AMNESTY - INDIEN: WACHSENDER WIDERSTAND GEGEN AUSGRENZUNG - MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE
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AMNESTY Nr. 107 August 2021 MAGAZIN DER MENSCHENRECHTE INDIEN: WACHSENDER WIDERSTAND GEGEN AUSGRENZUNG IN ACTION LIBANON SCHWEIZ Ja zur Ehe für alle Ein Land am Limit Die Risiken des «Predictive Policing»
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Titelbild INHALT_AUGUST 2021 Eine indische Muslimin während einer Demonstration gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz, das Muslim*innen diskriminiert. © Keystone/EPA/DIVYAKANT SOLANKI AKTUELL THEMA 4 Good News 24 Libanon 6 Aktuell im Bild Schwieriges Zusammenleben im geteilten Land 7 Nachrichten 9 Brennpunkt Ein Bericht sorgt für Wirbel Reportage aus Beirut und DOSSIER der Bekaa-Ebene. Indien: Wachsender Widerstand gegen Ausgrenzung 27 Chile Bis zum letzten Tropfen 30 Schweiz Überwachen und vorhersagen KULTUR 32 Ausstellung Brennpunkt Flucht 33 Buch 10 Vielfalt in Gefahr Kritik in der Zukunft 12 Der Kampf um Indien 34 Social Media Der Hindu-Nationalismus führt zu Diskriminierungen und Künstler*innen für Menschenrechte zunehmender Gewalt. auf Instagram 15 Hoffnung für manche Trans Menschen werden an den Rand gedrängt, CARTE BLANCHE doch es gibt Fortschritte. 35 Linda Rosenkranz 18 Das Indien der Frauen und Ausgegrenzten Laut und stark an das «Sessiönli» Eine Zeitung, die ausschliesslich von Frauen gemacht wird. 20 Aufstand vom Land Der Widerstand gegen die Agrarreform bleibt hartnäckig. IN ACTION 22 Staatsfeind Amnesty 37 Abstimmung Warum Amnesty in Indien ihre Tätigkeit einstellen musste Ja zur Ehe für alle und wie es weitergeht. 39 Petition Gerechtigkeit für die «El Hiblu 3» Impressum: «AMNESTY», Magazin der Menschenrechte, Nr. 107, August 2021. Redaktion: Carole Scheidegger (cas., verantw.), Manuela Reimann Graf (mre). Mitarbeiter*innen dieser Nummer: Theresa Bergmann, Neha Dixit, Fabienne Engler, Daniela Enzler, Laura Fornell, Alicia Giraudel, Malte Göbel, Chirine Ismail, Felix Lee, Emilie Mathys, Tobias Oellig, Olalla Pineiro Trigo, Linda Rosenkranz, Lisa Salza, Sebastian Sele, Florian Wüstholz. Gestaltung: www.muellerluetolf.ch. Druck: Stämpfli AG, Bern. Auf nachhaltig produziertem Papier gedruckt, Schutzhülle überwiegend aus nachwachsenden Rohstoffabfällen hergestellt. Die Mitgliederzeitschrift «AMNESTY» erscheint viermal jährlich in Deutsch und Französisch. Sie kann als E-Paper unter issuu.com/magazin-amnesty-schweiz gelesen werden. Redaktionsschluss der nächsten Nummer: 15. Oktober 2021. Distribution: «AMNESTY, Magazin der Menschenrechte» erhalten alle, die die Schweizer Sektion von Amnesty International mit mindestens 30 Franken jährlich unter- stützen. Über die Veröffentlichung von Fremdbeiträgen entscheidet die Redaktion. Alle Rechte vorbehalten. © Amnesty International, Schweizer Sektion. Spendenkonto: Amnesty International, Schweizer Sektion, 3001 Bern (PC 30-3417-8). Redaktionsadresse: Magazin «AMNESTY», Redaktion, Postfach, 3001 Bern. Tel.: 031 307 22 22, E-Mail: info@amnesty.ch. Auflage: 80 000 (dt.). www.amnesty.ch facebook.com/amnesty.schweiz twitter.com/amnesty_schweiz www.instagram.com/amnesty_switzerland International: www.amnesty.org 3
A K T U E L L _ EN DA IC THORRI ICAHLT E N Indien war in der letzten Zeit GOO © AICH vor allem wegen der ver heerenden Corona-Krise in den Medien. Hunderttausende verloren ihr Leben, Millionen ihre Existenzgrundlage. Die Wirtschaft des einstigen Hoff nungsträgers schrumpfte. Doch schon vor der Pande mie war die menschenrechtliche Lage schlecht: Armut, Gewalt gegen Frauen, Korruption – um nur einige Themen zu nennen. Premier Narendra Modi fährt einen stramm hindu-nationalistischen Kurs und baut Indien zu einem Staat um, der Hindus bevor Gesundheit ist wichtiger als die Geschäftsinteressen der Pharmakonzerne. zugt. Minderheiten, insbesondere muslimische Men Für eine solidarische Schweiz in der Pandemie schen, und Angehörige unterer Kasten werden an den SCHWEIZ – Mehr als 20 000 Menschen fordern, dass sich die Schweiz für einen weltweiten Zugang zu Covid-19-Impfstoffen einsetzt: Am Rand gedrängt. Das Kastenwesen wäre eigentlich 8. Juni begannen in der WTO die Verhandlungen über die Ausset- längst abgeschafft, die Realität sieht aber anders aus. zung gewisser Regeln des internationalen Patentschutzes während Trotz Repression kämpfen viele Menschen weiter, so der Covid-19-Pandemie. Aus diesem Anlass übergaben Public Eye und Amnesty International am selben Tag ihre Petition «Für eine so- etwa die Journalistinnen von «Khabar Lahariya», die lidarische Schweiz im Kampf gegen die Pandemie» an Bundespräsi- Sie im Interview auf Seite 18 kennenlernen können. dent Guy Parmelin. Mit dieser Petition fordern die Unterzeichnen- den, dass die Schweiz vorübergehende Ausnahmen vom Schutz des An dieser Stelle möchte ich mich von Ihnen, liebe geistigen Eigentums bei Covid-19-Behandlungen, -Tests und -Impf- stoffen unterstützt. Die Petition ruft den Bundesrat zudem dazu auf, Leser*innen, verabschieden. Nach 13 Jahren beim die Teilnahme von Schweizer Pharmaunternehmen an der Wissens- Amnesty-Magazin wechsle ich an eine neue Stelle. austausch-Plattform der Weltgesundheitsorganisation WHO zu Ich danke Ihnen für Ihr Interesse – es war mir eine fördern. Schliesslich fordert sie den Bundesrat auf, die mit den Pharmaunternehmen abgeschlossenen Verträge über den Kauf von Ehre, Ihnen regelmässig Nachrichten zum Zustand der Impfstoffen, die mit Steuergeldern bezahlt werden, öffentlich zu Welt und der Menschenrechte zu liefern. Meine Nach machen. folge als verantwortliche Redaktorin tritt Manuela Rei Urteil gegen Ratko Mladić mordes, Verbrechen gegen die mann Graf an, die während der letzten sieben Jahre bestätigt Menschlichkeit und Kriegsverbre- das Magazin gemeinsam mit mir produziert hat. NIEDERLANDE − Der serbische Ex- chen verurteilt hatte. Ratko Mladić General Ratko Mladić wurde am war bereits 2017 wegen seiner Ich wünsche Ihnen herzlich alles Gute. 8. Juni 2021 auch in letzter In- Verantwortung für das Massaker stanz vom Uno-Kriegsverbrecher- von Srebrenica sowie weiterer Carole Scheidegger, verantwortliche Redaktorin Tribunal in Den Haag schuldig Kriegsverbrechen im Bosnien- gesprochen und zu lebenslanger Krieg zu lebenslanger Haft verur- Kontakt: redaktion@amnesty.ch, Tel. 031 307 22 22 Haft verurteilt. Damit wurde das teilt worden. Er hatte Berufung ge- Redaktion AMNESTY, Amnesty International, Urteil der ersten Instanz bestätigt, gen die Verurteilung eingelegt und Schweizer Sektion, Postfach, 3001 Bern die Ratko Mladić wegen Völker- forderte einen Freispruch. 4 AMNESTY August 2021
AKTUELL_GOOD NEWS D NEWS Sexualstrafrecht wird reformiert SLOWENIEN − Das slowenische Parlament hat am 4. Juni 2021 Änderungen des Strafgesetzes angenommen, nach denen eine sexuelle Handlung ohne Einwilli- gung als Vergewaltigung definiert © Private Haftstrafe von Germain Rukuki reduziert BURUNDI − Nur wegen seines Engagements gegen die Folter hat Germain Rukuki vier Jahre hinter Gittern verbracht. Er hatte für die christliche Anti- Folter-Organisation ACAT in IN KÜRZE BELARUS – Die Brüder Stanislau und Illia Kostsu sassen seit Ja nuar 2020 wegen des Mordes an ihrem ehemaligen Lehrer in Belarus im Todestrakt. Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme wa wird. Nötigung und die Anwen- Burundi (Action by Christians ren sie 18 und 20 Jahre alt. Am dung oder Androhung von Gewalt for the Abolition of Torture) ge- 30. Mai wurde die Mutter der werden demnach nicht mehr vor- arbeitet, bevor diese 2016 von zum Tode verurteilten Brüder ausgesetzt, damit eine Tat als den Behörden verboten wur- über die Bewilligung ihres Gna Vergewaltigung gilt. Der Parla- de. 2018 wurde Rukuki we- dengesuchs informiert. Der Prä mentsentscheid ist das Ergebnis gen seines Engagements ge- sident hat seit Amtsantritt 1994 der jahrelangen Kampagnenar- gen Folter zu 32 Jahren Haft erst einmal einem Gnadenge Nach mehr als vier Jahren Haft frei: beit von Betroffenen und zivilge- Germain Rukuki verurteilt. Ein Berufungsge- such stattgegeben. sellschaftlichen Organisationen, richt reduzierte nun die Haft- darunter auch Amnesty Inter strafe auf ein Jahr. Amnesty International setzte sich im Rahmen des PAKISTAN – Shagufta Kausar und national. Briefmarathons 2020 für den Menschenrechtsaktivisten ein. Shafqat Emmanuel wurde 2014 zum Tode verurteilt, weil die bei Aus Zwangshospitalisierung © Private den angeblich «blasphemische» entlassen Texte an einen muslimischen KUBA − Nach einem Monat in Geistlichen verschickt hätten. staatlichem Gewahrsam in einem Das Oberste Gericht in Lahore Krankenhaus in Havanna wurde hat das Todesurteil nun aufgeho der Künstler Luis Manuel Otero ben. Das Ehepaar gehört dem Alcántara am 31. Mai 2021 be- christlichen Glauben an. Sie hat dingungslos freigelassen. Er war ten das Urteil angefochten, aber festgenommen worden, als er mit dennoch die letzten sieben Jahre einem Hungerstreik gegen die Be- im Gefängnis verbracht. Perso schlagnahmung von Kunstgegen- nen, die der «Blasphemie» be ständen protestiert hatte. Luis Ma- schuldigt werden, sind in Pa nuel Otero Alcántara ist Sprecher kistan häufig Schikanen und der Initiative Movimiento San Isi Angriffen ausgesetzt. dro, einer Gruppe zahlreicher un- Samar Badwai (links) und Nassima al-Sada wurden endlich aus der Haft entlassen. abhängiger Künstler*innen, Journalist*innen und Aktivist*in Endlich frei! NIGERIA – Am 18. Juni wurden nen, die sich für die Meinungsfrei- SAUDI-ARABIEN − Die Menschenrechtsverteidigerinnen Samar Badawi die Aktivisten Larry Emmanuel heit auf Kuba einsetzen. und Nassima al-Sada wurden Ende Juni freigelassen. Samar Badawi und Victor Anene Udoka, die in hatte sich öffentlich gegen das Fahrverbot für Frauen geäussert und Nigeria unrechtmässig inhaftiert © Private die Inhaftierung ihres Ex-Mannes, des Menschenrechtsanwalts Wa- waren, nach 72 Tagen Haft ge leed Abu al-Khair, sowie ihres Bruders, des Bloggers Raif Badawi, gen Kaution freigelassen. Die angeprangert. Nassima al-Sada setzt sich seit vielen Jahren für Frau- beiden waren von Unbekannten enrechte sowie die Rechte der schiitischen Minderheit ein. Die bei- verprügelt worden, weil sie fried den waren während einer Verhaftungswelle 2018 festgenommen lich protestiert hatten. Danach worden. Viele weitere Frauenrechtsaktivistinnen sitzen nach wie vor wurden sie von einem Richter im Gefängnis – ein Widerspruch zu Saudi-Arabiens PR-Kampagne, wegen Begehens «einer schweren wonach die Frauenförderung ganz oben auf der Agenda des Landes Straftat» angeklagt. Luis Manuel Otero Alcántara stehe. 5 AMNESTY August 2021
AKTUELL_IM BILD © REUTERS/Tyrone Siu HONGKONG – Seine letzte Nummer: Dieser Redaktor der Zeitung «Apple Daily» betrachtet die letzte Ausgabe vom 23. Juni. Die pro-demokratische Zeitung musste ihr Erscheinen einstellen, weil sie wegen angeblicher Verstösse gegen das 2020 von Peking verabschiedete «Sicherheitsgesetz» ins Visier der Behörden geraten war. Die Zeitung galt als eine der letzten Bastionen der Meinungsfreiheit in Hongkong. Mehrere Führungskräfte von «Apple Daily» waren zuvor festgenommen worden. Die Redaktion «feierte» die Schliessung mit einer Grossauflage. Frühmorgens schon stand die Bevölkerung Hongkongs Schlange vor den Verkaufsständen, um eine Ausgabe der letzten Nummer zu ergattern. 6 AMNESTY August 2021
AKTUELL_NACHRICHTEN Illegale Push-Backs von Geflüchteten © AI/Giorgos Moutafis GRIECHENLAND – Die griechische Grenzpolizei greift selbst Hunderte Kilometer entfernt von der Grenze Menschen auf der Flucht gewaltsam auf und schiebt sie in die Türkei ab oder inhaf- tiert sie. Das dokumentiert ein Bericht von Am- nesty International. Die grosse Mehrheit der be- fragten Geflüchteten berichtete, dass sie dabei Gewalt erlebt oder gesehen habe. Dazu gehör- ten Schläge mit Stöcken oder Knüppeln, Tritte, Faustschläge, Ohrfeigen und Stösse, die manchmal zu schweren Verletzungen führten. Amnesty International fordert angesichts der völkerrechtswidrigen Praktiken die EU-Grenz- schutzagentur Frontex auf, ihre Operationen in Griechenland auszusetzen oder sich ganz aus dem Land zurückzuziehen. Ein SOS von Lesbos, um auf die Push-Backs aufmerksam zu machen. Konzernverantwortung: wortlichkeiten im Falle von Fifa muss den Druck auf Katar erhöhen Veraltetes Gegenprojekt Verstössen fest und enthalten KATAR – 2022 wird die Fussball-WM in Katar angepfiffen. Ein sportli- SCHWEIZ/EUROPA – In der Schweiz Sanktionen auch strafrecht- ches Grossereignis, dem die Fans weltweit entgegenfiebern, dem viele droht der indirekte Gegenvor- licher Natur. Menschen aber wegen der Arbeitsbedingungen auf Katars WM-Bau- schlag nach der Ablehnung der stellen äusserst kritisch gegenüberstehen. Seit 2017 kam es zwar zu Konzernverantwortungsinitiative Aktivist stirbt Reformen, die ohne den internationalen Druck wohl nicht erfolgt wä- im November 2020 zum Papier- nach Festnahme ren. Von den spürbaren Verbesserungen haben bislang vor allem die tiger zu werden. Es wird nur PALÄSTINA – Der Aktivist Nisar Ba- Arbeitsmigranten auf den WM-Baustellen profitiert – diese machen je- noch eine nicht-finanzielle Be- nat aus Hebron starb am Vormit- doch nur etwa zwei Prozent der Arbeitsmigrant*innen in Katar aus. richterstattung gefordert. Die tag des 24. Juni in Haft. Die pa- Hausangestellte, Arbeitskräfte im Dienstleistungs-, Sicherheits- und Verordnung zur Sorgfaltspflicht lästinensischen Behörden im Gastgewerbe leben und arbeiten in den meisten Fällen weiterhin unter für Konfliktmineralien und Kin- Westjordanland müssen nun da- äusserst prekären Bedingungen. Die Fifa und die nationalen Verbände derarbeit ist kaum vielverspre- für sorgen, dass die angekündig- müssen den Reformdruck auf Katar nun erhöhen. chender: Sie sieht so viele Aus- te Untersuchung zu seinem Tod © AI nahmen vor, dass nur wenige unabhängig und transparent Unternehmen betroffen sein erfolgt. Nisar Banat war ein werden. Damit hinkt die Schweiz bekannter Aktivist, der offen der Europäischen Union hinter- die Korruption innerhalb der her, die gerade dabei ist, stren- palästinensischen Behörden im gere Vorschriften zu erlassen. Westjordanland kritisierte. Am Darüber hinaus gibt es in ver- 24. Juni um etwa 3.30 Uhr mor- schiedenen Ländern wie Frank- gens verschafften sich Angehöri- reich, Deutschland und Norwe- ge des palästinensischen Sicher- gen bereits entsprechende heits- und Geheimdienstes Zutritt Gesetze, und andere Länder wie zu dem Haus, in dem sich Nisar Belgien, Luxemburg und die Banat aufhielt. Der Aktivist wurde Niederlande entwickeln eben- schwer geschlagen und in einem falls rechtsverbindliche Stan- Militärfahrzeug abtransportiert. dards. Diese sehen staatliche Kurz nach der brutalen Festnah- Die prekären Arbeitsbedingungen auf Katars Baustellen haben sich gebessert, Kontrollen vor, legen Verant me starb er. die der Hausangestellten nicht. 7 AMNESTY August 2021
AKTUELL_NACHRICHTEN Erschreckender Präzedenzfall © Molly Crabapple TÜRKEI – Auf den 1. Juli 2021 trat die Türkei aus der Istanbul-Kon- vention aus. Mit der Kündigung dieses vor zehn Jahren unterzeich- neten, wegweisenden Übereinkommens zur Verhütung und Be- kämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt setzt die türkische Regierung Millionen von Frauen und Mädchen einem er- höhten Gewaltrisiko aus. Es ist das erste Mal, dass ein Mitglied des Europarats aus einer internationalen Menschenrechtskonvention austritt. Die Entscheidung wurde von Regierungen, internationalen Gremien und weltweit führenden Persönlichkeiten scharf verurteilt. «Die Türkei hat die Uhr für Frauenrechte um zehn Jahre zurückge- stellt und einen erschreckenden Präzedenzfall geschaffen», sagte Agnès Callamard, internationale Generalsekretärin von Amnesty. «Der Austritt aus der Istanbul-Konvention sendet eine gefährliche Botschaft an diejenigen, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen an- wenden: Sie können dies ungestraft tun.» Zeichnung aus einem Bericht von Amnesty: Inhaftierte in einem «Klassenzimmer» © AI Turkey Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Xinjiang CHINA / UNO – Uigur*innen, Kasach*innen und andere vornehmlich muslimische ethnische Minderheiten in der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang werden systematisch und massenhaft inhaftiert, gefol- tert und verfolgt. Dieses Vorgehen der chinesischen Regierung kommt Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleich. 45 Staaten im Uno-Men- schenrechtsrat in Genf – darunter die Schweiz – haben eine wichtige Erklärung mitunterzeichnet, in der sie sich «ernsthaft besorgt» über Chinas schwere Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang äussern. Amnesty International fordert eine unabhängige internationale Unter- suchung zu den Verbrechen in Xinjiang. JETZT ONLINE Frauen protestieren in der Türkei gegen den Austritt aus der Spionagesoftware gegen Menschenrechtsverteidiger*innen: Istanbul-Konvention. Eine neue interaktive Online-Plattform von Forensic Architec ture, unterstützt von Amnesty International und dem Citizen Ausschaffungsstopp gefährlichste Land der Welt. Die Lab, kartiert erstmals die globale Verbreitung der berüchtig ten Spionagesoftware Pegasus, die von der Cyber-Über- gefordert Amnesty-Sektionen in Deutsch- wachungsfirma NSO Group hergestellt wird. Die Plattform AFGHANISTAN – Mit dem Abzug land und der Schweiz appellieren dokumentiert die Verbindungen zwischen der Pegasus- der Nato-Truppen und dem Vor- gemeinsam an ihre Regierungen, Spionagesoftware und den digitalen Angriffen auf Menschen marsch der Taliban droht sich die keine Menschen mehr nach Af- rechtsverteidiger*innen auf der ganzen Welt. prekäre Sicherheits- und Men- ghanistan zurückzuschicken, da schenrechtslage in Afghanistan ihnen dort Gefahr für Leib und Amnesty-Talks zum Sexualstrafrecht: Im August wird das weiter zu verschlimmern. Den- Leben drohte. Zwar weist die Sexualstrafrecht in der Rechtskommission des Nationalrats behandelt. Der elfte Podcast «Amnesty Talks» auf Spotify zeigt noch wollen die deutschen und Schweiz im europäischen Ver- auf, weshalb ein neues Sexualstrafrecht, das die Zustimmung die Schweizer Behörden unver- gleich eine hohe Schutzquote ins Zentrum stellt, dringend nötig ist. Eine weitere Folge zum ändert Hunderte Menschen in von 84 Prozent für Asylsuchende Thema wird im August online gestellt. das Land abschieben. Nach An- aus Afghanistan auf, dennoch Jetzt online unter www.amnesty.ch/magazin-august21 gaben des aktuellen Global sollen rund 140 Wegweisungs- Peace Index ist Afghanistan das entscheide vollzogen werden. 8 AMNESTY August 2021
AKTUELL_BRENNPUNKT EIN BERICHT SORGT FÜR WIRBEL das Sicherheitspersonal sind je- Asylsuchenden kostet es viel © KEYSTONE/Christian Beutler doch lediglich die sichtbarsten Mut, über das Beobachtete Formen der psychischen und oder Erlebte zu berichten. symbolischen Gewalt, die den BAZ-Alltag prägen: abschätzige Schliesslich ist auf den enor- Aussagen über die Herkunft, men Widerstand hinzuweisen, tägliche Schikanen wie Eingriffe auf den wir mit dem Bericht in die Religionsfreiheit und die und den daraus resultierenden Privatsphäre, Falschaussagen Empfehlungen beim SEM sties- über die Aussichten auf Asyl – sen. «Die Schweiz ist kein Un- oft gekoppelt mit rassistischen rechtsstaat» war die Reaktion Vorurteilen. Man muss sich vor der Behörden nach der Veröf- Augen halten, dass es sich bei fentlichung. Auch in den Wo- den Betroffenen mehrheitlich chen danach unterliess das um Menschen handelt, die SEM jegliche Würdigung der Ein Sicherheitsmann im Hof des durch Gewalterfahrungen und ausführlichen Recherche sowie Ü Bundesasylzentrums Embrach, ber viele Monate erhielt Unterdrückung in ihrer Heimat unserer Empfehlungen dazu, August 2020. Amnesty International Hin- und auf der Flucht bereits wie die systemischen Versäum- weise auf Menschenrechtsverlet- mehrfach traumatisiert sind. nisse des Staates behoben wer- zungen in den Schweizer Bun- Bezeichnend ist der Fall eines den können. desasylzentren (BAZ). Anfangs Minderjährigen, der Opfer von stammten die Hinweise vor al- Menschenhandel in Libyen Mehr als zwei Jahre nach In- lem von Mitarbeitenden der Zen- wurde und aufgrund der im krafttreten des revidierten Asyl- tren. Was an diesen Vorwürfen BAZ erlebten Gewalt die gesetzes können sich die Be- dran ist, habe ich ein Jahr lang Schweiz wieder verliess. hörden nicht mehr hinter recherchiert. Ich habe Sicher- angeblichen Kinderkrankheiten heitsangestellte, Betreuer*in Zweitens wurde durch die Re- des neuen Asylsystems oder nen, Sozialpädagog*innen, be- cherche deutlich, wie undurch- dem Verweis auf einzelne troffene Asylsuchende und ihre lässig das System ist, das Übeltäter*innen verstecken. Rechtsvertreter*innen interviewt, durch die Asylreform ins Leben Der Staat hat dafür zu sorgen, um Machtmissbrauchs- und gerufen wurde. Die stark auf Si- dass Asylsuchende vor jegli- Misshandlungsvorfälle in fünf cherheit und Kontrolle ausge- chen Misshandlungen ge- Bundesasylzentren zu doku- richteten Bundesasylzentren schützt werden. Unsere Re- mentieren. Im Mai hat Amnesty sind von der Aussenwelt abge- cherche hat gezeigt, dass das ein Briefing zu den Resultaten riegelt. Der Zivilgesellschaft Problem auf struktureller Ebene veröffentlicht. Drei Aspekte rund wird der Zugang zu den Zent- angegangen werden muss. So- um die Veröffentlichung des ren erschwert. Somit sind das lange das SEM keine eigenen Berichts sind besonders Staatssekretariat für Migration zuverlässigen und proaktiven bemerkenswert. (SEM) und die von ihm manda- Überwachungs- und Schutzme- tierten Leistungserbringer die chanismen und unabhängige Das Briefing mit dem Titel «‹Ich Erstens hat sich die mediale einzigen Anlaufstellen. Es ist Beschwerdestellen einrichtet, verlange nur, dass sie Asylsuchende Debatte über den Bericht vor enorm schwierig, an zuverlässi- wird es weiterhin zu Gewalt ge- wie Menschen behandeln›. allem auf die physische Gewalt ge Informationen über das Le- gen Schutzsuchende kommen. Menschenrechtsverletzungen in Schweizer Bundesasylzentren» gegen Asylsuchende fokussiert. ben innerhalb der BAZ zu ge- finden Sie auf amnesty.ch/asyl. Körperliche Übergriffe durch langen. Das Personal und die Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty Schweiz 9 AMNESTY August 2021
Diskriminierende Gesetze und die Hetze durch Hindu-Nationalist*in nen führen in Indien dazu, dass Vielfalt in Gefahr die sprachlichen, kulturellen und religiösen Minderheiten immer mehr unter Druck geraten. Aber auch Kastenlose (Dalits), Femi nist*innen, trans Menschen und sowieso alle, die sich gegen die Politik der Regierung zur Wehr setzen, erleben zunehmende Unterdrückung. Doch der Wider- stand wächst. Trotz und auch wegen Corona. 11 AMNESTY August 2021
DOSSIER_INDIEN Der Kampf um Indien Der staatlich geförderte Hindu-Nationalismus führt zu Repressionen und diskriminierenden Gesetzen, die sich vor allem gegen Muslim*innen richten. Doch der Widerstand wächst. Von Neha Dixit Z wei Frauen mit Hijab stellen sich mutig vor ihren Freund, der am Boden liegt, und schützen ihn vor den Schlägen und Tritten einer Gruppe von Polizisten – das Vi- der Straffreiheit für die Täter*innen und befeuert die struktu- relle Diskriminierung der Muslim*innen im Land. Um zu verstehen, wie es im pluralistischen Indien zu die- deo dieser Szene fand am 15. Dezember 2019 weite Verbrei- ser Situation kommen konnte, muss man einen Blick zurück tung. Ladeeda Sakhaloon und Aysha Renna, die beiden werfen: Im Jahr 2014 kam die von Narendra Modi geführte 22-jährigen muslimischen Studentinnen aus Neu-Delhi, BJP in Indien an die Macht. Modi war zuvor 17 Jahre lang wurden damit über Nacht zu den prominentesten Gesich- Ministerpräsident von Gujarat. In dieser Zeit erlebte dieser tern der Bürgerrechtsproteste in Indien. Gemeinsam mit westindische Bundesstaat ein gross angelegtes antimuslimi- anderen Student*innen demonstrierten sie an diesem Tag sches Pogrom, bei dem mehr als 2000 Menschen, die meis- friedlich auf dem Campus ihrer Universität, bis die Polizei ten davon Muslim*innen, von Mitgliedern der BJP und ihr die Ausgänge verbarrikadierte und mit Tränengas und nahestehender Gruppen getötet wurden. Schlagstöcken angriff. Eine dieser Gruppen ist Rashtriya Swayamsevak Sangh Auslöser für ihren Protest war das Staatsbürgerschaftsge- (RSS), der auch Premierminister Modi angehört. Die 1925 setz, das am 11. Dezember 2019 vom indischen Parlament gegründete Organisation wurde von Adolf Hitlers Ideologie verabschiedet worden war. Es ermöglicht Angehörigen reli der «Rassenreinheit» inspiriert. Ihr erklärtes Ziel ist die Er- giöser Minderheiten aus Afghanistan, Bangladesch und richtung einer Hindu-Nation, eines Landes ausschliesslich Pakistan, die indische Staatsbürgerschaft anzunehmen – für Hindus. Die Organisation folgt der Ideologie des politi- aber nur, wenn sie vor Ende 2014 nach Indien kamen. Men- schen Hinduismus (Hindutva), eines ihrer früheren Mitglie- schen muslimischen Glaubens wird dieses Recht allerdings der war Nathuram Godse, der Mörder Mahatma Gandhis. nicht gewährt. Damit wurde in Indien zum ersten Mal ein Vinayak Damodar Savarkar, der Stammvater der Hindutva- Gesetz verabschiedet, das die Religionszugehörigkeit unver- Ideologie, sagte 1944 in einem Interview mit dem US-Jour- hohlen zum Kriterium für die Staatsbürgerschaft macht. Die nalisten Tom Treanor, Muslim*innen würden «die Position Proteste dagegen breiteten sich schnell im ganzen Land aus von N*** in Ihrem Land» einnehmen. Savarkars Porträt hängt und wurden meist von muslimischen Frauen angeführt. heute im indischen Parlament. Indien ist ein Land mit einer grossen Vielfalt an Religio- Rassistische Ideologie Im gegenwärtigen gesell- nen, Kulturen und Sprachen, die nebeneinander existieren. schaftlichen Klima, das vom Hindu-Nationalismus geprägt Im letzten Jahrhundert verfolgte der RSS hartnäckig sein ist, fühlen sich Muslim*innen in Indien bedroht und dämo- Ziel, die nationale Identität mit der religiösen Identität zu nisiert, obwohl sie mit 14 Prozent Bevölkerungsanteil die verschmelzen und Indien zu homogenisieren. Die einfluss- grösste Minderheit im Land bilden. Sie werden Opfer von reiche Gruppe strebt danach, in Indien (Hindustan) eine Polizeigewalt und Hassverbrechen. Muslimische Personen, Sprache (Hindi) und eine Religion (Hinduismus) festzule- die eine Gebetsmütze, einen Bart oder eine Burka tragen, gen. Narendra Modi treibt diese Agenda mithilfe seines Ver- müssen Angriffe auf offener Strasse fürchten. Die Regie- trauten Amit Shah voran, der mittlerweile Innenminister rungspartei Bhartiya Janta Party (BJP) unterstützt eine Kultur geworden ist. Internierungslager für «Termiten» Der 22-jährige Abdul arbeitet als Bauarbeiter in einer Haftein- Neha Dixit, 35, ist eine indische Journalistin und Autorin, die für ihre investigativen Recherchen zu Menschenhandel, sexuelle Gewalt und illegale Polizeiaktionen richtung für «illegal Eingewanderte» im Bezirk Goalpara im bekannt ist. Für ihre Arbeit wurde Neha Dixit mit zahlreichen Preisen ausgezeich- nordindischen Bundesstaat Assam. Das Internierungslager net – sie hat aber auch staatliche Repression erfahren. befindet sich in einer abgelegenen Gegend und erstreckt sich 12 AMNESTY August 2021
© REUTERS/Danish Siddiqui DOSSIER_INDIEN Dieses Haus von Muslim*innen wurde während der Unruhen im März 2020 angezündet. über 2,8 Hektaren. Abdul wurde zum «illegalen muslimi- gen der sechs grössten Religionsgemeinschaften die Staats- schen Einwanderer» erklärt und dort interniert, weil er keine bürgerschaft einfach neu beantragen können, falls sie Dokumente vorlegen konnte, die seine indische Staatsbür- wegen des neuen Bevölkerungsregisters für illegal erklärt gerschaft bestätigt hätten. Dabei sind er und seine Eltern in worden sind – mit Ausnahme der Muslim*innen. Indien geboren und haben stets im Land gelebt. Um sich in Das Zusammenspiel dieser beiden Vorgänge zielt auf die der ineffizienten Bürokratie offizielle Dokumente zu besor- Gruppe der Muslim*innen und sorgt dafür, dass viele von gen, fehlt es den sozioökonomisch Schlechtergestellten an ihnen zu illegal Eingewanderten erklärt werden können. So Zeit und Geld. Abduls Eltern waren landlose Arbeiter*innen wie Abdul. Wer die Anforderungen zur Aktualisierung des und starben bei einem Unfall, als er neun Jahre alt war. Er Bevölkerungsregisters nicht erfüllt, wird abgeschoben oder hat keine Hoffnung auf eine Entlassung, sein Cousin Ali hat interniert. sich vor zwei Monaten in einem anderen Internierungslager Das Innenministerium gab bekannt, dass weitere Inter- im Bezirk Tezpur in Assam das Leben genommen. nierungslager in Assam im Bau seien. Häftlinge wie Abdul Die Hafteinrichtungen gehen auf eine Idee von Innenmi- werden dafür als Arbeitskräfte eingesetzt. «Niemand kehrt nister Amit Shah zurück: Während des Wahlkampfs für die jemals aus den Haftanstalten zurück», sagt Abdul. «Ich wer- Parlamentswahlen 2019 rief er zur Vertreibung der «Termi- de hier sterben.» ten» auf und versprach, die BJP werde «eine landesweite Kampagne durchführen, um die Eindringlinge zurückzu- Wenn Ministerpräsidenten hetzen Der der- schicken». Gemeint waren muslimische Migrant*innen aus zeitige Ministerpräsident des Bundesstaats Utar Pradesh ist Bangladesch, die sich ohne gültige Papiere in Indien aufhiel- ein Mönch namens Yogi Adityanath, ein Vertreter der BJP, ten. Kurz nach der Wahl teilte das Innenministerium am der Muslim*innen als gefährliche Kriminelle bezeichnet, sie 31. Juli 2019 mit, man werde das Bevölkerungsregister (NRC) als Teil einer systematischen islamischen Verschwörung aktualisieren. Dafür musste jede Person schriftlich nachwei- sieht und behauptet, sie befänden sich im Krieg gegen den sen, dass sie selbst, ihre Eltern oder Grosseltern vor dem indischen Staat und die Hindus. 24. März 1971 in Indien wohnten. Fehlt dieser Nachweis, Adityanath, gegen den mehrere Strafverfahren hängig werden die Betroffenen zu illegal Eingewanderten erklärt. sind, ist für antimuslimische Äusserungen bekannt. Er sag- Fünf Monate später, im Dezember 2019, wurde zudem te einmal: «Wenn ein Hindu-Mädchen einen muslimischen das eingangs erwähnte Staatsbürgerschaftsgesetz verab- Mann heiratet, dann werden wir im Gegenzug hundert schiedet. Ein Effekt dieses Gesetzes ist, dass die Angehöri- muslimische Mädchen nehmen. (…) Wenn sie einen Hindu- 13 AMNESTY August 2021
DOSSIER_INDIEN «Ich werde diesen Ort erst verlassen, wenn das nen als Erfolge. Die beteiligten Polizist*innen erhalten zur Belohnung Geld oder werden befördert. Die Rechtmässigkeit Leben meiner Kinder sicher ist, wenn die des Vorgehens wird in aller Regel nicht untersucht. Pluralität Indiens sicher ist. Wir sind mächtig, Im Januar 2019 äusserte auch das Uno-Hochkommissari- at für Menschenrechte «extreme Besorgnis» über diese Poli- und es ist an der Zeit, Modi das Fürchten zu zeieinsätze. Die Regierung von Uttar Pradesh tat dies als «böswillig» ab. Bei seinen Anhänger*innen gilt Adityanath lehren.» als ideologischer Nachfolger Modis. Wachsender Widerstand Während die indischen Mann töten, dann werden wir hundert muslimische Män- Mainstream-Medien Adityanath ein gutes Zeugnis ausstel- ner töten.» Kürzlich forderte er ein Einreiseverbot für len, sorgte die hohe Zahl der Corona-Todesfälle zuletzt für Muslim*innen. grosse Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Das schlechte Doch Adityanath belässt es nicht bei der Hetze gegen Min- Krisenmanagement und die unzureichende staatliche Ge- derheiten. Zwischen 2000 und 2017 wurden in Indien 1782 sundheitsvorsorge könnten sich auf die Wahl 2022 in Uttar Fälle registriert, bei denen die Polizei auf angebliche Krimi- Pradesh auswirken. nelle schoss. Seit dem Amtsantritt von Adityanath 2017 gab Unmittelbar nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie es nach Recherchen von Medien und Nichtregierungsorgani- versuchten Hindu-Nationalist*innen und regierungstreue sationen allein in seinem Bundesstaat knapp 6500 zweifel- Medien, eine muslimische Versammlung mit rund 9000 hafte Polizeieinsätze. Mindestens 125 hatten Todesopfer zur Teilnehmer*innen für die Verbreitung des Virus verantwort- Folge. Muslim*innen sind überproportional häufig betroffen. lich zu machen. Wenig später tauchten aber Bilder mehrerer Die Regionalregierung und die BJP feiern diese Polizeiaktio- nichtmuslimischer Massenveranstaltungen ohne jeden In- fektionsschutz auf – darunter Modis grosse «Namaste Trump»-Show, mit der er den damaligen US-Präsidenten © Naveen Sharma/SOPA Images/LightRocket via Getty Images empfing, und das für Hindus heilige Mahakumbh-Fest An- fang 2021 mit Millionen von Teilnehmer*innen. Seit Narendra Modi 2014 an die Macht kam, sind die Pro- teste gegen die indische Regierung ein Staffellauf, bei dem eine Gruppe den Stab an die nächste weiterreicht. Als Lynch- morde und Hassverbrechen gegen Muslim*innen zunah- men, gaben zudem mehrere Künstler*innen und Intellektu- elle ihre staatlichen Auszeichnungen aus Protest zurück. Die landesweite Sitzblockade gegen das neue Staatsbürger- schaftsgesetz endete zwar coronabedingt im März 2020, doch schon im Oktober kam es zu Massenprotesten gegen die neuen Landwirtschaftsgesetze. Eines der prominentesten Gesichter dieses Widerstandes ist die 82-jährige Bilkis Bano, die von Dezember 2019 an vier Monate lang in Shaheen Bagh kampierte, einem wichti- gen Protestort in Neu-Delhi. «Es war das erste Mal in mei- nem Leben, dass ich mich an einer politischen Bewegung beteiligt habe. Davor war ich Hausfrau und habe das Haus nie verlassen. Aber wie kann ich jetzt zu Hause sitzen, wenn ich weiss, dass meine Kinder vielleicht aus diesem Land, das ihre Heimat ist, hinausgeworfen werden oder ins Gefängnis müssen? Ich werde diesen Ort erst verlassen, wenn das Le- ben meiner Kinder sicher ist, wenn die Pluralität Indiens Die 82-jährige Bilkis Bano ist eines der prominentesten Gesichter der sicher ist. Wir sind mächtig, und es ist an der Zeit, Modi das Frauenproteste in Indien. Fürchten zu lehren.» 14 AMNESTY August 2021
Trans Menschen werden in Indien weiterhin ausgegrenzt. Hoffnung für manche In Indien werden trans Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert. Bundesstaaten wie Kerala akzeptieren das nicht länger. Von Laura Fornell (Text) und Oscar Espinosa (Fotos) E in graues, unscheinbares Haus bietet trans Menschen in der südindischen Stadt Kochi einen Zufluchtsort. Das vierstöckige Gebäude beherbergt eine von drei Schutzein- 99 Prozent aller trans Menschen in Indien haben nach An- gaben der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) in ihrem Leben mehr als einmal soziale Ablehnung erlebt. richtungen für trans Personen im Bundesstaat Kerala. In der «Diskriminierung und Belästigung beginnen oft in der eige- Zweimillionenstadt Kochi ist es die einzige Anlaufstelle, und sie reicht nicht aus. «Wir können 25 Menschen aufnehmen, aber allein in Kochi gibt es mehr als 300 trans Personen», Trans Menschen, trans Personen: Als trans Mensch oder trans Person sagt Aditi Achuth, die Leiterin der Einrichtung. bezeichnet sich, wer sich nicht – oder nicht nur – mit dem Geschlecht iden- Dennoch sind Schutzeinrichtungen wie diese ein hoff- tifiziert, das bei der Geburt zugewiesen wurde. nungsvolles Zeichen. Kerala und einige andere Bundesstaa- ten haben in den vergangenen Jahren Massnahmen ergrif- Inter Menschen sind Menschen, deren «körperliches» Geschlecht nicht fen, um trans Menschen besser zu schützen – wenn auch der «typischen medizinischen Definition/Norm» von «eindeutig» männli- schleppend. «Das Haus ist ein Ausgangspunkt für trans Per- chen oder weiblichen Körpern zugeordnet werden kann, sondern sich in sonen, die nach neuen Lebensperspektiven suchen – in einer einem Kontinuum dazwischen bewegt, zum Beispiel bezogen auf Hormo- Gesellschaft, die uns allmählich wieder zu akzeptieren be- ne, Chromosomen oder Genitalien. ginnt», sagt Achuth. 15 AMNESTY August 2021
DOSSIER_INDIEN nen Familie», sagt Achuth. Auch viele der Menschen, die in sind stark von HIV betroffen. Auch von Polizei und Justiz dem Haus in Kochi Zuflucht suchen, hätten diese Erfahrung werden sie diskriminiert. Das führt oft dazu, dass sich Betrof- gemacht: «Einige wurden zu Hause rausgeworfen, anderen fene nicht an die Polizei wenden, um Hilfe und Unterstüt- wurde ihr Leben unmöglich gemacht, bis sie dem Druck nicht zung zu suchen. «Leider kommt es häufig zu Belästigungen mehr standhalten konnten und gegangen sind. Es gibt auch durch die Polizei», sagt Achuth. Fälle, in denen es in der Familie zu physischen Angriffen Ein weiteres Problem ist der Zugang zum Wohnungs- kam.» Einer Studie der NGO Humsafar Trust zufolge hat markt. Trans Menschen leben oft in armen Stadtteilen oder mehr als die Hälfte aller trans Personen physische Gewalt erlit- erfahren durch Wohnungseigentümer*innen und Nach ten. Nicht selten geht diese von Partner*innen oder Familien- bar*innen Gewalt. «Bevor ich in die Schutzeinrichtung kam, mitgliedern aus. «Meine Familie hat mich abgelehnt, und ich habe ich an 20 verschiedenen Orten gelebt, die ich alle verlas- bin auf der Strasse gelandet», sagt die 19-jährige Archana, sen musste», erzählt die 27-jährige Gowri, während sie sich ohne das Lächeln auf ihren Lippen zu verlieren. «Für sie war in einem der grössten Räume auf einem Bett ausruht. ich eine Schande. Ich komme aus einer kleinen Stadt, und sie «Manchmal weil ich nicht genügend Geld für die Miete hatte, sagten mir, dass sie sich vor der Nachbarschaft und im Freun- meistens aber wegen Beschwerden der Nachbarschaft.» deskreis schämen würden.» Mit 17 sei ihr deshalb keine ande- re Wahl geblieben, als zu gehen und ihren Lebensunterhalt Hijras sollen Glück bringen Dass trans Men- allein zu verdienen – in einer anderen Stadt. schen in Indien soziale Ablehnung erfahren, war nicht immer In Indien werden trans Menschen in allen Lebensberei- so. In der indischen Kultur gibt es sogenannte Hijras, die ihre chen diskriminiert: in der Schule, bei der Arbeit, bei der Ge- Ursprünge in der hinduistischen Mythologie haben. Sie ord- sundheitsversorgung. Weil trans Personen häufig von nen sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Ge- Mitschüler*innen gemobbt und von Lehrer*innen diskrimi- schlecht zu, tragen Frauenkleider und genossen jahrhunder- niert werden, brechen viele den Schulbesuch ab. Auf dem telang grossen Respekt. Im Mogulreich spielten Hijras ab Arbeitsmarkt bieten sich ihnen nur wenig Möglichkeiten. dem frühen 16. Jahrhundert eine bedeutende Rolle an könig- Viele sind gezwungen, schlechtbezahlte Jobs zu verrichten, lichen Höfen und besetzten teils hohe politische Posten. andere betteln. Schätzungen zufolge verdienen 60 Prozent Erst in der Kolonialzeit verloren die Hijras ihren sozialen der trans Menschen ihren Lebensunterhalt mit Sexarbeit und Status. Die britischen Kolonialherren betrachteten sie als Be- drohung für die Moral und starteten eine Kampagne, um die Hijras aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen. Sie wurden zu einer der Gruppen, die gesellschaftlich am meis- Zur rechtlichen Situation von LGBTI* in Indien ten stigmatisiert wurden. 1871 klassifizierte sie ein Gesetz als 2014 erkannte Indiens Oberster Gerichtshof trans und inter Menschen als Kriminelle. drittes Geschlecht an. Seitdem sollen für sie dieselben Rechte gelten wie Heute wird der Begriff Hijra im alltäglichen Sprachge- für andere Minderheiten. Ausserdem müssen sie sich auf offiziellen Doku- brauch für alle Personen verwendet, die als transgeschlecht- menten nicht mehr für die Kategorien männlich oder weiblich entschei- lich wahrgenommen werden. Doch viele wehren sich gegen den. 2019 verabschiedete das indische Parlament ein Gesetz (Transgender die Bezeichnung. Auch Achuth und die anderen Menschen Persons [Protection of Rights] Act), um das Urteil umzusetzen und die Dis- in der Schutzeinrichtung wollen nicht so genannt werden. kriminierung in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und Ar- «Wir sind alle trans, aber nicht alle von uns sind Hijras», sagt beitsmarkt zu beenden. Das Gesetz entspricht jedoch insofern nicht dem Achuth. «Wir kämpfen denselben Kampf, und wir sind uns Urteil des Obersten Gerichtshofs, als es die Rechte auf Gleichheit, Selbstbe- in vielen Aspekten einig, aber wir sind nicht alle gleich.» stimmung und Freiheit nicht garantiert. Kritisiert wurde unter anderem, Obwohl das stigmatisierende Gesetz nach der indischen dass bei sexuellem Missbrauch von trans Personen nur eine Haftstrafe von Unabhängigkeit abgeschafft wurde, erlangten die Hijras ih- maximal zwei Jahren vorgesehen ist, während sexuelle Übergriffe auf an- ren alten Status nicht wieder. Sie waren weiterhin marginali- dere Personen sogar eine lebenslängliche Haftstrafe nach sich ziehen kön- siert und lebten hauptsächlich von Bettelei und Prostitution. nen. 2018 wurde Paragraf 377 abgeschafft, der aus der Kolonialzeit Heute lösen Hijras bei einigen Menschen Bewunderung stammte und gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivitäten unter Strafe stell- aus, bei anderen Angst. Weitverbreitet ist die Idee, sie könn- te. Auch wenn sich insgesamt viel getan hat, gibt es doch nach wie vor Lü- ten Menschen segnen oder verfluchen, ihre Fruchtbarkeit cken in der Gesetzgebung – so ist zum Beispiel die gleichgeschlechtliche fördern oder mindern. Oft tanzen und singen Hijras bei Ehe nicht erlaubt. Hochzeiten und Geburtstagen, denn das soll Glück bringen. Als Gegenleistung erhalten sie Opfergaben oder Geld. 16 AMNESTY August 2021
Endlich in Sicherheit: Archana im Mai 2019 in einer Schutzeinrichtung in Kochi. 2014 hat Indiens Oberster Gerichtshof trans Menschen Kampagnen, die für das Thema sensibilisieren. Und die Re- und inter Personen als drittes Geschlecht anerkannt. Zu- gierung von Jammu und Kaschmir bietet trans Menschen gleich forderte er die Regierung auf, sie wie andere Minder- über 60 Jahren eine Altersrente an. heiten zu behandeln, Quotenregelungen in den Bereichen «Das wachsende Vertrauen und die Sichtbarkeit, die die Bildung und Beschäftigung einzuführen und ihnen Zugang Community in den vergangenen Jahren gewonnen hat, sind zum Gesundheitssystem zu gewähren. «Trans Menschen ein hoffnungsvoller Fortschritt», sagt Thomas Isaac, der Fi- sind auch Bürger*innen Indiens und müssen die Möglichkei- nanzminister von Kerala. «Wir müssen uns dafür einsetzen, ten haben, sich zu entwickeln«, hiess es in dem Urteil. dass sich trans Personen als Teil der Gesellschaft fühlen.» 2020 gab der Bundesstaat 50 Millionen Rupien (umgerech- Kostenlose Geschlechtsangleichungen Das net etwa 570 000 Euro) für das sogenannte Mazhavillu- Gericht riet der Zentralregierung und den Bundesstaaten, eine Programm aus, das trans Menschen unter anderem in den wirksame Sozialfürsorge und Sensibilisierungskampagnen zu Bereichen Berufsausbildung, Wohnraum und Gesundheits- entwickeln, um der Stigmatisierung von trans Menschen ent- versorgung unterstützt. gegenzuwirken. Der südindische Bundesstaat Kerala war einer Für das Jahr 2021 hatte der Finanzminister die gleiche der ersten, die reagierten. Er ergriff sozialpolitische Massnah- Summe zur Fortsetzung des Programms versprochen. Das men für trans Personen und entschied 2019 ausserdem, dass war jedoch noch vor Ausbruch der Corona-Krise. «Jetzt gibt es Operationen zur Geschlechtsangleichung in staatlichen Kran- andere Prioritäten», sagt Achuth. «Und wir bekommen das kenhäusern kostenlos vorgenommen werden können. Geld nicht, um unsere Projekte durchzuführen.» Die Zentral- Zuvor hatte bereits der Bundesstaat Tamil Nadu kostenlo- regierung kündigte mit dem landesweiten Lockdown zwar ein se Operationen zur Geschlechtsangleichung eingeführt so- Konjunkturpaket an, das spezifische Massnahmen für schutz- wie staatliche Bildungsstipendien für trans Menschen, um bedürftige Gruppen umfasst, trans Menschen wurden dabei ihnen Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen. jedoch nicht berücksichtigt. Der Bundesstaat Kerala beschloss Auch in anderen Bundesstaaten gab es Initiativen, um allerdings, Hilfsgüter an 1000 registrierte trans Menschen zu ihre Lage zu verbessern. So erhalten sie in Bihar beispielswei- verteilen, 127 wurden durch die Schutzeinrichtung in Kochi se finanzielle Unterstützung für eine Geschlechtsanglei- mit Hilfsgütern versorgt. «Das löst das Problem zwar nicht, chung. Sowohl in Maharashtra als auch in Gujarat gibt es weil es nur eine kleine Hilfe ist, aber im Moment ist es das Gesundheits- und Bildungsprogramme sowie öffentliche Einzige, was wir tun können», sagt Achuth. 17 AMNESTY August 2021
© Black Ticket Film (beide Bilder) Das Indien der Frauen und Ausgegrenzten Die 2002 gegründete Publikation «Khabar Lahariya» ist die einzige indische Zeitung mit einer rein weiblichen Belegschaft, die aus den Minderheiten der Dalits (Kaste der Unberührbaren) und Musli- minnen besteht. Interview mit Kavita Bundelkhandi, einer der Mitgründerinnen, und Meera Devi, Reporterin vor Ort. Interview: Olalla Pineiro Trigo E AMNESTY: Was sind die Ziele Ihrer Zeitung? E Wie bringen die Dalit-Frauen eine andere Sichtweise ein? F Kavita: Wir wollten eine unabhängige, regionale Zeitung F Kavita: Im indischen Journalismus gehört die Mehrheit der schaffen, die aus den abgelegenen Gebieten von Uttar Pra- Reporter den oberen Kasten an, weshalb nur wenig über die desh und Madhya Pradesh berichtet. Die News aus dem länd- Unberührbaren berichtet wird. Unsere Journalistinnen hin- lichen Indien beschränkten sich zuvor auf Morde und ver- gegen kennen die Diskriminierungen, die die marginalisier- mischte Meldungen. Unsere Zeitung hat eine politische ten Gemeinschaften betreffen: Es geht um den Zugang zu Dimension, berichtet über die Korruption unter Staatsange- Wasser und Strom, um Landbesitz oder kastenbasierte Ge- stellten und über die von lokalen Chefs begangenen Morde. walt. Wir haben vor Kurzem eine Reihe von Reportagen ver- Das andere Ziel besteht darin, eine feministische Perspektive öffentlicht über die Tatsache, dass die kaputten Handpum- in ein ländliches Medium einzubringen. Unser Team ist aus pen in den Dalit-Gemeinschaften repariert werden müssten; dreissig Frauen zusammengesetzt, darunter Dalits, Stammes- den Dalits ist es nicht erlaubt, Wasser bei den funktionieren- angehörige und Musliminnen. Als der Bezirksmagistrat von den Pumpstellen zu holen, die sich in den von der oberen uns hörte, meinte er, wir seien ideal für sein Programm zur Kaste dominierten Gebieten befinden. Ein Thema, das von Förderung der Frauen in der Cornichons-Produktion... Um den Mainstream-Medien ignoriert wird. genau solche Geschlechterstereotype herauszufordern und um gegen männliche Bastionen zu kämpfen, haben wir E Wie rekrutieren Sie Ihr Team angesichts der Tatsache, dass «Khabar Lahariya» gegründet. keine 30 Prozent der Dalits lesen und schreiben können? F Kavita: Unsere Journalistinnen durchlaufen ein Auswahl- verfahren, werden ausgebildet und absolvieren ein Prakti- Das Interview wurde mit Hilfe einer Dolmetscherin von Hindi auf Englisch geführt. kum. Anfangs war es sehr schwierig, gebildete Frauen ins 18 AMNESTY August 2021
Chefreporterin Meera Devi bei der Arbeit. DOSSIER_INDIEN (Bild links) Kavita Bundelkhandi – die erste Dalit-Frau, die ein Medienunternehmen mitgegründet hat. F Meera: Mobbing ist alltäglich. Ich habe einmal eine Ge- schichte über eine Frau geschrieben, die eine Klage gegen ih- ren Schwager eingereicht hatte. Als ich ihn aufsuchen wollte, kamen sofort einige Männer und versperrten mir den Weg. Sie beschimpften mich und drohten, die Polizei zu rufen. Sie nahmen meine Kamera, löschten mein gesamtes Filmmateri- al und zerstörten meinen Presseausweis. Es gelang mir zu entkommen und zur Polizei zu gehen, die mir davon abriet, Anzeige zu erstatten. Viele meiner Kolleginnen haben erlebt, dass ihre Familien eingeschüchtert wurden. Es wurde sogar schon an unseren Fahrzeugen herumgepfuscht. Ich habe manchmal Angst um meine Familie und mein Leben. Boot zu holen, weil die meisten Menschen und die Behörden E Welche Wirkung hat «Khabar Lahariya»? in den Dörfern nicht davon ausgehen, dass Frauen Journalis- F Meera: Eine der grössten Wirkungen ist das Empowerment. tinnen sein können. Auf der anderen Seite haben gerade die Wir sind eine unglaubliche Gruppe von Freundinnen, die sich schlecht ausgebildeten Frauen oft ein erstaunlich gutes Ver- gegenseitig in Freud und Leid unterstützen. Als wir online gin- ständnis für den lokalen Kontext und die Nachrichten in der gen, haben einige Kolleginnen zum ersten Mal ein Smartphone Region. Wir haben sie darin geschult, politische, soziale und gesehen! Unsere Berichterstattung hat auch zu konkreten Ver- wirtschaftliche Themen zu behandeln und gleichzeitig ein änderungen geführt. Zum Beispiel zur Sensibilisierung von Verständnis für feministisches Denken zu entwickeln. Heute Regierungsbeamten über die Nichtdurchführung geplanter konfrontieren unsere Reporterinnen Lokalpolitiker mit ihren Programme in abgelegenen Dörfern, was zu Untersuchungen Fragen, das hat ihr Selbstbewusstsein massiv gestärkt. Sie führte. Indem wir die Geschichte einer Überlebenden von Ge- haben auch gesehen, wie sich ihr Beruf auf ihr persönliches walt oder eines Opfers eines Mitgiftmordes erzählen, zeigen Leben auswirkt, zum Beispiel indem sie mit ihrem Gehalt wir, wie wichtig unabhängige feministische Medien sind. ihre Familien unterstützen oder sicherstellen können, dass Kavita: Wir werden oft als mächtiger lokaler Wachhund gese- ihre Kinder die Ausbildung abschliessen. hen, als Instrument zur Durchsetzung ethischen Handelns auf lokaler Ebene. Unsere Texte, Videos und Audios zeigen E In Indien werden die Medien noch immer von Männern die Kluft zwischen den Versprechungen der Behörden zur dominiert. Was bedeutet das? Entwicklung und Stärkung des ländlichen Raums und der F Meera: Sexismus allenthalben. Ich werde von männlichen Realität vor Ort. Unser Journalismus verfolgt auch die tägli- Kollegen diskriminiert, besonders wenn ich über ein politi- chen Geschichten der einfachen Menschen in Bereichen, die sches Ereignis berichte. Wenn Medienschaffende zusam- der Aufmerksamkeit der Medien ansonsten völlig entgehen. menkommen, stehen immer die Männer im Zentrum und Wir dokumentieren ein Indien des 21. Jahrhunderts, das versuchen, mich herumzukommandieren. Es gibt auch De- man sonst nicht sehen würde. mütigungen. Wenn ich zum Beispiel Interviews mit Män- nern in Machtpositionen führen will, weigern diese sich häu- Bhima Koregaon 16 fig, meine Fragen zu beantworten. F Kavita: Das Problem liegt auch in den Medieninhalten. Ar- tikeln von männlichen Journalisten fehlt es oft an Tiefe, weil Wer sich für die Rechte von Dalits einsetzt, lebt gefährlich in Indien. Das sie dazu neigen, nur mit Politikern oder einflussreichen musste auch eine Gruppe von Menschen erfahren, die Bhima Koregaon Männern zu sprechen. Die Perspektive von Frauen findet 16 genannt werden: Sie wurden nach Unruhen im Dorf Bhima Koregaon sich daher extrem selten in Artikeln. Unsere Journalistinnen im Jahr 2018 verhaftet. Die Aktivist*innen, die sich für die Rechte einiger hingegen versuchen, die Meinungsvielfalt abzudecken: Wir der ärmsten und marginalisiertesten Gemeinschaften Indiens engagier- sprechen mit Menschen aller Geschlechter, aller Altersgrup- ten, sitzen seither hinter Gittern, ohne dass ein Verfahren aufgenommen pen, aller sozialen Schichten, von Dorfvorstehern bis zu jün- wurde. Einer von ihnen, der 85-jährige Jesuitenpater Stan Swamy, starb geren Menschen. im Juli im Gefängnis. Amnesty International fordert die sofortige Freilassung dieser inhaftierten Menschen. E Wurden Sie jemals im Rahmen Ihrer Arbeit bedroht? Eine Petition finden Sie unter www.amnesty.ch/magazin-august21 19 AMNESTY August 2021
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