Gemeinsamer Rechenschaftsbericht 2020 des Vorstands und Beirats von amntena e.V.
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1. VORWORT Wer immer nur in den Fußstapfen anderer tritt, hinterlässt keine eignen Fußspuren. Daher haben wir uns im Jahr der Pandemie im Herbst 2020 überlegt, dass wir diesem ungewöhnlichen Jahr mit einem für den Verein neuen Instrument, einem schriftlichen Rechenschaftbericht entgegnen wollen. Ziel des Berichts ist, die Mitglieder und Unterstützer oder einfach nur Interessierte, über den Fortgang unserer Arbeit und das Wirken des Vereins zu informieren. Unsere Mitgliederversammlung und viele Treffen und Aktivitäten mussten wir in 2020 leider absagen. Unsere Freiwilligen mussten ihren Dienst unerwartet abbrechen. In diesem Zusammenhang möchten wir unseren Partner- Organisationen in Chile, Peru und Bolivien und insbesondere den deutschen Botschaften vor Ort sowie dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) und dem weltwärts-Sekretariat in Bonn großen Dank aussprechen. Sie alle haben sich vorbildlich verhalten und unseren Freiwilligen und uns tatkräftig zur Seite gestanden. Wir danken auch allen Freiwilligen, ihren Eltern und Unterstützern, unseren Mitgliedern sowie sonstigen Spendern, die durch ihr Engagement oder ihre Spenden unsere Vereinsziele unterstützen. Wir befürchten, dass die weltweite Armut und Ungleichheit durch die aktuelle Pandemie weiter wachsen wird, aber wir werden weiterhin mit Ihnen gemeinsam dagegen ankämpfen! Der Beirat und Vorstand im Mai 2021 1
2. UNSERE ZIELE Zweck des Vereins ist die Förderung der Entwicklungszusammenarbeit. Als der Verein gegründet wurde, nannte man dies noch „Entwicklungshilfe“. Der Terminus „Entwicklungshilfe“ drückt jedoch indirekt die Überlegenheit eines Akteurs aus. Wir wollen aber mit allen Partnern auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Projekte und Maßnahmen planen, verantworten und führen wir stets gemeinsam mit den Menschen vor Ort durch. Aus diesem Grund sprechen wir lieber von Entwicklungszusammenarbeit als von Entwicklungshilfe, auch wenn die Begriffe letztlich dasselbe meinen. Wofür engagieren wir uns? Wir wollen… • Informationen über die sozialen Probleme weitergeben. • Ursachen von Armut und Landflucht aufdecken und benennen. • die Lebensbedingungen der notleidenden Bevölkerung verbessern. • verschiedene Projekte unterstützen. • soziale Dienste in den Projekten für Jugendliche ermöglichen. Warum engagieren wir uns? • Weil wir glauben, dass wir das Zusammenleben der Menschen verbessern können, indem wir uns besser kennen lernen und Vorurteile abbauen. • Weil viele unserer Mitglieder selbst als Freiwillige in Lateinamerika gearbeitet haben und dieses „Glück“ nun weitergeben und teilen wollen. • Weil die Sprache der Schlüssel zu den Menschen ist und unsere Freiwilligen ihr Leben lang von ihren Spanisch-Kenntnissen oder sonstigen Erfahrungen profitieren können. • Weil unsere Freiwilligen als ideelle Botschafter ihrer Einsatzländer und Projekte nach Europa zurückkehren und sie durch ihr Engagement hier weiter unterstützten können. 2
Wie engagieren wir uns? • Wir verfolgen keine eigenwirtschaftliche Zwecke. • Wir engagieren uns für ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige, mildtätige, kirchliche Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung. • Wir sind nicht konfessionell gebunden. • Wir sind selbstlos tätig. Mit Ausnahme einer Verwaltungskraft in der Geschäftsstelle in Tiefenbronn-Mühlhausen arbeiten der Vorstand und der Beirat ehrenamtlich. Für Seminare im Rahmen des weltwärts-Programms mit Förderung durch das BMZ erhalten die Referent*innen Honorarvergütungen nach angemessenen Tagessätzen. 3
3. UNSERE AKTIVITÄTEN Vorstand und Beirat Der Vorstand besteht aus fünf, der Beirat aus bis zu elf Personen. Die Mitglieder beider Gremien werden von der Mitgliederversammlung im zweijährigen Turnus gewählt. Dem Vorstand obliegen die Geschäftsleitung, die Ausführung der Vereinsbeschlüsse und die Verwaltung des Vereinsvermögens. Der Vorstand ist berechtigt, ein Vereinsmitglied zur Vornahme von Rechtsgeschäften und Rechtshandlungen jeder Art für den Verein zu ermächtigen. Der Beirat berät und unterstützt den Vorstand. Vorstand und Beirat arbeiten kollegial miteinander. Die meisten Sitzungen des Vorstands und Beirats finden daher gemeinsam statt. Über Sitzungen und Beschlüsse werden Protokolle geführt. 4
Unsere Beschlüsse im Jahr 2020 Beschluss #1 vom 07.05.2020 Ein bestehendes Arbeitsverhältnis des Vereins zu einem Mitglied wird zum 01.07.2020 auf einen befristeten Angestelltenvertrag in Teilzeit umgestellt. Beschluss #2 vom 12.06.2020 Die Mitgliederversammlung 2020 soll nicht im Herbst 2020, sondern durch Corona bedingt erst 2021 tagen. Beschluss # 3 vom 12.06.2020 Der aktuelle Beirat und Vorstand bleiben, durch Corona bedingt, interimsmäßig ein weiteres Jahr im Amt und werden erst 2021 entlastet und neugewählt. Beschluss # 4 vom 09.10.2020 Unter den jetzigen Corona-Bedingungen werden wir keine Freiwilligen in absehbarer Zeit nach Südamerika entsenden. Beschluss # 5 vom 09.10.2020 Aufgrund der Pandemie entfällt die gemeinsame Weihnachtsfeier von Vorstand und Beirat. Beschluss # 6 vom 09.10.2020 Aufgrund der Pandemie soll in diesem Jahr kein amntena junior Treffen (als Präsenz-Treffen) mehr stattfinden. Beschluss # 7 vom 28.12.2020 Mitglieder, die aus dem Beirat oder Vorstand ausscheiden, sollen eine offizielle Danksagung für ihre Aktivität erhalten. 5
amntena junior amntena junior ist eine Gruppe ehemaliger Freiwilliger, die sich nach ihrer Rückkehr aus Südamerika weiterhin für den amntena e.V. engagiert. Die Gruppe wurde 2012 gegründet und verfügt aktuell über zirka 25 aktive Mitglieder, welche quer über Deutschland verteilt arbeiten oder studieren. Anbei ein vor der Pandemie aufgenommenes Foto aus dem Jahr 2019. In der letzten Sitzung 2019 traten Franziska Leichte und Magdalena Faust von ihren Posten als Koordinatorinnen bei amntena junior zurück; nochmal ein großes Dankeschön! Sie bleiben uns natürlich weiterhin erhalten. Magdalena hat den Schritt in den Beirat gewagt und Franziska bringt ihre vielfältige Erfahrung weiter bei amntena junior ein. Johanna Faust und Jakob Bültemann übernahmen so im Herbst 2019 die Koordination von amntena junior und nach einer Einarbeitung sind sie seit Sommer ganz in ihrer Rolle angekommen. Aufgrund der Corona-Pandemie musste das geplante Treffen im April leider ausfallen. Dank der Lockerungen konnte Mitte August dann endlich wieder ein persönliches Treffen stattfinden. So kamen zwölf ehemalige Freiwillige in Miltenberg bei Familie Faust zusammen, um sich über das letzte Dreivierteljahr auszutauschen und neue Projekte zu planen. Wegen der Pandemie wurden im laufenden Jahr fast alle Info-Messen abgesagt. Deshalb war es auf diesem Wege nicht möglich, über den weltwärts-Freiwilligendienst zu informieren und Interessenten für ein Auslandsjahr mit amntena zu begeistern. Gerade deshalb wurde versucht, Alternativen zu finden. Als Kleinprojekt wurde der Druck von amntena junior Pullis und T-Shirts vorangetrieben. Interessierte an einem solchen Pulli können sich gerne bei amntena junior melden. 6
Beim Treffen in Miltenberg wurden außerdem vier Rückkehrer*innen erstmals in der Runde von amntena junior begrüßt. Es ist immer wieder schön, sich jahrgangs- übergreifend besser kennenzulernen und auszutauschen. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen war ein persönliches Treffen dann leider nicht möglich. Am Samstag, dem 14. November 2020 konnten sich die Mitglieder von amntena junior aber online austauschen. Trotz widriger Umstände war das erste digitale amntena junior Treffen ein voller Erfolg! Zu altbekannten gesellten sich auch neue Gesichter und im produktiven Austausch entstanden wieder gute Ideen zu verschiedenen Themen, mit denen sich amntena junior derzeit beschäftigt. Ein Beispiel dafür ist ein erster Entwurf von Postkarten und Aufklebern, die auf amntena aufmerksam machen sollen. Darüber hinaus wurden weitere Möglichkeiten diskutiert, um junge Menschen für amntena zu begeistern. Neben den konstruktiven Diskussionen blieb am Ende der Sitzung noch Zeit und Raum für den persönlichen Austausch, der leider gerade in dieser Zeit oftmals zu kurz kommt. 2020 führten wir folgende Veranstaltungen durch: • September: Schulvortrag von Annemarie Maier in Oberstdorf • September: Schulvorträge von Lukas Sydow an seiner alten Schule • Oktober: Ehrenamtsmesse in Frankfurt am Main • Oktober: Schulvorträge von Magdalena Faust in Rheinberg und Bönen 7
Aufgrund der Corona-Pandemie mussten wir 2020 folgende Veranstaltungen leider absagen: • März: SchülerInfoTage in Tübingen • Mai: „BerufsInfoMesse“ in Offenburg • Oktober: „Hin und Weg“ Messe in Ulm • Oktober: „Jetzt aber weg“ Messe in Rottweil Alle Rückkehrer*innen können im Anschluss an ihren Freiwilligendienst amntena junior bei der Arbeit unterstützen und Aufgaben übernehmen. Voraussetzung dabei ist lediglich, dass sie Mitglied bei amntena werden. Der heutige Vorstand und Beirat von amntena bestehen inzwischen mehrheitlich aus Menschen, die als Jugendliche am Freiwilligendienst teilgenommen haben. amntena junior ist also weit mehr als eine unbedeutende Jugendorganisation ohne Budget und Handlungsspielraum. Wir sind die Zukunft des Vereins! Interessierte können sich per E-Mail melden und erhalten dann Informationen, beispielsweise zu den nächsten Treffen. Ebenso stehen wir für Fragen jederzeit zur Verfügung. Bei Fragen und für mehr Infos einfach mailen an Johanna Faust oder Jakob Bültemann unter amntenajunior@gmx.de. 8
Spendenaufrufe 2020 Im Jahr 2020 haben wir zwei große Spendenaufrufe an alle Mitglieder und sonstigen Spender und Unterstützer getätigt. Erster Spendenaufruf (Altenpflege-Einrichtungen) Ende Mai 2020 starteten wir durch die Covid-19-Pandemie einen Spendenaufruf zugunsten der Altenpflege-Einrichtungen in Cusco (Peru) und Cochabamba (Bolivien). Gerade ältere Menschen haben in diesen Ländern unsere Hilfen bitter nötig. Das Ergebnis dieses ersten Spendenaufrufes brachte 5.505 Euro zusammen. Das Geld haben wir an die Altersheime in Cochabamba und Cusco überwiesen. Im Namen der Einrichtungen möchten wir den großzügigen Spendern herzlich danken. Zweiter Spendenaufruf (Behinderten-Einrichtungen) Anfang Dezember haben wir in unserem Jahresschlussbrief um die finanzielle Unterstützung unserer Behinderteneinrichtungen aufgerufen. Im vergangenen Jahr war Natalie Boelk aus Bonn im „Hogar Sagrado del Corazón de Jesús" in Cochabamba (Bolivien) tätig. Hannah Küppers aus Heinsberg arbeitete zur gleichen Zeit im Projekt „Dios con Nosotros“ in Recoleta (Santiago de Chile). Im Ergebnis kamen hierbei 10.073 Euro zusammen. Wir waren gleichermaßen überrascht und dankbar, dass so ein großer Betrag von unseren Mitgliedern und Unterstützern zustande gekommen ist. Im Februar 2021 haben wir jeweils 5.000 Euro für die Einrichtungen in Cochabamba und in Santiago de Chile überwiesen. Spendeninitiative von Lukas S. aus Nottuln / Freiburg Lukas aus dem Münsterland war 2019/20 als Freiwilliger in Cusco (Peru) für die Fundación Cristo Vive tätig. Die ungeplante Rückkehr nach Deutschland im Frühjahr dieses Jahres war für ihn Anlass, verstärkt für unser Projekt zu werben. Er hat durch zahlreiche Vorträge bei Schulen und Unterstützern eine tolle Resonanz und Spenden für unsere Projektpartner erzielt, wofür wir und unsere Partner ihm unseren Dank aussprechen. 9
Partnerdialog 2020 in Peru Im Januar 2020 fand wieder der Partnerdialog in Lurín, in der Nähe von Lima, statt. Es kamen die Projektverantwortlichen aus den verschiedenen Einsatzstellen aus Peru, Chile und Bolivien zusammen. Das Treffen dauerte drei Tage. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, wertvolle Einzelgespräche mit den Verantwortlichen aus jedem Projekt zu führen. Dabei ging es hauptsächlich um die Freiwilligen, die von uns in die Stelle entsendet wurden und die Unterstützung bei eventuellen Herausforderungen. Gleichzeitig konnten wir dadurch erfahren, wie es den einzelnen Projekten aktuell geht und über Veränderungen sprechen. Neben diesen Einzelgesprächen fanden etliche thematische Einheiten statt, die alle Teilnehmenden betrafen und gemeinsam gestaltet und durchgeführt wurden. Themen waren die Erwartungen an die Freiwilligen und die der Freiwilligen selbst, Vorbereitung durch amntena auf den Freiwilligendienst, Grundrechte der Freiwilligen und ein allgemeiner Austausch über die Gestaltung sowie Rahmenbedingungen des Freiwilligendienstes. Gerade dieser gemeinsame Austausch macht den Partnerdialog aus unserer Sicht so wertvoll und bereichernd. Zwischenseminar 2020 in Peru Das Zwischenseminar fand 2020 für alle Freiwilligen gemeinsam im Januar in Lurín statt. Für alle Freiwilligen zusammen ein Seminar zu gestalten war eine Herausforderung, die sich aber gelohnt hat. Während des Seminars fanden Einzelgespräche zu jedem Projekt statt, um zu erfahren, wie es den Freiwilligen bisher ergangen ist und darum bei der Lösung von Problemen zu helfen. Zudem gab es hauptsächlich gemeinschaftliche Einheiten. Die Freiwilligen berichteten mit Bilden über positive und negative Erfahrungen der ersten Hälfte des Freiwilligendienstes. Sie hatten die Chance, darüber zu reflektieren, was sie in der zweiten Hälfte ändern möchten oder welche Ideen sie noch gerne verwirklicht sähen. Ein Thema war auch die finanzielle Unterstützung durch amntena für die 10
Durchführung von Projekten der Freiwilligen. Außerdem sprachen wir über die Bestimmungen und Richtlinien des weltwärts-Programms. Bei dem Seminar ging es auch darum, sich schon gedanklich auf die Rückkehr vorzubereiten, beispielsweise sich rechtzeitig über die Gestaltung der Rückkehr und des Ankommens zu machen. Außerdem erarbeiteten wir Ideen für ehrenamtliches Engagement in Deutschland nach der Rückkehr der Freiwilligen. Seminare für weltwärts-Freiwillige Aufgrund der unerwarteten Rückholung unserer Freiwilligen aus den Einsatzländer im Frühjahr 2020 und der ungewissen Lage unseres noch nicht ausgereisten Jahrgangs 2020/21 war es für uns lange fraglich, ob und wie wir Vorbereitungs- und Rückkehrerseminare durchführen wollen und können. Nach reiflicher Planung und Überlegung konnten wir im Juli 2020 ein Rückkehrerseminar in der Jugendherberge in Würzburg durchführen. Im September 2020 konnten wir ein zweites Vorbereitungseminar für den neuen Jahrgang durchführen. Unsere Seminar- und Gruppenarbeiten waren auf das Hygiene-Konzept der Jugendherberge abgestimmt. Wir konnten aber viele Themen im Freien behandeln. 11
Personalia im Beirat und Vorstand Der Vorstand besteht aus fünf Personen. 2020 gab es keine personellen Veränderungen. Der Beirat kann gemäß unserer Satzung aus bis zu elf Personen bestehen. Es gab folgende Veränderungen: Magdalena Faust wurde noch im Dezember 2019 neu in den Beirat aufgenommen. Sie war 2015/16 als Freiwillige in Urubamba (Peru) tätig. Pia Wohnhas hat sich aufgrund der Pandemie beruflich umorientieren müssen und die Geschäftsstelle des Vereins übernommen. Daher ist sie auf eigenen Wunsch im Juni 2020 aus dem Beirat ausgeschieden. Julian Kopp ist auf eigenen Wunsch im Oktober 2020 aus dem Beirat ausgeschieden. Aktuell sind daher vier Posten im Beirat vakant. Mitglieder Der Verein hat zum Ende des Jahres 2020 rund 360 bzw. 412 (mit Partnern) Mitglieder. Im Jahr 2020 traten 21 Mitglieder aus dem Verein aus, jedoch auch 26 neue Mitlieder in den Verein im selben Zeitraum ein. Von unseren Mitgliedern lebt mehr als die Hälfte in Baden-Württemberg. Jedes sechste Vereinsmitglied kommt aus Bayern und jedes zehnte lebt in Nordrhein- Westfalen. Die Prozentuale Verteilung unserer Mitglieder nach Bundesländern sieht daher vereinfacht wie folgt aus: Sitz des Vereins ist Tiefenbronn-Mühlhausen. Daher ist es wenig verwunderlich, dass die meisten Mitglieder (nämlich 20) aus dem Enzkreis stammen. In folgenden Stadt- oder Landkreisen leben jeweils mehr als zehn Mitglieder: Heilbronn, Tübingen, München, Esslingen, Stuttgart, Ortenaukreis, Karlsruhe, Ostalbkreis. 12
15 Prozent unserer Mitglieder sind als Ehepartner bzw. als Familie Mitglied im Verein. Die Mehrheit (51 Prozent) unserer Mitglieder ist weiblich. Das durchschnittliche Mitglied ist seit knapp zwölf Jahren Teil des Vereins. Dabei erfreuen uns mit Blick auf die Dauer der Vereinsmitgliedschaft zwei Dinge: Mehr als zehn Prozent unserer Mitglieder sind seit mehr als 30 Jahren ein wichtiger Bestandteil von amntena. Für das langjährig entgegengebrachte Vertrauen sind wir sehr dankbar und auch stolz, dass diese solide Mitgliederbasis uns über diesen langen Zeitraum unterstützt und an die Ziele und Ideen des Vereins glaubt. Beinahe 40 Prozent unserer Mitglieder sind vergleichsweise neu dabei und erst seit weniger als fünf Jahren Teil des Vereins. Das zeigt, dass wir über die Entsendung von Freiwilligen eine breite Öffentlichkeit erreichen können und dass es uns gelingt, die ehemaligen Freiwilligen sowie Personen aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis für die Arbeit von amntena zu begeistern und als Mitglieder des Vereins zu gewinnen. In Summe sind Personen aus allen Altersschichten bei amntena vertreten und bilden eine gesunde und solide Basis. 13
4. BERICHTE AUS DEN LÄNDERN Aufgrund der Corona-Pandemie mussten die Freiwilligen des Jahrgangs 2019/20 ihren Dienst leider im Frühjahr 2020 abbrechen und nach Deutschland zurückreisen. Da das Virus weiterhin weltweit grassiert und die Fallzahlen auch in Lateinamerika hoch sind, war eine Entsendung neuer Freiwilliger aus dem Jahrgang 2020/21 nicht möglich. Auch wenn wir über unsere Länderbeauftragten im Verein weiterhin regelmäßig im Kontakt zu den Partnerorganisationen vor Ort stehen und uns mit diesen über die aktuelle Lage austauschen, fällt es uns schwerer, Einblicke in die tägliche Arbeit in den Einsatzstellen zu geben. Dafür haben sich drei Rückkehrer/innen intensiv mit den (politischen) Geschehnissen in unseren Einsatzländern auseinandergesetzt und darüber berichtet. Die folgenden Berichte wurden bereits in unserem Dezember-Newsletter veröffentlicht und können in ihrer kompletten Fassung auf unserer Homepage abgerufen werden. Sie geben jeweils die Meinung der genannten Verfasser wieder. Peru Hintergründe zur Amtsenthebung des peruanischen Präsidenten Ege Can Yalim aus Köln war als Freiwilliger im Jahrgang 2017/18 in Prosoya (Peru) und hat hier seine zweite Heimat gefunden. Seit seiner Rückkehr nach Deutschland studiert er in Tübingen Soziologie & Erziehungswissenschaft, hält aber weiterhin Kontakt nach Peru und berichtet darüber, wie er die jüngsten politischen Ereignisse rund um die Absetzung von Präsident Vizcarra wahrgenommen hat: Im November 2020 beschloss der peruanische Kongress, den zu diesem Zeitpunkt amtierenden Präsidenten Martín Vizcarra des Amtes zu entheben. Es kursierten Gerüchte, dass er zwischen 2011 und 2014 als Gouverneur Bestechungsgelder von einer Baufirma erhalten hätte. Im Raum stehen umgerechnet etwa 500.000 Euro. Vizcarra stritt die Vorwürfe ab. 105 von 130 Kongressabgeordneten stimmten dennoch für die Entmachtung des Staatschefs. Was folgte, waren heftige Proteste im gesamten Land. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei starben mehrere Personen. Hunderte wurden verletzt. Die Bevölkerung stellte sich zwischen Corona- und Wirtschaftskrise gegen die Übergangsregierung, die deshalb nach nur fünf Tagen im Amt bereits wieder zurücktrat. 14
Die Menschen gingen aber auch danach noch weiter auf die Straße, da sie im Amt des Präsidenten ein Symbol für viele Missstände im Land sehen. Den letzten sieben wird Korruption vorgeworfen. Aber auch der Kongress ist nicht frei von diesem Laster. Gegen 68 der 130 peruanischen Kongressabgeordneten laufen aktuell Ermittlungen wegen Bestechung, Veruntreuung und ähnlichen Delikten. Obwohl Peru eine starke Wirtschaft innerhalb Lateinamerikas vorzuweisen hat und in den letzten Jahren durchgehend gewachsen ist, kommt davon bei einem Großteil der Bevölkerung wenig an. Vor allem die jungen Menschen streben nach Veränderung. Malin berichtet von ihrer Arbeit in Peru Malin Walter (20) aus Berlin war bis zu Beginn der Pandemie in Peru tätig. Inzwischen studiert sie internationale Beziehungen an der Universität Erfurt. Hier hat sie ihre Erlebnisse für uns zusammengefasst. Peru ist ein Land, welches man einfach nicht zusammenfassen kann, da es so facettenreich ist. Der ganze Auslandsaufenthalt war von Anfang bis Ende immer für eine Überraschung gut. Das beste Beispiel dafür ist die Arbeit im Frauenhaus, denn diese war unvorhersehbar. Während Meike und ich jeden Morgen die 746 Stufen hinaufstiegen, überlegten wir uns, wie heute der Plan aussehen würde und wann wir wohl heute die Stufen wieder hinabsteigen werden. Aber man konnte einen Tag im Frauenhaus einfach nicht planen. Immer, wenn wir uns sicher waren, dass wir heute einen ganz normalen Tag vor uns haben, änderte sich dies, sobald wir durch die Tür traten. An der Tür wurden wir mit lauten Rufen und vielen Umarmungen von den Kindern begrüßt. Allein für diese Freude bin ich jeden Morgen sehr gerne ins Frauenhaus gegangen. Auch die Mamas haben uns immer mit vielen Besitos (Küsschen) und Umarmungen empfangen. Da es keinen regelmäßigen Tagesrhythmus gab, haben wir uns jeden Tag eine Aufgabe gesucht. Wir sind mit den Kindern zum Fußballplatz gelaufen, haben gemalt und gelesen, haben den Mamas in der Küche geholfen, sie in die Stadt begleitet oder unseren Englischunterricht vorbereitet. Hinzu kam noch unser Workshop „cocina alemana“ und der Boxkurs. Bei all diesen Aktivitäten hatten alle immer sehr viel Spaß, wir haben viel gelacht und voneinander lernen können. Durch die Arbeit im Frauenhaus bin ich sehr viel flexibler und spontaner geworden. Wer hätte gedacht, dass man einen ganzen Kochworkshop quasi ohne Zutaten problemlos durchführen kann. Durchstrukturieren und Planen bringen in Peru einfach nichts, da sich jeder gemachte Plan in Sekunden einmal um 180 Grad drehen kann. Ich habe zudem sehr viel über die peruanische und deutsche Küche gelernt, indem wir Gerichte mit den Mamas gekocht haben, die ich vorher noch nie zubereitet habe. 15
So schön all die Ausflüge waren, so viel schöner war es jedoch in unserem Zuhause, Cusco, mit der stets vor uns liegenden, schönen Aussicht auf die Berge. Genauso waren es die vielen Paraden und Feste mit singenden und tanzenden Menschen in den Straßen; das Staunen über den Blick über die Stadt; das ständige Ausschauhalten nach dem schneebedeckten Berg Ausangate. Mit der Zeit lernte man mehr und mehr die Stadt und die Menschen kennen. So trafen wir auf dem Weg zur Arbeit schon viele Bewohner, die uns freundlich grüßten und mit denen wir ab und zu in eine kleine Unterhaltung gerieten. Auch in den Tiendas (kleinen Läden) hatten wir irgendwann unsere Lieblingsmamitas gefunden, mit denen man sich stets sehr gut unterhalten konnte. Das traf natürlich nicht nur auf die Läden zu, sondern auch auf die Märkte, denn da freuten sich unsere Mamitas durchweg sehr, wenn wir für unseren Einkauf vorbeikamen. Da man am Anfang immer für einen Touristen gehalten wird, ist es umso schöner, wenn man mit den Einheimischen auf peruanischem Spanisch reden und ihnen erklären kann, dass man nun schon längere Zeit in der Stadt ist und auch noch ein bisschen bleiben wird. Denn so wurde man von jedem gleich ganz anders behandelt. Neben der Arbeit im Frauenhaus hatten wir ab und zu die Möglichkeit, unserer Chefin Ana María auf ihrem Feld zu helfen. Dieses Feld war nur durch eine Stunde Laufen erreichbar und war somit eine sehr schöne Abwechslung zu dem Alltag in der Stadt. Neben den Ausflügen auf das Feld trafen wir uns zum Frühstück bei ihr oder fuhren mit ihr in die Nachbarorte. Ich hatte immer das Gefühl, dass es in ihrem Interesse lag, dass wir so viel wie möglich von Peru kennenlernen. Das habe ich sehr schätzen gelernt. Außerdem hat sie sich ausnahmslos um uns gekümmert, vor allem in den letzten Wochen. Genauso dankbar bin ich für die gute Betreuung von Seiten der Amntena. Wir hatten viele Ansprechpartner, die stetig ein offenes Ohr für uns hatten. Susanne Remmlinger war unsere Freiwilligenbetreuerin in Peru. Sie holte uns vom Flughafen ab und begleitete uns in unseren ersten Stunden in Lateinamerika. Susanne war für uns jederzeit erreichbar und stand uns mit Rat und Tat zur Seite; ebenso Aglaja, unsere Freiwilligenbetreuerin auf deutscher Seite. Da sie bei den Vorbereitungs- und Zwischenseminar mit dabei war, konnten wir von Anfang an all unsere Fragen an sie stellen, was sehr hilfreich war. Auch Kurt Wohnhas, erster Vorsitzender von Amntena e.V., leitete jedes Seminar und erzählte uns viele Anekdoten. Er kümmerte sich um viele organisatorische Dinge und half uns bei jeglichen Problemen vor und nach unserem Dienst. Außerdem möchte ich meinen herzlichen Dank an alle Spenderinnen und Spendern richten, die mir diese unglaubliche Zeit erst ermöglicht haben. 16
Chile Rückblick auf die Proteste in Chile 2019 sowie die darauffolgende Abstimmung über eine Verfassungsreform im Herbst 2020 Esther Bammel aus Edenkoben hat ihren Freiwilligendienst bei unserer Partnerorganisation Cristo Vive in Santiago de Chile geleistet. Im Jahrgang 2016/17 hat sie in der Einrichtung für Menschen mit Behinderung "Hogar dios con nosotros" gearbeitet und ist auch während ihres Studiums der Sozialen Arbeit für ein Praktikum bei Amnesty International erneut nach Chile zurückgekehrt, kurz bevor die Proteste dort begannen, von denen sie nun berichtet. Ihre Bachelorarbeit an der FH Münster beschäftigt sich mit einer Aufführung chilenischer Aktivistinnen ("Un violador en tu camino" der Gruppe „Las Tesis“), die mit ihrer Performance gegen Vergewaltigung, strukturelle Diskriminierung von Frauen und Straffreiheit demonstrieren. Der 18. Oktober 2019 war ein historischer Tag für Chile. An diesem Tag begann eine noch immer andauernde Welle von Protesten in großen Teilen der chilenischen Bevölkerung gegen soziale Ungerechtigkeit. Der angekündigte Anstieg der U- Bahn-Preise gepaart mit den jahrzehntelangen unwürdigen Verhältnissen im Land ließen das Fass überlaufen. Zwischen dem 18. Oktober und dem 19. November 2019 gab es nach Angaben des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte 26 Tote während der Proteste - einige durch Schusswaffen der Sicherheitskräfte - sowie tausende Verletzte. Die Gründe für die Demonstrationen sind vielfältig. Viele der angeklagten Verhältnisse können jedoch auf die veraltete Verfassung zurückgeführt werden, die 1980 von dem Diktator Augusto Pinochet (1916-2006) verabschiedet wurde. Auch wenn die Verfassung selbst nach der Diktatur immer wieder geändert wurde, wurden die grundsätzlichen Probleme nicht aus dem Weg geräumt. Allgemein kann gesagt werden, dass das neoliberale Wirtschaftssystem, das in der Verfassung verankert ist, die Wirtschaft über die Rechte und Bedürfnisse der Menschen stellt und der Staat kaum eingreifen darf. In Chile herrscht eine hohe Ungleichheit, die in einigen Bereichen besonders stark zum Vorschein kommt. Im Dezember 2019 schien der Präsident einzusehen, dass die Menschen sich nicht wieder beruhigen würden. Sie würden die Ungerechtigkeiten nicht weiter hinnehmen und darauf hoffen, dass die Politik schon ihr Bestes tun wird, um die Lebensrealität vieler Chilenen und Chileninnen zu verbessern. Piñera kündigte daher an, dass am 26. April 2020 ein Referendum stattfinden solle. Dabei sollten die Chilenen und Chileninnen bestimmen, ob sie eine neue Verfassung wünschen und wenn ja, wie diese entstehen soll. 17
Anfang 2020 verschob die Regierung das Referendum aufgrund der Corona Pandemie auf den 25. Oktober. Während die emigrierten Chilenen im Ausland ihre Stimme – aufgrund der Zeitverschiebung – teilweise schon abgegeben hatten, öffneten die Wahllokale in Chile am 25. Oktober um 8 Uhr morgens. Den ganzen Tag lang wurde über das Referendum berichtet. Alle Fernsehkanäle waren live zugeschaltet und man sah, wie die ersten Zettel aus den Boxen geholt wurden. Auf einem Sender wurden die Zettel des reichen Viertels Vitacura und gleichzeitig die des eher ärmeren Viertels Estación Central parallel übertragen. Die Verhältnisse waren bei beiden ungefähr gleich: 70 zu 30. Bloß waren in Vitacura 70% gegen die Verfassungsänderung und in Estación Central 70% dafür. Im Laufe des Abends kristallisierte sich jedoch letzteres Verhältnis im ganzen Land heraus und so lautet das Endergebnis schließlich: 78,28% der Stimmen für die neue Verfassung, 21,72% dagegen! Nur in fünf von 346 Kommunen gewannen die Gegner der Verfassungsänderung. Dabei handelte es sich um die reichsten Kommunen des Landes. In den Armenvierteln Renca und La Pintana, in denen auch amntena Freiwillige und unsere Partnerorganisation Cristo Vive vor Ort präsent sind, stimmten hingegen ca. 90% für die Verfassungsänderung. Mit dem historischen Beschluss der Verfassungsänderung verbinden viele Chileninnen und Chilenen die Hoffnung auf einen Schritt in Richtung mehr sozialer Gerechtigkeit. Deshalb konnte auch die Corona Pandemie die Menschen nicht am Feiern hindern. Schon in den Wahllokalen wurde gejubelt. Auf den Straßen wurde gehupt und mit Fahnen geschwungen, gesungen, getanzt. Es wurden Feuerwerke gezündet und bis spät in die Nacht gefeiert. Monatelang gaben die Chilenen und Chileninnen nicht auf. Sie schreckten nicht zurück, als die Regierung die Polizei und das Militär auf sie hetzte und versuchte, sie einzuschüchtern. Sie resignierten nicht wegen der konstanten Beleidigungen der Politiker, denen es scheinbar gleichgültig war, wie es dem Volk ginge. Hartnäckig stellten sie sich der vielfältigen Gewalt und beharrten auf ihrem Recht auf Versammlung. Auch wenn die Aussicht auf eine neue Verfassung ein historisches Erlebnis ist und Grund zum Feiern gibt, sollen und werden die vielen Opfer des Kampfes für ein würdigeres Chile nicht vergessen werden. Madeleine berichtet von ihrer Arbeit in Chile Madeleine Erdmann (20) aus Wolfach (Baden) war bis zu Beginn der Pandemie in Chile tätig. Zurzeit arbeitet sie als Rettungssanitäterin für das Rote Kreuz im Ortenaukreis. Hier hat sie ihre Zeit in Chile für uns zusammengefasst. Anfang August ging es ans andere Ende der Welt, in unser neues zu Hause, Santiago de Chile. Nach einer langen Reise wurden wir dann total herzlich von Helga begrüßt und danach ging es direkt zu Schwester Karoline, die uns ebenfalls mit offenen Armen empfing. 18
Nach Kofferauspacken, Schnuppertagen im Kindergarten, Sprachschule und dem Kennenlernen meiner Mitbewohnerinnen ging der Alltag auch schon los. Ich habe mich dafür entschieden in der Sala mit den ältesten Kindern zu arbeiten. In der so genannten „Transición“ sind Kinder zwischen vier und fünf Jahren, die im kommenden Jahr eingeschult werden. Langeweile kam mit dieser Gruppe nicht auf. Nach unserer Ankunft wurde gleich mit den Vorbereitungen für den Nationalfeiertag im September begonnen, der in Chile sehr groß gefeiert wird. Im Oktober kamen dann zwar nur ganz wenige Kinder, doch trotzdem war es alles andere als langweilig. Grund dafür waren die Proteste, welche am 18. Oktober begonnen haben. Viele Eltern hatten daraufhin Angst, ihre Kinder aus dem Haus gehen zu lassen. Die Stimmung im Kindergarten war bedrückt und auch wir in der WG wussten nicht genau, wie wir mit der Situation umgehen sollten. Unser Supermarkt wurde geplündert, das Militär fuhr durch die Straßen und ein nahegelegenes Gebäude in unserem Viertel ist bei Protesten abgebrannt. Während der Ausgangssperre durften wir das Haus nicht verlassen und fühlten uns zum Teil in unseren eigenen vier Wänden nicht mehr sicher. In dieser Zeit wurden wir sehr gut von unseren Tías, Helga und von amntena unterstützt. Immer wieder fragten sie nach, wie es uns gehe, kamen bei uns zu Hause vorbei und gaben uns Sicherheit. Nach ein paar Wochen beruhigte sich die Lage, allerdings hörten die Proteste bis zu unserer Abreise nie auf. Gleich nach den Weihnachtsfeiertagen gingen auch schon die Vorbereitungen der „Despedida“ (der Verabschiedung der ältesten Kinder, die in die Schule kommen) los. Es wurde viel geplant, gebastelt und geputzt. Die unmittelbaren Vorbereitungen und die letzten paar Wochen mit meinen Kindern habe ich allerdings verpasst, da es für mich und die anderen Amntena Freiwilligen im Januar nach Peru zum Zwischenseminar ging. Gemeinsam mit allen Freiwilligen haben wir das letzte halbe Jahr reflektiert. Es war echt interessant, sich mit den Freiwilligen aus den anderen Ländern zu unterhalten und von ihren Erfahrungen und Erlebnissen zu hören. Im Februar, den Sommerferien im heißen Santiago, als die Kinder dann nicht mehr da waren, hatten wir Zeit, ein Kleinprojekt in unserer Einrichtung durchzuführen. Wir Freiwilligen im Kindergarten Renca beschlossen, mit Hilfe unserer Mittbewohnerin Anne, ein bereits bestehendes Haus auf dem Innenhof des Kindergartens zu einem Kaufladen umzugestalten. Wir haben es frisch gestrichen, Regale eingebaut und Spielsachen darin platziert. Zudem haben wir Beete, die sich ebenfalls auf dem Hof des Kindergartens befinden, bepflanzt. Wir vier hatten bei der Durchführung des Projekts sehr viel Spaß und insgesamt war unser Projekt ein voller Erfolg, worüber sich die Tías und vor allem die Kinder sehr gefreut haben. 19
Zwar haben wir stets neue Informationen über die Lage auf der ganzen Welt bekommen, dennoch hat niemand damit gerechnet, dass wir unseren Dienst abbrechen müssten. Zunächst waren wir alle am Boden zerstört und zutiefst traurig, uns innerhalb von wenigen Tagen von unserer neuen Heimat und den liebgewonnenen Menschen verabschieden zu müssen. Nach und nach kam dann aber das Verständnis und die Einsicht, dass es so wahrscheinlich am besten für uns alle ist. Nach rührendem Abschied von meiner Einrichtung, von Helga und Schwester Karoline ging es für mich am 21. März wieder zurück nach Deutschland und zu meiner Familie. Es war im Endeffekt kein ganzes Jahr, aber ich habe in diesen acht Monaten super viel gelernt, gesehen und entdeckt. Und es war die beste Entscheidung, ein solches Abenteuer einzugehen. Ich bin unendlich dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte und dankbar für all die Menschen, die mich in diesem Jahr begleitet haben. Dankbar bin ich auch gegenüber der Amntena, der Fundacion Cristo Vive, meinen Spendern und all den Menschen, die mich in diesem Jahr begleitet haben. 20
Bolivien Die politische Situation in Bolivien sowie die Präsidentschaftswahlen 2019 und 2020 Lars Schacht war als Freiwilliger im Jahrgang 2017/18 in der Landwirtschaftsschule in Cochabamba, Bolivien tätig. Auch nach seiner Rückkehr aus Lateinamerika bleibt er dem Kontinent verbunden und studiert in Bonn Lateinamerikastudien, Politik und Gesellschaft. Mit der öffentlichen Berichterstattung im deutschsprachigen Raum über das Geschehen in Lateinamerika ist es so eine Sache: Während die gewaltsamen Proteste in Guatemala gegen die korrupte Regierung, bei denen Teile des Parlaments in Brand gesteckt und fast 50 Menschen ins Krankenhaus gebracht wurden, in der Tagesschau nach weniger als zwei Minuten „abgefrühstückt“ waren, kamen andererseits viele Smartphones angesichts unzähliger „Eilmeldungen“, die den Tod eines argentinischen Fußballspielers verkündeten, gar nicht mehr zur Ruhe. Ein weiteres Beispiel dafür, dass der südliche Teil des amerikanischen Kontinents hierzulande für die meisten Menschen von äußerst geringem Interesse ist, wenn es nicht gerade um Ballsportarten geht, zeigte sich innerhalb des letzten Jahres am Beispiel Boliviens, das in diesem Zeitraum massive politische Umbrüche durchlitt. Es ist bezeichnend, dass einer der längeren Videobeiträge des öffentlichen Rundfunks zu diesem Thema ausgerechnet die Zukunft des Wirtschaftsabkommens (bezüglich des Lithiumvorkommens im Salar de Uyuni) zwischen der bolivianischen Regierung und einem süddeutschen Unternehmen in den Fokus nimmt und damit die landesinterne Relevanz der politischen Ausnahmesituation auf ein Minimum reduziert. Hierin zeigt sich der noch immer in den Köpfen vieler Menschen verankerte Eurozentrismus und die anhaltende Kolonialität, die im weiteren Verlauf dieses Textes, der die bolivianischen Präsidentschaftswahlen 2019 und 2020 und die dazwischenliegende Übergangsperiode thematisiert, immer wieder betont werden soll. 1. Die Ära Morales und die politische Ausgangssituation 2019 Ohne Betrachtung ihrer langen Vorgeschichte lassen sich die bolivianischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2019 und die darauffolgenden Ereignisse kaum verstehen. Bereits vor dem eigentlichen Stichtag am 20. Oktober 2019 war das Land von einer inneren Spaltung in zwei Lager geprägt, die auf Konfliktlinien zurückzuführen ist, die die äußerst heterogene Bevölkerung des Binnenstaats schon seit der politischen Unabhängigkeit von Spanien im Jahre 1825 durchziehen. Diese Polarisierung hatte sich mit der Regierungszeit der MAS-Partei (Movimiento al Socialismo) unter dem Präsidenten Evo Morales Ayma noch weiter zugespitzt. Als erster indigener Präsident Boliviens verfolgte er mit seiner Regierung ab 2006 21
ein dekolonialistisches Programm, in dessen Rahmen zahlreiche innen- und außenpolitische Veränderungen angestoßen wurden, auf die an dieser Stelle nur exemplarisch eingegangen werden kann. So ließen sich ab 2006 unter anderem eine erhebliche Stärkung der Rechte von Indigenen und eine deutliche Zunahme der Wirtschaftskraft und Alphabetisierungsrate feststellen. Außerdem ging der Anteil der Menschen unter der Armutsgrenze an der Gesamtbevölkerung weiter zurück und es wurde ein Gesetz erlassen, das Kinderarbeit unter bestimmten Bedingungen legalisierte . Außenpolitisch kam es seit 2006 zu einer ideologischen Entfernung von den USA und damit einhergehend zum Rückgang der wirtschaftlichen und politischen Einflussnahme der Supermacht auf den Andenstaat. Auf der anderen Seite wurden die Beziehungen nach Kuba, Venezuela, Russland und China vertieft. Außerdem war 2018 ein Abkommen zwischen dem baden-württembergischen Unternehmen ACI Systems und YLB, dem staatlichen Lithiumunternehmen Boliviens, unterzeichnet worden, das eine massive Ausbeutung des wertvollen Rohstoffes Lithium im Salar de Uyuni durch ausländische Großunternehmen zu für Bolivien ungünstigen Bedingungen verhindern sollte. Trotz des progressiven Kurses der MAS-Regierung ist deren Amtszeit jedoch bei weitem nicht nur positiv zu bewerten und man sollte sich hüten, in Lobeshymnen auf ihre polarisierende Gallionsfigur Evo Morales zu verfallen, um den in den vergangenen Jahren bei seinen Befürworter*innen ein regelrechter Personenkult entstanden ist. Im Folgenden seien nur einige der kritischen Amtshandlungen Morales und der MAS-Regierung angeführt. Dass zahlreiche Politiker*innen in Lateinamerika in Hinblick auf Korruption keine allzu vorbildlichen Verhaltenen an den Tag legen, ist kein Geheimnis. Wenige Staatsoberhäupter haben es in ihrer Amtszeit jedoch durchgesetzt, ein neues Regierungsgebäude auf Staatskosten von umgerechnet fast 30 Mio. € errichten zu lassen, das einen Privatbereich für den Präsidenten enthält, der über eine Luxusausstattung jenseits aller Verhältnismäßigkeiten verfügt. Das im Volksmund als „Evo-Tower“ bezeichnete Hochhaus inmitten der Altstadt von La Paz bietet einen unübersehbaren Ausreißer im Stadtbild des bolivianischen Regierungssitzes. Das für den Umzug noch nachvollziehbare dekolonialistische Argument, der ehemalige Regierungspalast sei durch seinen europäischen Architekturstil als Glorifizierung der Kolonialgeschichte interpretierbar und somit antiindigenistisch, rechtfertigt andererseits wohl kaum einen solchen Prunkbau wie den „Evo-Tower“. Neben zweifelhaften Staatsausgaben sind es vor allem aber die Eingriffe in die bolivianische Verfassung, die eine breite Angriffsfläche auf Morales und die MAS-Regierung bot und Vorwürfe, Bolivien sei auf dem Weg in eine sozialistische Diktatur, aufkommen ließ. Hatte die Verfassung auch eine wiederholte Wiederwahl des Duos Morales/García Linera ausgeschlossen (Artikel 168), so konnte dieses Gesetz dennoch durch eine Änderung im Jahre 2009 übergangen werden und ermöglichte Morales und seinem Vizepräsidenten García Linera eine erneute Amtszeit bis 2019. Trotz der Verfassungsänderung war jedoch eine anschließende vierte Amtszeit weiterhin blockiert. Statt sich nun um eine passende politische Nachfolge zu kümmern, konzentrierte sich die MAS darauf, eine erneute Verfassungsänderung durchzusetzen, die Morales und García Linera bis 2025 im Amt halten sollte. Das 22
dafür erforderliche Referendum wurde 2016 von der Bevölkerung mit absoluter, wenn auch knapper Mehrheit abgelehnt, Ende 2018 jedoch mit Bezug auf die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom bolivianischen Verfassungsgericht für ungültig erklärt, welches daraufhin Morales erneutes Antreten zur Wahl 2019 erlaubte. Zusätzlich zu den tief in der bolivianischen Bevölkerung verankerten Konfliktlinien (bspw. Hochland/Tiefland, Stadt/Land, Indigene/Nichtindigene) hatte sich der politische Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern der MAS- Regierung vor den Präsidentschaftswahlen 2019 also zudem wegen der polarisierenden Debatte um einen möglichen Demokratieabbau verschärft. Zutiefst emotionalisiert rief dies teilweise Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten hervor. 2. Die Präsidentschaftswahl am 20. Oktober 2019 und die politischen Unruhen danach Das bolivianische Wahlsystem sieht vor, dass Kandidat*innen die absolute Mehrheit der Stimmen oder mindestens 40% der Stimmen und einen Vorsprung von mindestens 10% auf den*die Zweitplatzierte*n haben müssen, um Präsidentschaftswahlen im ersten Gang zu gewinnen. Bei der Wahl 2019 hatten Prognosen im Vorhinein zwar von einer wahrscheinlichen Mehrheit der MAS gesprochen, jedoch auch von einer großen Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Bedingungen für einen Wahlsieg im ersten Durchgang nicht erfüllt werden würden. Als größten Konkurrenten für Morales bei einer möglichen Stichwahl wurde der konservative Carlos Mesa von der Partei Comunidad Ciudadana (CC) mit Gustavo Pedraza als Vizepräsidentschaftskandidat an seiner Seite prognostiziert. Da es sicher schien, dass im Falle einer solchen Stichwahl vermutlich alle Anhänger der Opposition gesammelt für Mesa stimmen würden, war es für die MAS von ungemeinem Interesse, im ersten Wahldurchlauf den nötigen Anteil der Stimmen zu erhalten. Bei Veröffentlichung der Zwischenergebnisse, sah es zunächst nach 84% ausgezählter Stimmen danach aus, dass die MAS nicht genügend Stimmen erhalten würde, um eine Stichwahl zu verhindern. Anschließend an diese Hochrechnung brach die Aktualisierung der Zwischenergebnisse für 23 Stunden ab. Als am Abend des 21. Oktober die Übertragung erneut einsetzte, waren 95% der Stimmen ausgezählt und der Abstand von Morales auf Mesa groß genug, um aus dem ersten Wahldurchgang als siegreich hervorzugehen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die die Wahl beobachten lassen hatte, fasste diese drastische Änderung der Verhältnisse als Indizien für einen möglichen Wahlbetrug auf, äußerte diese Befürchtungen öffentlich und appellierte an die Oberste Wahlbehörde Boliviens. Daraufhin kam es in mehreren bolivianischen Städten zu gewaltsamen Ausschreitungen unter den Anhängern der Opposition. In den folgenden Tagen wurden mehrere Generalstreiks organisiert, bei denen es um die Forderung einer Stichwahl zwischen Morales und Mesa ging. Nichtsdestotrotz wurde Evo Morales am 25. Oktober von der Obersten Wahlbehörde mit 47% der Stimmen zum Sieger im ersten Wahlgang erklärt. Mesa hatte mit 36,5% nicht genügend Stimmen erhalten, um eine Stichwahl zu begründen. Trotz anhaltender 23
Anschuldigungen des Wahlbetrugs von verschiedenen Seiten hatte sich das Duo Morales/García Linera also im Amt halten können. Im Laufe der folgenden Wochen rissen die gewaltsamen Proteste in verschieden Teilen des Landes nicht ab. Insbesondere in Santa Cruz de la Sierra wurde weiterhin unter der Führung des ultrarechten Luis Fernando Camacho (Leiter des Comité Cívico de Santa Cruz) gewaltsam gegen den Wahlsieg Morales protestiert. In mehreren Städten kam es außerdem zu Gegendemonstrationen der MAS-Anhänger*innen, zu denen die Regierung teilweise aufgerufen hatte. Anfang November schlossen sich in Santa Cruz, Cochabamba und Sucre Polizist*innen den Demonstrationen an, wogegen das Militär auf Anordnung des Verteidigungsministers Javier Zavaleta (MAS) jedoch vorerst nicht vorging. Abschließend sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass bis heute kein Beweis für einen tatsächlichen Wahlbetrug vorgelegt werden konnte, weder seitens der OAS noch aus anderer Quelle. Es handelt sich also nur um unbelegte Vorwürfe, die zu den gewaltsamen Ausschreitungen nach der Wahl führten. Der Wandel hinsichtlich der Stimmverteilung nach dem Abbruch der Ergebnisaktualisierung konnte aus anderen Quellen schlüssig damit begründet werden, dass Hochburgen der MAS schlichtweg später ausgezählt wurden als Landesteile mit hoher Konzentration an Oppositionellen. Mehrere US-amerikanische Wissenschaftler*innen (von der University of Pennsylvania, der Tulane University und dem Massachusetts Institute of Technology) konnten mittlerweile unabhängig voneinander nachweisen, dass es bei den bolivianischen Präsidentschaftswahlen 2019 keinen Wahlbetrug gab. Im Gegenzug wurde die OAS (bisher folgenlos) der Mitverantwortung für das politische Debakel beschuldigt. 3. Der Rücktritt Morales und die Selbsternennung der Interimspräsidentin Die Proteste nach der Wahl hatten stetig an Intensität gewonnen. So wurden von mehreren Anhängern der Opposition im weiteren Verlauf der Ausschreitungen vielerorts Whipalas verbrannt und einige Polizist*innen entfernten sie von ihren Uniformen. Dieses symbolische Verhalten -in der kolonialen Tradition von Rassismus und Indigenenfeindlichkeit- rief heftigste Gegenreaktionen der MAS- Anhänger*innen hervor. Am 10. November schließlich entzog in Anbetracht des unhaltbaren Zustandes der beidseitigen Gewalt nach der Polizei nun auch das Militär die Unterstützung für die MAS-Regierung unter Morales, woraufhin dieser Neuwahlen zustimmte. Noch am Abend desselben Tages verkündete Morales seinen Rücktritt. Dass der frisch wiedergewählte Präsident plötzlich auf die Idee kam, freiwillig in der Provinz von Chimoré unter einer Abdeckplane auf einem Feldbett zu nächtigen, um sich anschließend ins mexikanische Exil zu begeben, ist unwahrscheinlich. Und tatsächlich hatte der „Rücktritt“ Morales nicht ohne Druck des Militärs stattgefunden, was den Begriff des „Putsches“ ins Spiel brachte. Zwei Tage danach ernannte sich Jeanine Áñez, die zweite Vizepräsidentin des Senats, selbst als Interimspräsidentin zu Morales Nachfolgerin und formte eine Übergangsregierung. Da alle verfassungsrechtlich Nachfolgenden zurückgetreten waren, ließ die Verfassung offen, wer nun das Recht auf das Präsidentschaftsamt 24
innehatte und Áñez Selbsternennung wurde vom bolivianischen Verfassungsgericht akzeptiert. Die Tatsache, dass es sich bei den ersten Gratulanten der neu ernannten Präsidentin um Donald Trump und Jair Bolsonaro handelte, dürfte bei vielen die Alarmglocken zum Klingen gebracht haben. Und tatsächlich verkörperte Áñez in vielerlei Hinsicht das exakte Gegenteil zu Morales: Bei ihrem Einzug ins Regierungsgebäude verkündete sie, unter ihr würde „die Bibel wieder in den Palast zurückgebracht werden“ und die angebliche indigene Hegemonie beendet werden. Ihre indigenenfeindliche Haltung brachte sie in der Vergangenheit in den sozialen Medien immer wieder zum Ausdruck. Die Amtszeit von Jeanine Áñez sollte ursprünglich nur bis zu den verkündeten Neuwahlen nach spätestens 90 Tagen andauern, umfasste letztlich aber ein knappes Jahr. 4. Die Übergangszeit unter Jeanine Áñez Die Selbsternennung Áñez und die Flucht führender MAS-Politiker*innen nach Mexiko hatte auf die Situation in Bolivien keinesfalls eine deeskalierende Wirkung. Sah die vorher gewaltsam demonstrierende Opposition zwar ihre Forderungen erfüllt und den Anreiz für weitere Protestaktionen somit nicht mehr gegeben, waren es nun vor allem die MAS-Anhänger*innen, die auf die Straße gingen. In La Paz und vor allem in El Alto, das einen besonders hohen Anteil an indigener Bevölkerung aufweist, kam es durch errichtete Straßensperren zum Stillstand des Verkehrs. Von Cochabamba aus versuchte ein Zusammenschluss zahlreicher Gegner*innen der neuen Übergangsregierung, bis zum Regierungssitz La Paz zu gelangen, um dort für die Rückkehr Morales ins Amt des Präsidenten zu protestieren. Auf dem Weg kam es kurz hinter Cochabamba in der Stadt Sacaba am 15. und 16. November zu einem regelrechten Massaker, bei dem neun Menschen von Polizei und Militär erschossen und über 100 Menschen verletzt wurden. Ein am Vortag von Áñez erlassenes Dekret, in dem sie das Militär aufgefordert hatte, gegen die Demonstrierenden vorzugehen und die Einsatzkräfte gleichzeitig vor anschließender Strafverfolgung befreit hatte, dürfte wesentlich zu deren Einsatz von unverhältnismäßiger Gewalt beigetragen haben. Am 20. November kam es in El Alto im Stadtteil Senkata zu einem weiteren Vorfall, bei dem mehrere Menschen bei Protesten von Sicherheitskräften getötet und weitere verletzt wurden. Schließlich wurde das Dekret vom 14. November, das die Straffreiheit von Polizei und Militär gewährt hatte, am 28. November nach anhaltender Kritik und Vorwürfen gegen Áñez schließlich zurückgenommen . Durch die heftigen Eskalationen sah sich schließlich auch die UN dazu gezwungen, ins politische Geschehen Boliviens einzugreifen und zwischen den polarisierten Lagern zu vermitteln. Offensichtlich mit Erfolg: In den weiteren Wochen beruhigte sich die politische Lage im gesamten Land allmählich und der Andenstaat verschwand vorerst wieder aus dem Blickfeld des globalen Nordens. Áñez Amtszeit war dennoch von einigen Handlungen und Ereignissen geprägt, die teils eine klare Wende des politischen Kurses Boliviens darstellten. Hierbei ist vor allem die Tatsache zu nennen, dass zahlreiche MAS-Politiker*innen (allen voran Morales und García Linera) von der Übergangsregierung wegen verschiedener 25
Straftaten angeklagt wurden - darunter Korruption und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die New York Times beispielsweise fasste die Verfolgung und Inhaftierung von Morales-Anhänger*innen als Methode auf, ihre Macht zu erhalten und Dissens zu unterdrücken. Dass es Morales und García Linera bei ihrer eventuellen Rückkehr nach Bolivien nicht erlaubt sein würde, erneut als Präsident und Vizepräsident zu kandidieren, wurde ausdrücklich klargestellt. Insbesondere kurz nach Áñez Selbsternennung zur Interimspräsidentin, aber auch noch in den Monaten danach, ließ sich eine erhöhte Militär- und Polizeipräsenz im Alltag und (wie Reporter ohne Grenzen berichtete) Angriffe auf die Pressefreiheit feststellen. Wirtschaftspolitisch lassen sich einerseits Steuersenkungen für große Unternehmungen nennen und (für Deutschland interessant) das Kündigen des Abkommens mit ACI Systems. Außerdem problematisierte Áñez den großen „ausländischen Einfluss“ in Bolivien: vor allem die Anwesenheit venezolanischer Geflüchteter im Land wurde kritisiert. Auch distanzierte sich die Interimsregierung von Ländern, die - wie zuvor auch Bolivien - eine antiimperialistische Ideologie angehangen hatten. So wurden beispielsweise die Botschaften in Nicaragua und Iran aus finanziellen Gründen geschlossen und die vorher guten Beziehungen zu Kuba und Venezuela so gut wie eingestellt, während das Verhältnis zu den USA verbessert wurde. Im Umgang mit der Corona-Pandemie reagierte Áñez mit strengen Maßnahmen, die anfangs durchaus Erfolg brachten. So konnte eine Eskalation der Krise in Bolivien im Vergleich zu den Nachbarländern deutlich länger hinausgezögert werden, auch wenn die Verbreitungsgeschwindigkeit und Sterberate später auch in Bolivien extreme Ausmaße annahm. Bevor abschließend auf die Wiederholung der Präsidentschaftswahlen am 18. Oktober eingegangen wird, soll nicht unerwähnt bleiben, dass die ursprünglich auf Januar angesetzten Neuwahlen bald auf März und dann auf Mai verschoben wurden. Wegen der Corona-Pandemie wurde die Wahl anschließend noch einmal auf unbestimmte Zeit nach hinten verlegt. Erst Ende September kündigte Áñez ihren endgültigen Rücktritt an. Von vielen MAS-Anhängern wurde die wiederholte Wahlverschiebung scharf kritisiert und Áñez wurde vorgeworfen, ihre Interimspräsidentschaft in die Länge zu ziehen. Auch ihre zwischenzeitliche Kandidatur für die Wahlen 2020 wurde von vielen Seiten negativ bewertet, hatte sie doch im Januar noch mehrmals beteuert, sich nicht als Kandidatin aufstellen zu lassen. Lautstark geäußerte Bedenken aus verschiedenen politischen Richtungen, die Neutralität der von ihr organisierten Neuwahlen würde dadurch gefährdet und die Glaubwürdigkeit Boliviens im Ausland Schaden nehmen, brachten Áñez schließlich im September dazu, sich aus dem Wahlkampf zurückzuziehen. Zuvor hatte sie sich wiedermalig deutlich gegen die MAS-Partei positioniert und an die Opposition appelliert, gesammelt gegen deren Spitzenkandidaten Luis Arce zu stimmen. 5. Die Präsidentschaftswahl am 18. Oktober 2020 und ein Blick in die Zukunft In Anbetracht der vorangegangenen Ereignisse, die die bolivianische Demokratie nicht gerade im besten Licht hatten stehen lassen, stand die 26
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