Meinung nach auf Kinder                             um Sprachen zu lernen? Das wirkt viel besser, als ewig Vokabellisten
und Jugendliche übertragen?                                                     auswendig zu lernen. Unser Gehirn lernt auch durch Motorik sehr viel,
Ja, auf jeden Fall. Das Gehirn junger Menschen funktioniert ja genau-           also durch Bewegungen unseres Körpers. Das Tanzen zur Musik lässt
so wie das der Erwachsenen. Der Unterschied ist nur, dass es noch               sich wunderbar nutzen, zum Beispiel, um physikalische Zusammen-
formbarer ist. Deshalb ist es besonders wichtig, bei Kindern den                hänge oder mathematische Formeln zu lernen.
Grundstein zu legen, damit sie später die Künste als Werkzeug für
ihren Alltag nutzen können.

Die positiven Effekte für das Gehirn, die Sie schildern –
bekommen wir im Alltag eigentlich genug davon, oder
sind wir diesbezüglich unterversorgt?
Wenn wir die westliche Welt betrachten, wo etwa Singen und
Tanzen einfach nicht zum Alltag gehören, sind wir ganz klar unter-
versorgt. Wir haben in unserem täglichen Leben zwei Extreme,
die schlecht sind. Zum einen geht es bei der Arbeit ganz viel um
rationales Denken, Analysieren, Systematisieren. Vorgänge,                                              ZUR PERSON
bei denen die Präfrontallappen des Gehirns gefordert sind.
Zum anderen sind viele Menschen regelrecht süchtig nach simp-                   Dr. Julia F. Christensen ist eine dänische Neurowissenschaftlerin. Sie stu-
len Genüssen. Um sich zu entspannen, surfen sie im Internet                     dierte in Frankreich, Spanien und Großbritannien Psychologie und Neu-
oder schauen sich simpel gestrickte Serien im Fernsehen an. Das                 rowissenschaften und promovierte an der Universität der Balearischen
sind Tätigkeiten, die auf das Gehirn wirken wie purer Zucker. Es                Inseln in Spanien. Inzwischen lebt sie in Frankfurt am Main und forscht
werden nur sehr basale Ebenen des Genusssystems angesprochen.                   am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik. Zusammen mit dem Neu-
Wenn wir aber Kunst genießen, die uns wirklich innerlich berührt,               rowissenschaftler Dong Seon-Chang schrieb sie das Buch „Tanzen ist die
sieht das Bild ganz anders aus. Das ist ein richtiges Feuerwerk,                beste Medizin“, das im Rowohlt-Verlag erschienen ist.
ganz viele Ebenen werden angesprochen, die mit Identität, Ratio

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Werther virtuell
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                                                 Theater auf der digitalen Bühne
                                                           TEXT: HANNA SCHNEIDER

F
                 ast 250 Jahre sind seit dem        spiegelt, spielt sich die Inszenierung vornehm-    den sind, kann das eine ziemliche Herausfor-
                 Erscheinen von Johann Wolf-        lich auf Werthers Computerbildschirm ab. Die       derung darstellen. Aber bei einem jungen Pub-
                 gang von Goethes „Die Leiden       Kommunikationsmittel haben sich vervielfacht:      likum kann das genau den richtigen Nerv tref-
                 des jungen Werthers“ vergan-       Gleich in der ersten Szene nutzt Werther Zoom,     fen. Interessant ist in diesem Zusammenhang
                 gen. Nun war die Geschichte        um mit Willi zu sprechen, nimmt währenddes-        auch die interaktive Komponente des Stücks:
                 auf der Online-Bühne zu sehen      sen einen Anruf von Lotte entgegen, die ihm        Die Instagram-Profile aller Hauptfiguren exis-
– ein rein virtuelles Gastspiel auf Einladung       über eBay-Kleinanzeigen ein Buch verkauft,         tieren real und können selbst abseits der Vor-
des Jungen Schauspielhauses. Am 25. April           und liest gleichzeitig Nachrichten auf Face-       stellungen besucht werden. In der auf Aktua-
zeigte das junge Theater-Kollektiv punktlive        book und WhatsApp. Auch ohne dass die Figu-        lität ausgelegten digitalen Welt von werther.
das Stück „werther.live“, eine moderne Insze-       ren sich je außerhalb des virtuellen Raums tref-   live verwundert einzig, dass eine momentan
nierung des klassischen Stoffs. Regie führte        fen, entfaltet sich die Erzählung mühelos in       besonders stark genutzte Social Media-Platt-
Cosmea Spelleken. Die Gruppe punktlive ver-         den verschiedenen Medien.                          form wie TikTok fast vollständig fehlt.
bindet Theater, Social Media und Film, um
daraus eine eigene Erzählform entstehen zu          Nach ihrer zufälligen Begegnung auf eBay           Wie schon bei der Romanvorlage von 1774
lassen: „digitales Theater“. Mit Bezug auf das      entdecken Werther und Lotte über Chat und          speist der Reiz von werther.live sich vor allem
digitale Zeitalter unserer Gegenwart und die        Videotelefonate ihre besondere Verbindung.         aus der jugendlich-emotionalen Unmittelbar-
Pandemie-Situation ist „werther.live“ explizit      Willi wird auf denselben Wegen über die            keit, mit der die Erzählung vermittelt wird. Fast
für den virtuellen Raum konzipiert.                 sich entfaltende Sehnsucht auf dem Laufen-         250 Jahre später bleibt sie damit eine zeit-
                                                    den gehalten und Albert durch den eifer-           lose Liebesgeschichte, die auch im virtuellen
Die Geschichte bleibt dieselbe: Werther (Jonny      süchtigen Werther auf Instagram ausgespäht.        Raum ihre Kraft behält – und in der Atemlo-
Hoff) verliebt sich in die bereits an Albert        Das Publikum folgt Werther, wie er zwischen        sigkeit der teils improvisierten Live-Inszenie-
(Michael Kranz) vergebene Lotte (Klara Wör-         den Chatfenstern hin- und herspringt. Abge-        rung beeindruckt.
demann) und berichtet seinem besten Freund          sehen von einigen Einsprengseln weicht die
Wilhelm (Florian Gerteis) von der fortschrei-       sprachliche Inszenierung komplett vom Ori-         Ein Hinweis für die pädagogische Arbeit mit
tend aussichtsloser werdenden Leidenschaft.         ginaltext ab. Stattdessen wird eine mit Ang-       werther.live: Das Stück endet unkommentiert
Am Ende weiß Werther sich nicht mehr anders         lizismen gespickte Jugendsprache benutzt.          mit Werthers Selbstmord und den verzweifelten
zu helfen und wählt den Freitod. Soweit die                                                            Reaktionen von Willi und Lotte. Es wird emp-
Handlung, die sehr konsequent in die Gegen-         Das sehr zeitgemäße Kommunikationsgewitter         fohlen, diese Thematik im Klassenverband päd-
wart übertragen wurde. In einer radikal sub-        verlangt dem Publikum eine hohe Konzentra-         agogisch aufzufangen.
jektiven und sehr intimen Perspektive, die die      tion ab. Für Nicht-Digital-Natives oder solche,
des briefeschreibenden Werthers von 1774            die in der Pandemie bildschirmmüde gewor-                     WERTHER-LIVE.DE

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Reflexion, Inspiration und
          Rüstzeug für die Zukunft
                                     Vier junge Menschen erzählen, wie ihr
                                Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich Kultur (FSJK)
                                             ihr Leben beeinflusst hat
                                                                TEXT: SAMIRA AIKAS

                        D
                                      ie Arbeit als Freiwillige*r in einer kul-        Leistungsdruck, keine Sorgen um Alltägliches. Der
                                      turellen Einrichtung erlaubt es, sich            Austausch über die Einsatzstellen und die kreativen
                                      selbst zu finden, sich kreativ auszu-            Prozesse haben mich in meiner persönlichen Entwick-
                                      drücken und die eigenen Grenzen                  lung sehr weitergebracht.“ Das Texteschreiben wäh-
                                      auszutesten. Das Jahr kann inspirie-             rend der Workshops inspirierte sie so sehr, dass sie
                                      rend wirken und die Weichen für die              heute mit zwei Freundinnen gemeinsam ein queer-
                      weitere Zukunft stellen. Vier ehemalige FSJler*innen             feministisches Erotikmagazin namens „Gazer“ heraus-
                      ziehen ihr Resümee.                                              bringt, das unter anderem in der Buchhandlung im
                                                                                       Schanzenviertel (Schulterblatt 55) erhältlich ist. Nach
                      Féline Rathke, 26, hat nach ihrem Abitur ihr FSJ                 ihrem FSJ arbeitete sie als Regieassistenz in der Kaba-
                      am Deutschen Schauspielhaus im Bereich Drama-                    rettbühne Polittbüro und am Schauspielhaus, bevor
                      turgie absolviert. Die Entscheidung für den kulturel-            sie dort eine Ausbildung zur Veranstaltungstechni-
                      len Bereich fiel der Hamburgerin nicht leicht, da sie            kerin machte. „Seitdem arbeite ich dort als Beleuch-
                      mit einer klassischen Gesangsausbildung und zwölf                terin und habe mich um einen Studienplatz für The-
                      Jahren Theatererfahrung zwar eine Leidenschaft für               aterregie an der Hochschule für Musik und Theater
                      den kulturellen Bereich mitbrachte, sich aber auch               beworben.“
                      seit Jahren ehrenamtlich im Bereich der Antirassis-
Fél                   musarbeit engagiert. Das FSJ sollte ihr Klarheit dar-            Auch Ina Dallo, 21, entschied sich 2017 für einen
    in   eR
              athk    über verschaffen, ob sich beide Bereiche miteinander             FSJ-Platz am Theater. Das Junge Schauspielhaus war
                  e
                      verbinden lassen. Heute bezeichnet Féline das FSJ als            eine der wenigen kulturellen Einrichtungen, bei denen
                      das bisher „beste Jahr ihres Lebens“. Féline: „Es wur-           sich die damals noch etwas unentschlossene Abituri-
                      den Räume und Rahmenstrukturen geschaffen, die es                entin beworben hatte. „Ich habe als Hospitantin und
                                                                                                                                                 Ina
                      erlaubten, Gedanken absolut frei zu entfalten. Kein              Assistentin Stücke betreut, in theaterpädagogischen             Dal
                                                                                                                                                          lo

                                                                                  19
Bereichen mitgeholfen, an Recherchen mitgearbeitet,         hatten schon ihre Geschwister und mehrere Freundin-
                              Materialmappen erstellt, war ab und zu auch mit in          nen absolviert, was diese dann auch in ihrer Studien-
                              Schulen und vieles mehr“, sagt Ina. Die Arbeit gab ihr      platzwahl beeinflusst hatte. Diese Vorbilder bestärk-
                              sehr gute Einblicke in viele Bereiche der Theaterwelt.      ten dann auch Marie im Jahr 2015 in ihrer Entschei-
                              Das FSJ und auch das Jahr danach, in dem sie am Jun-        dung, eine FSJK-Stelle in Hamburg anzunehmen. Ihr
                              gen Schauspielhaus blieb, haben ihre Leidenschaft           freiwilliges Jahr absolvierte sie im Atelier Freistil, einer
                              für Theater und Kultur intensiviert und sie schließlich     Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Zu ihrer
                              dazu bewogen, Kulturwissenschaften und ästhetische          Arbeit gehörte die Assistenz im Arbeitsalltag, Pfle-
                              Praxis mit dem Fächern Theater und Medien an der            ge, aber auch Assistenz bei künstlerischen Arbeiten.
                              Universität Hildesheim zu studieren.                        „Das FSJK gab mir ein Jahr Zeit und Muße, mich aus-
                                                                                          zuprobieren. Ich war von Kunst, Menschen mit künst-
                              Achim Chruscinski, 21, hat sich 2017 aufgrund seiner        lerischer Betätigung und Materialien umgeben“, sagt
                              ausgeprägten Leidenschaft fürs Fotografieren und Fil-       Marie.
                              men für einen FSJK-Platz bei TIDE entschieden, Ham-
                              burgs Community-Sender und Ausbildungskanal. Der            Heute studiert sie Illustration, ein Gebiet, das sie
                              Hamburger wollte nach seinem Abitur nicht sofort            schon in ihrer Kindheit sehr interessierte. In der Wahl
                              studieren oder eine Ausbildung machen. Die FSJK-            ihres Studienfachs wurde sie unter anderem von ehe-
                              Stelle gab ihm die perfekte Gelegenheit, sich auszu-        maligen FSJKlerinnen bestärkt, die sie im Atelier Frei-
                              probieren, selbst besser kennenzulernen und einzu-          stil kennenlernte. Das Studium konzentriert sich zwar
                              schätzen, ob das Filmen und Schneiden von Videos            auf ihre eigene künstlerische Entwicklung, Marie kann
 Ac                           auch beruflich Spaß machen könnte. Die eine Hälfte          sich aber vorstellen, danach wieder Kunst und Sozia-
   him
             Chru
                    scinski
                              seines Freiwilligenjahres war er in der Ausbildungsre-      les miteinander zu verbinden.
                              daktion „Hamburg immer anders!“ beschäftigt. Dabei
                              lernte er den Alltag in einem Fernsehsender kennen,
                              vor allem bezogen auf die Herstellung von TV-Maga-
                              zinbeiträgen. „Man recherchiert, sucht Interview-
                              partner*innen, dreht den Beitrag und schneidet ihn
                              anschließend“, erklärt Achim. Die andere Hälfte sei-
                              nes FSJ verbrachte er in der TV-Postproduktion und
                              war dort für die Bearbeitung und den Schnitt von                                    INFO
                              Fernsehsendungen verschiedener Genres verantwort-
                              lich. Durch die vielfältigen, intensiven Einblicke in die   Die LAG Kinder- und Jugendkultur ist die Trägerin
                              Arbeit bei einem Fernsehsender fiel ihm die endgül-         des FSJK in Hamburg. Sie sucht Einsatzstellen, ver-
                              tige Entscheidung für seine berufliche Zukunft leicht.      mittelt Freiwillige, organisiert Seminare und Bil-
                              Heute ist Achim im dritten Lehrjahr der Ausbildung          dungstage und steht den kulturellen Einrichtun-
                              zum Mediengestalter für Bild und Ton.                       gen und Freiwillen das ganze Jahr über zur Seite.
                                                                                          Weitere Informationen auf der Webseite der LAG.
Ma
                              Marie Lunkenheimer, 25, aus Bielefeld hatte schon
     rie
           Lun
              kenhe
                              immer eine künstlerische Ader. Ihre Eltern sind als
                    imer
                              Pädagog*innen in einer Förderschule tätig. Ein FSJK            KINDERUNDJUGENDKULTUR.INFO

                                                                          20
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                     LKJ B en in d
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                                           hren 30. Geburtstag im vergangenen Jahr hat die Landes-
                                           vereinigung Kulturelle Jugendbildung (LKJ) Berlin e.V. nicht
                                           groß feiern können. Die Coronavirus-Pandemie trübt auch
                                           die Aussichten für die nahe Zukunft. „Wir befürchten, dass
                                           vieles von dem, wofür wir viele Jahre lang gekämpft haben,
                           in Folge der Pandemie durch Haushaltseinsparungen in Gefahr geraten
                           könnte“, sagt David Stachon, bei der LKJ unter anderem für Öffentlich-
                           keitsarbeit zuständig.

                           Die in Kreuzberg ansässige LKJ Berlin ist als eingetragener Verein mit
                           anerkannter Gemeinnützigkeit fachpolitische Dachorganisation für die
                           kulturelle Bildung in der Hauptstadt. Ihre Mitglieder sind 50 Landesar-
                           beitsgemeinschaften, Verbände, Organisationen sowie Vereine. Damit ver-
                           tritt die LKJ rund 400 Einzeleinrichtungen und ist unter anderem Trägerin
                           des Freiwilligen Sozialen Jahres in der Kultur für Berlin und Brandenburg.
                           Außerdem ist bei der LKJ Berlins Servicestelle für „Kultur macht stark.
                           Bündnisse für Bildung“ angesiedelt. Das vom Bundesministerium für

                         21
Bildung und Forschung finanzierte Programm fördert außerschulische                  „Jugend.Sprungbrett.Kultur“ unterstützt Fachpersonal bei der diversitäts-
Angebote der kulturellen Bildung, die entsprechende Servicestelle in Ham-           orientierten Öffnung der Berliner Einrichtungen, etwa mit einer „Roadmap
burg ist ein Angebot der LAG.                                                       Diversität und Inklusion“.

Den ehrenamtlichen Vorstand der LKJ wählen die Mitglieder aus ihren                 David Stachon ist als Bildungsreferent auch für das Projekt Jugendkul-
Reihen. Die praktische Arbeit wird vom sogenannten Koordinationsbüro                turzentren in bezirklichen Bildungsnetzwerken, (kurz JuKuBi), zuständig.
mit 18 Festangestellten und zwei Honorarkräften erledigt, Geschäftsfüh-             „Bei JuKuBi geht es oft um die Frage ,Wie bringen wir alle an einen Tisch,
rerin ist seit 2004 Cornelia Schuster. Die LKJ wird im Wesentlichen nicht           damit es besser läuft?´. Die Vernetzung auf bezirklicher Ebene ist verbesse-
als Institution finanziert.                                                         rungsfähig“, sagt Stachon. Berlin-Mitte beispielsweise, so Stachon, sei in
                                                                                    Sachen effizienter Struktur ein Paradebeispiel: mit eigenem Rahmenkon-
Die LKJ Berlin wurde 1990 gegründet. „Nach der Wende schossen in Ber-               zept, einer eigenen Arbeitsgruppe im Bezirk, in der alle Fachressorts ver-
lin viele Vereine und Initiativen aus dem Boden, die LKJ war eine unter vie-        treten seien. Dennoch sei so etwas nicht als Blaupause geeignet, weil die
len, am Anfang eine ABM-Einrichtung, die mit einzelnen Projekten, Bro-              Bezirke großen Wert auf Eigenständigkeit legten sowie unterschiedliche
schüren, Festivals und Services wie dem infofon/infofax beschäftigt war.“           Möglichkeiten und Traditionen hätten. „JuKuBi bräuchte in jedem Bezirk
Wichtige Schritte für die weitere Entwicklung, so Stachon, seien die Aner-          eine Stelle, die sich um die Vernetzung der Kulturellen Bildung kümmert“,
kennung als überbezirkliche freie Trägerin der Jugendhilfe (seit 1997) und          sagt Stachon. Bei der chronischen Unterfinanzierung in diesem Bereich sei
vor allem die Trägerschaft des Freiwilliges Sozialen Jahres Kultur 2001             es besonders wichtig, über mögliche Fördertöpfe wie das 2020 in Kraft
gewesen. David Stachons Resümee: „Wir sind in unsere Aufgaben hinein-               getretene Jugendförder- und Beteiligungsgesetz für Berlin zu informieren
gewachsen, als Dachverband akzeptiert und gut vernetzt.“                            und die Antragstellung zu unterstützen. „Durch dieses Modellprojekt der
                                                                                    Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie zur Stärkung der Kin-
Das übergeordnete Ziel der LKJ ist die Stärkung der Kulturellen Kinder-             der- und Jugendarbeit werden 25 Millionen Euro zusätzlich in die Bezir-
und Jugendbildung in Berlin. Dafür wird in zwei Säulen gearbeitet. Es wer-          ke gespült“, sagt Stachon. „Wir helfen gern dabei, dass dieses Geld dort
den Kooperation und Austausch der Mitgliedsverbände gefördert, Fachin-              ankommt, wo es gebraucht wird.“
formationen durch Tagungen (etwa 2019 zur Frage „Kulturelle Bildung -
Politischer Auftrag in rechtspopulistischen Zeiten!?“) und Jours Fixes sowie
Newsletter bereitgestellt. Zudem betreibt die LKJ Lobbyarbeit gegenüber
Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung.

Des Weiteren unterstützt eine Reihe eigener Projekte und Programme
die Mitglieder bei der Vernetzung, berät bei Projektentwicklung sowie                                       Da
                                                                                                                 vid
                                                                                                                       Stac
-finanzierung, bietet Fortbildungen an oder eröffnet Räume für Kunst-                                                      hon
und Kulturprojekte junger Geflüchteter. Zu den ständigen Projekten der
LKJ zählen der „infonetkalender“, ein werbefreier, berlinweiter Veranstal-
tungsüberblick für Kinder bis zwölf und gemeinsam mit der Stiftung für
Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung die Navigations-Plattform
„Kubinaut“ als Spiegel der kulturellen Bildung in Berlin. Das Programm                                            LKJ-BERLIN.DE

                                                                               22
MELDUNGEN

                                                Der Erkundungsgang ist kostenlos zu erle-        len und Handlungsbedarfen in der kultu-
                                                ben im Rahmen des Festivals Hauptsache           rellen Jugendarbeit. Erste Ergebnisse wur-
                                                Frei #7 vom 25.8. bis 4.9. und voraussicht-      den jetzt vorgestellt. Demnach wird aktuell
                                                lich während des Hamburger Kultursom-            die Bewältigung der Corona-Pandemie als
                                                mers. Aktuelles dazu im Netz.                    größte Herausforderung bewertet, gefolgt
                                                                                                 von der Herausforderung des Umgangs mit
                                                       TRAUMMASCHINEINC.NET                      Digitalität. Als Unterstützung im Umgang
                                                                                                 mit Digitalität wünschen sich die Befragten
                                                Bis zur Bundestagswahl: Jede Woche               von der Politik die Finanzierung von Fort-
                                                fünf Gründe                                      bildungen und bessere Aussstattung. Die
                                                „100 Gründe für Kinder- und Jugendkultur“        Studie wird im Spätsommer veröffentlicht.
Fantasievoller Erkundungsgang im
                                                ist der Titel eines neuen Projekts der Landes-                     BKJ.DE
Volkspark
                                                arbeitsgemeinschaft (LAG) Kinder- und
Sogar im dicht besiedelten Hamburger
                                                Jugendkultur Hamburg. Bis zur Bundes-            Abschlussausstellung der
Großstadtdschungel gibt es noch „weiße
                                                tagswahl am 26. September teilt die LAG          Talentschmiede als Film
Flecken“ zu entdecken: zum Beispiel ent-
                                                auf Instagram sowie in dem Blog zur Akti-        Die Talentschmiede der LichtwarkSchule
lang der Mühlenau, einem Bach im Ham-
                                                on (siehe unten) seit dem 10. Mai jede           Hamburg ist ein einjähriges Kunst-Stipendi-
burger Volkspark. Für diesen hübschen
                                                Woche fünf kreative Gründe für Kinder-           um für besonders begabte Schüler*innen im
Waldstreifen hat sich die Theatergruppe
                                                und Jugendkultur. Gerade in diesen Zeiten        Alter von 13 bis 15 Jahren (siehe auch Seite
Traummaschine Inc. einen fantasievollen
                                                möchte die LAG zeigen, wie wichtig es ist,       6). Für ein Jahr erhalten die Stipendiat*innen
Erkundungsgang ausgedacht. Der Multi-
                                                allen Kindern kulturelle Teilhabe zu ermög-      von der Künstlerin Adriane Steckhan profes-
media-Walk – ein Update der alten Schnit-
                                                lichen. Gepostet wurden bisher unter ande-       sionellen Kunstunterricht. Die Kurse finden
zeljagd – verläuft über 15 Stationen rund
                                                rem Zitate von Künstler*innen, Comicstrips       im Atelier der Hochschule für angewandte
eine Stunde lang. Nach und nach gelan-
                                                und Bilder von Kunstwerken.                      Wissenschaften Hamburg (HAW) statt. Am
gen die Spaziergänger ins „Hirn der Fins-
ternis“, wie der Titel verspricht, sofern sie                                                    Ende jedes Kurses werden die entstande-
mit einem internetfähigen Smartphone               INSTAGRAM.COM/100_GRUENDE/                    nen Werke im Altonaer Museum öffentlich
oder Tablet samt QR-Scanner sowie wald-                                                          gezeigt. Wegen der Auflagen im Rahmen
                                                             100GRUENDE.DE                       der Coronavirus-Pandemie konnte es diesmal
bodenfähigen Schuhen ausgestattet sind.
Beim ersten Scan begrüßt Kapitän Wal-                                                            keine öffentliche Ausstellung geben, statt-
ter die Besucher in einem kurzen Film           Studie InnovationsBarometer:                     dessen hat das Team der Lichtwark-Schu-
und erzählt ihnen vom rätselhaften Ver-         Erste Egebnisse                                  le einen Film über die Stipendiat*innen und
schwinden seiner Schiffe. An jeder wei-         Wie ist die Stimmung auf der Praxisebene der     ihre Arbeiten erstellt. Dieser kann über die
teren Station erfährt das neugierige Pub-       Kulturellen Bildung? Fühlen sich die Organi-     Webseite und den YouTube-Kanal der Schule
likum ab acht Jahren mehr über den alten        sationen, Vereine und Verbände ausreichend       angesehen werden.
Seefahrer, seine Tochter Charlie und eine       unterstützt? Fragen wie diese hat das „Inno-
geheimnisvolle Frau Krakowski, die einer        vationsBarometer 2020“ untersucht, eine                  LICHTWARKSCHULE.DE
mehrarmigen Meeresbewohnerin ähnelt.            Online-Studie zu den Innovationspotenzia-

                                                                     23
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