Landesprogramm für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus

 
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Landesprogramm für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus
Landesprogramm
für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt
        und gegen Antisemitismus

  Beschlossen durch die Landesregierung am 6. Oktober 2020
Landesprogramm für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen Antisemitismus
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Inhaltsverzeichnis

Einleitung.............................................................................................................................................. 2
A – Antisemitismus in Sachsen-Anhalt ........................................................................................ 5
B – Jüdisches Leben stärken – Sachsen-Anhalt gegen Antisemitismus ............................ 8
   B.1 – Antisemitismus erkennen und sichtbar machen ................................................................ 8
   B.2 – Sicherheit für die jüdische Gemeinschaft ......................................................................... 11
   B.3 – Stärkung der Prävention ..................................................................................................... 14
   B.4 – Konsequente Rechtsanwendung ....................................................................................... 18
   B.5 – Gegen Hass und Radikalisierung im Netz........................................................................ 21
   B.6 – Hilfe und Empowerment für die Betroffenen .................................................................... 23
   B.7 – Blickfeldschärfung in allen Bereichen der öffentlichen Verwaltung .............................. 26
   B. 8 - Sensibilisierung der Zivilgesellschaft ................................................................................ 29
   B.9 – Schulische Bildung und Begegnung.................................................................................. 32
   B.10 – Demokratiebildung ............................................................................................................. 34
   B.11 – Wissenschaft und Forschung ........................................................................................... 37
   B.12 – Jüdisches Erbe und jüdische Kultur ................................................................................ 39
   B.13 – Gedenken, Erinnern, Sichtbar machen .......................................................................... 43
   B.14 – Das heutige jüdische Leben stärken ............................................................................... 46
   B.15 – Freundschaft mit Israel...................................................................................................... 50
   B.16 – Verbindliche Strukturen schaffen und sichern ............................................................... 53
C – Schluss ........................................................................................................................................ 56
   Verzeichnis der Anlagen................................................................................................................ 58
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Einleitung

Jüdisches Leben und jüdische Kultur haben in Sachsen-Anhalt über viele Jahrhunderte hin-
weg bedeutsame Spuren hinterlassen. Davon ist heute nur noch wenig zu spüren. Zwischen
dem, was früher einmal war, und heutigem jüdischem Leben bestehen kaum Verbindungsli-
nien. Die Shoa und ihre Folgen haben sie zunichte gemacht.

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist glücklicherweise auch in unserem Land jüdisches
Leben wieder neu entstanden und entfaltet sich weiter. Die jüdische Gemeinschaft ist heute
ein fester Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens. Sie benötigt zugleich Unterstützung
bei ihrer weiteren Festigung und Integration. Die Grundsätze dafür sind im Vertrag des Lan-
des Sachsen-Anhalt mit der Jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt vom 20. März 2006
niedergelegt.

Jüdisches Leben zeigt sich heute in unserem Land in den Kultusgemeinden verschiedener
Prägung, in kulturellen Vereinen, in Verbindungen zum Staat Israel, zu überregionalen Insti-
tutionen und auch ganz privat. Gedenkstätten, Museen, Friedhöfe und ehemalige Synago-
gen erinnern an die Vergangenheit und insbesondere an die Shoa. Zivilgesellschaftliche Ak-
teure in Vereinen, Kirchgemeinden und Kommunen sind im thematischen Umfeld aktiv, aber
es sind wenige und sie sind nur unzureichend untereinander vernetzt.

Antisemitismus stellt heute auch in Sachsen-Anhalt – wie überall in Deutschland und Europa
– eine zunehmende Bedrohung dar. Antisemitismus ist eine feindliche, von Ressentiments
getragene Einstellung gegenüber Jüdinnen und Juden sowie gegenüber dem Judentum. An-
tisemitismus ist mehr als Rassismus, er verbindet sich mit Projektionen der Machtzuschrei-
bung und Verschwörung. Zugleich ist er ein Türöffner für alle Formen gruppenbezogener
Menschenfeindlichkeit. Antisemitismus kann sich auch gegen den Staat Israel richten, wo
dieser als jüdisches Kollektiv verstanden wird.

Antisemitismus in Form konkreter „Vorfälle“ wird vor allem von Jüdinnen und Juden erlebt. Er
richtet sich aber gegen unsere ganze Gesellschaft. In diesem Sinne war der Terroranschlag
von Halle (Saale) an Jom Kippur 2019 ein Angriff auf uns alle, er war ein Angriff auf die Men-
schenwürde und die freiheitliche Demokratie. Für Sachsen-Anhalt ist er eine tiefgehende Zä-
sur.
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Im Nachgang zum Terroranschlag von Halle (Saale) hat der Landtag von Sachsen-Anhalt die
Landesverfassung um einen Artikel 37a ergänzt. Er lautet: „Die Wiederbelebung oder Ver-
breitung nationalsozialistischen Gedankenguts, die Verherrlichung des nationalsozialisti-
schen Herrschaftssystems sowie rassistische und antisemitische Aktivitäten nicht zuzulassen
ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und Verantwortung jedes Einzelnen.“

Das ist der Maßstab, an dem sich die Landesregierung orientiert. Sie leistet ihren Beitrag,
damit sich jüdisches Leben in gesicherten Rahmenbedingungen weiter entfalten kann, und
sie möchte das in Zukunft mit noch mehr Nachdruck tun. Antisemitismus dulden wir in unse-
rem Land nicht. Prävention vor und Bekämpfung von Antisemitismus sowie der Schutz der
jüdischen Gemeinschaft gehören auch in Sachsen-Anhalt zur Staatsräson.

Das hier vorgelegte „Landesprogramm für jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt und gegen
Antisemitismus“ benennt, bündelt und verstärkt Maßnahmen aus allen Bereichen der Lan-
despolitik. Es formuliert Ziele und unterbreitet Empfehlungen, an denen sich das Land in den
kommenden Jahren orientieren wird. Auch wenn es in Anbetracht der Problemlagen zu-
nächst vornehmlich „gegen“ Antisemitismus gerichtet ist, so verfolgt es doch langfristig das
Ziel, vor allem „für“ das jüdische Leben in Sachsen-Anhalt hilfreich zu sein.

Die nachfolgend formulierten Ziele und Empfehlungen korrespondieren mit vielen Themen,
die längst im Fokus der Landespolitik stehen. Dazu gehören Maßnahmen zur Stärkung von
Demokratie und Toleranz, zur Festigung unserer freiheitlichen Werte und Bemühungen um
Integration und interkultureller Begegnung. Der Schutz von Opfern, die Arbeit gegen Extre-
mismus und Hasskriminalität, die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und mit Erinne-
rungskultur gehört mit vielen weiteren Aspekten dazu. Die Landesregierung ist auf all diesen
Feldern im Rahmen der jeweiligen Ressortzuständigkeiten langjährig tätig. Insofern kann es
bei einem neuen „Landesprogramm für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus“ nicht da-
rum gehen, das auf anderen Feldern zu Leistende erneut zu thematisieren. Ziel dieses spezi-
ellen Programms ist es vielmehr, Punkte herauszuarbeiten, die mit Blick auf das besondere
Thema und die aktuellen Herausforderungen dringlich sind. Dabei enthalten die nachfolgen-
den Kapitel zum einen grundsätzlich und langfristig zu Beachtendes. Jedem Kapitel sind
aber auch einige Punkte zugeordnet, die prioritär umzusetzen sind.

An der Erarbeitung dieses Programms haben unter Federführung des „Ansprechpartners“ in
der Staatskanzlei alle Ressorts der Landesregierung mitgewirkt. In seiner Umsetzung erken-
nen sie eine gemeinsame, ressortübergreifende Aufgabe. Folgende Dokumente sind außer-
dem in die Erarbeitung eingeflossen:
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-   Beschluss des Landtags von Sachsen-Anhalt „Halle mahnt. Rechten Terrorismus stop-
    pen. Antisemitismus, Rassismus und der Verbreitung von Hassideologien mit allen Mit-
    teln des Rechtsstaates entgegentreten“ vom 23. Oktober 2019 (LT-Drs. 7/5137, Anlage
    1),
-   Vorschläge und Überlegungen der jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt, vertreten
    durch den Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, K. d. ö. R. vom 11.
    Juni 2020 (Anlage 2),
-   Empfehlungen des Beirates zum Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltof-
    fenheit vom 17. Dezember 2019 (Anlage 3),
-   Vorschläge für Maßnahmen im Kampf gegen Antisemitismus bzw. Israel-Feindlichkeit
    der Deutsch-Israelischen Gesellschaft e. V., Ortsgruppen Magdeburg und Halle vom
    17. Juli 2020 (Anlage 4),
-   Thesen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit e. V. vom 1. Juli 2020
    (Anlage 5).
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A – Antisemitismus in Sachsen-Anhalt

Angesichts einer gestiegenen Bedrohungslage und zunehmender Beunruhigung innerhalb
der jüdischen Gemeinschaft bemühen sich die Länder und der Bund seit einigen Jahren ver-
stärkt und gemeinsam um die Bekämpfung von Antisemitismus.
Ausgangspunkte dieser Bemühungen sind
-   der Bericht der Unabhängigen Expertenkommission „Antisemitismus in Deutschland“
    vom 7. April 2017 (BT-Drucksache 18/11970),
-   der Beschluss des Deutschen Bundestages „Antisemitismus entschlossen bekämpfen“
    vom 17. Januar 2018 (BT-Drucksache 19/444),
-   der Beschluss der Regierungschefs von Bund und Ländern zur „Einrichtung einer ständi-
    gen Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung des Antisemitismus und zum Schutz jü-
    disches Lebens“ vom 6. Juni 2019 (TOP 9).

Seit Anfang 2018 sind im Bund und in 14 Ländern Beauftragte durch Parlament oder Regie-
rung bestellt, die sich ganz oder teilweise dieser Aufgabe widmen. In Sachsen-Anhalt wurde
im November 2018 ein „Ansprechpartner“ mit Zuordnung zum Ministerpräsidenten zusätzlich
zu sonstigen Aufgaben bestellt. Bremen hat keine solche Stelle. Die Beauftragten und der
Ansprechpartner für Sachsen-Anhalt arbeiten in der Bund-Länder-Kommission zusammen.
In Sachsen-Anhalt wurde im März 2019 unter Leitung des „Ansprechpartners“ eine Intermi-
nisterielle Arbeitsgruppe mit Vertreterinnen und Vertretern aller Ressorts gebildet und durch
die Staatssekretärskonferenz bestätigt.

Bundesweit handlungsleitend bei der Bekämpfung von Antisemitismus ist die Erkenntnis,
dass es notwendig ist, ihn zunächst stärker sichtbar zu machen. Erst dadurch wird es mög-
lich, den Betroffenen zielgerichtet Hilfe anzubieten sowie für Staat und Gesellschaft bessere
Möglichkeiten zu Prävention und Bekämpfung aufzuzeigen. Eine zentrale Forderung der Un-
abhängigen Expertenkommission des Deutschen Bundestages ist deshalb der Aufbau eines
bundesweiten Erfassungssystems. Es soll mit Hilfe eines Netzwerks von regionalen Melde-
stellen Vorfälle aus Sicht der Betroffenen aufnehmen, unabhängig von der häufig unzu-
reichenden Zuordnung alleine nach Kriterien der Strafbarkeit. Als allgemein anerkanntes
Vorbild gilt das seit 2015 entwickelte System des Berliner Vereins „Recherche- und Informa-
tionsstelle Antisemitismus“ (RIAS e. V.)“. Daran anknüpfend hat der „Bundesbeauftragte für
jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ im Oktober 2018 die
Gründung des „Bundesverbandes RIAS e. V.“ (RIAS-Bund)“ veranlasst. Er dient dazu, den
Aufbau von Meldestellen in allen Ländern zu initiieren, vergleichbare Kriterien für ihre Arbeit
zu entwickeln und die Meldestellen zu vernetzen.
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Das Zusammenwirken im Rahmen der Bund-Länder-Kommission und von RIAS-Bund sieht
in der Regel vor, dass in jedem Land zunächst eine „Problembeschreibung“ erarbeitet wird,
die Empfehlungen für die weitere Arbeit enthält. Diese Problembeschreibung ist für Sachsen-
Anhalt im Mai 2019 durch den „Ansprechpartner“ mit Unterstützung aus dem „Landespro-
gramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit“ initiiert worden. Sie wurde im Wesentlichen
im Sommer 2019 erarbeitet und nach mehreren Verzögerungen (zunächst infolge des Ter-
roranschlags von Halle (Saale), dann durch notwendige weitere Zuarbeiten des Landeskrimi-
nalamtes, schließlich durch die Corona-Pandemie) am 28. April 2020 durch den Ministerprä-
sidenten und den Bundesverband RIAS öffentlich vorgestellt.

Die „Problembeschreibung Antisemitismus in Sachsen-Anhalt“ ist diesem Programm als An-
lage 6 beigefügt. Sie stellt einen wesentlichen Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überle-
gungen und Empfehlungen dar. Mit ihr ist die jüdische Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt zum
ersten Mal zu ihrer inneren Befindlichkeit und zu persönlich gemachten Erfahrungen befragt
worden. Bei aller Begrenztheit des erhobenen Materials und der aus Sicht der Betroffenen
wiedergegebenen Eindrücke liefert die „Beschreibung“ deutliche Problemanzeigen.
-   Es wird deutlich, dass Antisemitismus für Jüdinnen und Juden auch in Sachsen-Anhalt
    eine langjährige, kontinuierliche Alltagserfahrung ist. Er äußert sich sowohl ganz offen
    als auch häufig sehr subtil. Diese bittere Realität gilt es – ganz unabhängig von dem dra-
    matischen Ereignis des Terroranschlags – zur Kenntnis zu nehmen. Eine antisemitische
    Einstellung findet sich offenbar nicht nur an den Rändern, sondern auch in der Mitte der
    Gesellschaft.
-   Jüdinnen und Juden haben zugleich den Eindruck, dass die von ihnen gemachten Erfah-
    rungen von der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen und – wenn bekannt –
    nicht ausreichend ernst genommen werden. Auch für Sachsen-Anhalt zeigt sich an die-
    ser Stelle eine eklatante Wahrnehmungsdifferenz.
-   Die Beschreibung zeigt, dass wir auch in Sachsen-Anhalt beim Thema Antisemitismus
    bisher in keiner Weise über ein vollständiges Bild verfügen. Die Kriterien (Was ist antise-
    mitisch? Was ist ein „Vorfall“? Wann ist er strafbar?) sind in der Praxis häufig unklar. Ein
    Vergleich der Angaben von Betroffenen, den in den letzten Jahren stärker aktiven zivil-
    gesellschaftlichen Beobachtern und den Angaben von Polizei und Justiz lässt viele Fra-
    gen offen.
-   Es kommt hinzu, dass das Vertrauen der Betroffenen in die Wirksamkeit staatlicher
    Maßnahmen offenbar sehr gering ist und dass auch die zivilgesellschaftlichen Akteure
    im Land der jüdischen Gemeinschaft zwar bekannt sind, diese aber nicht wirklich errei-
    chen. Die Bereitschaft zu Äußerung oder gar Anzeige von antisemitischen Vorfällen
    durch Betroffene ist bisher äußerst gering.
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Die „Problembeschreibung“ gibt insofern Anlass, sich um ein ganzheitliches Bild zu bemü-
hen, um den Betroffenen besser helfen, Vertrauen gegenseitig stärken und Maßnahmen zu
Prävention und Bekämpfung zielgenauer vornehmen zu können. Dazu ist es auch notwen-
dig, die unterschiedlichen Akteure und Betrachtungsweisen intensiver zusammenzubringen.
Maßnahmen „für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus“ betreffen alle Ressorts der
Landesregierung und die gesamte Gesellschaft.
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B – Jüdisches Leben stärken – Sachsen-Anhalt gegen Antisemitismus

B.1 – Antisemitismus erkennen und sichtbar machen

Die vorgestellte „Problembeschreibung“ mündet in Empfehlungen zur Errichtung einer regio-
nalen Meldestelle nach dem RIAS-Konzept und Ausführungen darüber, wie sie arbeiten soll.
Notwendig sind eine zivilgesellschaftliche Organisation, die Orientierung an bundesweit ver-
einbarten Standards, die Nähe zur jüdischen Gemeinschaft, ein niedrigschwelliger Zugang
für Betroffene und politische Unabhängigkeit. Zum Monitoring einschlägiger Vorfälle, unab-
hängig von der Strafbarkeitsgrenze, tritt die Funktion als erste Anlaufstelle, die weitere Hilfe
vermittelt. Das erfordert gute Verbindungen zur Opferberatung, aber auch zu Polizei und Jus-
tiz. Datenschutzrechtliche Vorgaben sind zu berücksichtigen.

Diese Empfehlungen werden umgesetzt. Die Meldestelle RIAS-Sachsen-Anhalt wird zeitnah
errichtet. Die erforderlichen Haushaltsmittel für das Jahr 2020 stehen im Einzelplan der
Staatskanzlei bereit, für 2021 sollen sie aufgrund der inzwischen ermittelten Bedarfe erhöht
werden. Sie werden einem zivilgesellschaftlichen Träger für Aufbau und Betrieb der Melde-
stelle zugewiesen. Für eine Verstetigung der Maßnahme im notwendigen Umfang ist im
Zuge der Aufstellung für die Landeshaushalte ab 2022 Sorge zu tragen.

Die Arbeit der Meldestelle wird durch einen Beirat begleitet, dem unter Leitung des „An-
sprechpartners“ Vertreterinnen und Vertreter aus den Zuständigkeitsbereichen Bildung, Inne-
res, Justiz und Soziales, aus der Jüdischen Gemeinschaft und von zivilgesellschaftlichen In-
stitutionen angehören. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass durch ein solches Zu-
sammenwirken die unterschiedlichen Perspektiven sinnvoll verbunden werden. Die Berufung
in den Beirat erfolgt nach Abstimmung mit den zuständigen Ressorts.

Die Arbeit der Meldestelle kann und soll die Erfassung der zuständigen Sicherheitsbehörden
nicht ersetzen. Es geht vielmehr um die Verknüpfung der Perspektiven, um das „ganzheitli-
che Bild“, um die Sicht von und die Hilfe für Betroffene.

Die Erfassung politisch motivierter Kriminalität (PMK) zum Phänomenbereich „antisemitisch“
ist in der „Problembeschreibung“ ausführlich dargestellt. Sie erfolgt bundesweit einheitlich
und ist seit 2001 in einem speziellen Definitionssystem festgelegt. Die Meldung erfolgt sei-
tens der Dienststellen des Polizeilichen Staatsschutzes unmittelbar nach der Aufnahme der
polizeilichen Ermittlungen. Damit unterscheidet sich der Meldeprozess grundlegend von dem
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der Polizeilichen Kriminalstatistik. Die meldepflichtigen Daten enthalten zunächst Erster-
kenntnisse. Im Regelfall erfolgt eine weitere Konkretisierung, Anreicherung oder auch Kor-
rektur, zum Beispiel im Hinblick auf Geschädigte, Tatverdächtige und/oder dem zugeordne-
ten Phänomenbereich. Das Ergebnis der Ermittlungen wird mit der Abschlussmeldung doku-
mentiert. Die Möglichkeit von Korrekturen besteht. Dies schließt auch Informationen zum
Ausgang des Strafverfahrens ein, soweit diese rückgemeldet und elektronisch erfasst wer-
den. Eine Synchronisierung der polizeilichen Informationen mit Erkenntnissen, die sich in ei-
nem Gerichtsverfahren ergeben, ist nicht vorgesehen. Die jährliche PMK-Erfassung endet
jeweils zum Stichtag 31. Januar des Folgejahres. Diese Stichtagsregelung ist bundesweit
einheitlich. Sämtliche in den Ländern erfassten politisch motivierten Straftaten werden unmit-
telbar danach mit dem Bundeskriminalamt (BKA) abgeglichen und um ggf. bestehende Ab-
weichungen bereinigt.

Informationen zur PMK im Land Sachsen-Anhalt werden in einem „Jahresbild PMK“ zusam-
mengefasst und verschiedenen Behörden und Institutionen (Ministerium für Inneres und
Sport, Polizeiinspektionen, Fachhochschule der Polizei, Staatsanwaltschaften, BKA, Bundes-
polizei, Militärischer Abschirmdienst) zur Kenntnis gegeben. Dieses Lagebild ist als vertrau-
lich eingestuft. Darüber hinaus werden Informationen zur PMK anfragenden Stellen anlass-
bezogen zur Verfügung gestellt. Dazu gehören parlamentarische Anfragen oder Auskunfts-
begehren der Presse. Jährlich werden die Fallzahlen der PMK im Rahmen einer Pressekon-
ferenz veröffentlicht. Über antisemitische Vorfälle in Sachsen-Anhalt wird der „Ansprechpart-
ner“ monatlich informiert. Sofern er seinerseits antisemitische Fälle anzeigt, werden diese an
die zuständigen Polizeibehörden zur weiteren Behandlung zugeleitet.

Die Verknüpfung polizeilicher Informationen mit Informationen darüber, ob die Staatsanwalt-
schaften Anklage erheben, ob antisemitische Motive als strafverschärfend eingeschätzt wer-
den und welche Verurteilungen durch die Gerichte ausgesprochen werden, erfolgt bisher
nicht. Zu diesem Komplex gibt es regelmäßige parlamentarische Anfragen.

Zum angestrebten ganzheitlichen Bild gehören Beobachtungen, der Opferberatungsstellen.
Sie sind ebenfalls in die „Problembeschreibung“ eingeflossen. Die Beratungsstellen geben
an, bei mehr als 25 % ihrer Beratungsfälle spiele Antisemitismus eine Rolle.

Die Frage nach der Einstellung der Mehrheitsbevölkerung gegenüber Jüdinnen und Juden,
zum Staat Israel und zu antisemitischen Bezügen trägt ebenfalls zur besseren Sichtbarkeit
der Gesamtproblematik bei. Der Sachsen-Anhalt-Monitor kann die derzeit etablierten Einstel-
lungsuntersuchungen nicht ersetzen, will aber einen landesspezifischen Akzent setzen. In
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seinem Rahmen wurde bereits im Jahr 2018 nach Einstellungen gruppenbezogener Men-
schenfeindlichkeit gefragt. Für die anstehende Befragung zum Sachsen-Anhalt-Monitor 2020
sind zusätzliche Fragen vorgesehen, die noch genauer auf antisemitische Einstellungen ab-
zielen.

Die Frage allerdings, was genau „antisemitisch“ ist, stellt ein grundsätzliches Problem für alle
Überlegungen zur Erhöhung von Erkennen und Sichtbarkeit dar. Eine rechtlich verbindliche
Definition gibt es nicht. Bei der Zuordnung herrscht insbesondere seitens der Behörden
große Unsicherheit. Die „Arbeitsdefinition“ der International Holocaust Remembrance Alli-
ance (IHRA) kann diesbezüglich als Hilfestellung dienen. Sie ist diesem Programm als An-
lage 7 beigefügt. Die IHRA ist eine zwischenstaatliche Organisation, die Regierungen mit Ex-
pertinnen und Experten vernetzt. Ziel ist die Intensivierung von Aufklärung, Forschung und
Erinnerungsarbeit zum Holocaust. Auch Deutschland ist über das Auswärtige Amt in der
IHRA vertreten und führt in den Jahren 2020/21 sogar den Vorsitz.

Bei der „Arbeitsdefinition“ handelt es sich um eine rechtlich nicht bindende Formulierung, die
im Jahre 2005 fachübergreifend entwickelt wurde. Sie dient als ein Werkzeug zur Antisemi-
tismusanalyse, welche auch neuartige antisemitische Ausdrucksweisen aufgreift und eine in-
ternationale Vergleichbarkeit antisemitischer Vorfälle ermöglicht. Sie ist für den Einsatz au-
ßerhalb der Wissenschaft konzipiert und soll somit gerade der Regierungs- und Institutions-
arbeit sowie zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren nutzbar sein. Die Europäische
Kommission, mehrere europäische Regierungen, darunter die Bundesregierung (seit Sep-
tember 2017), und einige deutsche Länder haben die IHRA-Definition bereits zur Grundlage
ihrer Arbeit gemacht haben, aber auch unabhängige Akteure, wie zum Beispiel einige engli-
sche Fußballspitzenclubs. Der Berliner Senat nutzt die „Arbeitsdefinition“ als Handlungs-
grundlage, ebenso der Bremer Senat, in Bayern wird die Verwendung Vereinen, Gewerk-
schaften und Sozialverbänden durch die Staatsregierung empfohlen. Für das Auswärtige
Amt ist im Rahmen des IHRA-Vorsitzes die weitere Verbreitung der Definition auch innerhalb
Deutschlands erklärtes Ziel.

Bezogen auf Sachsen-Anhalt hat der „Ansprechpartner“ in der Staatskanzlei alle Ressorts
der Landesregierung und die kommunalen Spitzenverbände um Berücksichtigung der „Ar-
beitsdefinition“ gebeten. Die Landesregierung und der Landtag sollten die Definition nutzen,
ebenso die Kommunen und die Zivilgesellschaft.

Ziele, die prioritär erreicht werden sollen:
   Errichtung der Meldestelle RIAS-Sachsen-Anhalt und deren finanzielle Absicherung
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   Dauerhafte Verknüpfung der Informationen von Meldestelle, Polizei, Justiz und zivilge-
    sellschaftlichen Akteuren zu einem ganzheitlichen Bild
   Nutzung der IHRA-Definition für die Arbeit in Landesregierung, Landtag, Kommunen und
    Zivilgesellschaft

B.2 – Sicherheit für die jüdische Gemeinschaft

Sicherheitsfragen müssen hier leider vordringlich behandelt werden. Jüdisches Leben heißt
eben auch in Sachsen-Anhalt: Leben unter hohen Sicherheitsbedingungen. Die „Problembe-
schreibung“ zeigt die intensiv empfundene Unsicherheit unter Jüdinnen und Juden, das Ge-
fühl, in kritischen Situationen allein gelassen zu werden, aber auch gewisse Lernprozesse
bei den Sicherheitsbehörden bzw. bei der gegenseitigen Kommunikation nach dem Terroran-
schlag. Gegenseitiges Vertrauen und die Begegnung mit Empathie auf Augenhöhe lassen
sich nicht anordnen. Sie lassen sich aber als Erwartungen formulieren und einfordern. Es
sind Maßnahmen zu implementieren, die hier nachweislich verstärkend wirken.

Nach dem Anschlag an Jom Kippur hat das Ministerium für Inneres und Sport sicherheitsver-
stärkende Maßnahmen entwickelt und zum Teil bereits umgesetzt. So wurden zum Beispiel
zehn zusätzliche Stellen für den Bereich Staatsschutz im Landeskriminalamt eingerichtet.
Auf Initiative Sachsen-Anhalts wurde das Thema „Sicherheit jüdischer Einrichtungen“ seit
Oktober 2019 mehrfach im Rahmen der Konferenzen der Regierungschefs und der Innenmi-
nister von Bund und Ländern beraten. Auf Vorschlag Sachsen-Anhalts hat die Konferenz der
Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 23. Oktober 2019 bekräftigt: „Der
Schutz der Synagogen und anderer jüdischer Einrichtungen gehört zur Staatsräson Deutsch-
lands und aller seiner Länder.“ (TOP 14, Ziffer 3.)

Von zentraler Bedeutung für die Sicherheit der jüdischen Gemeinden sind bauliche und si-
cherheitstechnische Maßnahmen. Grundlage für den Personen- und Objektschutz im Land
sind die Regelungen der Polizeidienstvorschrift 129 (VS-NfD). Landesintern werden die Zu-
ständigkeiten für Beurteilungen der Gefährdungslage sowie Maßnahmen des Personen- und
Objektschutzes grundsätzlich vom Landeskriminalamt (LKA) wahrgenommen. Aufgrund des
Anschlaggeschehens vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) hat das LKA für alle Synagogen
und jüdischen Einrichtungen aktuelle Beurteilungen der Gefährdungslage vorgelegt. Auf ihrer
Grundlage wurden entsprechende sicherungstechnische Empfehlungen (z. B. Einbruch-
schutz durch bauliche Vorkehrungen, Einbau von Videoüberwachung oder Bewegungsmel-
dern) für die jüdischen Einrichtungen erarbeitet.
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In Artikel 3 des Vertrags mit der jüdischen Gemeinschaft verpflichtet sich das Land, den
Schutz jüdischer Einrichtungen zu gewährleisten. Laut Schlussprotokoll bleibt die nähere
Ausgestaltung besonderen Vereinbarungen vorbehalten. Im Nachgang zum Terroranschlag
von Halle (Saale) wurde zwischen der jüdischen Gemeinschaft und dem Land eine Zusatz-
vereinbarung für die Laufzeit des Doppelhaushalts 2020/2021 zur Umsetzung von baulich-
technischen Sicherungsmaßnahmen an jüdischen Einrichtungen, für deren Wartung und In-
standhaltung und für die Finanzierung von Wachpersonal getroffen. Sie regelt ein abge-
stimmtes Verfahren. Im Landeshaushalt stehen für die benannten Zwecke im Jahr 2020
890.000 Euro und im Jahr 2021 1,54 Mio. Euro zur Verfügung. Für die Zeit ab 2022 wird ein
zusätzlicher Staatsvertrag abgeschlossen, um die Maßnahmen langfristig abzusichern.

Kultureinrichtungen und Gedenkstätten mit Bezug zur jüdischen Tradition und Geschichte
werden nicht von den jüdischen Gemeinden getragen und sind insoweit nicht Gegenstand
dieser Zusatzvereinbarung. Schutz und Sicherheit dieser Einrichtungen sind für die Landes-
regierung ebenfalls von hoher Bedeutung. Sie unterliegen gleichfalls besonderen Gefährdun-
gen mit antisemitischem Charakter. Deshalb hat das LKA für mehrere dieser Einrichtungen
Gefährdungsanalysen erstellt und sicherheitstechnische Empfehlungen ausgesprochen.
Auch hier führt die Polizei anlassbezogen Schutzmaßnahmen durch. Für die Förderung der
baulichen Maßnahmen zur Umsetzung der sicherheitstechnischen Empfehlungen des LKA
durch das Land wurden bisher keine Haushaltsmittel im allgemeinen Landeshaushalt einge-
stellt. Hier besteht Handlungsbedarf.

Hinzu kommt das Thema der polizeilichen Präsenz. Zum Schutz von Synagogen und Jüdi-
schen Einrichtungen im Land Sachsen-Anhalt bestanden bereits vor dem Terroranschlag
Kontakte zwischen den Behördenleitungen der Polizeiinspektionen und Vertreterinnen und
Vertretern der Jüdischen Gemeinden, die nunmehr intensiviert wurden. Die Inspektionslei-
tungen stehen den Vorsitzenden der Gemeinden jederzeit als verlässliche und vertrauliche
Ansprechpartner zur Verfügung. Es finden wöchentliche Gespräche zwischen Vertreterinnen
und Vertretern der Polizei und der Gemeinden – insbesondere zu Abstimmung von polizeili-
chen Maßnahmen anlässlich von anstehenden Feiertagen – statt. Zudem erfolgte der Aus-
tausch persönlicher Erreichbarkeiten, so dass Kommunikations- und Informationswege jeder-
zeit gewährleistet werden können.

An den Synagogen und jüdischen Einrichtungen im Land Sachsen-Anhalt findet eine polizei-
liche Präsenz statt, die anlassabhängig – insbesondere zu gemeinsamen Gebetszeiten und
Öffnungszeiten sowie anlässlich von Jüdischen Feiertagen, besonderen „Jahrestagen“ und
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sonstigen Veranstaltungen – intensiviert wird. Um für die Synagogen und sonstigen Einrich-
tungen einen zusätzlichen Schutz zu gewährleisten, wurde von der Polizei die Durchführung
von Bildaufnahmen und Aufzeichnungen gemäß § 16 des Gesetzes über die öffentliche Si-
cherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (SOG LSA) angeordnet und umgesetzt.

Die aktuellen Berichte der Verfassungsschutzbehörden aus dem Juli 2020 im Bund und im
Land Sachsen-Anhalt weisen nach, dass dem Thema Antisemitismus und den davon ausge-
henden Gefahren hohe Bedeutung zukommt. Der Bericht der Innenministerkonferenz an die
Ministerpräsidentenkonferenz vom Juni 2020 stellt die Aktivitäten der verschiedenen Sicher-
heitsbehörden und in Aussicht genommene weitere Verstärkungsmaßnahmen dar. Besonde-
rer Wert wird dabei auf den kontinuierlichen Austausch mit der jüdischen Gemeinschaft auf
allen Ebenen und mit den Antisemitismusbeauftragten von Bund und Ländern gelegt. Der
Zentralrat der Juden in Deutschland unterhält eine eigene Sicherheitsabteilung, die zur inten-
siven Beratung und Beteiligung bei ganz speziellen Fragen vor Ort in Anspruch genommen
werden kann. Diese Möglichkeit sollte auch in Sachsen-Anhalt intensiver genutzt werden.

Die Länder sind grundsätzlich für den materiellen und personellen Objektschutz zuständig.
Im Rahmen der Sonder-Innenministerkonferenz am 18. Oktober 2019 haben sich Bund und
Länder darauf verständigt, die Gefährdungsbewertung einer erneuten Prüfung zu unterzie-
hen sowie finanzielle Mittel zum materiellen Objektschutz bereitzustellen. Gem. Beschluss
der Ministerpräsidentenkonferenz vom 5. Dezember 2019 werden Bund und Länder die jüdi-
schen Gemeinden als Konsequenz des Anschlags von Halle dabei unterstützen, notwendige
bauliche und technische Sicherheitsmaßnahmen durchzuführen. Aufbauend auf einem Si-
cherheitsleitfaden und Sicherheitsprogramm des Zentralrats der Juden in Deutschland wur-
den im zweiten Nachtragshaushalt dafür Bundesmittel in Höhe von 22 Mio. € für das Haus-
haltsjahr 2020 als einmaliger Zuschuss für Investitionen und Baumaßnahmen an den Zent-
ralrat veranschlagt. Sie werden dem Zentralrat der Juden in Deutschland im Rahmen einer
Annexvereinbarung zum bestehenden Vertrag direkt zur Verfügung gestellt.

Ziele, die prioritär erreicht werden sollen:
   Umsetzung der Sicherheitsvereinbarung, kontinuierliche Durchführung der notwendigen
    baulich-technischen und Wachschutzmaßnahmen
   Klärung der Sicherheitsfragen bezüglich Kultureinrichtungen und Gedenkstätten mit Be-
    zug zur jüdischen Tradition und Geschichte
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B.3 – Stärkung der Prävention

Zum Thema Sicherheit gehören die Präventionsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden.

Antisemitismus ist mit der in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes verankerten Menschenwürde
nicht vereinbar. Die Menschenwürde bildet das zentrale Element der freiheitlichen demokrati-
schen Grundordnung. Die Verfassungsschutzbehörde des Landes Sachsen-Anhalt fungiert
als ein Frühwarnsystem, um Gefährdungen rechtzeitig zu erkennen. Sie hat den gesetzli-
chen Auftrag, Politik, Sicherheitsbehörden und Öffentlichkeit über Gefahren zu unterrichten.
Zu diesem Zweck sammelt und bewertet sie Informationen über extremistische Bestrebun-
gen gem. § 4 Absatz 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Land Sachsen-Anhalt.
Sie unterrichtet die Landesregierung und andere Stellen, damit diese die erforderlichen Maß-
nahmen ergreifen können. Ebenso informiert sie die Öffentlichkeit über ihre Aufgabenfelder.

Die Verfassungsschutzbehörde informiert und sensibilisiert im Rahmen der Extremismusprä-
vention, die seit Jahren ein fester Bestandteil ihrer Arbeit ist, zu Ideologien und Erschei-
nungsformen der extremistischen Phänomenbereiche, wobei Antisemitismus innerhalb der
jeweiligen Phänomenbereiche als ein spezifischer ideologischer Bestandteil einbezogen
wird. Extremisten aller Phänomenbereiche, rechts wie links und auch Islamisten, bedienen
antisemitische Ressentiments und schüren Hass gegen Jüdinnen und Juden und den Staat
Israel. Insofern ist Antisemitismus aus der Perspektive des Verfassungsschutzes kein Extre-
mismus sui generis, sondern ein Ideologem innerhalb der jeweiligen extremistischen Phäno-
menbereiche.

Die Informationsangebote des Verfassungsschutzes richten sich sowohl an staatliche Ein-
richtungen als auch an zivilgesellschaftliche Akteure und an alle Bürgerinnen und Bürger.
Beispiele hierfür sind Publikationen wie der jährliche Verfassungsschutzbericht oder Vor-
träge, die bei Behörden und zivilgesellschaftlichen Institutionen abgehalten werden.

Im Rechtsextremismus gilt der Antisemitismus als ein prägendes Ideologem. Antisemitische
Positionen werden im gesamten rechtsextremistischen Spektrum vertreten und haben eine
Integrationsfunktion über die verschiedenen Lager hinweg. Der Antisemitismus tritt im parla-
ments-, diskurs- und aktionsorientierten Rechtsextremismus in unterschiedlicher Intensität in
Erscheinung.

Antisemitische bzw. israelfeindliche Tendenzen werden auch bei der Beobachtung islamisti-
scher Bestrebungen sichtbar. Entsprechendes Gedankengut ist konstitutiver Bestandteil der
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Ideologie islamistischer Organisationen. Aufgrund der geopolitischen Auswirkungen des
Nahostkonflikts sind feindliche Einstellungen gegenüber Israel und dem Judentum in vielen
muslimischen Ländern seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich weit verbreitet
und auch teils staatlich geduldet, wenn nicht gar gefördert.

Ergänzend zur Bewertung der Verfassungsschutzbehörde wird darauf hingewiesen, dass die
Grundlagen antisemitischer Einstellungen auch einigen islamisch-religiösen Quellen, die an-
tijudaistisch interpretiert werden können, entspringen. Auch durch den späteren Import (oder
die „Islamisierung“) des europäischen Antisemitismus, die Zusammenarbeit einzelner is-
lamistischer Gruppen und Akteure mit NS-Deutschland und dessen Propaganda sowie die
Rhetorik um kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Staat Israel haben sich Ressenti-
ments verschärft und gefestigt. Stellenweise wurden Jüdinnen und Juden zu Sündenböcken,
um von staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen abzulenken.

Festzuhalten bleibt, dass Zuwanderinnen und Zuwanderer aus islamisch geprägten Staaten
daher entsprechend sozialisiert sein können. Darüber hinaus kann diese Prägung insbeson-
dere bei ungünstigen Integrationschancen der Ansatzpunkt für eine islamistische Radikalisie-
rung sein.

Antisemitismus ist, anders als im Rechtsextremismus oder Islamismus, zwar kein Kernele-
ment linksextremistischer Weltanschauung. Dennoch sind antiimperialistische und postmo-
derne Strömungen anschlussfähig auch für antisemitische Ressentiments, die sich zumeist
antiisraelisch oder in Form von unterkomplexer, personalisierter Kapitalismuskritik äußern.

Die „Problembeschreibung“ zeigt, dass von den Betroffenen antisemitische Taten insbeson-
dere aus dem rechtsextremen Umfeld wahrgenommen werden, aber auch aus dem islami-
schen und islamistischen Milieu. Im Ganzen zeigt sich, dass der israelbezogene (antizionisti-
sche) Antisemitismus die aktuell bedeutendste Form der Judenfeindschaft darstellt. Trotz un-
terschiedlicher ideologischer Überzeugungen und (teilweise gegensätzlichen) Ziele ist er in
allen extremistischen Phänomenbereichen feststellbar. Wie keine andere Erscheinungsform
besitzt er eine hohe Anschlussfähigkeit an aktuelle Debatten und nicht-extremistische Ge-
sellschaftskreise. In dieser Anschlussfähigkeit – also dem Potenzial, extremistische Auffas-
sungen mit nicht-extremistischen Diskursen zu verbinden – liegt eine besondere Gefahr.
Denn im Kontext regelmäßig wiederkehrender Debatten über die politische Situation in Nah-
ost können antisemitische Aussagen einen weniger anrüchigen und stigmatisierenden Cha-
rakter als in anderen Zusammenhängen annehmen. Dies liegt vor allem an weitverbreiteten
Unsicherheiten darüber, wo legitime Kritik am Handeln der israelischen Regierung aufhört
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und antisemitisch grundierte Israelfeindschaft beginnt. Genau diese Unsicherheiten finden in
antisemitischen Argumentationen Anwendung. Im politischen gesellschaftlichen Diskurs wird
sich kaum jemand öffentlich zur Argumentationsform des rassistischen Antisemitismus be-
kennen. Hingegen wird der israelfeindliche Antisemitismus auch von Personen artikuliert, die
einen rassistischen Antisemitismus niemals goutieren würden oder die über kein kohärentes
antisemitisches Weltbild verfügen. Nicht jeder, der einzelnen antisemitischen Aussagen
zustimmt, wird gleich zum Anhänger eines antisemitischen Welterklärungsmodells, ist
aber in einem besonderen Maße anfällig dafür.

Festzuhalten bleibt: Antisemitismus zeigt sich als ein ganzheitliches antidemokratisches
Problem, vertreten durch unterschiedlichste politische Gruppierungen. Präventionsmaßnah-
men müssen sich auf diese breit gefächerte Zielgruppen einstellen und dafür geeignete An-
sätze wählen.

Unmittelbar nach dem Terroranschlag von Halle (Saale) hat der Beirat des „Landespro-
gramms für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit“ einen intensiven Beratungsprozess zu
den Konsequenzen angestoßen. Daraus sind die Empfehlungen vom Dezember 2019 an die
Landesregierung entstanden, die (wie erwähnt) auch dem hier vorliegenden Programm als
Anlage beigefügt sind und die es sich vollumfänglich zu eigen macht. In diesen Empfehlun-
gen wird die Landesregierung gebeten, die Präventionsarbeit insgesamt deutlich zu stärken.
Als besonders dringlich werden die Suche nach niedrigschwelligen Ansätzen, nach besseren
Ansätzen gegen „Hass im Netz“, die gezielte Ansprache radikalisierungsgefährdeter bzw.
sich radikalisierender Personen sowie deren Unterstützung bei Distanzierungsprozessen
herausgestellt. Besonders relevante Zielgruppen sind bereits straffällig gewordene Perso-
nen, Jugendliche in sozialen Brennpunkten und Angehörige von rechtsaffinen Jugendlichen.
Neben Modellprojekten braucht es insbesondere nachhaltige Beratungs- und Qualifizie-
rungsarbeit zur Förderung der Distanzierung von Rechtsextremismus bzw. zur Verhinderung
des Einstiegs von Kindern und Jugendlichen in die rechte Szene.

Präventive Maßnahmen sind umfassend anzulegen. Besonderer Bedeutung kommt der in-
tensiven Kommunikation zwischen den Sicherheitsbehörden und der Zivilgesellschaft zu.

Ein Beispiel für gelungene Deradikalisierungsarbeit ist die staatliche „Ausstiegshilfe für
Rechtsextremisten“ (EXTRA). Das Ministerium für Inneres und Sport richtete im Jahr 2014
das Projekt ein, das seitdem erfolgreich ausstiegswillige Rechtsextremisten bei der Lösung
von der Szene und der Deradikalisierung begleitet und unterstützt. Die persönliche Beglei-
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tung und Betreuung während eines Ausstiegs steht im Mittelpunkt. Das Beratungs- und Infor-
mationsteam der Ausstiegshilfe kann Ausstiegswilligen auf der Basis sozialpädagogischer
Arbeit Wege aufzeigen, sich vom Rechtsextremismus abzuwenden und von extremistischen
Einstellungen und Handlungsmustern wie insbesondere Rassismus, Antisemitismus, Islam-
feindlichkeit und Gewaltbereitschaft zu distanzieren sowie damit verbundene Probleme zu
lösen und neue Perspektiven auf der Basis demokratischer Werte und Einstellungen zu ent-
wickeln.

Im Sinne einer indizierten Prävention zielt die Arbeit von EXTRA darauf ab, im kooperativen
Zusammenwirken nach erkannten Regelverletzungen (rechtsextremistische Bestrebungen
und Aktivitäten Einzelner) durch geeignete spezialpräventive Maßnahmen (Beratung und Un-
terstützung im Einzelfall) weitere Regelverletzungen zu vermeiden, Folgeprobleme zu lösen
und negative Begleiterscheinungen zu vermindern. Durch das Projekt soll die Abkehr von
rechtsextremistischen Einstellungen und Handlungsmustern und das Lösen radikalisierungs-
begünstigender (sozialer) Begleitprobleme unterstützt werden. Der Ausstieg rechtsextremisti-
scher Personen soll auch eine Vorbildwirkung für andere Ausstiegswillige ausüben.

EXTRA ist das bundesweit einzige Aussteigerprojekt, das bereits umfassend wissenschaft-
lich evaluiert wurde. Dem Programm wurde eine hohe fachliche Qualität bescheinigt. Es ver-
dient die weitere Unterstützung der Landesregierung.

Das Projekt „FRAP-Fachzentrum Radikalisierungsprävention in Vollzug und Straffälligenhilfe
Sachsen-Anhalt“ in kooperierender Trägerschaft des Vereins „Miteinander“, des Multikulturel-
len Zentrums in Dessau und dem Landesverband für Kriminalitätsprävention und Resoziali-
sierung e.V. bietet Beratung und Fortbildung im Kontext Strafvollzug und (freie) Straffälligen-
hilfe an und wird aus Mitteln des Bundesprogramm „Demokratie Leben!“ sowie aus dem
„Landesprogramm für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit“ gefördert. In enger Abstim-
mung zwischen dem Ministerium der Justiz und dem Ministerium für Arbeit, Soziales und In-
tegration gestalten die Träger Fortbildung und Beratung für Fachkräfte im Justizvollzug und
in der Straffälligenhilfe. Diese behandeln die religiöse Alltagskultur, alltägliche Frömmigkeit
und den Umgang mit Radikalisierten bzw. die Gefahr der Radikalisierung von Gefangenen
sowie Konversionen und ihre Problematik. Das Projekt hatte in der letzten Förderperiode ei-
nen ähnlichen Vorgänger mit dem Projekt „RausWege“, das sich ausschließlich um rechtsge-
richtete Radikalisierung bemühte und nun durch Präventionsmaßnahmen im Bereich Islamis-
mus ergänzt wurde. Bei allen Angeboten spielt der Bereich Antisemitismus eine wichtige
Rolle.
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Ziele, die prioritär erreicht werden sollen:
   weitere Stärkung der Präventionsmaßnahmen der Sicherheitsbehörden insbesondere im
    niedrigschwelligen Bereich.
   Verbesserung der Kommunikation zwischen Sicherheitsbehörden, jüdischen Gemeinden
    und Zivilgesellschaft

B.4 – Konsequente Rechtsanwendung

Die „Problembeschreibung“ führt vor Augen, dass das Vertrauen von Jüdinnen und Juden in
die staatlichen Organe gering ist. Ihr zufolge werden kaum antisemitische Vorfälle gemeldet
oder gar Anzeigen erstattet. Erfolgte Verurteilungen sind innerhalb der Gemeinschaft nicht
bekannt. So ist der fatale Eindruck entstanden, man sei alleine gelassen, der Staat helfe
letztlich nicht. Polizei und Justiz betonen demgegenüber, sie seien bereit zu mehr Aktivität,
wenn sie mehr und geeignete Vorfälle vorliegen hätten, es fehlten Anzeigen, aber auch Ein-
sprüche und Beschwerden, um kursierende Beschwerden über vermeintliche Untätigkeit ob-
jektivieren zu können. Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, die verschiedenen Perspektiven
zusammenzubringen. Letztlich geht es darum, dass Vertrauen gegenseitig wachsen kann.

Unter anderem auf Antrag Sachsen-Anhalts hat der Bundesrat im November 2019 die Ein-
bringung eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs beschlossen, mit dem die ex-
plizite Berücksichtigung antisemitischer Beweggründe bei der Strafzumessung vorgeschla-
gen wurde (§ 46 StGB). Diesen Impuls hat der Deutsche Bundestag im Rahmen seines Ge-
setzespakets „zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ aufgenom-
men, dem am 18. Juni 2020 der Bundestag, und am 3. Juli 2020 der Bundesrat zugestimmt
hat. In dem Gesetzespaket werden zahlreiche Maßnahmen gebündelt, die auf eine effekti-
vere und intensivere Strafverfolgung unter anderem bei antisemitischen Straftaten zielen, wie
zum Beispiel die Pflicht sozialer Netzwerke zur Meldung an das Bundeskriminalamt (BKA),
die Wertung einer angedrohten Straftat als Störung des öffentlichen Friedens, die Strafbar-
keit bei Bedrohung gegenüber Betroffenen oder ihnen Nahestehenden, die Erfassung bei Bil-
ligung einer schweren Straftat oder die Erhöhung des Strafrahmens bei Beleidigungen im
Netz

Die Wirkung der bundesgesetzlichen Rechtsverschärfungen bleibt abzuwarten. Für Sach-
sen-Anhalt ist entscheidend, dass das Recht des Bundes wie des Landes zur Anwendung
kommt und ob die zuständigen Behörden in angemessenem Maße, auch proaktiv, agieren.
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Die Staatsanwaltschaften und die Landespolizei arbeiten als Strafverfolgungsbehörden seit
Jahren eng zusammen, um auch bei intensiver auftretenden, modifizierten und neuen Krimi-
nalitätsphänomenen, wie z. B. im Bereich der politisch motivierten Kriminalität oder der Hass-
kriminalität, eine konsequente Strafverfolgung zu gewährleisten. Dazu finden u. a. auf unter-
schiedlichen Ebenen zwischen den Ressorts und operativen Ebenen allgemeine oder an-
lassbezogene Konsultationen statt, um Probleme frühzeitig zu identifizieren, gemeinsame
Strategien der effektiven Strafverfolgung zu entwickeln und in der Praxis umzusetzen.

Das Ministerium für Justiz und Gleichstellung weist diesbezüglich auf den Gemeinsamen
Runderlass mit dem Innenministerium zu den „Richtlinien über die Verfolgung politisch moti-
vierter Straftäter“ hin, der zuletzt im Jahr 2011 überarbeitet, entfristet und als „konsolidierte
Fassung“ auszugsweise (ohne den polizeilichen Teil, Ziffer 4 der Richtlinie) bekannt gemacht
wurde (JMBl. LSA 2011, S. 163). Er werde konsequent umgesetzt und stets auf eine Anpas-
sung an geänderte Rechtsgrundlagen oder veränderte Erscheinungsformen der politisch mo-
tivierten bzw. Staatsschutzkriminalität überprüft.

Es gibt allerdings auch Kritik an der Aktualität des Erlasses und an seiner Umsetzung. Sie
kommt aus der Zivilgesellschaft und auch aus dem politischen Raum. Sie betrifft die Schnel-
ligkeit und Priorisierung bei den Staatsanwaltschaften, die vermeintlich zu schnellen Einstel-
lungen von Verfahren und die Zusammenarbeit der Behörden. Vorgeschlagen werden zum
Beispiel kontinuierliche „Fallkonferenzen“ der verschiedenen Beteiligten, um ein abgestimm-
tes Verfahren zu erreichen.

Das Ministerium für Justiz und Gleichstellung und das Ministerium für Inneres und Sport sind
derzeit dabei den Runderlass zu überprüfen. Hierbei sollte die vorher genannte Kritik berück-
sichtigt und der Dialog mit der Zivilgesellschaft gesucht werden.

Um extremistischen Straftaten besser begegnen zu können, ist im Juli 2018 bei der General-
staatsanwaltschaft Naumburg eine „Zentrale Staatsschutzkontakt- und -koordinierungsstelle“
errichtet worden. Zwei Dezernenten sind je zur Hälfte mit der Bearbeitung dieser Aufgaben
befasst. Sie stehen in engem Kontakt mit dem LKA und dem Verfassungsschutz. Die Einrich-
tung dieser Stelle ist ein hilfreicher Ansatz. Hier wird inhaltliche und persönliche Kompetenz
gebündelt ähnlich wie bei Spezialstaatsanwaltschaften, wie es sie in größeren Ländern
(Nordrhein-Westfalen) oder Ländern mit höherer Vorfallsdichte (Berlin) bereits gibt. Die Ge-
neralstaatsanwaltschaft steht ausdrücklich für den Dialog mit der Jüdischen Gemeinschaft
zur Verfügung. Sie bemüht sich um Sensibilisierung und Fortbildung sowie um die Schärfung
von Argumenten, um gegen antisemitische Vorfälle vorgehen zu können. So hat sie z. B. ein
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Gutachten in Auftrag gegeben, das den Einsatz bestimmter Symbole, Sprachmuster, Orte
und Daten für die Sicherheitsorgane stärker auf die ihnen immanenten Subtexte hin erkenn-
bar machen soll. Behördengutachten, die der Verfassungsschutz erstellt, sind ein ähnlicher
Ansatz.

Solche Ansätze sind von hoher Relevanz, denn innerhalb, aber auch außerhalb der jüdi-
schen Gemeinschaft herrscht viel Unverständnis darüber, warum nach Wahrnehmung der
Betroffenen nahezu unverstellt geäußerter oder gezeigter Antisemitismus offenbar nicht un-
terbunden werden kann. In Krisenzeiten häufen sich Verschwörungsmythen mit antisemiti-
schen Charakter und dies geschieht auch aktuell während der Corona-Pandemie. Ausge-
rechnet Vorfälle in Halle sorgen regelmäßig für breite Aufmerksamkeit. Versammlungen, bei
denen antisemitische Symbole gezeigt und Slogans verbreitet werden, fanden dort bereits
statt und sind dokumentiert, auch wenn eine strafrechtliche Relevanz im Ergebnis nicht fest-
gestellt wurde.

Dieses Phänomen ist bundesweit feststellbar. Sachsen-Anhalt verfügt über eines der libe-
ralsten Versammlungsgesetze in Deutschland. Dies ist im Interesse der Meinungs- und Ver-
sammlungsfreiheit zwar begrüßenswert, bringt die zuständigen Behörden aber auch beim
Einschreiten gegen rechtsextremistische und antisemitische Umtriebe oft an ihre Grenzen.
Bereits mehrfach hielten versammlungsbehördliche Beschränkungsverfügungen gerichtli-
chen Überprüfungen nicht stand und wurden aufgehoben. Das Ministerium für Inneres und
Sport hat daher dem Kabinett orientiert an der Rechtslage der meisten anderen Länder Vor-
schläge für eine Änderung des Landesversammlungsgesetzes unterbreitet, um unter Beach-
tung des hohen Guts der Meinungs- und Versammlungsfreiheit versammlungsbehördlich
künftig besser auf die Herausforderungen reagieren zu können.

Es braucht auch künftig ein breites Zusammenwirken, um die Stellschrauben zu nutzen,
die jeder Behörde in Land und Kommunen im Rahmen ihrer Zuständigkeit und unter Wah-
rung von Recht und Gesetz zur Verfügung stehen.

Ziele, die prioritär erreicht werden sollen:
   Fortentwicklung des Gemeinsamen Runderlasses zur „Richtlinie über die Verfolgung po-
    litisch motivierter Straftaten“
   Stärkung der Handlungsmöglichkeiten von Polizei und Justiz
   Sensibilisierung und Blickfeldschärfung durch Nutzung der Möglichkeiten der „Zentralen
    Staatsschutzkontakt- und -koordinierungsstelle“ der Generalstaatsanwaltschaft und des
    Verfassungsschutzes
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   Überprüfung des Rechts und der Rechtsanwendung bei Versammlungen

B.5 – Gegen Hass und Radikalisierung im Netz

Expertinnen und Experten sind sich einig, dass das Internet und die sogenannten sozialen
Medien zentrale Transporteure für Hasskriminalität und damit auch für Antisemitismus sind.
Hier bedarf es umfassender Aufklärung und Prävention, Schutz vor Hassattacken sowie Prä-
zisierung und Durchsetzung des Rechts. Die neuen Bestimmungen des Bundesgesetzes
„zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ sind bereits erwähnt und
bedürfen der konsequenten Umsetzung auch in Sachsen-Anhalt. Die Bundesregierung hat
dazu bereits eine umfangreiche Bund-Länder-Abstimmung eingeleitet.

Die Länder verfolgen mit dem sich derzeit im Ratifikationsverfahren befindlichem Staatsver-
trag zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland einem ersten Ansatz zur Aus-
weitung der Medienregulierung auf Intermediäre (z. B. Suchmaschinen) und Medien-Plattfor-
men. Sie arbeiten derzeit außerdem an der Novellierung des Jugendmedienschutz-Staats-
vertrags. Das Vorhaben soll mittelbar auch dazu beitragen, Kinder und Jugendliche vor anti-
semitischen Inhalten zu schützen.

Die Staatskanzlei und Ministerium für Kultur setzt sich gemeinsam mit dem Innen- und Jus-
tizministerium in Anknüpfung an die Initiative „Verfolgen statt nur löschen“ dafür ein, die Ver-
netzung mit den Medienschaffenden im Funk und Presse zu verbessern, um strafbares
hassförderndes Verhalten, wie antisemitische Inhalte, im Internet konsequent zu verfolgen.
Dies dient dazu, den Umgang mit strafbaren Äußerungen im Internet und die Rechtsdurch-
setzung zu analysieren und zu verbessern, und könnte ggf. für Sachsen-Anhalt genutzt wer-
den. Auch das Projekt „hass-melden.de“ aus Hessen ist ein guter, besonders nutzerfreundli-
cher Ansatz, der aufgegriffen werden könnte. Es wäre denkbar, sich daran zu beteiligen und
so die bereits andernorts geleistete Vorarbeit zu nutzen.

Im Hinblick auf die Bekämpfung von „Hasskriminalität“ hat das LKA die polizeiliche Strafver-
folgung und Prävention mittels einer sogenannten „Internetstreife“ verstärkt und im Nach-
gang zum Terroranschlag hat der Landtag diesbezüglich deren weitere Verstärkung ange-
mahnt. Die „Internetstreife“ ist nicht speziell auf Antisemitismus ausgerichtet, bezieht ihn
aber mit ein. Sie arbeitet anlassabhängig. Politisch motivierte Hasspostings können Straftat-
bestände erfüllen. Mit Hilfe der „Internetstreife“ können strafrechtlich relevante Inhalte
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