LAG - MAGAZIN GESCHICHTSDIDAKTIK KONKRET. AKTUELLE FORSCHUNGEN AUS DER GESCHICHTSDIDAKTIK 28.04.2021 - LEARNING-FROM-HISTORY.DE
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LaG - Magazin Geschichtsdidaktik konkret. Aktuelle Forschungen aus der Geschichtsdidaktik 28.04.2021
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Zur Diskussion Diversität im Geschichtsunterricht – Der Anspruch eines Konzeptes und sein Bezug auf historisches Lernen...................................................................................................................5 Nachhaltigkeit historisieren. Geschichtsdidaktische Perspektiven auf Bildung für Nachhaltige Entwicklung.........................................................................................................8 Pädagogische Mitarbeiter*innen an Gedenkstätten und das Dilemma der antifaschistischen Waschmaschinen – Agency im geschichtskulturellen Wandel in der Migrationsgesellschaft .................................................................................................................................................14 Demokratiebildung und historisches Lernen − Mehr als Demokratiegeschichte.................19 Historische Agency auf dem Markt der Erinnerungen der pluralen Gesellschaft: historische Diskursfähigkeit als Handlungsmächtigkeit..........................................................................24 Das, was auffällt – Geschichtsdidaktische Reflexionen zum „Fremdverstehen“..................30 Selbstbestimmung durch Lernen aus der Geschichte? Emanzipative Mündigkeit als Ziel historisch-kritischer Bildung..................................................................................................36 Umgang mit kolonialer Vergangenheit und Dekolonialisierungsprozessen in Europa. Schwerpunkt: Didaktik...........................................................................................................41 Erste Schritte auf dem Weg zu globalgeschichtlichen Perspektiven im Geschichtsunterricht – Drei Interventionen.............................................................................................................46 Empfehlung Fachbuch Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung – Soziale Ungleichheit – Inklusion in Geschichte und Gegenwart......................................................................................................51 Empfehlung Fachdidaktik Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik.....................54 Magazin vom 28.04.2021 2
Einleitung Liebe Leser*innen, den Geschichtsunterricht. wir begrüßen Sie zur Ausgabe des LaG-Ma- Nachhaltigkeit ist ein weithin gebrauchter gazins. Es ist in Zusammenarbeit mit dem Begriff, der scheinbar für ein Konzept steht, Fachbereich Didaktik der Geschichte an der das einen ressourcenschonenden Umgang Freien Universität Berlin entstanden. mit der Natur ermöglicht. Nina Reusch plä- diert für einen (umwelt-) historischen Zu- Mit der Ausgabe möchten wir Ihnen unter- gang zu Nachhaltigkeit, der den Begriff an schiedliche geschichtsdidaktische Konzepte das Aufkommen und die Durchsetzung des und Perspektiven vorstellen, die aktuell im Kapitalismus rückbindet. wissenschaftlichen Kontext diskutiert wer- Im Rahmen des Projekts „Geschichten den. Geschichtsdidaktik wird allzu häufig in Bewegung“ wurden unterschiedliche als eine Disziplin wahrgenommen, die sich Akteur*innen der historischen Bildungsar- in erster Linie mit Geschichtsunterricht beit interviewt. Anhand der Gespräche zeigt beschäftigt. Der Blick in die aktuelle Land- Cornelia Chmiel auf, wie mit den vielfälti- schaft der deutschsprachigen Geschichts- gen Erwartungen und Anforderungen an didaktik zeigt jedoch, dass sie noch viel Gedenkstätten umgegangen wird. mehr kann: Geschichtsdidaktiker*innen suchen die Auseinandersetzungen mit und Cornelia Chmiel und Matthias Sieberkrob Anbindungen an gesellschaftliche Debat- zeigen auf, wie sich Demokratiebildung mit ten, indem sie historisches Lernen und historischem Lernen verbinden lässt. Im Geschichtskultur im Zusammenhang mit Kern geht es dabei darum, wie geschichts- Themen wie sozialer Ungleichheit, koloni- kulturelle Veränderungsprozesse partizipa- alem Erbe, Migration, Rassismus oder Ge- tiv gestaltet werden können. schlechterverhältnissen untersuchen. Und Die diverse Gesellschaft ist eine Realität. Geschichtsdidaktiker*innen leisten Theo- Allein aus einer Addition unterschiedlicher riearbeit und entwickeln mit Inspirationen Geschichten ergibt sich aber noch keine und Ansätzen aus anderen Disziplinen ge- Handlungsmacht. Wer wird in der Erinne- schichtsdidaktische Theoriekonzepte wei- rung gehört und wer gehört dazu? Lâle Yil- ter. Einige dieser aktuellen Forschungen dirim geht dieser Frage nach und plädiert stellen wir in dieser Ausgabe des LaG-Ma- im fachlichen Bereich für eine deutliche gazins vor. Veränderung der Lehrer*innenbildung. Nicht nur im Bildungsbereich wird in den Der Begriff des „Fremdverstehens“ steht vergangenen Jahren zunehmend von Diver- im Mittelpunkt von Jana Völkels Be- sität gesprochen. Nicht selten wird das Kon- trachtungen. Die Autorin problemati- zept als „Schlagwort“ gehandhabt. Martin siert beide Teile des Begriffs „Fremd“ und Lücke verdeutlicht die machtkritischen Im- „Verstehen“ im Hinblick auf ihre The- plikationen von Diversität im Hinblick auf se, dass die deutschen Geschichts- und Magazin vom 28.04.2021 3
Einleitung Erinnerungskulturen Fremdheitserfahrun- Das nächste LaG-Magazin erscheint am 26. gen erzeugen. Mai 2021. Es stellt die Bildungs- und Ver- Mündigkeit ist ein wesentliches, doch häufig mittlungsarbeit am Jüdischen Museum unpräzise formuliertes Ziel historischer Bil- Frankfurt / Museum Judengasse vor. dung. Ausgehend von der Kritischen Theo- rie zeigt Philipp McLean auf, wie historische Ihre LaG-Redaktion Bildung zu einer reflexiven Wahrnehmung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Fremdbestimmungsgefahren beitragen kann. Ausgehend von einer transnationalen eu- ropäischen Perspektive auf Kolonialis- mus / Dekolonisation zeigen Uta Fenske und Bärbel Kuhn auf, dass Kolonialismus zwar kritisch in den unterschiedlichen Ge- schichtskulturen behandelt wird, postkolo- niale Perspektiven insgesamt aber nur eine untergeordnete Rolle spielen. Philipp Bernhard und Susanne Popp plä- dieren dafür, globalgeschichtliche Perspek- tiven verbindlich in den Lehrplänen des Geschichtsunterrichts festzuschreiben. Sie zeigen beispielhaft Möglichkeiten auf, glo- balgeschichtliche Perspektiven in den Ge- schichtsunterricht zu integrieren. Unser Dank geht an alle Autor*innen, die mit Ihren Texten zu dieser Ausgabe beige- tragen haben. Für die gute Zusammenarbeit und Beratung möchten wir uns insbeson- dere bei Dr. Nina Reusch vom Fachbereich Didaktik der Geschichte an der Freien Uni- versität Berlin bedanken. Wir wünschen Ihnen eine interessante Lek- türe. Magazin vom 28.04.2021 4
Zur Diskussion Diversität im Geschlecht. Diversität umfasst auf diese Geschichtsunterricht – Weise sowohl individuelle wie auch kol- Der Anspruch eines Konzeptes lektive Identitäten. Betrachtet werden Zu- und sein Bezug auf historisches gehörigkeiten, von denen wir annehmen, Lernen sie seien angeboren oder „natürlich“ (lan- ge zählte Geschlecht zu dieser Gruppe), sie Von Martin Lücke könnten individuell erworben werden (z.B. Das Schlagwort der Diversität hat sich in den ein privilegierter sozio-ökonomischer Sta- vergangenen Jahren zu einem prominenten tus durch Fleiß und Talent im Menschen- Impulsgeber in erziehungswissenschaftli- bild des Kapitalismus) oder sie seien das Er- chen Debatten entwickelt und ist auch in den gebnis konkreter politischer Umstände und Debatten der Geschichtsdidaktik angekom- gesellschaftlicher Verhältnisse (etwa durch men. Erst im vergangenen Jahr erschien Grenzziehungen zwischen Staaten oder Ge- zum Beispiel ein eigenes Handbuch „Diver- setzgebung). sität im Geschichtsunterricht“, das Ansätze Die Diversitätsforschung (engl. „Diversi- von Diversität mit dem Anspruch auf Inklu- ty Studies“) sieht ihre Aufgabe nicht aus- sion verzahnt (vgl. Barsch u.a: 2020). Was schließlich darin, das Zustandekommen von aber bedeutet Diversität – und was bedeutet Unterschiedlichkeit in der Gesellschaft nur sie für Geschichtsunterricht? deskriptiv als ein doing difference zu be- „Diversität“ (engl. „Diversity“) bedeutet schreiben, sondern die Machtmechanismen Verschiedenheit und Vielfältigkeit. Im Un- offen zu legen, die zu einem solchen doing terschied zum Begriff der Heterogenität, der difference führen. Maßgeblich waren hier in bildungswissenschaftlichen Zusammen- vor allem die Arbeiten der Rechtstheoreti- hängen eher Phänomene der Leistungshe- kerin und antirassistischen Aktivistin Kim- terogenität bezeichnet, richtet sich der Blick berlé Crenshaw, die bereits in den 1980er von Diversität breiter und machtkritischer Jahren mit ihrem Konzept der intersektio- auf die Unterschiedlichkeit gesellschaftlich nellen Wirkungen mehrdimensionaler Dis- relevanter Zugehörigkeiten und betrachtet kriminierungen herausgearbeitet hat, wie soziale Differenzlinien, entlang derer sol- sich soziale Differenzlinien überlagern und che Zugehörigkeiten hergestellt werden. Ein es z.B. bei schwarzen Frauen zu Mehrfach- Diversitätsansatz ist also immer ein macht- diskriminierungen im Zuge von Rassismus, kritischer. Beschrieben und analysiert wird Sexismus und Klassismus kommt (z.B. demnach, wie in Gesellschaften machtvolle Crenshaw 1991: 1241ff, dazu auch Lücke/ Ressourcen verteilt und verwehrt werden. Messerschmidt, 2021, 57ff). Aus einer US- Solche Differenzlinien sind v.a. soziale Her- amerikanischen Forschungstradition, die kunft („class“), Ethnizität, Religion, sexu- eng verwoben war mit den Emanzipations- elle Identität, „Behinderung“, Alter oder bewegungen von Frauen, Arbeiter*innen Magazin vom 28.04.2021 5
Zur Diskussion sowie Afroamerikaner*innen, hat sich eine Vergangenheit gewirkt haben. fast schon kanonische Trias der drei sozialen Auf einer methodischen Ebene kann es im Differenzlinien race, class und gender als kompetenzorientierten Geschichtsunter- wirkungsmächtigen „Achsen der Ungleich- richt, der sich der Förderung von Narrativi- heit“ (Klinger u.a. 2007) bei der Analyse tät verschreibt, darum gehen, Schüler*innen sozialer Ungleichheiten etabliert. Gegen- zu befähigen, doing difference als einen wärtig wird u.a. in der Migrationspädago- vielschichtigen Prozess der Genese sozialer gik mit Ansätzen von Diversität gearbeitet. Ungleichheiten historisch erzählend dar- Hier werden Differenzlinien, die unter dem zustellen. Denn genau darum geht es, wenn Konglomerat von race/Ethnizität gebündelt wir von narrativer Kompetenz sprechen: werden könnten, unter dem Konzept der Schüler*innen sollen selbst in die Lage ver- „natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ zu- setzt werden, Geschichten zu erzählen. Bei sammengefasst. einer bloßen Analyse sozialer Ungleichhei- Für Geschichtsunterricht kann das Konzept ten der Vergangenheit kann Geschichtsun- der Diversität auf unterschiedlichen Ebenen terricht deshalb nicht stehen bleiben – eine nutzbar gemacht werden. Auf der Ebene der solche Analyseleistung fiele wohl eher in das Inhalte historischen Lernens kann die Fra- Ressort des Politik- und Sozialkundeunter- ge nach der Entstehung sozialer Ungleich- richts. Erst im Modus historischen Erzäh- heiten von historisch Lernenden als die Fra- lens können sich Schüler*innen das doing ge nach ihrer historischen Genese gestellt difference vergangener Ungleichheiten als werden. Doing difference kann zu einem selbst erzählte Geschichte produktiv aneig- Phänomen mit Geschichte werden, indem nen – durch diese Erzählleistung also ein Prozesse der Herstellung von Differenz in solches doing difference erfahren. der Vergangenheit analysiert werden. Da- Als Folie nutzbar gemacht werden kann bei muss stets mitbedacht werden, dass zu der Forschungsansatz der Diversität drit- anderen Zeiten andere Differenzlinien als tens bei einer konsequenten Umsetzung heute für soziale Ungleichheit gesorgt ha- des Prinzips der Multiperspektivität im ben, und genauso, dass soziale Kategorien, Geschichtsunterricht. Im multiperspekti- die auch heute noch relevant sind, in frühe- vischen Geschichtsunterricht wird das Ziel ren Zeiten auf andere Weise wirksam wur- verfolgt, nicht nur irgendwelche beliebigen den. Damit kann sich eine Perspektivver- Perspektiven auf Vergangenheit zu richten, schiebung für Geschichtsunterricht generell sondern gerade solche Perspektiven auszu- ergeben: Inhalte werden nicht mehr ent- wählen, die von unterschiedlichen Macht- lang einer nationalstaatlichen Chronologie und Herrschaftspositionen aus auf einen ausgewählt, sondern deshalb, weil sie Aus- historischen Zusammenhang blicken. Der kunft darüber geben können, wie Macht- machtkritische Anspruch des Diversitäts- und Ungleichheitsmechanismen in der konzeptes hilft dabei, solche Perspektiven Magazin vom 28.04.2021 6
Zur Diskussion in der Vergangenheit überhaupt erst einmal Gegenwart, und wenn Alteritätserfahrung zu finden. Diese Perspektiven hängen han- dann in ein produktives Spannungsverhält- delnden und leidenden Menschen der Ver- nis zur Wirkweise von gegenwärtigen sozia- gangenheit aber nicht urwüchsig an. Welche len Ungleichheiten gebracht wird. Perspektive wir heute einer Person der Ver- Literatur gangenheit zuweisen, hängt vielmehr stets Crenshaw, K.: Mapping the margins. Inter- davon ab, welche Perspektiven wir heute als sectionality, Identity Politics and Violence relevant für die Analyse von Vergangenheit Against Women of Color, in: Stanford Law ansehen, ganz plakativ also, welche Per- Review 43, 1991, S. 1241–1299. spektivbezeichnungen wir Menschen der Vergangenheit heute zuweisen, um unsere Klinger, C./Knapp, G. A./Sauer, B. (Hg.): gegenwärtigen Orientierungsbedürfnisse zu Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis befriedigen. Gleichzeitig haben soziale Dif- von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. ferenzlinien in der Vergangenheit auf ande- Frankfurt/M.: Campus 2007. re Weise soziale Ungleichheiten hergestellt Lücke, M./Messerschmidt, A.: Diversität als heute: In einer Feudalgesellschaft z.B. als Machtkritik, in: Barsch, S./Degner, B./ war materielle Ungleichheit (heute würden Kühberger, C./Lücke, M. (Hg.): Handbuch wir class sagen) völlig anders organisiert als Diversität im Geschichtsunterricht. Inklu- heute, im vorreformatorischen Europa spiel- sive Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts.: te Religion und Religiosität eine gänzlich Wochenschau 2020, S. 54–70. andere Rolle als in unserer Gegenwart und Yildirim, L./Lücke, M.: Race als Kategorie Geschlechterkonzepte haben sich erst im historischen Denkens, in: Barsch, S./De- 19. Jahrhundert zu einer Dichotomie männ- gner, B./Kühberger, C./Lücke, M. (Hg.): lich/weiblich verfestigt, die wir heute sogar Handbuch Diversität im Geschichtsunter- als natürlich zu bezeichnen gewohnt sind. richt. Inklusive Geschichtsdidaktik, Schwal- Diversität auf der Ebene von Multiperspek- bach/Ts.: Wochenschau 2020, S. 146–158. tivität bedeutet also, sowohl die historische Alterität (also die grundsätzliche Andersheit der Vergangenheit) sozialer Differenzierung insgesamt als auch diejenige einzelner sozi- aler Kategorien zu beachten. Dem Anspruch Über den Autor von Diversität im multiperspektivischen Univ.-Prof. Dr. Martin Lücke hat eine Geschichtsunterricht kann demnach Rech- Professur am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin. nung getragen werden, wenn Schüler*innen die Alteritätserfahrung machen, dass sozia- le Differenzlinien in der Vergangenheit auf andere Weise relevant waren als in unserer Magazin vom 28.04.2021 7
Zur Diskussion Nachhaltigkeit historisieren. lässt. Ich stelle in diesem Beitrag die These Geschichtsdidaktische auf, dass es für (umwelt)historische Lern- Perspektiven auf Bildung für prozesse unerlässlich ist, der Nachhaltigkeit Nachhaltige Entwicklung ihre normative Dimension zu nehmen und sie durch eine historische Dimension zu er- Von Nina Reusch setzen; Nachhaltigkeit also zu historisieren „Von einem Prinzip der Forstwirtschaft hat und damit zugleich zu ent-normativieren. sich Nachhaltigkeit zu einem Leitbild für die Holznotdebatte, Forstwissenschaft Weltgemeinschaft des 21. Jahrhundert ent- und Kapitalismus – Nachhaltigkeit wickelt.“ So schreibt das Bundesministeri- in der Umweltgeschichte um für Bildung und Forschung (BMBF) auf Im Bereich der Umweltgeschichte existiert dem Online-Portal für Bildung für Nachhal- bereits einige Forschung zur Idee der Nach- tige Entwicklung (BNE). Ein Leitbild für die haltigkeit (vgl. für einen relativ aktuellen Weltgemeinschaft, das sind große Worte. Forschungsüberblick Haumann 2019). Die Doch tatsächlich, die Idee der Nachhaltig- Erforschung des Nachhaltigkeitsbegriffs keit begegnet uns überall: Die UN setzt mit wurde stark geprägt durch die sogenann- den Sustainable Development Goals (Zie- ten „Holznotdebatte“, die Umwelt- und le für nachhaltige Entwicklung, SDG) auf Forsthistoriker*innen in den 1980er Jahren nachhaltige Entwicklung im globalen Rah- führten. In der Forstgeschichte herrschte men, „Green Economy“ soll nachhaltiges lange Zeit weitgehender Konsens über die Wirtschaften ermöglichen, Bürger*innen Annahme, an der Schwelle zur Moderne sei- sind angehalten, einen nachhaltigen per- en in Mitteleuropa so viele Wälder gerodet sönlichen Lebensstil zu pflegen, und in worden, dass Holz in krisenhaften Ausma- der Schule werden Jugendliche mit dem ßen knapp geworden sei – davon zeugten die Konzept Bildung für nachhaltige Entwick- vielfach geäußerten Klagen über Holzver- lung darin gefördert, „verantwortungsvol- knappung in Quellen des 18. Jahrhunderts. le, nachhaltige Entscheidungen zu treffen“ Diese These wurde 1983 vom Umwelthis- (BNE-Portal). Nachhaltigkeit, so scheint es, toriker Joachim Radkau herausgefordert: könnte die Lösung sein, mit der unser Pla- Radkau interpretiert die zeitgenössischen net möglicherweise doch noch zu retten ist. Klagen über Holzmangel nicht als Nach- Als Historikerin und Geschichtsdidaktikerin weis einer tatsächlichen Krise, sondern als möchte ich hier zwei Aspekte diskutieren: Argumentationsstrategie, mit der Landes- Zum einen reiße ich kurz die Ursprünge und fürsten die eigenen ökonomischen und po- die Geschichte der Nachhaltigkeitsidee an. litischen Interessen im Forst durchzusetzen Zum anderen frage ich, ob und wie sich das suchten. Zugleich sei die Klage über Holznot Konzept der Nachhaltigkeit sinnvoll in eine Wegbereiter und Argumentationsgrundlage (umwelt-)historische Didaktik integrieren für die forstwissenschaftliche Reform der Magazin vom 28.04.2021 8
Zur Diskussion Waldnutzung gewesen (Radkau 1983). Die Ablösung der bäuerlichen Nutzungsrechte. im 18. Jahrhundert entstehende Forstwis- Der Entwicklung des Kapitalismus kam die- senschaft beschäftigte sich nämlich intensiv ses Vorgehen auch deshalb zugute, weil die mit Bewirtschaftungsformen des Waldes, Einhegung und Auflösung von Allmenden, die eine dauerhafte Holzproduktion sichern also von gemeinschaftlich genutztem Land, sollten. Und eben in diesem forstwissen- ein Schritt zur Trennung der bäuerlichen schaftlichen Kontext entstand der Begriff Bevölkerung von ihren eigenen Produkti- der Nachhaltigkeit. onsmitteln war und sie auf lange Sicht in Die Entwicklung des Nachhaltigkeitsgedan- Lohnabhängigkeit brachte. Diesen Prozess kens war eng verbunden mit der zunehmend benennt Karl Marx als ursprüngliche Akku- kapitalistischen Nutzung natürlicher Res- mulation (vgl. Marx 2008, S. 741-791). sourcen – und mit daraus resultierenden Die Vertreibung der bäuerlichen und un- gesellschaftlichen Konflikten um die Wald- terbäuerlichen Bevölkerungsgruppen aus nutzung. Solche Konflikte reichen mindes- der Allmende Wald ging allerdings keines- tens bis ins Mittelalter zurück, veränder- falls konfliktfrei vonstatten, sondern viele ten sich allerdings in Form und Qualität im Bäuer*innen verteidigten ihre Gewohn- Laufe der frühen Neuzeit. Die Entwicklung heitsrechte vor Ort im Forst wie vor Gericht einer kapitalistischen Ökonomie war – ne- (vgl. Hölzl 2010). In diesem Konfliktfeld ben anderen Faktoren – angewiesen auf die zwischen landesherrlicher bzw. staatlicher Erschließung von Rohstoffquellen und die- Obrigkeit, bäuerlicher Bevölkerung und sich se fanden sich nicht allein in den Kolonien, konstituierender Forstwissenschaft stellte sondern zum Beispiel auch in den mitteleu- Nachhaltigkeit ein machtvolles Argument ropäischen Wäldern. dar, die bäuerlichen und unterbäuerlichen Die Wälder waren allerdings umkämpft: Für Gruppen aus dem Forst herauszuhalten. bäuerliche und unterbäuerliche Gruppen Eine wichtige Argumentationsstrategie der war der Forst gemeinschaftlich genutztes Forstwissenschaft und staatlichen Forst- Land, auf dem sie traditionelle Nutzungs- verwaltung lautete, Bäuer*innen verursach- rechte genossen – zum Beispiel für Viehwei- ten durch ihre Praktiken der Waldnutzung dung, Holzschlag oder Sammlung von Laub, Schäden, die einer nachhaltigen Forstwirt- Holz und Waldgras. Diese Nutzungsrechte schaft entgegenstünden (vgl. Hölzl 2010, wurden seit dem späten 18. Jahrhundert S. 110-118). Nachhaltigkeit diente hier also durch staatliche Forst- und Agrarreformen als politische Strategie zur Sicherung politi- massiv eingeschränkt; in Preußen etwa ge- scher und ökonomischer Herrschaft. schah dies vor allem im Zuge der Preußi- Gerade diese engen Bezüge zur Machtpoli- schen Reformen. Auch Privatisierungen tik sind es nach Radkau, die das Konzept der von Wäldern durch den Verkauf staatlichen Nachhaltigkeit so interessant für umwelthis- Lands gingen einher mit der vorherigen torische Forschungen machten. Um eine Magazin vom 28.04.2021 9
Zur Diskussion analytische Position einnehmen zu können, Dies ist vor allem im Bereich der Bildung sei es aber wichtig, Umweltgeschichte nicht für nachhaltige Entwicklung zu beobach- moralisierend als Kampf zwischen gut (Na- ten, die in Deutschland unter anderem über turschutz) und böse (Naturzerstörung) zu das Bundesministerium für Bildung und schreiben, sondern vielmehr danach zu fra- Forschung (BMBF) in den Bildungsbereich gen, von wem und mit welchen Methoden implementiert wird. Zur konkreten Ausge- Nachhaltigkeit definiert und kontrolliert staltung der BNE existieren in Deutschland werde (Radkau 2008, S. 135). zwei Handreichungen bzw. Kompetenzmo- delle: die „Orientierungshilfe Bildung für Bildung für Nachhaltige nachhaltige Entwicklung in der Sekundar- Entwicklung – ein Konzept für stufe I“ (herausgegeben vom BMBF) sowie (umwelt)historisches Lernen? der „Orientierungsrahmen für den Lernbe- Auch in geschichtsdidaktischen Überlegun- reich Globale Entwicklung im Rahmen ei- gen ist es mindestens seit den 2000er Jah- ner Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ren Konsens, dass Umweltgeschichte nicht (herausgegeben vom Bundesministerium dazu genutzt werden solle, moralisierende für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gut-böse-Szenarien zu produzieren, son- Entwicklung (BMZ) und der Kultusminis- dern dazu, Schüler*innen für das historisch terkonferenz (KMK)). veränderliche Wechselverhältnis von Men- Die Implementierung von Nachhaltigkeit schen und Umwelt zu sensibilisieren und und Globalisierung in die schulische Bil- den Blick für die Historizität scheinbar „na- dung geschieht in beiden Handreichungen türlicher“ Phänomene zu weiten (vgl. Grewe auf individueller und struktureller Ebene. 2014). Nachhaltige Bildung umfasst hier zum ei- Dies gilt auch für den Begriff der Nachhal- nen die Analyse und kritische Reflexion tigkeit, der, wie ich gezeigt habe, thema- (globaler) gesellschaftlicher Verhältnisse. tisch viele Möglichkeiten einer kritischen Zum anderen beinhaltet sie die Reflexion Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen der eigenen Position in diesen Verhältnis- Machtstrukturen im Verhältnis von Mensch sen und darauf aufbauend die Entwicklung und Umwelt eröffnet. Doch ein Blick in die von Handlungsstrategien, mit denen nach- Bildungslandschaft zeigt: Stattdessen wird haltige Entwicklungsprozesse in Gang ge- Nachhaltigkeit in vielen bildungspolitischen setzt und unterstützt werden sollen. Die Re- Kontexten höchst unhistorisch verwendet. flexion der eigenen Perspektivität, die Idee Statt kritischer Reflexion des Konzepts fin- demokratischer Partizipation und auch der den wir hier eine normative Setzung, die Gedanke der Solidarität spielen hierbei eine Nachhaltigkeit als Wert an sich begreift und wichtige Rolle. als kaum hinterfragten Leitbegriff für die In beiden Kompetenzmodellen wer- Bildungsarbeit setzt. den im Detail gute Grundlagen für eine Magazin vom 28.04.2021 10
Zur Diskussion Bildungsarbeit gelegt, die Schüler*innen durchaus problematisch, dass Schüler*innen befähigt, selbstreflexiv und kritisch gesell- heutzutage auf Grundlage ebendieses Kon- schaftliche Verhältnisse zu analysieren und zepts gesellschaftspolitische und ökologi- an demokratischen Prozessen teil zu haben sche Kritik üben sollen. Eine solche Gesell- – wenn auch einzeln kritisch angemerkt schaftskritik muss zwangsläufig verkürzt werden kann, dass etwa in der „Orientie- bleiben und kann dem eigenen Anspruch rungshilfe BNE“ der Bereich der individuel- der Bildung für nachhaltige Entwicklung len Handlungskompetenzen sich zu großen (wie auch von Bildungsprozessen allge- Teilen auf Konsumkritik beschränkt (vgl. mein), Schüler*innen mündige Teilhabe in Orientierungshilfe BNE 2007: 20-21). Doch gesellschaftlichen Prozessen zu ermögli- betrifft meine Kritik nicht die Kompetenzen, chen, nicht gerecht werden. Inhalte und Lernszenarien im Einzelnen, Nachhaltigkeit ist heutzutage nicht nur ein sondern vielmehr die prinzipielle Ausrich- Modewort, sondern bildet im Kontext der tung der Bildung für Nachhaltige Entwick- Sustainable Development Goals eine wich- lung sowie der Implementierung des Nach- tige Grundlage für Ziele und Maßstäbe von haltigkeitsbegriffs in Bildungskontexten. globalem Regierungshandeln. Die Idee der Für eine Historisierung und Ent- Nachhaltigkeit leitet und legitimiert politi- Normativierung von Nachhaltigkeit sche Entscheidungen in den verschiedens- Die vorgestellten Modelle eröffnen zwar die ten Bereichen – Umwelt, soziale Ungleich- Möglichkeit der Kritik an der ökonomischen heit, Entwicklung, Gesundheit, Energie etc. Ausbeutung des globalen Südens oder an Zugleich fungiert Nachhaltigkeit als Schlüs- der weltweiten Ausbeutung natürlicher Res- selbegriff und Legitimation eines globalen sourcen. Doch das Leitbild der Nachhaltig- und neoliberalen Kapitalismus (eine kriti- keit, unter dem dies alles steht, bleibt eine sche Perspektive auf die SDG findet sich z.B. unreflektierte normative Setzung. Auch den bei Weber 2017). Begriff des Kapitalismus muss man in bei- Vor diesem Hintergrund ist es unerläss- den Handreichungen mit der Lupe suchen lich, Schüler*innen zu befähigen, nicht nur – dies fällt vor allem (aber nicht allein) bei ihre persönlichen Konsumentscheidun- der Lektüre des Kapitels zur ökonomischen gen, sondern das Nachhaltigkeitsdenken Bildung im „Orientierungsrahmen für den selbst kritisch zu reflektieren. Dazu ist es Lernbereich Globale Entwicklung“ auf (vgl. notwendig, Nachhaltigkeit zu historisie- Orientierungsrahmen 2010: 285-299). ren, in den Kontext der kapitalistischen Wenn aber Nachhaltigkeit, wie ich gezeigt Entwicklung zu stellen und deutlich zu habe, in der Moderne ein relevanter Part machen: Nachhaltigkeit oder nachhaltige der kapitalistischen Entwicklung war und Entwicklung sind der kapitalistischen Öko- ein Konzept ist, mit dem Herrschaftspolitik nomie inhärent und können daher nicht die betrieben wurde und wird, dann ist es strukturellen Ausbeutungsverhältnisse und Magazin vom 28.04.2021 11
Zur Diskussion Umweltschäden lösen, die aus einer kapita- Marx, Karl (2008): Das Kapital. Kritik der listischen Ökonomie resultieren. politischen Ökonomie. Erster Band. 23. Mir geht es keinesfalls darum, ein weite- Aufl. Berlin: Karl Dietz Verlag. res Thema zu benennen, das unbedingt in Orientierungsrahmen für den Lernbereich den Geschichtsunterricht eingebaut wer- Globale Entwicklung im Rahmen einer Bil- den müsse. Sondern ich möchte deutlich dung für nachhaltige Entwicklung: Ergebnis machen, dass sich die Art, wie wir in (his- des gemeinsamen Projekts der Kultusminis- torischen) Bildungskontexten mit Nach- terkonferenz (KMK) und des Bundesminis- haltigkeit umgehen, ändern muss: hin zu teriums für wirtschaftliche Zusammenar- einem historisierenden anstatt normativen beit und Entwicklung (BMZ) (2016). 2. Aufl. Umgang. Auf diese Weise ist es schließlich Bonn: Warlich Druck. auch möglich, den Begriff bewusst und his- Programm Transfer-21 (2007): Orientie- torisch zu nutzen. In seiner normativen Set- rungshilfe Bildung für nachhaltige Entwick- zung jedoch können wir ihn getrost aus der lung in der Sekundarstufe I. Begründungen, historisch-politischen Bildung wie der Um- Kompetenzen, Lernangebote. Berlin. Online weltbildung verabschieden. verfügbar unter http://www.transfer-21.de/ Literatur daten/materialien/Orientierungshilfe/Ori- Grewe, Bernd-Stefan (2015): Umweltge- entierungshilfe_Kompetenzen.pdf. schichte unterrichten. Für eine kritische Radkau, Joachim (1983): Holzverknappung Auseinandersetzung mit umwelthistori- und Krisenbewusstsein im 18. Jahrhundert. schen Denkmustern. In: Dietmar von Ree- In: Geschichte und Gesellschaft 9 (4), S. ken, Indre Döpcke und Britta Wehen-Beh- 513–543. rens (Hg.): Umweltgeschichte lehren und Radkau, Joachim (2008): "Nachhaltigkeit" lernen. Keine Katastrophe! Schwalbach/Ts.: als Wort der Macht. Reflexionen zum me- Wochenschau Verlag (Geschichte unterrich- thodischen Wert eines umweltpolitischen ten), S. 84–100. Schlüsselbegriffs. In: Francois Duceppe- Haumann, Sebastian (2019): Zwischen Lamarre und Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt „Nachhaltigkeit“ und „Anthropozän“. Neue und Herrschaft in der Geschichte. Olden- Tendenzen in der Umweltgeschichte. In: bourg: Wissenschaftsverlag GmbH (Ateliers Neue Politische Literatur 64 (2), S. 295–326. des Deutschen Historischen Instituts Paris, Hölzl, Richard (2010): Umkämpfte Wälder. 2). Die Geschichte einer ökologischen Reform in Weber, Heloise (2017): Politics of „Leaving Deutschland 1760 - 1860. Zugl.: Göttingen, No One Behind“. Contesting the 2030 Sus- Univ., Diss., 2008. Frankfurt am Main: Cam- tainable Development Goals Agenda. In: pus-Verl. (Campus historische Studien, 51). Globalizations 14 (3), S. 399–414. Magazin vom 28.04.2021 12
Zur Diskussion Internetquellen BNE-Portal des BMBF, letzter Aufruf 07.04.2021 https://www.bne-portal.de/de/ was-ist-bne-1713.html. Sustainable Development Goals der UN, letzter Aufruf 07.04.2021 https://sdgs. un.org/goals. Über die Autorin Dr. Nina Reusch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik der FU Berlin. Magazin vom 28.04.2021 13
Zur Diskussion Pädagogische Mitarbeiter*innen und ein „Allheilmittel“ für gesellschaftliche an Gedenkstätten und das Probleme bereitzustellen. Diese Anforde- Dilemma der antifaschistischen rungen deuten die Interviewten als Resultat Waschmaschinen – kontroverser Aushandlungen um ein gesell- Agency im geschichtskulturellen schaftliches Selbstverständnis und die Rol- Wandel in der le von Geschichtserzählungen darin. Neben Migrationsgesellschaft Bestrebungen, eine nationale Meistererzäh- Von Cornelia Chmiel lung durch vielstimmige Erzählungen zu er- gänzen oder auch zu ersetzen, werden Stim- „Was an uns herangetragen wird, und men laut, die „diesen national-identitären zwar immer mehr und was wir nicht Wunsch“ vertreten, „sich selbst wieder zu leisten können, ist aus Nazis gute finden und deutsche Visionen zu fantasie- Menschen zu machen. Das können ren“ (BII15: 83). wir nicht. Das wollen wir nicht. Das ist eine Instrumentalisierung dieser Dabei wird vermehrt auf Gedenkstätten Orte. Wir sind keine antifaschistischen Bezug genommen. Angesichts gesellschaft- Waschmaschinen.“ (BII17: 11) licher Polarisierung, zunehmender rassis- tischer und antisemitischer Gewalt und ei- Wortgewaltige Metaphern wie die der „anti- ner vermeintlichen Herausforderung durch faschistischen Waschmaschinen“ finden sich Flucht und Migration werden Gedenkstät- zahlreich in den Interviews mit pädagogi- tenbesuche als Lösungsvorschlag bedient, schen Mitarbeiter*innen in Gedenkstätten, ihnen werde Bedeutung „aufgezwängt“ und die im Berliner Teilprojekt des Verbundpro- „angedichtet“ (BII8: 11). Geschichtskultu- jektes des Bundesministeriums für Bildung reller Wandel erscheint hier als übermäch- und Forschung (BMBF) „Geschichten in Be- tige Gewalt, der Gedenkstätten als Projek- wegung“ entstanden sind. Im Projekt wur- tionsfläche ausgeliefert sind. In unseren den Interviewte verschiedener Bereiche his- Interviews berichten die Befragten von torischer Bildungsarbeit dazu befragt, wie Versuchen, produktiv mit diesem Überfor- sie gegenwärtige Veränderungen im Um- derungsszenario umzugehen und ihm die gang mit Geschichte vor dem Hintergrund Möglichkeit abzuringen, dennoch als selbst- gesellschaftlicher Pluralität wahrnehmen bestimmte Akteur*innen mit Agency (siehe und wie sie ihre eigene Rolle darin bewer- dazu Yildirim in diesem Heft) im geschichts- ten. In den Gedenkstätten scheinen die Be- kulturellen Wandel aufzutreten. fragten sich einig: Neben der Forderung, den antifaschistischen Schleudergang an- „Hinter uns kann keiner mehr zuwerfen, sehen sie sich mit dem Anspruch zurück.“ (BII17: 33) – konfrontiert, „Orte des gesellschaftlichen Die Etablierung von Recyclings“ zu sein, „die gedenkstättenpäd- Gedenkstätten als Erfolgsgeschichte? agogische Marienerscheinung“ zu erzeugen Magazin vom 28.04.2021 14
Zur Diskussion Die geschichtskulturellen Entwicklungen die Befragten Gedenkstätten in der Verant- der letzten Jahrzehnte lassen sich durch- wortung, aktiv Stellung zu beziehen, auf die aus als Erfolgsgeschichte erzählen. Nach Kontinuitäten rassistischer und antisemiti- jahrzehntelangen Kämpfen um eine Erin- scher Denkmuster hinzuweisen und damit nerung und Anerkennung der Erfahrungen „dieses klassische ,Wehret den Anfängen‘“ ehemaliger Häftlinge sind Gedenkstätten (BII17: 31) zu betreiben. inzwischen „in der Mitte der Gesellschaft“ Wirkmächtige Akteurinnen oder (BII17: 33) angekommen und gehören zur passive Projektionsflächen? „kulturellen Grundausstattung der Bundes- Gedenkstätten im republik“ (BII7: 50). Neben unermüdlichen geschichtskulturellen Wandel Kämpfen seitens der Überlebenden und an- derer zivilgesellschaftlicher Akteur*innen Der Kampf um Etablierung scheint von Er- vermutet der Befragte BII7 jedoch noch ei- folg gekrönt zu sein: Gedenkstätten haben nen anderen Grund für den Ausbau der insti- sich zu wirkmächtigen Akteurinnen entwi- tutionellen Förderung: Da viele Täter*innen ckelt, die eine wichtige Rolle für „die Posi- bereits verstorben waren, sei in den frühen tionierung dieses Landes“ spielen, und zwar 2000ern ein Punkt erreicht worden, an dem nicht nur als „Alibieinrichtungen“, dazu sei- es „vielen eben nicht mehr weh tat“ und en sie inzwischen zu groß (BII17: 11). Und Aushandlungen weniger kontrovers geführt dennoch verweisen das zuvor skizzierte werden mussten (BII8: 18). Überforderungsszenario und die gestiege- nen Bedeutungszuschreibungen darauf, Inzwischen werde die Relevanz von Ge- dass eben diese gezielt eingeforderte und denkstätten als Institutionen, die den Nati- erkämpfte Entwicklung von unerwünschten onalsozialismus „im kollektiven Gedächtnis Nebenwirkungen gekennzeichnet ist. wachhalten“ (BII27: 13) kaum noch in Fra- ge gestellt (BII7: 50). Im Gegenteil bestehe So beklagt die Befragte BII16, mit einer stei- sogar ein weitestgehender „Konsens“ darü- genden Etablierung würden Gedenkstätten ber, „dass das ein wichtiges Thema ist und auch zunehmend Schauplätze ritualisierter behandelt werden sollte“ (BII17: 31). Gleich- Symbolpolitik: Einmal im Jahr käme der zeitig weisen die Befragten darauf hin, dass Bürgermeister, „um hier seine Rede los- sich eben dieser gesellschaftliche „Konsens“ zuwerden und seinen Kranz abzuwerfen“ gegenwärtig als vermeintlich erweist und (BII16: 21), was in letzter Instanz jedoch zunehmend durch rechte Akteur*innen he- keine Auswirkungen habe, sondern gemacht rausgefordert wird. Umso mehr gelte es, werde, „weil es gemacht werden muss“ „eine Stimme zu sein, in diesem ganzen, (ebd.). Durch geschichtskulturelle Rituale gerade richtig abgefuckten politischen und und Konventionen wird die Erinnerung an populistischen Diskurs“ (BII27: 9). Gerade den Nationalsozialismus in feste Formen angesichts des Erstarkens der AfD sehen gegossen und handhabbar gemacht. Was Magazin vom 28.04.2021 15
Zur Diskussion „als Geschichte von Unten angefangen hat ein Besuch am historischen Ort erfüllen soll. und was Kritisches und vielleicht auch was Gesamtgesellschaftliche Probleme werden Antistaatliches war“ hat sich nun zu etwas so auf bestimmte Gruppen externalisiert, entwickelt, „was von oben kommt“ (BII16: wodurch die sogenannte „Mitte der Gesell- 55). Indem Gedenkstätten zum Austra- schaft“ ihre reine Weste bewahrt. gungsort staatlicher Selbstvergewisserung Hier wird deutlich, dass Gedenkstätten sich werden, verlieren sie ihre Funktion als „Sta- einerseits zu handlungsmächtigen Akteu- chel im Fleisch der Deutschen“ (BII16: 57). rinnen entwickelt, andererseits aber mit Eine negative Geschichte wird zunehmend einer zunehmenden Instrumentalisierung zu einem Referenzpunkt, „der irgendwie als Resultat dieser Entwicklung zu kämpfen eine nationale Identität oder vielleicht sogar haben. Nationalismus begründen kann“ (ebd.). Da- mit werden Gedenkstätten in den Dienst der Historisches Lernen als Prozess Stabilität von Herrschaft gestellt und, wie der Befähigung? Agency im zuvor skizzierte Ansprüche zeigen, zu nichts geschichtskulturellen Wandel Geringerem als der Errettung der Demokra- Aus „Nazis gute Menschen zu machen“ tie herangezogen: ist ein Anspruch, den pädagogische „Alle Geflüchteten müssen mal in die Mitarbeiter*innen weder erfüllen können KZs, weil dann wird ihnen der Antise- noch wollen. Während die zunehmende Eta- mitismus ausgetrieben. Ja und jedes blierung einerseits ermöglicht, Gedenkstät- AfD-Mitglied, eigentlich dürfen die auf ten als wirkmächtige geschichtskulturelle keinen Fall kommen oder nein, eigent- Akteurinnen zu begreifen, führt sie anderer- lich sollten sie ja doch kommen, weil seits dazu, dass diese als passive Projekti- dann lernen sie ja, wie sie die richti- onsfläche instrumentalisiert werden. Insbe- ge Einstellung und das macht mich sondere die Gedenkstättenpädagogik läuft echt fertig, das ist, als wäre es so das hier Gefahr, ihr kritisches Potenzial zu ver- Allheilmittel. Wo ich denke, was soll lieren. das?“ (BII8: 33) Mit diesem Dilemma gilt es sowohl in der Schüler*innen, wahlweise aber auch Ge- alltäglichen Arbeit als auch im professionel- flüchtete, AfD-Mitglieder und Neonazis len Selbstverständnis einen Umgang zu fin- sollten eine Gedenkstätte besuchen, um sich den. Gedenkstätten beschreiben die Befrag- hier zum Fundament der „deutschen Ge- ten immer auch als Verhandlungsräume: schichte“ zu bekennen und auf einen mora- Hier treffen tradierte Narrative auf indivi- lischen und kulturellen Grundkonsens ein- duelle Bezüge und Perspektiven. Es han- geschworen zu werden. So problematisch delt sich also um eine Schnittstelle, an der eine Gleichsetzung dieser Gruppen ist, zeigt Geschichtskultur aktualisiert und neu ver- sie doch die Absurdität der Ansprüche, die handelt wird. Dieser Aushandlungsprozess Magazin vom 28.04.2021 16
Zur Diskussion findet jedoch nicht im luftleeren Raum, son- ein Mitwirken an geschichtskulturellen Aus- dern im Kontext gesellschaftlicher Macht- handlungsprozessen zu ermöglichen. Histo- und Repräsentationsstrukturen statt. risches Lernen an Gedenkstätten wird hier Und so beschreiben die Interviewten den als Prozess beschrieben, der Besucher*innen Versuch, eben diese Verhandlungsräume die Möglichkeit gibt, Agency auszubilden, vor überbordenden Ansprüchen und Inst- an Geschichtskultur teilzuhaben und die- rumentalisierungen abzuschirmen, um das se aktiv mitzugestalten (siehe dazu auch kritische Potenzial einer Auseinanderset- Chmiel/Sieberkrob in diesem Heft). Das ist zung mit NS-Geschichte zu bewahren, die in letzter Instanz auch im Interesse der ei- doch eigentlich zu nichts weniger taugt als genen Institution: Die Bedeutung des Nati- nationaler Selbstvergewisserung. Dazu be- onalsozialismus und damit verbunden auch dienen sie sich verschiedener Strategien. von Gedenkstätten für die Gegenwart kann nur anhaltend bestehen, wenn sie immer Zum einen fordern die Interviewten eine po- neu verhandelt wird. An dieser Stelle wer- litische Positionierung seitens der Gedenk- den Konventionen, festgeschriebene Deu- stättenleitungen, um die Handlungsmacht, tungsmuster und vorbestimmte Lehren zum die in den letzten Jahrzehnten erkämpft Problem. wurde, zu nutzen und zugleich die Räume historischen Lernens zu entlasten. Was his- Dabei zeigen sich dennoch normative Ziel- torisches Lernen vor Ort nicht leisten kann, setzungen. Sie möchten „Einfluss nehmen“ soll die Gedenkstätte als Institution erfüllen: (BII17) und für den Erhalt bestimmter Nar- rationen sorgen. Anhand von NS-Geschich- „Ich will nicht hier stehen und einer 8. te soll erklärt werden, „wie Dinge gesell- Klasse […] erzählen: ,Jetzt passt aber schaftlich passieren können und wie man auf, die bösen Nazis!‘ und so. Ich wür- mit ihnen umgehen kann“ (BII17: 9). Hier de es aber durchaus spannend finden, zeigen sich hochgesteckte Ziele: Kontinuitä- wenn die Leitungen von Stiftungen, die ten aufzeigen, Lösungen finden, dabei aber solche Orte betreuen, feste Positionen auch politisches Bewusstsein und eine kriti- haben und sich gegen was politisch äu- sche Haltung fördern. Das gesellschaftliche ßern.“ (BII8: 41) Überforderungsszenario der antifaschisti- In der pädagogischen Arbeit geht es den schen Waschmaschinen wirkt im professio- Mitarbeiter*innen dagegen darum, mög- nellen Selbstverständnis der Befragten fort. lichst unvoreingenommen zu agieren, viel- fältige Anknüpfungspunkte und Bezüge der Widersprüche aushalten und Besucher*innen aufzugreifen und einen Handlungsräume eröffnen demokratischen Aushandlungsprozess zu Historisches Lernen an Gedenkstätten ermöglichen. Es gelte, die Besucher*innen kann nicht ohne seinen geschichtskul- als „Subjekte“ (BII9) ernst zu nehmen, um turellen Kontext betrachtet werden. Der Magazin vom 28.04.2021 17
Zur Diskussion normative Rahmen, in dem die Geschichte Literatur des NS verhandelt wird, ist Ergebnis lang- Chmiel/Sieberkrob (2021). Demokratiebil- jähriger Kämpfe um Anerkennung und da- dung und historisches Lernen. Mehr als De- mit die Grundlage dafür, dass überhaupt mokratiegeschichte. S. 19-23 in diesem LaG- historisches Lernen vor Ort stattfindet. Den- Magazin: http://lernen-aus-der-geschichte. noch scheint sich diese Entwicklung zuneh- de/Lernen-und-Lehren/content/15046. mend verselbstständigt zu haben, wodurch Yildirim (2021). Historische Agency auf eben dieser Rahmen zur Herausforderung dem Markt der Erinnerungen der pluralen wird. Das historische Lernen vor Ort gerät Gesellschaft: historische Diskursfähigkeit unter Druck, soll es doch die Stabilität der als Handlungsmächtigkeit. S. 24-29 in die- demokratischen Ordnung garantieren. Ins- sem LaG-Magazin: http://lernen-aus-der- besondere die Heterogenität möglicher Be- geschichte.de/Lernen-und-Lehren/con- zugnahmen erscheint dabei zugleich not- tent/15084. wendig als auch nicht gewünscht, da sie das bestehende System ins Wanken bringen kann. Über die Autorin Um dennoch handlungsfähig im geschichts- Cornelia Chmiel ist wissenschaftliche kulturellen Wandel zu agieren, positionie- Mitarbeiterin im BMBF-Verbundprojekt ren sich pädagogische Mitarbeiter*innen „Geschichten in Bewegung“ am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte an der FU Berlin. In stetig in den Spannungsfeldern zwischen ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der normativer Vorbestimmtheit und Ergeb- partizipativen und inklusiven Gestaltung außerschulischer Bildungsarbeit und historischem nisoffenheit, Wandel und Erstarrung, Be- Lernen als geschichtskultureller Teilhabe. wahren und Verändern. Dabei schaffen Darüber hinaus arbeitet sie als Referentin für historisch-politische Bildungsarbeit in der sie Verhandlungsräume, in denen sich ge- Gedenkstätte Sachsenhausen. schichtskulturelle Strukturen spiegeln und die zugleich das Potenzial beinhalten, eine Überschreitung eben dieser Strukturen zu ermöglichen. Die hier aufgezeigten Parado- xien und Widersprüche stellen dabei Her- ausforderungen dar, können aber auch als produktive Beunruhigung genutzt werden, um das kritische Potenzial historischen Ler- nens an Gedenkstätten zu bewahren. Magazin vom 28.04.2021 18
Zur Diskussion Demokratiebildung und (z. B. Zick, Küpper & Berghan 2019). Bei historisches Lernen − Jugendlichen sind solche hingegen gerin- Mehr als Demokratiegeschichte ger ausgeprägt (Achour & Wagner 2019). Es entsteht der Eindruck, dass die Probleme Von Cornelia Chmiel und Matthias Sieber- der Erwachsenen vor allem zu ihrer Selbst- krob beruhigung pädagogisiert werden. Unsere Gegenwart ist durch massive Angrif- In der derzeitigen politikdidaktisch ge- fe auf die Demokratie geprägt, insbesondere prägten wissenschaftlichen Begriffsent- durch den wiedererstarkten Rechtspopu- wicklung geht Demokratiebildung von den lismus und -extremismus. Gleichzeitig sind Bürger*innen als politischen Subjekten aus. manche Versprechen der pluralen Demo- Ziel sei es, dass die Bürger*innen die gege- kratie, etwa das Recht auf Gleichheit oder bene Ordnung verstehen, reflektieren, ver- die freie Persönlichkeitsentfaltung, bislang ändern, kritisieren und so gestalten können, nicht umfassend umgesetzt (Foroutan 2019: wie sie es für adäquat halten. Mündigkeit sei 36–46). Jedoch erleben wir auch soziale die zentrale Ressource, um die Bürger*innen Bewegungen, die sich über parteipolitische demokratiefähig zu machen. Folglich sei De- Grenzen hinweg für zukunftsfähige Kon- mokratiebildung nicht affirmativ, sondern zepte stark machen, wie etwa das Bündnis kritisch und als Mündigkeitsbildung zu ver- „Unteilbar“ oder die internationale Jugend- stehen (Kenner & Lange 2020: 49). bewegung „Fridays for Future“. Kurzum: Unsere demokratische Kultur und unser de- Um die Notwendigkeit zu markieren, demo- mokratisches System sind Angriffen ausge- kratiebildende Maßnahmen auf einer verti- setzt, werden aber auch aktiv verteidigt und kalen Ebene des Lebensweges und einer ho- weiterentwickelt. rizontalen Ebene in allen Lebensbereichen Durchgängige Demokratiebildung zu ergreifen, sprechen wir in Anlehnung an als gesellschaftliche Aufgabe das Konzept der durchgängigen Sprachbil- dung (Gogolin & Lange 2011) von durchgän- Während Bildungsaktivitäten zur Stärkung giger Demokratiebildung als Konzept für die der Demokratie lange Zeit vernachlässigt gesamte Gesellschaft. wurden, ziehen diese Herausforderungen derzeit im Bildungssystem verschiedene Im Schulbereich bezieht sich durchgängige Aktivitäten nach sich. Dabei wurde u. a., zu- Demokratiebildung auf der vertikalen Ebe- nächst seitens der Bildungspolitik, der Be- ne auf alle Schulformen und -stufen, auf griff „Demokratiebildung“ etabliert. Dass es der horizontalen Ebene auf alle Fächer und aber dringend notwendig ist, Demokratie- sämtliche weitere Aktivitäten. Als Beitrag bildung in der gesamten Gesellschaft struk- hierzu konturieren wir im Folgenden den turell zu verankern, zeigen u. a. gut belegte Begriff Demokratiebildung aus einer ge- autoritäre Einstellungen in der Bevölkerung schichtsdidaktischen Perspektive. Magazin vom 28.04.2021 19
Zur Diskussion Demokratiebildung und historischer Akteur*innen. Dabei geht es historisches Lernen nicht nur um neue Herrschafts- und Regie- Historisches Lernen verstehen wir als die rungsformen, sondern auch um handelnde „produktive eigen-sinnige Aneignung ver- Personen, soziale Gruppierungen und Be- gangener Wirklichkeiten als selbst erzählte wegungen. Hier können Schüler*innen et- und selbst imaginierte Geschichte“ (Lücke was über die Durchsetzungsfähigkeiten und & Zündorf 2018: 39). Auch Geschichtsun- -bedingungen von demokratischen Bestre- terricht zeichnet sich dadurch aus, „Erzähl- bungen lernen und sich ausgehend davon zusammenhänge zu vermitteln und Schüler mit eigenen Handlungsbedingungen und in die Lage zu versetzen, Geschichte zu er- -möglichkeiten auseinandersetzen. Doch zählen und erzählte Geschichte zu verste- anders als Diktaturen können Demokratien hen“ (Pandel 2010: 10). Hiermit weist his- auf Held*innengschichten verzichten, zumal torisches Lernen ein partizipatorisches und das Handeln historischer Figuren meist von emanzipatorisches Potenzial auf. Um dieses Widersprüchen geprägt ist (Barricelli 2018: für die Demokratiebildung nutzbar zu ma- 30-35). Vielmehr kann es spannend sein, chen, schlagen wir im Folgenden drei Hand- darüber zu reflektieren, wie und zu welchem lungsfelder vor. Sie sind an die etablierte Zweck solche Geschichten erzählt werden, Trias von über, durch und für Demokratie also welche politischen Absichten mit ihnen lernen angelehnt. verbunden sind. 1) Lernen über Demokratie – 2) Lernen durch Demokratie – Demokratiegeschichte als Geschichten aller Lerngegenstand Schüler*innen aufgreifen Die Erinnerung an die nationalsozialistische Geschichtsunterricht ist von einem Meister- Diktatur und ihre Verbrechen sind zwei- narrativ geprägt, das nicht alle Schüler*innen felsohne bereits ein zentraler Bestandteil inkludiert. Um historisches Lernen demo- der Demokratiebildung im Geschichtsun- kratiebildend zu gestalten, ist jedoch ein terricht. Doch ist damit gerade noch nichts subjektorientierter Geschichtsunterricht über Demokratie gelernt, sondern nur über erforderlich, in dem Schüler*innen ihre ihr Gegenteil. Geschichte(n) einbringen können. In der Folge würden dann viele kleine Geschichten Darüber hinaus bedarf es Erzählungen da- erzählt werden. Wozu? rüber, wie Demokratie durchgesetzt, aus- gebaut, modernisiert und verteidigt wurde. Auch Lerngruppen in der Schule sind he- Statt dabei das Leitbild gegenwärtiger De- terogene soziale Gemeinschaften, in denen mokratie auf die Vergangenheit zu projizie- Partizipationsmöglichkeiten entlang sozia- ren, eröffnet sich hier die Möglichkeit einer ler Kategorien ausgehandelt werden. Hierzu Beschäftigung mit dem Demokratieverständnis gehören bspw. die Kategorien race, class und Magazin vom 28.04.2021 20
Zur Diskussion gender. An diesen Kategorien entstehen Un- Subjektorientierter Geschichtsunterricht gleichheiten, wenn sie sich mit Herrschaft- muss Geschichtskultur als Rahmung histo- sebenen überschneiden. Sie können daher rischer Lernprozesse anerkennen. Indem als heuristische Sehhilfen herangezogen geschichtskulturelle Aushandlungsprozesse werden, um die Genese sozialer Ungleich- im Geschichtsunterricht hinterfragt, dahin- heit in den Blick zu nehmen. Ein solcher terstehende Machtverhältnisse analysiert Geschichtsunterricht zielt darauf ab, in der sowie Gestaltungsmöglichkeiten reflektiert von sozialer Ungleichheit geprägten Gegen- und genutzt werden, können Schüler*innen wart geschichtskulturell handlungsfähig(er) befähigt werden, sich selbst als aktiv Partizi- zu werden (Lücke 2012). Zudem können pierende an diesen Prozessen zu verstehen Lehrer*innen hiermit die sozialen Lernvor- (siehe dazu auch Chmiel in diesem Heft). aussetzungen ihrer Schüler*innen analysie- Auf diese Weise erhält der Geschichtsun- ren und ihre eigene Verstrickung in gesell- terricht ein demokratiebildendes Element, schaftliche und schulische Machtstrukturen das den Schüler*innen einen emanzipierten hinterfragen. Auf diese Weise wird eine Re- Umgang mit Geschichte ermöglicht und zu- flexion über die eigenen didaktischen Ziele gleich den Weg zu einer demokratisch(er)en und vorgegebene Unterrichtsinhalte mög- Geschichtskultur ebnet. Die demokratische lich, die mit den Schüler*innen thematisiert Ordnung wird so im Sinne der (Weiter-) und diskutiert werden kann. Entwicklung der Demokratie zugleich dyna- misiert und stabilisiert, ist sie doch auf die Um ein Lernen durch Demokratie im Ge- aktive Mitwirkung der Gesellschaft ange- schichtsunterricht zu ermöglichen, muss wiesen. dieser als politische Veranstaltung ernstge- nommen werden. Anstatt Themen des Ge- Auf der Metaebene kann hier wiederum da- schichtsunterrichts entlang der Kategorie rüber reflektiert werden, wie gut und warum Nation/Nationalstaat zu erzählen, sollte der es gelingt, sich als Individuum oder Gruppe Fokus darauf liegen, dass Schüler*innen in historischen und geschichtskulturellen sich die für sie relevante Vergangenheit als Debatten einzubringen, welche divergie- selbst erzählte Geschichte aneignen (Lücke renden Perspektiven hierbei ausgehandelt 2012: 146) und bestehende dominante Nar- werden müssen und an welchen zu hinter- rative dekonstruieren. Die Verschiedenheit fragenden Machtverhältnissen dies auch der so entstehenden Erzählungen muss auf scheitern kann. der Metaebene reflektiert und anerkannt Fazit werden, damit eine „auf wahre Verständi- Die Frage, wozu historisches Lernen eigent- gung gerichtete Kommunikation über Ge- lich dient und welche Funktion es erfüllt, schichte“ (Körber 2004) gelingen kann. kann auch mit dem Ziel von Agency be- 3) Lernen für Demokratie – antwortet werden (den Heyer 2018; Yildi- Geschichten für die Zukunft rim in diesem Heft). Agency nimmt dabei Magazin vom 28.04.2021 21
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