LAG - MAGAZIN GESCHICHTSDIDAKTIK KONKRET. AKTUELLE FORSCHUNGEN AUS DER GESCHICHTSDIDAKTIK 28.04.2021 - LEARNING-FROM-HISTORY.DE

Die Seite wird erstellt Julia Menzel
 
WEITER LESEN
LAG - MAGAZIN GESCHICHTSDIDAKTIK KONKRET. AKTUELLE FORSCHUNGEN AUS DER GESCHICHTSDIDAKTIK 28.04.2021 - LEARNING-FROM-HISTORY.DE
LaG - Magazin

Geschichtsdidaktik konkret.
 Aktuelle Forschungen aus
  der Geschichtsdidaktik
        28.04.2021
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Zur Diskussion
Diversität im Geschichtsunterricht – Der Anspruch eines Konzeptes und sein Bezug auf
historisches Lernen...................................................................................................................5
Nachhaltigkeit historisieren. Geschichtsdidaktische Perspektiven auf Bildung für
Nachhaltige Entwicklung.........................................................................................................8
Pädagogische Mitarbeiter*innen an Gedenkstätten und das Dilemma der antifaschistischen
Waschmaschinen – Agency im geschichtskulturellen Wandel in der Migrationsgesellschaft
.................................................................................................................................................14
Demokratiebildung und historisches Lernen − Mehr als Demokratiegeschichte.................19
Historische Agency auf dem Markt der Erinnerungen der pluralen Gesellschaft: historische
Diskursfähigkeit als Handlungsmächtigkeit..........................................................................24
Das, was auffällt – Geschichtsdidaktische Reflexionen zum „Fremdverstehen“..................30
Selbstbestimmung durch Lernen aus der Geschichte? Emanzipative Mündigkeit als Ziel
historisch-kritischer Bildung..................................................................................................36
Umgang mit kolonialer Vergangenheit und Dekolonialisierungsprozessen in Europa.
Schwerpunkt: Didaktik...........................................................................................................41
Erste Schritte auf dem Weg zu globalgeschichtlichen Perspektiven im Geschichtsunterricht
– Drei Interventionen.............................................................................................................46

Empfehlung Fachbuch
Inklusive Geschichte? Kulturelle Begegnung – Soziale Ungleichheit – Inklusion in
Geschichte und Gegenwart......................................................................................................51

Empfehlung Fachdidaktik
Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik.....................54

                                                                                           Magazin vom 28.04.2021 2
Einleitung

Liebe Leser*innen,                             den Geschichtsunterricht.

wir begrüßen Sie zur Ausgabe des LaG-Ma-       Nachhaltigkeit ist ein weithin gebrauchter
gazins. Es ist in Zusammenarbeit mit dem       Begriff, der scheinbar für ein Konzept steht,
Fachbereich Didaktik der Geschichte an der     das einen ressourcenschonenden Umgang
Freien Universität Berlin entstanden.          mit der Natur ermöglicht. Nina Reusch plä-
                                               diert für einen (umwelt-) historischen Zu-
Mit der Ausgabe möchten wir Ihnen unter-
                                               gang zu Nachhaltigkeit, der den Begriff an
schiedliche geschichtsdidaktische Konzepte
                                               das Aufkommen und die Durchsetzung des
und Perspektiven vorstellen, die aktuell im
                                               Kapitalismus rückbindet.
wissenschaftlichen Kontext diskutiert wer-
                                               Im Rahmen des Projekts „Geschichten
den. Geschichtsdidaktik wird allzu häufig
                                               in Bewegung“ wurden unterschiedliche
als eine Disziplin wahrgenommen, die sich
                                               Akteur*innen der historischen Bildungsar-
in erster Linie mit Geschichtsunterricht
                                               beit interviewt. Anhand der Gespräche zeigt
beschäftigt. Der Blick in die aktuelle Land-
                                               Cornelia Chmiel auf, wie mit den vielfälti-
schaft der deutschsprachigen Geschichts-
                                               gen Erwartungen und Anforderungen an
didaktik zeigt jedoch, dass sie noch viel
                                               Gedenkstätten umgegangen wird.
mehr kann: Geschichtsdidaktiker*innen
suchen die Auseinandersetzungen mit und        Cornelia Chmiel und Matthias Sieberkrob
Anbindungen an gesellschaftliche Debat-        zeigen auf, wie sich Demokratiebildung mit
ten, indem sie historisches Lernen und         historischem Lernen verbinden lässt. Im
Geschichtskultur im Zusammenhang mit           Kern geht es dabei darum, wie geschichts-
Themen wie sozialer Ungleichheit, koloni-      kulturelle Veränderungsprozesse partizipa-
alem Erbe, Migration, Rassismus oder Ge-       tiv gestaltet werden können.
schlechterverhältnissen untersuchen. Und       Die diverse Gesellschaft ist eine Realität.
Geschichtsdidaktiker*innen leisten Theo-       Allein aus einer Addition unterschiedlicher
riearbeit und entwickeln mit Inspirationen     Geschichten ergibt sich aber noch keine
und Ansätzen aus anderen Disziplinen ge-       Handlungsmacht. Wer wird in der Erinne-
schichtsdidaktische Theoriekonzepte wei-       rung gehört und wer gehört dazu? Lâle Yil-
ter. Einige dieser aktuellen Forschungen       dirim geht dieser Frage nach und plädiert
stellen wir in dieser Ausgabe des LaG-Ma-      im fachlichen Bereich für eine deutliche
gazins vor.                                    Veränderung der Lehrer*innenbildung.
Nicht nur im Bildungsbereich wird in den       Der Begriff des „Fremdverstehens“ steht
vergangenen Jahren zunehmend von Diver-        im Mittelpunkt von Jana Völkels Be-
sität gesprochen. Nicht selten wird das Kon-   trachtungen. Die Autorin problemati-
zept als „Schlagwort“ gehandhabt. Martin       siert beide Teile des Begriffs „Fremd“ und
Lücke verdeutlicht die machtkritischen Im-     „Verstehen“ im Hinblick auf ihre The-
plikationen von Diversität im Hinblick auf     se, dass die deutschen Geschichts- und

                                                        Magazin vom 28.04.2021 3
Einleitung

Erinnerungskulturen Fremdheitserfahrun-         Das nächste LaG-Magazin erscheint am 26.
gen erzeugen.                                   Mai 2021. Es stellt die Bildungs- und Ver-
Mündigkeit ist ein wesentliches, doch häufig    mittlungsarbeit am Jüdischen Museum
unpräzise formuliertes Ziel historischer Bil-   Frankfurt / Museum Judengasse vor.
dung. Ausgehend von der Kritischen Theo-
rie zeigt Philipp McLean auf, wie historische   Ihre LaG-Redaktion
Bildung zu einer reflexiven Wahrnehmung
von Selbstbestimmungsmöglichkeiten und
Fremdbestimmungsgefahren           beitragen
kann.
Ausgehend von einer transnationalen eu-
ropäischen Perspektive auf Kolonialis-
mus / Dekolonisation zeigen Uta Fenske
und Bärbel Kuhn auf, dass Kolonialismus
zwar kritisch in den unterschiedlichen Ge-
schichtskulturen behandelt wird, postkolo-
niale Perspektiven insgesamt aber nur eine
untergeordnete Rolle spielen.
Philipp Bernhard und Susanne Popp plä-
dieren dafür, globalgeschichtliche Perspek-
tiven verbindlich in den Lehrplänen des
Geschichtsunterrichts festzuschreiben. Sie
zeigen beispielhaft Möglichkeiten auf, glo-
balgeschichtliche Perspektiven in den Ge-
schichtsunterricht zu integrieren.
Unser Dank geht an alle Autor*innen, die
mit Ihren Texten zu dieser Ausgabe beige-
tragen haben. Für die gute Zusammenarbeit
und Beratung möchten wir uns insbeson-
dere bei Dr. Nina Reusch vom Fachbereich
Didaktik der Geschichte an der Freien Uni-
versität Berlin bedanken.
Wir wünschen Ihnen eine interessante Lek-
türe.

                                                         Magazin vom 28.04.2021 4
Zur Diskussion

Diversität im                                    Geschlecht. Diversität umfasst auf diese
Geschichtsunterricht –                           Weise sowohl individuelle wie auch kol-
Der Anspruch eines Konzeptes                     lektive Identitäten. Betrachtet werden Zu-
und sein Bezug auf historisches                  gehörigkeiten, von denen wir annehmen,
Lernen                                           sie seien angeboren oder „natürlich“ (lan-
                                                 ge zählte Geschlecht zu dieser Gruppe), sie
Von Martin Lücke
                                                 könnten individuell erworben werden (z.B.
Das Schlagwort der Diversität hat sich in den    ein privilegierter sozio-ökonomischer Sta-
vergangenen Jahren zu einem prominenten          tus durch Fleiß und Talent im Menschen-
Impulsgeber in erziehungswissenschaftli-         bild des Kapitalismus) oder sie seien das Er-
chen Debatten entwickelt und ist auch in den     gebnis konkreter politischer Umstände und
Debatten der Geschichtsdidaktik angekom-         gesellschaftlicher Verhältnisse (etwa durch
men. Erst im vergangenen Jahr erschien           Grenzziehungen zwischen Staaten oder Ge-
zum Beispiel ein eigenes Handbuch „Diver-        setzgebung).
sität im Geschichtsunterricht“, das Ansätze
                                                 Die Diversitätsforschung (engl. „Diversi-
von Diversität mit dem Anspruch auf Inklu-
                                                 ty Studies“) sieht ihre Aufgabe nicht aus-
sion verzahnt (vgl. Barsch u.a: 2020). Was
                                                 schließlich darin, das Zustandekommen von
aber bedeutet Diversität – und was bedeutet
                                                 Unterschiedlichkeit in der Gesellschaft nur
sie für Geschichtsunterricht?
                                                 deskriptiv als ein doing difference zu be-
„Diversität“ (engl. „Diversity“) bedeutet        schreiben, sondern die Machtmechanismen
Verschiedenheit und Vielfältigkeit. Im Un-       offen zu legen, die zu einem solchen doing
terschied zum Begriff der Heterogenität, der     difference führen. Maßgeblich waren hier
in bildungswissenschaftlichen Zusammen-          vor allem die Arbeiten der Rechtstheoreti-
hängen eher Phänomene der Leistungshe-           kerin und antirassistischen Aktivistin Kim-
terogenität bezeichnet, richtet sich der Blick   berlé Crenshaw, die bereits in den 1980er
von Diversität breiter und machtkritischer       Jahren mit ihrem Konzept der intersektio-
auf die Unterschiedlichkeit gesellschaftlich     nellen Wirkungen mehrdimensionaler Dis-
relevanter Zugehörigkeiten und betrachtet        kriminierungen herausgearbeitet hat, wie
soziale Differenzlinien, entlang derer sol-      sich soziale Differenzlinien überlagern und
che Zugehörigkeiten hergestellt werden. Ein      es z.B. bei schwarzen Frauen zu Mehrfach-
Diversitätsansatz ist also immer ein macht-      diskriminierungen im Zuge von Rassismus,
kritischer. Beschrieben und analysiert wird      Sexismus und Klassismus kommt (z.B.
demnach, wie in Gesellschaften machtvolle        Crenshaw 1991: 1241ff, dazu auch Lücke/
Ressourcen verteilt und verwehrt werden.         Messerschmidt, 2021, 57ff). Aus einer US-
Solche Differenzlinien sind v.a. soziale Her-    amerikanischen Forschungstradition, die
kunft („class“), Ethnizität, Religion, sexu-     eng verwoben war mit den Emanzipations-
elle Identität, „Behinderung“, Alter oder        bewegungen von Frauen, Arbeiter*innen

                                                          Magazin vom 28.04.2021 5
Zur Diskussion

sowie Afroamerikaner*innen, hat sich eine       Vergangenheit gewirkt haben.
fast schon kanonische Trias der drei sozialen   Auf einer methodischen Ebene kann es im
Differenzlinien race, class und gender als      kompetenzorientierten       Geschichtsunter-
wirkungsmächtigen „Achsen der Ungleich-         richt, der sich der Förderung von Narrativi-
heit“ (Klinger u.a. 2007) bei der Analyse       tät verschreibt, darum gehen, Schüler*innen
sozialer Ungleichheiten etabliert. Gegen-       zu befähigen, doing difference als einen
wärtig wird u.a. in der Migrationspädago-       vielschichtigen Prozess der Genese sozialer
gik mit Ansätzen von Diversität gearbeitet.     Ungleichheiten historisch erzählend dar-
Hier werden Differenzlinien, die unter dem      zustellen. Denn genau darum geht es, wenn
Konglomerat von race/Ethnizität gebündelt       wir von narrativer Kompetenz sprechen:
werden könnten, unter dem Konzept der           Schüler*innen sollen selbst in die Lage ver-
„natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ zu-     setzt werden, Geschichten zu erzählen. Bei
sammengefasst.                                  einer bloßen Analyse sozialer Ungleichhei-
Für Geschichtsunterricht kann das Konzept       ten der Vergangenheit kann Geschichtsun-
der Diversität auf unterschiedlichen Ebenen     terricht deshalb nicht stehen bleiben – eine
nutzbar gemacht werden. Auf der Ebene der       solche Analyseleistung fiele wohl eher in das
Inhalte historischen Lernens kann die Fra-      Ressort des Politik- und Sozialkundeunter-
ge nach der Entstehung sozialer Ungleich-       richts. Erst im Modus historischen Erzäh-
heiten von historisch Lernenden als die Fra-    lens können sich Schüler*innen das doing
ge nach ihrer historischen Genese gestellt      difference vergangener Ungleichheiten als
werden. Doing difference kann zu einem          selbst erzählte Geschichte produktiv aneig-
Phänomen mit Geschichte werden, indem           nen – durch diese Erzählleistung also ein
Prozesse der Herstellung von Differenz in       solches doing difference erfahren.
der Vergangenheit analysiert werden. Da-        Als Folie nutzbar gemacht werden kann
bei muss stets mitbedacht werden, dass zu       der Forschungsansatz der Diversität drit-
anderen Zeiten andere Differenzlinien als       tens bei einer konsequenten Umsetzung
heute für soziale Ungleichheit gesorgt ha-      des Prinzips der Multiperspektivität im
ben, und genauso, dass soziale Kategorien,      Geschichtsunterricht. Im multiperspekti-
die auch heute noch relevant sind, in frühe-    vischen Geschichtsunterricht wird das Ziel
ren Zeiten auf andere Weise wirksam wur-        verfolgt, nicht nur irgendwelche beliebigen
den. Damit kann sich eine Perspektivver-        Perspektiven auf Vergangenheit zu richten,
schiebung für Geschichtsunterricht generell     sondern gerade solche Perspektiven auszu-
ergeben: Inhalte werden nicht mehr ent-         wählen, die von unterschiedlichen Macht-
lang einer nationalstaatlichen Chronologie      und Herrschaftspositionen aus auf einen
ausgewählt, sondern deshalb, weil sie Aus-      historischen Zusammenhang blicken. Der
kunft darüber geben können, wie Macht-          machtkritische Anspruch des Diversitäts-
und Ungleichheitsmechanismen in der             konzeptes hilft dabei, solche Perspektiven

                                                         Magazin vom 28.04.2021 6
Zur Diskussion

in der Vergangenheit überhaupt erst einmal       Gegenwart, und wenn Alteritätserfahrung
zu finden. Diese Perspektiven hängen han-        dann in ein produktives Spannungsverhält-
delnden und leidenden Menschen der Ver-          nis zur Wirkweise von gegenwärtigen sozia-
gangenheit aber nicht urwüchsig an. Welche       len Ungleichheiten gebracht wird.
Perspektive wir heute einer Person der Ver-                                           Literatur
gangenheit zuweisen, hängt vielmehr stets
                                                 Crenshaw, K.: Mapping the margins. Inter-
davon ab, welche Perspektiven wir heute als
                                                 sectionality, Identity Politics and Violence
relevant für die Analyse von Vergangenheit
                                                 Against Women of Color, in: Stanford Law
ansehen, ganz plakativ also, welche Per-
                                                 Review 43, 1991, S. 1241–1299.
spektivbezeichnungen wir Menschen der
Vergangenheit heute zuweisen, um unsere          Klinger, C./Knapp, G. A./Sauer, B. (Hg.):
gegenwärtigen Orientierungsbedürfnisse zu        Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis
befriedigen. Gleichzeitig haben soziale Dif-     von Klasse, Geschlecht und Ethnizität.
ferenzlinien in der Vergangenheit auf ande-      Frankfurt/M.: Campus 2007.
re Weise soziale Ungleichheiten hergestellt      Lücke, M./Messerschmidt, A.: Diversität
als heute: In einer Feudalgesellschaft z.B.      als Machtkritik, in: Barsch, S./Degner, B./
war materielle Ungleichheit (heute würden        Kühberger, C./Lücke, M. (Hg.): Handbuch
wir class sagen) völlig anders organisiert als   Diversität im Geschichtsunterricht. Inklu-
heute, im vorreformatorischen Europa spiel-      sive Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts.:
te Religion und Religiosität eine gänzlich       Wochenschau 2020, S. 54–70.
andere Rolle als in unserer Gegenwart und
                                                 Yildirim, L./Lücke, M.: Race als Kategorie
Geschlechterkonzepte haben sich erst im
                                                 historischen Denkens, in: Barsch, S./De-
19. Jahrhundert zu einer Dichotomie männ-
                                                 gner, B./Kühberger, C./Lücke, M. (Hg.):
lich/weiblich verfestigt, die wir heute sogar
                                                 Handbuch Diversität im Geschichtsunter-
als natürlich zu bezeichnen gewohnt sind.
                                                 richt. Inklusive Geschichtsdidaktik, Schwal-
Diversität auf der Ebene von Multiperspek-
                                                 bach/Ts.: Wochenschau 2020, S. 146–158.
tivität bedeutet also, sowohl die historische
Alterität (also die grundsätzliche Andersheit
der Vergangenheit) sozialer Differenzierung
insgesamt als auch diejenige einzelner sozi-
aler Kategorien zu beachten. Dem Anspruch
                                                                                  Über den Autor
von Diversität im multiperspektivischen
                                                             Univ.-Prof. Dr. Martin Lücke hat eine
Geschichtsunterricht kann demnach Rech-                  Professur am Arbeitsbereich Didaktik der
                                                         Geschichte der Freien Universität Berlin.
nung getragen werden, wenn Schüler*innen
die Alteritätserfahrung machen, dass sozia-
le Differenzlinien in der Vergangenheit auf
andere Weise relevant waren als in unserer

                                                          Magazin vom 28.04.2021 7
Zur Diskussion

Nachhaltigkeit historisieren.                   lässt. Ich stelle in diesem Beitrag die These
Geschichtsdidaktische                           auf, dass es für (umwelt)historische Lern-
Perspektiven auf Bildung für                    prozesse unerlässlich ist, der Nachhaltigkeit
Nachhaltige Entwicklung                         ihre normative Dimension zu nehmen und
                                                sie durch eine historische Dimension zu er-
Von Nina Reusch
                                                setzen; Nachhaltigkeit also zu historisieren
„Von einem Prinzip der Forstwirtschaft hat      und damit zugleich zu ent-normativieren.
sich Nachhaltigkeit zu einem Leitbild für die      Holznotdebatte, Forstwissenschaft
Weltgemeinschaft des 21. Jahrhundert ent-          und Kapitalismus – Nachhaltigkeit
wickelt.“ So schreibt das Bundesministeri-                  in der Umweltgeschichte
um für Bildung und Forschung (BMBF) auf
                                                Im Bereich der Umweltgeschichte existiert
dem Online-Portal für Bildung für Nachhal-
                                                bereits einige Forschung zur Idee der Nach-
tige Entwicklung (BNE). Ein Leitbild für die
                                                haltigkeit (vgl. für einen relativ aktuellen
Weltgemeinschaft, das sind große Worte.
                                                Forschungsüberblick Haumann 2019). Die
Doch tatsächlich, die Idee der Nachhaltig-
                                                Erforschung des Nachhaltigkeitsbegriffs
keit begegnet uns überall: Die UN setzt mit
                                                wurde stark geprägt durch die sogenann-
den Sustainable Development Goals (Zie-
                                                ten „Holznotdebatte“, die Umwelt- und
le für nachhaltige Entwicklung, SDG) auf
                                                Forsthistoriker*innen in den 1980er Jahren
nachhaltige Entwicklung im globalen Rah-
                                                führten. In der Forstgeschichte herrschte
men, „Green Economy“ soll nachhaltiges
                                                lange Zeit weitgehender Konsens über die
Wirtschaften ermöglichen, Bürger*innen
                                                Annahme, an der Schwelle zur Moderne sei-
sind angehalten, einen nachhaltigen per-
                                                en in Mitteleuropa so viele Wälder gerodet
sönlichen Lebensstil zu pflegen, und in
                                                worden, dass Holz in krisenhaften Ausma-
der Schule werden Jugendliche mit dem
                                                ßen knapp geworden sei – davon zeugten die
Konzept Bildung für nachhaltige Entwick-
                                                vielfach geäußerten Klagen über Holzver-
lung darin gefördert, „verantwortungsvol-
                                                knappung in Quellen des 18. Jahrhunderts.
le, nachhaltige Entscheidungen zu treffen“
                                                Diese These wurde 1983 vom Umwelthis-
(BNE-Portal). Nachhaltigkeit, so scheint es,
                                                toriker Joachim Radkau herausgefordert:
könnte die Lösung sein, mit der unser Pla-
                                                Radkau interpretiert die zeitgenössischen
net möglicherweise doch noch zu retten ist.
                                                Klagen über Holzmangel nicht als Nach-
Als Historikerin und Geschichtsdidaktikerin     weis einer tatsächlichen Krise, sondern als
möchte ich hier zwei Aspekte diskutieren:       Argumentationsstrategie, mit der Landes-
Zum einen reiße ich kurz die Ursprünge und      fürsten die eigenen ökonomischen und po-
die Geschichte der Nachhaltigkeitsidee an.      litischen Interessen im Forst durchzusetzen
Zum anderen frage ich, ob und wie sich das      suchten. Zugleich sei die Klage über Holznot
Konzept der Nachhaltigkeit sinnvoll in eine     Wegbereiter und Argumentationsgrundlage
(umwelt-)historische Didaktik integrieren       für die forstwissenschaftliche Reform der

                                                         Magazin vom 28.04.2021 8
Zur Diskussion

Waldnutzung gewesen (Radkau 1983). Die         Ablösung der bäuerlichen Nutzungsrechte.
im 18. Jahrhundert entstehende Forstwis-       Der Entwicklung des Kapitalismus kam die-
senschaft beschäftigte sich nämlich intensiv   ses Vorgehen auch deshalb zugute, weil die
mit Bewirtschaftungsformen des Waldes,         Einhegung und Auflösung von Allmenden,
die eine dauerhafte Holzproduktion sichern     also von gemeinschaftlich genutztem Land,
sollten. Und eben in diesem forstwissen-       ein Schritt zur Trennung der bäuerlichen
schaftlichen Kontext entstand der Begriff      Bevölkerung von ihren eigenen Produkti-
der Nachhaltigkeit.                            onsmitteln war und sie auf lange Sicht in
Die Entwicklung des Nachhaltigkeitsgedan-      Lohnabhängigkeit brachte. Diesen Prozess
kens war eng verbunden mit der zunehmend       benennt Karl Marx als ursprüngliche Akku-
kapitalistischen Nutzung natürlicher Res-      mulation (vgl. Marx 2008, S. 741-791).
sourcen – und mit daraus resultierenden        Die Vertreibung der bäuerlichen und un-
gesellschaftlichen Konflikten um die Wald-     terbäuerlichen Bevölkerungsgruppen aus
nutzung. Solche Konflikte reichen mindes-      der Allmende Wald ging allerdings keines-
tens bis ins Mittelalter zurück, veränder-     falls konfliktfrei vonstatten, sondern viele
ten sich allerdings in Form und Qualität im    Bäuer*innen verteidigten ihre Gewohn-
Laufe der frühen Neuzeit. Die Entwicklung      heitsrechte vor Ort im Forst wie vor Gericht
einer kapitalistischen Ökonomie war – ne-      (vgl. Hölzl 2010). In diesem Konfliktfeld
ben anderen Faktoren – angewiesen auf die      zwischen landesherrlicher bzw. staatlicher
Erschließung von Rohstoffquellen und die-      Obrigkeit, bäuerlicher Bevölkerung und sich
se fanden sich nicht allein in den Kolonien,   konstituierender Forstwissenschaft stellte
sondern zum Beispiel auch in den mitteleu-     Nachhaltigkeit ein machtvolles Argument
ropäischen Wäldern.                            dar, die bäuerlichen und unterbäuerlichen
Die Wälder waren allerdings umkämpft: Für      Gruppen aus dem Forst herauszuhalten.
bäuerliche und unterbäuerliche Gruppen         Eine wichtige Argumentationsstrategie der
war der Forst gemeinschaftlich genutztes       Forstwissenschaft und staatlichen Forst-
Land, auf dem sie traditionelle Nutzungs-      verwaltung lautete, Bäuer*innen verursach-
rechte genossen – zum Beispiel für Viehwei-    ten durch ihre Praktiken der Waldnutzung
dung, Holzschlag oder Sammlung von Laub,       Schäden, die einer nachhaltigen Forstwirt-
Holz und Waldgras. Diese Nutzungsrechte        schaft entgegenstünden (vgl. Hölzl 2010,
wurden seit dem späten 18. Jahrhundert         S. 110-118). Nachhaltigkeit diente hier also
durch staatliche Forst- und Agrarreformen      als politische Strategie zur Sicherung politi-
massiv eingeschränkt; in Preußen etwa ge-      scher und ökonomischer Herrschaft.
schah dies vor allem im Zuge der Preußi-       Gerade diese engen Bezüge zur Machtpoli-
schen Reformen. Auch Privatisierungen          tik sind es nach Radkau, die das Konzept der
von Wäldern durch den Verkauf staatlichen      Nachhaltigkeit so interessant für umwelthis-
Lands gingen einher mit der vorherigen         torische Forschungen machten. Um eine

                                                         Magazin vom 28.04.2021 9
Zur Diskussion

analytische Position einnehmen zu können,       Dies ist vor allem im Bereich der Bildung
sei es aber wichtig, Umweltgeschichte nicht     für nachhaltige Entwicklung zu beobach-
moralisierend als Kampf zwischen gut (Na-       ten, die in Deutschland unter anderem über
turschutz) und böse (Naturzerstörung) zu        das Bundesministerium für Bildung und
schreiben, sondern vielmehr danach zu fra-      Forschung (BMBF) in den Bildungsbereich
gen, von wem und mit welchen Methoden           implementiert wird. Zur konkreten Ausge-
Nachhaltigkeit definiert und kontrolliert       staltung der BNE existieren in Deutschland
werde (Radkau 2008, S. 135).                    zwei Handreichungen bzw. Kompetenzmo-
                                                delle: die „Orientierungshilfe Bildung für
              Bildung für Nachhaltige
                                                nachhaltige Entwicklung in der Sekundar-
        Entwicklung – ein Konzept für
                                                stufe I“ (herausgegeben vom BMBF) sowie
        (umwelt)historisches Lernen?
                                                der „Orientierungsrahmen für den Lernbe-
Auch in geschichtsdidaktischen Überlegun-       reich Globale Entwicklung im Rahmen ei-
gen ist es mindestens seit den 2000er Jah-      ner Bildung für nachhaltige Entwicklung“
ren Konsens, dass Umweltgeschichte nicht        (herausgegeben vom Bundesministerium
dazu genutzt werden solle, moralisierende       für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
gut-böse-Szenarien zu produzieren, son-         Entwicklung (BMZ) und der Kultusminis-
dern dazu, Schüler*innen für das historisch     terkonferenz (KMK)).
veränderliche Wechselverhältnis von Men-        Die Implementierung von Nachhaltigkeit
schen und Umwelt zu sensibilisieren und         und Globalisierung in die schulische Bil-
den Blick für die Historizität scheinbar „na-   dung geschieht in beiden Handreichungen
türlicher“ Phänomene zu weiten (vgl. Grewe      auf individueller und struktureller Ebene.
2014).                                          Nachhaltige Bildung umfasst hier zum ei-
Dies gilt auch für den Begriff der Nachhal-     nen die Analyse und kritische Reflexion
tigkeit, der, wie ich gezeigt habe, thema-      (globaler) gesellschaftlicher Verhältnisse.
tisch viele Möglichkeiten einer kritischen      Zum anderen beinhaltet sie die Reflexion
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen       der eigenen Position in diesen Verhältnis-
Machtstrukturen im Verhältnis von Mensch        sen und darauf aufbauend die Entwicklung
und Umwelt eröffnet. Doch ein Blick in die      von Handlungsstrategien, mit denen nach-
Bildungslandschaft zeigt: Stattdessen wird      haltige Entwicklungsprozesse in Gang ge-
Nachhaltigkeit in vielen bildungspolitischen    setzt und unterstützt werden sollen. Die Re-
Kontexten höchst unhistorisch verwendet.        flexion der eigenen Perspektivität, die Idee
Statt kritischer Reflexion des Konzepts fin-    demokratischer Partizipation und auch der
den wir hier eine normative Setzung, die        Gedanke der Solidarität spielen hierbei eine
Nachhaltigkeit als Wert an sich begreift und    wichtige Rolle.
als kaum hinterfragten Leitbegriff für die      In beiden Kompetenzmodellen wer-
Bildungsarbeit setzt.                           den im Detail gute Grundlagen für eine

                                                         Magazin vom 28.04.2021 10
Zur Diskussion

Bildungsarbeit gelegt, die Schüler*innen         durchaus problematisch, dass Schüler*innen
befähigt, selbstreflexiv und kritisch gesell-    heutzutage auf Grundlage ebendieses Kon-
schaftliche Verhältnisse zu analysieren und      zepts gesellschaftspolitische und ökologi-
an demokratischen Prozessen teil zu haben        sche Kritik üben sollen. Eine solche Gesell-
– wenn auch einzeln kritisch angemerkt           schaftskritik muss zwangsläufig verkürzt
werden kann, dass etwa in der „Orientie-         bleiben und kann dem eigenen Anspruch
rungshilfe BNE“ der Bereich der individuel-      der Bildung für nachhaltige Entwicklung
len Handlungskompetenzen sich zu großen          (wie auch von Bildungsprozessen allge-
Teilen auf Konsumkritik beschränkt (vgl.         mein), Schüler*innen mündige Teilhabe in
Orientierungshilfe BNE 2007: 20-21). Doch        gesellschaftlichen Prozessen zu ermögli-
betrifft meine Kritik nicht die Kompetenzen,     chen, nicht gerecht werden.
Inhalte und Lernszenarien im Einzelnen,
                                                 Nachhaltigkeit ist heutzutage nicht nur ein
sondern vielmehr die prinzipielle Ausrich-
                                                 Modewort, sondern bildet im Kontext der
tung der Bildung für Nachhaltige Entwick-
                                                 Sustainable Development Goals eine wich-
lung sowie der Implementierung des Nach-
                                                 tige Grundlage für Ziele und Maßstäbe von
haltigkeitsbegriffs in Bildungskontexten.
                                                 globalem Regierungshandeln. Die Idee der
    Für eine Historisierung und Ent-             Nachhaltigkeit leitet und legitimiert politi-
  Normativierung von Nachhaltigkeit              sche Entscheidungen in den verschiedens-
Die vorgestellten Modelle eröffnen zwar die      ten Bereichen – Umwelt, soziale Ungleich-
Möglichkeit der Kritik an der ökonomischen       heit, Entwicklung, Gesundheit, Energie etc.
Ausbeutung des globalen Südens oder an           Zugleich fungiert Nachhaltigkeit als Schlüs-
der weltweiten Ausbeutung natürlicher Res-       selbegriff und Legitimation eines globalen
sourcen. Doch das Leitbild der Nachhaltig-       und neoliberalen Kapitalismus (eine kriti-
keit, unter dem dies alles steht, bleibt eine    sche Perspektive auf die SDG findet sich z.B.
unreflektierte normative Setzung. Auch den       bei Weber 2017).
Begriff des Kapitalismus muss man in bei-        Vor diesem Hintergrund ist es unerläss-
den Handreichungen mit der Lupe suchen           lich, Schüler*innen zu befähigen, nicht nur
– dies fällt vor allem (aber nicht allein) bei   ihre persönlichen Konsumentscheidun-
der Lektüre des Kapitels zur ökonomischen        gen, sondern das Nachhaltigkeitsdenken
Bildung im „Orientierungsrahmen für den          selbst kritisch zu reflektieren. Dazu ist es
Lernbereich Globale Entwicklung“ auf (vgl.       notwendig, Nachhaltigkeit zu historisie-
Orientierungsrahmen 2010: 285-299).              ren, in den Kontext der kapitalistischen
Wenn aber Nachhaltigkeit, wie ich gezeigt        Entwicklung zu stellen und deutlich zu
habe, in der Moderne ein relevanter Part         machen: Nachhaltigkeit oder nachhaltige
der kapitalistischen Entwicklung war und         Entwicklung sind der kapitalistischen Öko-
ein Konzept ist, mit dem Herrschaftspolitik      nomie inhärent und können daher nicht die
betrieben wurde und wird, dann ist es            strukturellen Ausbeutungsverhältnisse und

                                                          Magazin vom 28.04.2021 11
Zur Diskussion

Umweltschäden lösen, die aus einer kapita-      Marx, Karl (2008): Das Kapital. Kritik der
listischen Ökonomie resultieren.                politischen Ökonomie. Erster Band. 23.
Mir geht es keinesfalls darum, ein weite-       Aufl. Berlin: Karl Dietz Verlag.
res Thema zu benennen, das unbedingt in         Orientierungsrahmen für den Lernbereich
den Geschichtsunterricht eingebaut wer-         Globale Entwicklung im Rahmen einer Bil-
den müsse. Sondern ich möchte deutlich          dung für nachhaltige Entwicklung: Ergebnis
machen, dass sich die Art, wie wir in (his-     des gemeinsamen Projekts der Kultusminis-
torischen) Bildungskontexten mit Nach-          terkonferenz (KMK) und des Bundesminis-
haltigkeit umgehen, ändern muss: hin zu         teriums für wirtschaftliche Zusammenar-
einem historisierenden anstatt normativen       beit und Entwicklung (BMZ) (2016). 2. Aufl.
Umgang. Auf diese Weise ist es schließlich      Bonn: Warlich Druck.
auch möglich, den Begriff bewusst und his-      Programm Transfer-21 (2007): Orientie-
torisch zu nutzen. In seiner normativen Set-    rungshilfe Bildung für nachhaltige Entwick-
zung jedoch können wir ihn getrost aus der      lung in der Sekundarstufe I. Begründungen,
historisch-politischen Bildung wie der Um-      Kompetenzen, Lernangebote. Berlin. Online
weltbildung verabschieden.                      verfügbar unter http://www.transfer-21.de/
                                  Literatur     daten/materialien/Orientierungshilfe/Ori-
Grewe, Bernd-Stefan (2015): Umweltge-           entierungshilfe_Kompetenzen.pdf.
schichte unterrichten. Für eine kritische       Radkau, Joachim (1983): Holzverknappung
Auseinandersetzung mit umwelthistori-           und Krisenbewusstsein im 18. Jahrhundert.
schen Denkmustern. In: Dietmar von Ree-         In: Geschichte und Gesellschaft 9 (4), S.
ken, Indre Döpcke und Britta Wehen-Beh-         513–543.
rens (Hg.): Umweltgeschichte lehren und         Radkau, Joachim (2008): "Nachhaltigkeit"
lernen. Keine Katastrophe! Schwalbach/Ts.:      als Wort der Macht. Reflexionen zum me-
Wochenschau Verlag (Geschichte unterrich-       thodischen Wert eines umweltpolitischen
ten), S. 84–100.                                Schlüsselbegriffs. In: Francois Duceppe-
Haumann, Sebastian (2019): Zwischen             Lamarre und Jens Ivo Engels (Hg.): Umwelt
„Nachhaltigkeit“ und „Anthropozän“. Neue        und Herrschaft in der Geschichte. Olden-
Tendenzen in der Umweltgeschichte. In:          bourg: Wissenschaftsverlag GmbH (Ateliers
Neue Politische Literatur 64 (2), S. 295–326.   des Deutschen Historischen Instituts Paris,
Hölzl, Richard (2010): Umkämpfte Wälder.        2).
Die Geschichte einer ökologischen Reform in     Weber, Heloise (2017): Politics of „Leaving
Deutschland 1760 - 1860. Zugl.: Göttingen,      No One Behind“. Contesting the 2030 Sus-
Univ., Diss., 2008. Frankfurt am Main: Cam-     tainable Development Goals Agenda. In:
pus-Verl. (Campus historische Studien, 51).     Globalizations 14 (3), S. 399–414.

                                                         Magazin vom 28.04.2021 12
Zur Diskussion

                          Internetquellen
BNE-Portal des BMBF, letzter Aufruf
07.04.2021 https://www.bne-portal.de/de/
was-ist-bne-1713.html.
Sustainable Development Goals der UN,
letzter Aufruf 07.04.2021 https://sdgs.
un.org/goals.

                              Über die Autorin
          Dr. Nina Reusch ist wissenschaftliche
               Mitarbeiterin am Arbeitsbereich
              Geschichtsdidaktik der FU Berlin.

                                                  Magazin vom 28.04.2021 13
Zur Diskussion

Pädagogische Mitarbeiter*innen                 und ein „Allheilmittel“ für gesellschaftliche
an Gedenkstätten und das                       Probleme bereitzustellen. Diese Anforde-
Dilemma der antifaschistischen                 rungen deuten die Interviewten als Resultat
Waschmaschinen –                               kontroverser Aushandlungen um ein gesell-
Agency im geschichtskulturellen                schaftliches Selbstverständnis und die Rol-
Wandel in der                                  le von Geschichtserzählungen darin. Neben
Migrationsgesellschaft                         Bestrebungen, eine nationale Meistererzäh-
Von Cornelia Chmiel                            lung durch vielstimmige Erzählungen zu er-
                                               gänzen oder auch zu ersetzen, werden Stim-
     „Was an uns herangetragen wird, und
                                               men laut, die „diesen national-identitären
     zwar immer mehr und was wir nicht
                                               Wunsch“ vertreten, „sich selbst wieder zu
     leisten können, ist aus Nazis gute
                                               finden und deutsche Visionen zu fantasie-
     Menschen zu machen. Das können
                                               ren“ (BII15: 83).
     wir nicht. Das wollen wir nicht. Das
     ist eine Instrumentalisierung dieser      Dabei wird vermehrt auf Gedenkstätten
     Orte. Wir sind keine antifaschistischen   Bezug genommen. Angesichts gesellschaft-
     Waschmaschinen.“ (BII17: 11)              licher Polarisierung, zunehmender rassis-
                                               tischer und antisemitischer Gewalt und ei-
Wortgewaltige Metaphern wie die der „anti-
                                               ner vermeintlichen Herausforderung durch
faschistischen Waschmaschinen“ finden sich
                                               Flucht und Migration werden Gedenkstät-
zahlreich in den Interviews mit pädagogi-
                                               tenbesuche als Lösungsvorschlag bedient,
schen Mitarbeiter*innen in Gedenkstätten,
                                               ihnen werde Bedeutung „aufgezwängt“ und
die im Berliner Teilprojekt des Verbundpro-
                                               „angedichtet“ (BII8: 11). Geschichtskultu-
jektes des Bundesministeriums für Bildung
                                               reller Wandel erscheint hier als übermäch-
und Forschung (BMBF) „Geschichten in Be-
                                               tige Gewalt, der Gedenkstätten als Projek-
wegung“ entstanden sind. Im Projekt wur-
                                               tionsfläche ausgeliefert sind. In unseren
den Interviewte verschiedener Bereiche his-
                                               Interviews berichten die Befragten von
torischer Bildungsarbeit dazu befragt, wie
                                               Versuchen, produktiv mit diesem Überfor-
sie gegenwärtige Veränderungen im Um-
                                               derungsszenario umzugehen und ihm die
gang mit Geschichte vor dem Hintergrund
                                               Möglichkeit abzuringen, dennoch als selbst-
gesellschaftlicher Pluralität wahrnehmen
                                               bestimmte Akteur*innen mit Agency (siehe
und wie sie ihre eigene Rolle darin bewer-
                                               dazu Yildirim in diesem Heft) im geschichts-
ten. In den Gedenkstätten scheinen die Be-
                                               kulturellen Wandel aufzutreten.
fragten sich einig: Neben der Forderung,
den antifaschistischen Schleudergang an-            „Hinter uns kann keiner mehr
zuwerfen, sehen sie sich mit dem Anspruch                    zurück.“ (BII17: 33) –
konfrontiert, „Orte des gesellschaftlichen                     Die Etablierung von
Recyclings“ zu sein, „die gedenkstättenpäd-    Gedenkstätten als Erfolgsgeschichte?
agogische Marienerscheinung“ zu erzeugen

                                                        Magazin vom 28.04.2021 14
Zur Diskussion

Die geschichtskulturellen Entwicklungen         die Befragten Gedenkstätten in der Verant-
der letzten Jahrzehnte lassen sich durch-       wortung, aktiv Stellung zu beziehen, auf die
aus als Erfolgsgeschichte erzählen. Nach        Kontinuitäten rassistischer und antisemiti-
jahrzehntelangen Kämpfen um eine Erin-          scher Denkmuster hinzuweisen und damit
nerung und Anerkennung der Erfahrungen          „dieses klassische ,Wehret den Anfängen‘“
ehemaliger Häftlinge sind Gedenkstätten         (BII17: 31) zu betreiben.
inzwischen „in der Mitte der Gesellschaft“
                                                      Wirkmächtige Akteurinnen oder
(BII17: 33) angekommen und gehören zur
                                                          passive Projektionsflächen?
„kulturellen Grundausstattung der Bundes-
                                                                    Gedenkstätten im
republik“ (BII7: 50). Neben unermüdlichen
                                                        geschichtskulturellen Wandel
Kämpfen seitens der Überlebenden und an-
derer zivilgesellschaftlicher Akteur*innen      Der Kampf um Etablierung scheint von Er-
vermutet der Befragte BII7 jedoch noch ei-      folg gekrönt zu sein: Gedenkstätten haben
nen anderen Grund für den Ausbau der insti-     sich zu wirkmächtigen Akteurinnen entwi-
tutionellen Förderung: Da viele Täter*innen     ckelt, die eine wichtige Rolle für „die Posi-
bereits verstorben waren, sei in den frühen     tionierung dieses Landes“ spielen, und zwar
2000ern ein Punkt erreicht worden, an dem       nicht nur als „Alibieinrichtungen“, dazu sei-
es „vielen eben nicht mehr weh tat“ und         en sie inzwischen zu groß (BII17: 11). Und
Aushandlungen weniger kontrovers geführt        dennoch verweisen das zuvor skizzierte
werden mussten (BII8: 18).                      Überforderungsszenario und die gestiege-
                                                nen Bedeutungszuschreibungen darauf,
Inzwischen werde die Relevanz von Ge-
                                                dass eben diese gezielt eingeforderte und
denkstätten als Institutionen, die den Nati-
                                                erkämpfte Entwicklung von unerwünschten
onalsozialismus „im kollektiven Gedächtnis
                                                Nebenwirkungen gekennzeichnet ist.
wachhalten“ (BII27: 13) kaum noch in Fra-
ge gestellt (BII7: 50). Im Gegenteil bestehe    So beklagt die Befragte BII16, mit einer stei-
sogar ein weitestgehender „Konsens“ darü-       genden Etablierung würden Gedenkstätten
ber, „dass das ein wichtiges Thema ist und      auch zunehmend Schauplätze ritualisierter
behandelt werden sollte“ (BII17: 31). Gleich-   Symbolpolitik: Einmal im Jahr käme der
zeitig weisen die Befragten darauf hin, dass    Bürgermeister, „um hier seine Rede los-
sich eben dieser gesellschaftliche „Konsens“    zuwerden und seinen Kranz abzuwerfen“
gegenwärtig als vermeintlich erweist und        (BII16: 21), was in letzter Instanz jedoch
zunehmend durch rechte Akteur*innen he-         keine Auswirkungen habe, sondern gemacht
rausgefordert wird. Umso mehr gelte es,         werde, „weil es gemacht werden muss“
„eine Stimme zu sein, in diesem ganzen,         (ebd.). Durch geschichtskulturelle Rituale
gerade richtig abgefuckten politischen und      und Konventionen wird die Erinnerung an
populistischen Diskurs“ (BII27: 9). Gerade      den Nationalsozialismus in feste Formen
angesichts des Erstarkens der AfD sehen         gegossen und handhabbar gemacht. Was

                                                          Magazin vom 28.04.2021 15
Zur Diskussion

„als Geschichte von Unten angefangen hat         ein Besuch am historischen Ort erfüllen soll.
und was Kritisches und vielleicht auch was       Gesamtgesellschaftliche Probleme werden
Antistaatliches war“ hat sich nun zu etwas       so auf bestimmte Gruppen externalisiert,
entwickelt, „was von oben kommt“ (BII16:         wodurch die sogenannte „Mitte der Gesell-
55). Indem Gedenkstätten zum Austra-             schaft“ ihre reine Weste bewahrt.
gungsort staatlicher Selbstvergewisserung
                                                 Hier wird deutlich, dass Gedenkstätten sich
werden, verlieren sie ihre Funktion als „Sta-
                                                 einerseits zu handlungsmächtigen Akteu-
chel im Fleisch der Deutschen“ (BII16: 57).
                                                 rinnen entwickelt, andererseits aber mit
Eine negative Geschichte wird zunehmend
                                                 einer zunehmenden Instrumentalisierung
zu einem Referenzpunkt, „der irgendwie
                                                 als Resultat dieser Entwicklung zu kämpfen
eine nationale Identität oder vielleicht sogar
                                                 haben.
Nationalismus begründen kann“ (ebd.). Da-
mit werden Gedenkstätten in den Dienst der             Historisches Lernen als Prozess
Stabilität von Herrschaft gestellt und, wie                der Befähigung? Agency im
zuvor skizzierte Ansprüche zeigen, zu nichts            geschichtskulturellen Wandel
Geringerem als der Errettung der Demokra-        Aus „Nazis gute Menschen zu machen“
tie herangezogen:                                ist ein Anspruch, den pädagogische
     „Alle Geflüchteten müssen mal in die        Mitarbeiter*innen weder erfüllen können
     KZs, weil dann wird ihnen der Antise-       noch wollen. Während die zunehmende Eta-
     mitismus ausgetrieben. Ja und jedes         blierung einerseits ermöglicht, Gedenkstät-
     AfD-Mitglied, eigentlich dürfen die auf     ten als wirkmächtige geschichtskulturelle
     keinen Fall kommen oder nein, eigent-       Akteurinnen zu begreifen, führt sie anderer-
     lich sollten sie ja doch kommen, weil       seits dazu, dass diese als passive Projekti-
     dann lernen sie ja, wie sie die richti-     onsfläche instrumentalisiert werden. Insbe-
     ge Einstellung und das macht mich           sondere die Gedenkstättenpädagogik läuft
     echt fertig, das ist, als wäre es so das    hier Gefahr, ihr kritisches Potenzial zu ver-
     Allheilmittel. Wo ich denke, was soll       lieren.
     das?“ (BII8: 33)                            Mit diesem Dilemma gilt es sowohl in der
Schüler*innen, wahlweise aber auch Ge-           alltäglichen Arbeit als auch im professionel-
flüchtete, AfD-Mitglieder und Neonazis           len Selbstverständnis einen Umgang zu fin-
sollten eine Gedenkstätte besuchen, um sich      den. Gedenkstätten beschreiben die Befrag-
hier zum Fundament der „deutschen Ge-            ten immer auch als Verhandlungsräume:
schichte“ zu bekennen und auf einen mora-        Hier treffen tradierte Narrative auf indivi-
lischen und kulturellen Grundkonsens ein-        duelle Bezüge und Perspektiven. Es han-
geschworen zu werden. So problematisch           delt sich also um eine Schnittstelle, an der
eine Gleichsetzung dieser Gruppen ist, zeigt     Geschichtskultur aktualisiert und neu ver-
sie doch die Absurdität der Ansprüche, die       handelt wird. Dieser Aushandlungsprozess

                                                          Magazin vom 28.04.2021 16
Zur Diskussion

findet jedoch nicht im luftleeren Raum, son-      ein Mitwirken an geschichtskulturellen Aus-
dern im Kontext gesellschaftlicher Macht-         handlungsprozessen zu ermöglichen. Histo-
und Repräsentationsstrukturen statt.              risches Lernen an Gedenkstätten wird hier
Und so beschreiben die Interviewten den           als Prozess beschrieben, der Besucher*innen
Versuch, eben diese Verhandlungsräume             die Möglichkeit gibt, Agency auszubilden,
vor überbordenden Ansprüchen und Inst-            an Geschichtskultur teilzuhaben und die-
rumentalisierungen abzuschirmen, um das           se aktiv mitzugestalten (siehe dazu auch
kritische Potenzial einer Auseinanderset-         Chmiel/Sieberkrob in diesem Heft). Das ist
zung mit NS-Geschichte zu bewahren, die           in letzter Instanz auch im Interesse der ei-
doch eigentlich zu nichts weniger taugt als       genen Institution: Die Bedeutung des Nati-
nationaler Selbstvergewisserung. Dazu be-         onalsozialismus und damit verbunden auch
dienen sie sich verschiedener Strategien.         von Gedenkstätten für die Gegenwart kann
                                                  nur anhaltend bestehen, wenn sie immer
Zum einen fordern die Interviewten eine po-
                                                  neu verhandelt wird. An dieser Stelle wer-
litische Positionierung seitens der Gedenk-
                                                  den Konventionen, festgeschriebene Deu-
stättenleitungen, um die Handlungsmacht,
                                                  tungsmuster und vorbestimmte Lehren zum
die in den letzten Jahrzehnten erkämpft
                                                  Problem.
wurde, zu nutzen und zugleich die Räume
historischen Lernens zu entlasten. Was his-       Dabei zeigen sich dennoch normative Ziel-
torisches Lernen vor Ort nicht leisten kann,      setzungen. Sie möchten „Einfluss nehmen“
soll die Gedenkstätte als Institution erfüllen:   (BII17) und für den Erhalt bestimmter Nar-
                                                  rationen sorgen. Anhand von NS-Geschich-
     „Ich will nicht hier stehen und einer 8.
                                                  te soll erklärt werden, „wie Dinge gesell-
     Klasse […] erzählen: ,Jetzt passt aber
                                                  schaftlich passieren können und wie man
     auf, die bösen Nazis!‘ und so. Ich wür-
                                                  mit ihnen umgehen kann“ (BII17: 9). Hier
     de es aber durchaus spannend finden,
                                                  zeigen sich hochgesteckte Ziele: Kontinuitä-
     wenn die Leitungen von Stiftungen, die
                                                  ten aufzeigen, Lösungen finden, dabei aber
     solche Orte betreuen, feste Positionen
                                                  auch politisches Bewusstsein und eine kriti-
     haben und sich gegen was politisch äu-
                                                  sche Haltung fördern. Das gesellschaftliche
     ßern.“ (BII8: 41)
                                                  Überforderungsszenario der antifaschisti-
In der pädagogischen Arbeit geht es den           schen Waschmaschinen wirkt im professio-
Mitarbeiter*innen dagegen darum, mög-             nellen Selbstverständnis der Befragten fort.
lichst unvoreingenommen zu agieren, viel-
fältige Anknüpfungspunkte und Bezüge der                   Widersprüche aushalten und
Besucher*innen aufzugreifen und einen                       Handlungsräume eröffnen
demokratischen Aushandlungsprozess zu             Historisches Lernen an Gedenkstätten
ermöglichen. Es gelte, die Besucher*innen         kann nicht ohne seinen geschichtskul-
als „Subjekte“ (BII9) ernst zu nehmen, um         turellen Kontext betrachtet werden. Der

                                                           Magazin vom 28.04.2021 17
Zur Diskussion

normative Rahmen, in dem die Geschichte                                                Literatur
des NS verhandelt wird, ist Ergebnis lang-      Chmiel/Sieberkrob (2021). Demokratiebil-
jähriger Kämpfe um Anerkennung und da-          dung und historisches Lernen. Mehr als De-
mit die Grundlage dafür, dass überhaupt         mokratiegeschichte. S. 19-23 in diesem LaG-
historisches Lernen vor Ort stattfindet. Den-   Magazin: http://lernen-aus-der-geschichte.
noch scheint sich diese Entwicklung zuneh-      de/Lernen-und-Lehren/content/15046.
mend verselbstständigt zu haben, wodurch
                                                Yildirim (2021). Historische Agency auf
eben dieser Rahmen zur Herausforderung
                                                dem Markt der Erinnerungen der pluralen
wird. Das historische Lernen vor Ort gerät
                                                Gesellschaft: historische Diskursfähigkeit
unter Druck, soll es doch die Stabilität der
                                                als Handlungsmächtigkeit. S. 24-29 in die-
demokratischen Ordnung garantieren. Ins-
                                                sem LaG-Magazin: http://lernen-aus-der-
besondere die Heterogenität möglicher Be-
                                                geschichte.de/Lernen-und-Lehren/con-
zugnahmen erscheint dabei zugleich not-
                                                tent/15084.
wendig als auch nicht gewünscht, da sie das
bestehende System ins Wanken bringen
kann.
                                                                                  Über die Autorin
Um dennoch handlungsfähig im geschichts-
                                                             Cornelia Chmiel ist wissenschaftliche
kulturellen Wandel zu agieren, positionie-                Mitarbeiterin im BMBF-Verbundprojekt
ren sich pädagogische Mitarbeiter*innen             „Geschichten in Bewegung“ am Arbeitsbereich
                                                      Didaktik der Geschichte an der FU Berlin. In
stetig in den Spannungsfeldern zwischen                ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der
normativer Vorbestimmtheit und Ergeb-                     partizipativen und inklusiven Gestaltung
                                                 außerschulischer Bildungsarbeit und historischem
nisoffenheit, Wandel und Erstarrung, Be-                 Lernen als geschichtskultureller Teilhabe.
wahren und Verändern. Dabei schaffen                 Darüber hinaus arbeitet sie als Referentin für
                                                        historisch-politische Bildungsarbeit in der
sie Verhandlungsräume, in denen sich ge-                              Gedenkstätte Sachsenhausen.
schichtskulturelle Strukturen spiegeln und
die zugleich das Potenzial beinhalten, eine
Überschreitung eben dieser Strukturen zu
ermöglichen. Die hier aufgezeigten Parado-
xien und Widersprüche stellen dabei Her-
ausforderungen dar, können aber auch als
produktive Beunruhigung genutzt werden,
um das kritische Potenzial historischen Ler-
nens an Gedenkstätten zu bewahren.

                                                           Magazin vom 28.04.2021 18
Zur Diskussion

Demokratiebildung und                           (z. B. Zick, Küpper & Berghan 2019). Bei
historisches Lernen −                           Jugendlichen sind solche hingegen gerin-
Mehr als Demokratiegeschichte                   ger ausgeprägt (Achour & Wagner 2019). Es
                                                entsteht der Eindruck, dass die Probleme
Von Cornelia Chmiel und Matthias Sieber-
                                                der Erwachsenen vor allem zu ihrer Selbst-
krob
                                                beruhigung pädagogisiert werden.
Unsere Gegenwart ist durch massive Angrif-
                                                In der derzeitigen politikdidaktisch ge-
fe auf die Demokratie geprägt, insbesondere
                                                prägten wissenschaftlichen Begriffsent-
durch den wiedererstarkten Rechtspopu-
                                                wicklung geht Demokratiebildung von den
lismus und -extremismus. Gleichzeitig sind
                                                Bürger*innen als politischen Subjekten aus.
manche Versprechen der pluralen Demo-
                                                Ziel sei es, dass die Bürger*innen die gege-
kratie, etwa das Recht auf Gleichheit oder
                                                bene Ordnung verstehen, reflektieren, ver-
die freie Persönlichkeitsentfaltung, bislang
                                                ändern, kritisieren und so gestalten können,
nicht umfassend umgesetzt (Foroutan 2019:
                                                wie sie es für adäquat halten. Mündigkeit sei
36–46). Jedoch erleben wir auch soziale
                                                die zentrale Ressource, um die Bürger*innen
Bewegungen, die sich über parteipolitische
                                                demokratiefähig zu machen. Folglich sei De-
Grenzen hinweg für zukunftsfähige Kon-
                                                mokratiebildung nicht affirmativ, sondern
zepte stark machen, wie etwa das Bündnis
                                                kritisch und als Mündigkeitsbildung zu ver-
„Unteilbar“ oder die internationale Jugend-
                                                stehen (Kenner & Lange 2020: 49).
bewegung „Fridays for Future“. Kurzum:
Unsere demokratische Kultur und unser de-       Um die Notwendigkeit zu markieren, demo-
mokratisches System sind Angriffen ausge-       kratiebildende Maßnahmen auf einer verti-
setzt, werden aber auch aktiv verteidigt und    kalen Ebene des Lebensweges und einer ho-
weiterentwickelt.                               rizontalen Ebene in allen Lebensbereichen
    Durchgängige Demokratiebildung              zu ergreifen, sprechen wir in Anlehnung an
        als gesellschaftliche Aufgabe           das Konzept der durchgängigen Sprachbil-
                                                dung (Gogolin & Lange 2011) von durchgän-
Während Bildungsaktivitäten zur Stärkung
                                                giger Demokratiebildung als Konzept für die
der Demokratie lange Zeit vernachlässigt
                                                gesamte Gesellschaft.
wurden, ziehen diese Herausforderungen
derzeit im Bildungssystem verschiedene          Im Schulbereich bezieht sich durchgängige
Aktivitäten nach sich. Dabei wurde u. a., zu-   Demokratiebildung auf der vertikalen Ebe-
nächst seitens der Bildungspolitik, der Be-     ne auf alle Schulformen und -stufen, auf
griff „Demokratiebildung“ etabliert. Dass es    der horizontalen Ebene auf alle Fächer und
aber dringend notwendig ist, Demokratie-        sämtliche weitere Aktivitäten. Als Beitrag
bildung in der gesamten Gesellschaft struk-     hierzu konturieren wir im Folgenden den
turell zu verankern, zeigen u. a. gut belegte   Begriff Demokratiebildung aus einer ge-
autoritäre Einstellungen in der Bevölkerung     schichtsdidaktischen Perspektive.

                                                         Magazin vom 28.04.2021 19
Zur Diskussion

                Demokratiebildung und           historischer Akteur*innen. Dabei geht es
                   historisches Lernen          nicht nur um neue Herrschafts- und Regie-
Historisches Lernen verstehen wir als die       rungsformen, sondern auch um handelnde
„produktive eigen-sinnige Aneignung ver-        Personen, soziale Gruppierungen und Be-
gangener Wirklichkeiten als selbst erzählte     wegungen. Hier können Schüler*innen et-
und selbst imaginierte Geschichte“ (Lücke       was über die Durchsetzungsfähigkeiten und
& Zündorf 2018: 39). Auch Geschichtsun-         -bedingungen von demokratischen Bestre-
terricht zeichnet sich dadurch aus, „Erzähl-    bungen lernen und sich ausgehend davon
zusammenhänge zu vermitteln und Schüler         mit eigenen Handlungsbedingungen und
in die Lage zu versetzen, Geschichte zu er-     -möglichkeiten auseinandersetzen. Doch
zählen und erzählte Geschichte zu verste-       anders als Diktaturen können Demokratien
hen“ (Pandel 2010: 10). Hiermit weist his-      auf Held*innengschichten verzichten, zumal
torisches Lernen ein partizipatorisches und     das Handeln historischer Figuren meist von
emanzipatorisches Potenzial auf. Um dieses      Widersprüchen geprägt ist (Barricelli 2018:
für die Demokratiebildung nutzbar zu ma-        30-35). Vielmehr kann es spannend sein,
chen, schlagen wir im Folgenden drei Hand-      darüber zu reflektieren, wie und zu welchem
lungsfelder vor. Sie sind an die etablierte     Zweck solche Geschichten erzählt werden,
Trias von über, durch und für Demokratie        also welche politischen Absichten mit ihnen
lernen angelehnt.                               verbunden sind.

          1) Lernen über Demokratie –                   2) Lernen durch Demokratie –
              Demokratiegeschichte als                              Geschichten aller
                      Lerngegenstand                         Schüler*innen aufgreifen

Die Erinnerung an die nationalsozialistische    Geschichtsunterricht ist von einem Meister-
Diktatur und ihre Verbrechen sind zwei-         narrativ geprägt, das nicht alle Schüler*innen
felsohne bereits ein zentraler Bestandteil      inkludiert. Um historisches Lernen demo-
der Demokratiebildung im Geschichtsun-          kratiebildend zu gestalten, ist jedoch ein
terricht. Doch ist damit gerade noch nichts     subjektorientierter      Geschichtsunterricht
über Demokratie gelernt, sondern nur über       erforderlich, in dem Schüler*innen ihre
ihr Gegenteil.                                  Geschichte(n) einbringen können. In der
                                                Folge würden dann viele kleine Geschichten
Darüber hinaus bedarf es Erzählungen da-
                                                erzählt werden. Wozu?
rüber, wie Demokratie durchgesetzt, aus-
gebaut, modernisiert und verteidigt wurde.      Auch Lerngruppen in der Schule sind he-
Statt dabei das Leitbild gegenwärtiger De-      terogene soziale Gemeinschaften, in denen
mokratie auf die Vergangenheit zu projizie-     Partizipationsmöglichkeiten entlang sozia-
ren, eröffnet sich hier die Möglichkeit einer   ler Kategorien ausgehandelt werden. Hierzu
Beschäftigung mit dem Demokratieverständnis     gehören bspw. die Kategorien race, class und

                                                          Magazin vom 28.04.2021 20
Zur Diskussion

gender. An diesen Kategorien entstehen Un-     Subjektorientierter    Geschichtsunterricht
gleichheiten, wenn sie sich mit Herrschaft-    muss Geschichtskultur als Rahmung histo-
sebenen überschneiden. Sie können daher        rischer Lernprozesse anerkennen. Indem
als heuristische Sehhilfen herangezogen        geschichtskulturelle Aushandlungsprozesse
werden, um die Genese sozialer Ungleich-       im Geschichtsunterricht hinterfragt, dahin-
heit in den Blick zu nehmen. Ein solcher       terstehende Machtverhältnisse analysiert
Geschichtsunterricht zielt darauf ab, in der   sowie Gestaltungsmöglichkeiten reflektiert
von sozialer Ungleichheit geprägten Gegen-     und genutzt werden, können Schüler*innen
wart geschichtskulturell handlungsfähig(er)    befähigt werden, sich selbst als aktiv Partizi-
zu werden (Lücke 2012). Zudem können           pierende an diesen Prozessen zu verstehen
Lehrer*innen hiermit die sozialen Lernvor-     (siehe dazu auch Chmiel in diesem Heft).
aussetzungen ihrer Schüler*innen analysie-     Auf diese Weise erhält der Geschichtsun-
ren und ihre eigene Verstrickung in gesell-    terricht ein demokratiebildendes Element,
schaftliche und schulische Machtstrukturen     das den Schüler*innen einen emanzipierten
hinterfragen. Auf diese Weise wird eine Re-    Umgang mit Geschichte ermöglicht und zu-
flexion über die eigenen didaktischen Ziele    gleich den Weg zu einer demokratisch(er)en
und vorgegebene Unterrichtsinhalte mög-        Geschichtskultur ebnet. Die demokratische
lich, die mit den Schüler*innen thematisiert   Ordnung wird so im Sinne der (Weiter-)
und diskutiert werden kann.                    Entwicklung der Demokratie zugleich dyna-
                                               misiert und stabilisiert, ist sie doch auf die
Um ein Lernen durch Demokratie im Ge-
                                               aktive Mitwirkung der Gesellschaft ange-
schichtsunterricht zu ermöglichen, muss
                                               wiesen.
dieser als politische Veranstaltung ernstge-
nommen werden. Anstatt Themen des Ge-          Auf der Metaebene kann hier wiederum da-
schichtsunterrichts entlang der Kategorie      rüber reflektiert werden, wie gut und warum
Nation/Nationalstaat zu erzählen, sollte der   es gelingt, sich als Individuum oder Gruppe
Fokus darauf liegen, dass Schüler*innen        in historischen und geschichtskulturellen
sich die für sie relevante Vergangenheit als   Debatten einzubringen, welche divergie-
selbst erzählte Geschichte aneignen (Lücke     renden Perspektiven hierbei ausgehandelt
2012: 146) und bestehende dominante Nar-       werden müssen und an welchen zu hinter-
rative dekonstruieren. Die Verschiedenheit     fragenden Machtverhältnissen dies auch
der so entstehenden Erzählungen muss auf       scheitern kann.
der Metaebene reflektiert und anerkannt                                                Fazit
werden, damit eine „auf wahre Verständi-
                                               Die Frage, wozu historisches Lernen eigent-
gung gerichtete Kommunikation über Ge-
                                               lich dient und welche Funktion es erfüllt,
schichte“ (Körber 2004) gelingen kann.
                                               kann auch mit dem Ziel von Agency be-
           3) Lernen für Demokratie –          antwortet werden (den Heyer 2018; Yildi-
           Geschichten für die Zukunft         rim in diesem Heft). Agency nimmt dabei

                                                         Magazin vom 28.04.2021 21
Sie können auch lesen