Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie - Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.) - Elsevier
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12 1 Entwicklungsphysiologie des Kindes 1 Abb. 1.13 Sichere Seitenlage [G705] 1.1.3 10. bis 18. Lebensmonat Bei einer idealen motorischen Entwicklung sieht man die verschiedenen hier be- schriebenen Haltungs- und Bewegungsmuster binnen weniger Wochen. Die Rei- henfolge kann dabei variieren. Reifes Krabbeln – mit 10 Lebensmonaten Zu Beginn des Krabbelns mit ca. 8 Le- bensmonaten kann es sein, dass das Kind noch ein unreifes Krabbeln zeigt. Das Becken ist noch nach ventral ge- kippt, die Wirbelsäule in ihren Ab- schnitten nicht physiologisch extendiert und es ist eine assoziierte Dorsalextensi- on der oberen Sprunggelenke bei der Flexionsbewegung der Beine zu beob- achten. Merkmale des reifen Krabbelns (▶ Abb. 1.14): • Kreuzkoordinierte Fortbewegung • Leichte Außenrotation in den Abb. 1.14 Reifes Krabbeln [P236] Schlüsselgelenken der Extremitäten • Wirbelsäule um die Körperlängs- achse gestreckt gehalten • Füße in Plantarflexion Zangengriff Im 9. Lebensmonat steht dem Säugling der Zangengriff zur Verfügung. Das Kind greift nun mit den Fingerspitzen von Zeigefinger und Daumen nach sehr kleinen Gegenständen. Die Endphalan- gen sind dabei gebeugt. Der Daumen ist in Opposition (▶ Abb. 1.15). Abb. 1.15 Zangengriff mit 10 Lebensmo- naten [G705] 17_Koch.indb 7_Koch.indb 12 7/10/2018 1:13:19 PM
1.1 Ideale motorische Entwicklung 13 Langsitz – mit 9–10 Lebensmonaten Aus dem Bestreben heraus, sich nach oben zu orientieren, kommt das Kind in den Langsitz. 1 Zu den Merkmalen des Langsitz gehö- ren (▶ Abb. 1.16): • Stützpunkte sind die Tubera ossis Ischii • Die Hände sind frei zum Spielen und Untersuchen von Gegenstän- den • Wirbelsäule wird um die Körper- längsachse gestreckt gehalten Die kleine Stützfläche in dieser Aus- gangsstellung verlangt dem Kind eine andere Haltungssteuerung gegen die Schwerkraft ab. Den sicheren Langsitz kann das Kind durch fließende Bewe- gungen über den Seitsitz einnehmen und auch wieder auflösen. Abb. 1.16 Langsitz [P236] Merke Ein frühzeitiges Hinsetzen des Kindes, ohne dass das Kind diese Position eigenständig einnehmen kann, führt zu einer Überbelastung der Wirbelsäu- le und kann zu Haltungsmängeln führen. Entwicklung in die Vertikale – mit 10 Lebensmonaten Zu Beginn zieht sich das Kind über die Arme hoch, die nun mehr als 135° Flexion angehoben werden können, und kommt dann über einen kurzfristigen Kniestand in den Stand. Später erst geschieht das Auf- stehen über die Füße (▶ Abb. 1.17). Zu Beginn dieser Entwicklung zeigen sich folgende Merkmale: • Das Kind orientiert sich zu einer Seite (Gesichtsseite) • Der Arm dieser Seite greift nach vorne/oben • Gleichzeitig wird der kontralaterale Fuß auf Höhe des gesichtsseitigen Knies aufgestellt • Kreuzkoordiniertes Muster, was in den Raum nach oben transportiert wird Abb. 1.17 Aufstehen aus dem Fortbewe- gungsmuster des Krabbelns [P236] Merke Bei vorangegangenen Asymmetrien ist das Aufstehen häufig nur über eine Seite zu beobachten. Dies ist dann als abnorm zu bewerten und sollte weiter untersucht werden. 17_Koch.indb 7_Koch.indb 13 7/10/2018 1:13:19 PM
14 1 Entwicklungsphysiologie des Kindes Seitliches Gehen – mit 10–11 Lebensmonaten Das seitliche Gehen ist ein kreuzkoordiniertes Fortbewegungsmuster. Wir sehen immer wieder eine trianguläre Stützfläche zwischen den Extremitäten. 1 Die Fortbewegung ist zu beiden Seiten möglich und wird über die Arme eingelei- tet. (▶ Abb. 1.18) Merke Die Füße sollten beim Seitlichen Gehen nach vorne schauen. Dreht der Kör- per bei der Fortbewegung konstant zu einer Seite auf, ist dies als abnorm zu bewerten und sollte genauer untersucht werden. Aufdrehen in den Raum mit 11 Lebensmonaten Das Kind braucht nun nur eine Hand zum Halten, sodass es sich mit dem Körper in den Raum aufdrehen kann (▶ Abb. 1.19). Dies sollte über beide Seiten gleicher- maßen möglich sein. „Küstenschifffahrt“ mit 10–12 Lebensmonaten Das Kind kann nun bei dem seitlichen Gehen von einem Gegenstand zum ande- ren übergreifen (▶ Abb. 1.20). Abb. 1.18 Seitliches Gehen [P236] Abb. 1.19 Aufdrehen in den Raum [P236] 17_Koch.indb 7_Koch.indb 14 7/10/2018 1:13:19 PM
1.1 Ideale motorische Entwicklung 15 1 Abb. 1.20 Küstenschiffahrt [G705] Freies Gehen mit 12–18 Lebensmo- naten Bei den ersten freien Gehschritten wird sich das Kind in die Arme der Eltern retten. Häufig ist zu Beginn ein Anhal- ten und auch Richtungswechsel nicht möglich. Erst nach einiger Zeit ist es möglich zu stoppen oder die Richtung zu wechseln. Nun spricht man vom freien Gehen (▶ Abb. 1.21). Tipps zum ersten Schuhkauf ▶ 5.4. Klinischer Hinweis • Eine Ventralkippung des Be- ckens ist bis zum 3. Lebens- jahr ein physiologischer Aus- druck des freien Gehens. • Ein Knick-Senkfuß kann bei einem gesunden Kind bis zum 3. Lebensjahr als physiolo- gisch bewertet werden. • Das Armpendel entsteht erst Monate nach Beginn des frei- en Gehens. Abb. 1.21 Freie bipedale Fortbewegung (die ersten Schritte) [P236] 1.1.4 Älter als 18 Lebensmonate Der Grundstein der motorischen Entwicklung ist gelegt. Das Kind nutzt und fes- tigt seine motorischen Fähigkeiten, um seine Neugier an der Umgebung zu stillen. 3. Lebensjahr Bei der bipedalen Fortbewegung ist bei dem Kind nun ein Quer- und Längsgewöl- be des Fußes zu erkennen. Das Becken steht beim freien Gehen in einer Mittelstel- 17_Koch.indb 7_Koch.indb 15 7/10/2018 1:13:19 PM
16 1 Entwicklungsphysiologie des Kindes lung. Mit 3 Jahren kann das Kind auf einer Seite länger als 3 Sekunden auf einem Bein stehen und kleine Sprünge machen. Am Ende des dritten Lebensjahres ist eine erste Fangbereitschaft eines Balles mit 1 beiden Händen zu erkennen. 4. Lebensjahr Mit 4 Jahren kann das Kind auf beiden Seiten länger als 3 Sekunden auf einem Bein stehen und mit geschlossenen Beinen springen. Das Kind kann nun die Treppe frei reziprok rauf- und runtergehen. Literatur Ebelt-Paprotny G, Preis R. Leitfaden Physiotherapie. 6. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer, 2012. Illing S, Claßen M. Klinik Leitfaden Pädiatrie. 9. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer, 2013. Kienzle-Müller B, Wilke-Kaltenbach G. Babys in Bewegung. 1. A. München: Elsevier/ Urban u. Fischer, 2008. Orth H. Das Kind in der Vojta-Therapie. 3. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer, 2017. Vojta V. Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter. 9. A. Internationale Vojta Gesellschaft e. V., 2017. Vojta V, Schweitzer E. Die Entdeckung der idealen Motorik. 1. A. München: Pflaum, 2009. Zukunft-Huber B. Der kleine Fuß ganz groß. 2. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer, 2011. 1.2 Psychomotorische Entwicklung Stephanie Burgenger Die Psychomotorik befasst sich mit der Verbindung von körperlich-motorischen und psychisch-geistigen Prozessen. Das Zusammenspiel von Bewegung und Wahrnehmung beeinflusst sowohl die motorische als auch die sozial-emotionale Entwicklung. Entwicklungsverlauf von psychomotorischen Fähigkeiten • Neuromotorik (bis 3. LM): Frühkindliche Reaktionen stehen im Vorder- grund (▶ 1.1.1) • Sensomotorik (ab dem 3. LM): Verbindung von Wahrnehmung und Bewe- gung, koordinative Fähigkeiten entwickeln sich (erste koordinative Fähigkei- ten sind: Hand-Hand-Koordination, Hand-Mund Koordination, Hand-Knie- Koordination, Hand-Fuß-Koordination ▶ 1.1.1) • Psychomotorik (intensiv im 2. und 3. LJ): – Verbindung von Bewegung und Psyche – Gefühle werden stark motorisch ausgedrückt (z. B. Wutausbrüche mit auf den Boden werfen) – Entwicklung der Ich-Kompetenz steht im Vordergrund ൺ Abgrenzung von anderen Personen • Soziomotorik (ab dem 3. LJ – bis zum Schulalter): Ein angepasstes und an- gemessenes Verhalten gegenüber anderen Personen/in Gruppen entwickelt sich zur Sozialkompetenz. Bewegung ist die Voraussetzung für eine ganzheitliche Entwicklung. Durch die Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt kann diese erst begriffen und wei- tere Kompetenzen erworben werden (▶ Tab. 1.1). 17_Koch.indb 7_Koch.indb 16 7/10/2018 1:13:20 PM
1.2 Psychomotorische Entwicklung 17 Tab. 1.1 Entwicklung aufgrund von Bewegungserfahrungen Entwicklungs- Fähigkeiten bereich 1 Sensorische • Orientierung zur Zeit, zum Raum und an Personen Entwicklung • Informationsaufnahme und -verarbeitung von sensorischen Rei- zen (auditiv, visuell, olfaktorisch, gustatorisch, taktil, vestibulär, propriozeptiv, räumlich-visuell) • Körperschema Körperliche • Entwicklung von Muskulatur, Kraft, Ausdauer, Koordination, Entwicklung Schnelligkeit und Beweglichkeit Motorische • Körperorganisation Entwicklung • Handlungs- und Bewegungsplanung • Koordinative Fähigkeiten Kognitive • Aufmerksamkeit fokussieren und lenken Entwicklung • Abstraktionsvermögen • Kognitive Flexibilität (ändern von Strategien und Denkansätzen, Problemlösestrategien) • Sprachliche und mathematische Kompetenzen • Einfache und Mehrfachaufgaben übernehmen und bearbeiten • Merkfähigkeit Emotionale • Psychische Stabilität (Ausgeglichenheit, Ruhe) Entwicklung • Selbstvertrauen • Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen • Motivation • Impulskontrolle • Frustrationstoleranz Soziale • Adaptationsfähigkeit – auf neue Erfahrungen/Situationen ange- Entwicklung messen agieren bzw. reagieren • Eigene Bedürfnisse erkennen, durchsetzen und zurückstellen • Verantwortung übernehmen • Rücksichtnahme/Toleranz • Regelverständnis Das Durchführen von Tätigkeiten beinhaltet verschiedene Funktionen, durch die das Kind sich in unterschiedlichen Bereichen weiterentwickeln kann (▶ Tab. 1.2). Dabei können sich in ein und derselben Handlung mehrere Funktionen überlap- pen bzw. ergänzen. Tab. 1.2 Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern Personale Den eigenen Körper und damit sich selbst besser kennenlernen, Funktionen sich mit den körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen und ein Bild von sich selbst entwickeln Soziale Mit anderen gemeinsam etwas tun, mit und gegeneinander spie- Funktionen len, sich mit anderen absprechen, nachgeben und durchsetzen Produktive Selbst etwas machen, herstellen, mit dem eigenen Körper etwas Funktionen hervorbringen (z. B. eine sportliche Fertigkeit wie einen Handstand oder einen Tanz) Expressive Gefühle und Empfindungen in Bewegung ausdrücken, körperlich Funktionen ausleben und ggf. verarbeiten 17_Koch.indb 7_Koch.indb 17 7/10/2018 1:13:20 PM
18 1 Entwicklungsphysiologie des Kindes Tab. 1.2 Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern (Forts.) Impressive Gefühle wie Lust, Freude, Erschöpfung sowie Energie empfinden 1 Funktionen und in Bewegung erfahren Explorative Die dingliche und räumliche Umwelt kennenlernen und sich er- Funktionen schließen, sich mit Objekten und Geräten auseinandersetzen und ihre Eigenschaften erfassen, sich den Umweltanforderungen an- passen bzw. sie sich passend machen Komparative Sich mit anderen vergleichen, sich mit anderen messen, wetteifern Funktionen und dabei sowohl Siege verarbeiten als auch Niederlagen ertragen lernen Adaptive Belastungen ertragen, die körperlichen Grenzen kennenlernen und Funktionen die Leistungsfähigkeit steigern, sich selbst gesetzten und von au- ßen gestellten Anforderungen anpassen Literatur Ayres AJ. Bausteine der kindlichen Entwicklung. 4. A. Berlin: Springer; 2002. Zimmer R. Handbuch der Bewegungserziehung. Grundlagen für Ausbildung und päd- agogische Praxis. Freiburg: Herder; 2014. 1.3 Feinmotorische Entwicklung Maike Heidtmann Die Entwicklung der feinmotorischen Fähigkeiten beginnt mit dem Tag der Ge- burt und wird in Kapitel ▶ 1.1 zur motorischen Entwicklung gesondert dargestellt. In diesem Kapitel geht es um die fein- und grafomotorische Entwicklung ab dem 12. Lebensmonat: • Feinmotorik: motorischen Fähigkeiten eines Kindes bezogen auf seine Fin- ger, Zehen und Gesicht (sehr präzise, kleine Bewegungen, bei denen Kraftdo- sierung eine große Rolle spielt) • Grafomotorik: Stifthaltung und Strichführung (Schreiben und Malen sind komplexe, feinmotorische Tätigkeiten, welche eine differenzierte, manuelle Koordination voraussetzt) 12. Monat bis 18. Monat Das Kind versucht, Gegenstände mit den Händen zu untersuchen. In dieser Zeit bilden sich zwei wichtige Vorläuferfertigkeiten zum Schreiben heraus. Das ad- äquate Festhalten und Loslassen. Feinmotorische Entwicklung • Das Kind isst mit dem Löffel im Faustgriff und • Legt das Essen mit den Fingern auf den Löffel. • Zwei Klötzchen können nach Aufforderung und Zeigen aufeinandergesetzt werden. • Gegenstand wird in ein Gefäß gelegt oder herausgeholt. • Kind gibt Gegenstand auf Verlangen aus der Hand („Bitte-Danke“-Spiel). • Komplexere feinmotorische Verrichtungen gelingen (z. B. Auspacken eines Bonbons). 17_Koch.indb 7_Koch.indb 18 7/10/2018 1:13:20 PM
1.3 Feinmotorische Entwicklung 19 Grafomotorische Entwicklung • Kritzeleien entstehen unwillkürlich. • Das Kind beginnt sich für Mal- und Schreibutensilien zu interessieren, wenn 1 andere Personen diese zum Malen und Schreiben benutzen (Nachahmungs- verhalten). • Es wird versucht, in verschiedensten Körperpositionen zu malen. • Beim Kritzeln wird das obere Ende des Schreibgeräts umfasst, der Unterarm ist hierbei nicht auf dem Tisch bzw. auf der Unterlage abgelegt. 1,5 bis 2 Jahre In dieser Zeit wird beim Spielen eine Hand bevorzugt und die andere Hand zum Halten genutzt. Feinmotorische Entwicklung • Große Perlen können aufgefädelt werden. • Buchseiten können umgeblättert werden. • Aufschrauben von Gefäßen beginnt. • Kind trinkt alleine beidhändig aus einem Becher. Grafomotorische Entwicklung • Stift wird noch zwischen beiden Händen gewechselt, wobei keine Hand unbe- dingt als Haltehand dient. • Die bleibende Linie wird entdeckt. • Striche werden immer wieder neu begonnen, es kommt jedoch noch zu kei- ner gezielten Verbindung. • Kreisende Linien zeigen eine sich weiter entwickelte Motorik. • Schreibbewegungen werden aus Schulter- und Ellenbogengelenk geführt. 2 Jahre In dieser Zeit zeigt sich deutlicher, welche Hand die Kinder als Arbeitshand und welche als Haltehand verwenden. Hand und Augen arbeiten für kurze Sequenzen koordiniert zusammen. Feinmotorische Entwicklung • Die ersten Bauten aus Duplo Steinen gelingen nun sicher. • Das Kind kann den Deckel einer Flasche oder einen Wasserhahn auf-und zu- drehen. Grafomotorische Entwicklung • Blattfüllende Spiralen entstehen. • Das Kind versucht, aus Spiralen einen Kreis zu malen. 3 Jahre In dieser Zeit beginnt vermehrt der Gebrauch von Papier, Stiften und Kleber. Feinmotorische Entwicklung • Das Kind öffnet und schließt große Knöpfe und Reißverschlüsse, • malt verstärkt im Dreipunktgriff, • schneidet mit der Schere großzügige Formen und • kann mit Papier und Kleber basteln. 17_Koch.indb 7_Koch.indb 19 7/10/2018 1:13:20 PM
242 5 Störungsbilder in der Orthopädie 5.6 Craniomandibuläres System Heidi Orth, Corinna E. Zimmermann Zum craniomandibulären System gehören: Im engeren Sinne • Oberkiefer (OK/Maxilla) • Unterkiefer (UK/Mandibula) • Zähne • Zunge • Kiefergelenke (KG) mit Gelenkkapsel und Bändern • die sie bewegenden Muskeln Im weiteren Sinne • Wechselbeziehungen zu Wirbelsäule (WS) und ZNS Merke Maxilla, Mandibula und Kiefergelenk bilden eine Funktionseinheit mit dem Cranium. Deshalb wird diese Funktion als Craniomandibuläre Funktion, ihre Störung als Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet. 5.6.1 Postnatale Gebissentwicklung in drei Phasen Milchgebissphase (Geburt bis 2,5. Lebensjahr, LJ) 5 • Durchbruch der Milchzähne, danach Ruhephase, lediglich Attrition (Zahnab- rieb), Lückenbildung • Bisshebung im 14.–18. Lebensmonat (LM) (Vergrößerung des Abstands OK/ UK) Frühe Wechselgebissphase (5.–8. LJ) • Durchbruch der Inzisivi und 1. Molaren (6-Jahr-Molaren) • Bisshebung • Wechsel vom Kleinkind zum Kind, danach Ruhephase Späte Wechselgebissphase (10.–13. LJ) • Wechsel der Stützzone (Seitenzahnbereich) • Durchbruch der 2. Molaren (12-Jahr-Molaren) • Bisshebung • Wechsel vom Kind zum Jugendlichen • Durchbruch der Weisheitszähne erst nach dem 16. Lebensjahr Die Okklusion (Schlussbiss mit maximalem Zahnkontakt) verändert sich in die- sen drei Phasen (▶ Abb. 5.16). Danach erfolgt eine selbstregulierende Feineinstel- lung der Okklusion im bleibenden Gebiss: • Der Aufbau der Okklusion vollzieht sich zwischen dem 10. und 15. LJ. Dabei sind Abweichungen von bis zu 3 Jahren möglich. In dieser Zeit steigt die Inzi- denz craniomandibulärer Funktionsstörungen. • Die Entwicklung der Kieferform und der Zahnstellung hängt wesentlich von gesunden Milchzähnen, der Zungenlage und ihrer Funktion sowie dem Schluckvorgang ab. • Eine normale Okklusion kann sich bei gestörter Funktion nicht einstellen. Okklusale Störungen sind oft Folge, nicht Ursache einer CMD. 17_Koch.indb 7_Koch.indb 242 7/10/2018 1:13:42 PM
5.6 Craniomandibuläres System 243 .LQG 6FKQHLGH]¦KQH ದ0RQDW ದ0RQDW (FN]DKQ ದ0RQDW ದ0RQDW 0LOFKPRODUHQ ದ0RQDW (UZDFKVHQHU ದ-DKU 6FKQHLGH]¦KQH ದ-DKU (FN]DKQ ದ-DKU ದ-DKU 3U¦PRODUHQ ದ-DKU ದ-DKU ದ-DKU 0RODUHQ ದ-DKU :HLVKHLWV]DKQ 5 Abb. 5.16 Milchgebiss und Erwachsenengebiss, jeweils mit Durchbruchzeitpunkt der einzelnen Zähne [L190] 5.6.2 Funktionelle Anatomie von Kiefergelenk und Kaumuskulatur Die Kenntnis der funktionellen Anatomie des Kiefergelenks und der relevanten (Kau-) Muskulatur ist für das Verständnis einer CMD essenziell. Kiefergelenk Die Kiefergelenke (KG) sind über die Mandibula miteinander verbunden und be- wegen sich in Abhängigkeit voneinander. Sie verbinden die (bewegliche) Mandi- bula mit dem Cranium. Da sie in direkter Wechselbeziehung mit den Funktionen des cranio-zervikalen Übergangs von C0, C1 und C2 (den sog. „Kopfgelenken“) stehen, können die KG funktionell als „oberstes Kopfgelenk“ angesehen werden. Aufbau • Gelenkpfanne (Fossa glenoidalis) mit Tuberculum articulare des Os tempora- le • Gelenkkopf/Kondylus (Caput mandibulae des Processus condylaris) • Diskus (Discus articularis) gleicht die inkongruenten Kontaktflächen aus und teilt das Gelenk in ein oberes und unteres Kompartiment. Er ist mit Bändern mit der Gelenkkapsel verbunden: – Posteriores Band (bilaminäre Zone, reich an Gefäßen/Nervenendigungen) – Anteriores Band (verbunden mit Gelenkkapsel und M. pterygoideus late- ralis) 17_Koch.indb 7_Koch.indb 243 7/10/2018 1:13:42 PM
244 5 Störungsbilder in der Orthopädie • Gelenkkapsel aus elastischen Fasern umfasst locker und weit das Gelenk und wird durch die Bindegewebszüge des Ligamentum mediale und laterale ver- stärkt • Weitere Bänder: Ligg. stylomandibulare und sphenomandibulare Funktion Bei Mundöffnung, Protrusion, Laterotrusion finden folgende Bewegungen statt (▶ Abb. 5.17): • Rotation um eine Transversalachse im unteren Kompartiment zwischen Dis- kus und Kondylus und • Translation in der Sagittalen im oberen Kompartiment zwischen Fossa/Tu- berculum und Diskus Merke Eine Bewegung in einem KG geht immer mit einer Bewegung des kontra- lateralen Gelenks einher. a 5 b c Abb. 5.17 Bewegungsablauf im Kiefergelenk (KG): schematische Darstellung des rech- ten KG bei Mundöffnung (von links nach rechts) und Mundschließen (von rechts nach links) a) Normaler Bewegungsablauf im KG b) Bewegungsablauf bei anteriorer Diskusverlagerung mit Reposition des Kondylus c) Bewegungsablauf bei anteriorer Diskusverlagerung ohne Reposition des Kondy- lus und Blockade der Translationsbewegung [P487/L231] Beim Kauen (Mastikation) findet eine komplexe rhythmische dreidimensionale Bewegung in beiden Kiefergelenken statt. Die Auf- und Ab-Bewegung wird dabei mit einer Seitwärtsbewegung kombiniert. Der Kauakt dient dabei der • Zerkleinerung von fester Nahrung, • Bildung eines schluckbaren Bissens (Bolus) und der • Durchmischung des entstehenden Speisebreis mit Speichel als Vorbereitung der Verdauung. 17_Koch.indb 7_Koch.indb 244 7/10/2018 1:13:43 PM
5.6 Craniomandibuläres System 245 Merke Jede Bewegung der Mandibula wird über die Kopf-/Halsmuskulatur stabili- siert. Störungen der Kopf- und Körperhaltung beeinflussen regelmäßig die Kaumuskulatur. Kaumuskulatur Die folgende Tabelle zeigt die Funktion der Kaumuskulatur für die Unterkieferbe- wegungen (▶ Tab. 5.11): Tab. 5.11 Funktion der Kaumuskulatur Muskel Mund- Mund- Pro- Re- Latero- schluss öffnung trusion trusion trusion M. masseter pars superficialis X X X M. masseter pars profunda X M. temporalis anterior X M. temporalis medialis et posterior X X M. pterygoideus medialis X X M. pterygoideus lateralis X X X M. digastricus X X X 5 Infrahyoidale Muskulatur X X 5.6.3 Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) Eine CMD ist eine Funktionsstörung von Kaumuskulatur, Kiefergelenk und/oder Okklusion und den dazugehörigen Strukturen im Mund-, Kopf- und Halsbereich. Klinik Schmerzen: • Kaumuskel-/Kiefergelenkschmerz • Parafunktioneller Zahnschmerz • Übertragener Gesichtsschmerz in Schläfe, Auge, Ohr, Wange, Zähnen Funktionsstörungen: • Schmerzhafte oder nicht schmerzhafte Bewegungseinschränkungen (asym- metrische oder eingeschränkte Mundöffnung, MÖ) • Hypermobilität oder Koordinationsstörung im KG Geräusche bei Funktion: • Knacken/Knirschen im KG Vorkontakte und Gleithindernisse der Zähne bei: • Okklusion • Artikulation Missempfindungen: • Taubheitsgefühl • Brennen der Mundschleimhaut/Zunge • Globusgefühl im Hals • Engegefühl beim Atmen 17_Koch.indb 7_Koch.indb 245 7/10/2018 1:13:43 PM
246 5 Störungsbilder in der Orthopädie • Schluckbeschwerden • Tinnitus • Schwindel Klinischer Hinweis Das Vorliegen einer CMD ist wahrscheinlich, wenn mindestens zwei der fol- genden Symptome vorliegen: • Schmerzen der Kaumuskulatur • Limitationen bei der Mundöffnung • Kiefergelenkgeräusche • Störungen der Okklusion Bei Kindern und Jugendlichen sind CMD-bedingte Schmerzen der Kaumus- kulatur im Vergleich zum Erwachsenen eher selten. Sie treten meist tempo- rär auf und sind physiotherapeutisch gut behandelbar. Epidemiologie Mindestens 5 % der Kinder und Jugendlichen haben unerkannte Kiefergelenkprob- leme. Die Prävalenz von CMD bei Kindern nimmt kontinuierlich vom Kleinkind zum Jugendlichen zu, v. a. ab dem10. LJ (von 10 % im 10. LJ auf 30 % im 15. LJ), pa- rallel zur Gebissentwicklung. Aus präventiver Sicht gilt es, möglichst frühzeitig ätio- logische Faktoren einer CMD zu erkennen, da unerkannte Funktionsstörungen im (frühen) Kindesalter ein Risiko für eine CMD beim Erwachsenen darstellen können. 5 Ätiologie Eine CMD ist stets multifaktoriell (anatomisch, funktionell, bio-psycho-sozial) bedingt. Mögliche Ursachen sind: Arthrogen: • Fehlbildungen • Entzündungen • Verlagerungen des Kondylus • Diskopathie • Degenerative Veränderungen • Systemische Erkrankungen Myogen: • Dysfunktion von Kau- und Kauhilfsmuskulatur • Erhöhter Tonus Okklusal: • Störungen der Okklusion • Parafunktionen (Sammelbegriff für einen nicht natürlichen Gebrauch des Kauorgans) Vertebragen: • Fehlhaltungen/Fehlfunktionen, v. a. der HWS • Cranio-zervikale Dysfunktion • Cranio-sakrale Dysfunktion Psychogen: • Emotionaler Stress (z. B. hohe Ansprüche an sich, Selbstständigkeitskonflikt, mangelndes Selbstwertgefühl, Missbrauch) • Frühere Schmerzerfahrungen • Depression • Posttraumatische Belastungsstörung 17_Koch.indb 7_Koch.indb 246 7/10/2018 1:13:43 PM
5.6 Craniomandibuläres System 247 Weitere potenzielle Faktoren: • Symmetriestörungen (genetisch bedingt oder erworben) • Fehlbildungen (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kiefergelenkankylose) • Syndrome (z. B. Down [▶ 9.1], Pierre-Robin, Marfan [▶ 9.6]) • Zentrale Koordinationsstörungen mit und ohne Asymmetrie (▶ 6.1) • Infantile Zerebralparesen (z. B. Spastik, Dyskinesie [▶ 6.1]) • Habits (z. B. Wangen-/Lippensaugen, Zungenpressen) • Durchbruch der Weisheitszähne Klinischer Hinweis Den häufigsten Funktionsstörungen des Kiefergelenks liegt eine gestörte Vorschubbewegung des Komplexes Fossa/Tuberculum-Diskus-Kondylus zugrunde. Hier besteht die Gefahr der • Kondylusluxation bei MÖ durch Hypermobilität des Kondylus (Kondy- lushypermobilität) und der • Diskusluxation (gestörte Ruhelage des Diskus) mit/ohne Reposition des Kondylus bei MÖ. Expertenwissen Vor einer kieferorthopädischen Behandlung (KFO) sollte eine CMD ausge- schlossen werden, denn eine latente CMD kann sich im Rahmen einer KFO verschlechtern. Die KFO ist jedoch nicht die Ursache der Störung. 5 Ärztliche Diagnostik Siehe auch unten: Physiotherapeutischer Befund Dentale Befunde: • Massive, nicht alterstypische Abrasionen (Schlifffacetten) • Veränderter Okklusionsschall • Verlust der Eckzahnführung • Okklusionshindernisse bei Laterotrusion • Vorkontakte, Balancekontakte • Anterior oder seitlich offener Biss • Einseitiger Kreuzbiss Bildgebende Diagnostik (Röntgen, MRT) indiziert bei: • Fehlbildungen • Verlagerungen des Kondylus • Diskopathie • Degenerativen Veränderungen • Tumoren Differenzialdiagnosen: • Neuralgien • Entzündungen innerhalb/außerhalb des Kausystems • Kopfschmerzen anderer Genese: – Vaskuläre Erkrankungen (inkl. Migräne ([▶ 6.5]) – Medikamenteninduzierter Kopfschmerz – Spannungskopfschmerz – Nicht korrigierte Refraktionsanomalien (Fehlsichtigkeit) 17_Koch.indb 7_Koch.indb 247 7/10/2018 1:13:43 PM
248 5 Störungsbilder in der Orthopädie 5.6.4 Arthrogene Befunde einer CMD Retralverlagerung des Kondylus • Die Retralverlagerung des Kondylus ist die häufigste funktionelle KG-Störung bei Kindern und Jugendlichen. • Sie führt zu einer höheren Belastung der bilaminären Zone mit Ausdünnung des posterioren Bandapparates und kann eine anteromediale Diskusverlage- rung (DV) ▶ Abb. 5.17 zur Folge haben. Befunde: • Intraartikuläre Druckempfindlichkeit • Initiales Knacken in einem/beiden KG • Limitation der UK-Bewegung, Deflexion, Deviation • Hohe Aktivität der UK-Retraktoren (M. digastricus, M. temporalis pars pos- terior, suprahyoidale Muskulatur) • Tiefer Biss (reflektorische Retrallage des Kondylus) • Vorkontakte im Frontzahnbereich • Typischerweise gleitet der UK beim Sprechen nach ventral Ärztliche Behandlung • Bei Retralverlagerung mit anteromedialer DV ohne Reposition: umgekehrter Hippokrates-Griff • Bei Retralverlagerung mit anteromedialer DV mit Reposition: Positionie- rungsschiene im UK ganztägig über 3–6 Monate, UK dabei leicht ventral der Position des Knackens 5 Posteriore Diskusverlagerung • Die posteriore Diskusverlagerung liegt meist bei Hypermobilität eines oder beider KG durch starke Belastungen (Kirschen, Pressen) vor. • Der Kondylus befindet sich bei MÖ vor dem Diskus und reponiert in Okklu- sion wieder. Befunde: • Intermediäres bis terminales Knacken • Der Ausschluss einer anteromedialen DV erfolgt durch ein MRT! Ärztliche Behandlung • Bewegungsraum des Kondylus begrenzen • KG entlasten • Äquilibrierungsschiene in zentrischer Kondylenposition Kiefergelenkkompression und Osteoarthrose • Eine Kiefergelenkkompression mit strukturellen Veränderungen im Sinne ei- ner Osteoarthrose ist auch bei Kindern möglich! Befund: Steifigkeit der KG beim Aufwachen (v. a. nach nächtlichem Knirschen und Pressen) Ärztliche Behandlung • Antirheumatika • Entspannungsübungen • Physiotherapie • Dekompressionsschiene (betroffenes Gelenk 0,3–0,9 mm; gesundes Gelenk 0,3–0,6 mm) für 2–6 Wochen 24 Stunden pro Tag, danach nur noch bei ho- her Belastung durch Pressen oder Knirschen 17_Koch.indb 7_Koch.indb 248 7/10/2018 1:13:43 PM
5.6 Craniomandibuläres System 249 Bruxismus Bruxismus ist eine vom Hirnstamm initiierte, autonome rhythmische Kaumus- kelaktivität, die zu Knirschen oder Pressen zwischen den Zähnen bzw. zum Pres- sen der Kiefer aufeinander führt. Man unterscheidet: Schlafbruxismus: • In Verbindung mit Schlaf-Arousal-Reaktionen • Zur Sicherung geöffneter Atemwege • Bei Kindern häufig: Prävalenz zwischen 14–18 % Wachbruxismus: • Im Kleinkindalter physiologisch (Feinabstimmung der Okklusion) • Mit Durchbruch der bleibenden Zähne sollten die Knirschgeräusche rückläu- fig sein Ärztliche Behandlung Zum Schutz der Zahnhartsubstanz und zur Entlastung der KG kann im bleiben- den Gebiss eine Aufbissschiene eingesetzt werden. Klinischer Hinweis Bruxismus kann bei Kindern und Jugendlichen ein Zeichen von Stress (An- spannung, Angst, Überforderung) sein. Bei Zerebralparesen ist Bruxismus durch die zentrale Koordinationsstörung bedingt. Ob Bruxismus ein Risikofaktor für die Entstehung einer CMD ist, wird kontrovers diskutiert, es besteht kein linearer Ursache-Wirkungs-Zusam- menhang. 5 Physiotherapeutischer Befund Anamnese: • Allgemeine Erkrankungen, Wirbelsäulenerkrankungen (▶ 5.5) • Trauma (inkl. Operationen), Tinnitus, Schwindel, Schnarchen, Schlaf-/ Wachbruxismus • Störung der Sprechmotorik • Fehlbildungen (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kiefergelenkankylose) • Vorzeitiger Milchzahnverlust, kieferorthopädische Behandlung, bevorzugte Kauseite (einseitig), Zahnelongation • Schmerzen beim Abbeißen, Kauen, Öffnen des Mundes, in der Schläfenregi- on, im Schulter/Nackenbereich, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Schluckbe- schwerden • Informationen aus der frühkindlichen motorischen Entwicklung können zu- sätzliche Hinweise auf „eingeübte“ motorische Fehlfunktionen geben: – Besonderheiten bei der Geburt (z. B. Zange, Saugglocke) – Asymmetrien in der Körper-/Kopfhaltung – Blockierung/Einschränkung der Kopfdrehung (z. B. zu einer Seite) – Auffälligkeiten der Mundmotorik (Nahrungsaufnahme, Lautbildung), ge- störtes Schluckverhalten – Schnuller nach dem 2. LJ Inspektion: • Beurteilung der spontanen Haltung und Bewegung: Stellung von Becken, WS, Schultergürtel und Kopf in der Frontal-/Sagittalebene (▶ 1.1, ▶ 2.4) • Gestörter Kau- und/oder Schluckakt, viszerales Schlucken nach dem 4. LJ, (physiologisch bis zum 3. LJ, ▶ 1.4) • Wangen-, Lippen-, Zungen-Impressionen bei Habits 17_Koch.indb 7_Koch.indb 249 7/10/2018 1:13:43 PM
250 5 Störungsbilder in der Orthopädie Palpation: • Schmerzen und/oder erhöhter Tonus/Triggerpunkte der Kau-, Kauhilfs-, Hals-, Schulter- und Nackenmuskulatur bei Palpation • Passive Endbeweglichkeit des KG („Endgefühl“): – Weich-elastisch (= Muskulatur) – Fest-elastisch (= Bandapparat) – Hart-elastisch (= Knorpel) – Hart-unelastisch (= Knochen) • Kiefergelenkgeräusche (Palpation über Kondylus, Knacken und/oder Reiben): – Bei Diskusverlagerung durch Vor- oder Rückbewegung des Kondylus über das posteriore Band des Diskus entsteht ein „hartes Knacken“ – Bei Kollision des gespannten Lig. laterale mit dem lateralen Kondyluspol entsteht ein „weiches“ Knacken – Bei Schädigung bis hin zur Perforation des Diskus durch Knirschen und/ oder Pressen entsteht ein „Reiben“, hart-unelastisch (= Knochen) Funktionsüberprüfung: • Eingeschränkte Beweglichkeit der HWS: Flexion, Extension, Rotation, Seit- neigung (aktiv, passiv, resistiv) • Eingeschränkte MÖ (< 33 mm Schneidekantendistanz) • Asymmetrische MÖ (Deviation oder Deflexion > 2 mm gegenüber Vertikalen) • Eingeschränkte Vor- und Seitbewegung des UK Physiotherapie 5 Ziele Die Ziele müssen dem Alter entsprechend angepasst werden: • Lösen von Weichteilblockaden • Aktivieren des Schluckakts (Koordination) in Wechselfunktion mit dem Sta- bilisieren der Haltung in WS, Schultergürtel, Becken • Muskuläres Gleichgewicht in Körper-Kopf-Haltung/Bewegung herstellen und stabilisieren • Schmerzen reduzieren • Gelenkfunktion koordiniert aktivieren • Strukturelle Veränderungen des KG und der umgebenden Strukturen (wie Muskulatur, Bänder und Faszien) verhindern • Kauen und Schlucken während der Nahrungsaufnahme bewusstmachen und ggf. verändern Maßnahmen Kleinkinder • Osteopathie (▶ 3.4); Manualtherapeutische Techniken (▶ 3.3) • Vojta-Therapie, Stimuli/Widerstand am Kopf (Kausystem als Teilmuster im globalen Muster beachten) (▶ 3.2) Kinder, Jugendliche Vorbereitende physikalische Maßnahmen: • Wärme (z. B. Infrarot, „heiße“ Rolle bei verspannter Muskulatur) • Kälte (z. B. Eiswasserpackung bei Entzündungen, Schwellungen) • Massagetechniken Physiotherapeutische Maßnahmen: • Manualtherapeutische Techniken (▶ 3.3); Osteopathie (▶ 3.4) • Vojtatherapie (Kausystem als Teilmuster des globalen Körpermusters aktivie- ren, Stimuli und Widerstände am Kopf) (▶ 3.2) 17_Koch.indb 7_Koch.indb 250 7/10/2018 1:13:43 PM
5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder 251 • Haltungs- und Bewegungsschulung • Häusliches Übungsprogramm Literatur Ahlers MO. Jackstat HA. Zahnärztliche klinische Funktionsanalyse. In: Ahlers MO, Jack- stat HA (Hrsg.) Klinische Funktionsanalyse. Hamburg: dentaConcept, 2011. S. 141– 291. Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie: Bruxismus: Ätiologie, Diagnostik und Therapie. http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/ DGFDT_Wissenschaftliche_Mitteilung_Bruxismus.pdf (letzter Zugriff: 14.1.2018) Friedrich P., Waschke J. Sobotta, Atlas der Anatomie. 24. A. München: Elsevier, 2017. Fernandez de Sena M et al. Prevalence of temporomandibular dysfunction in children and adolescents. Rev Paul Pediatr 2013; 32 (4): 538–45. Freesmeyer WB, Jenatschke F. Beziehungen zwischen kieferorthopädischer Therapie und Kiefergelenk – Vorgehen in der täglichen Praxis. Kieferorthop. 2005; 19 (3): 223–230. Kohlbach W. Anatomie der Zähne und des kraniofazialen Systems. 1. A. Berlin: Quintessence, 2007. England M. A. Farbatlas der Embryologie. 1. A. Stuttgart: Schattauer, 1985. Orth H. Das Kind in der Vojta-Therapie. 3. A. München: Elsevier, 2017. 5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder Nina Derkum, Ute Hammerschmidt, Janine Koch Die Krankeitsbilder dieses Kapitels wurden nach ihrer klinischen Relevanz ausge- sucht. Sowohl die Arthrogryposis multiplex congenita als auch die Osteogenesis imperfecta verlangen ein interdisziplinäres Behandlungskonzept mit funktionie- 5 renden Schnittstellen. Die Alltagsrelevanz kindlicher Frakturen steht außer Frage. 5.7.1 Arthrogryposis multiplex congenita Die Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) kann in sehr unterschiedlicher Ausprägung auftreten und ist nicht heilbar. Sie verläuft nicht progredient und kommt etwa einmal auf 3.000 Geburten vor. Typisch sind Kontrakturen, die je nach Krankheitstyp an allen Gelenken auftreten können. Ätiologie Die Ursachen sind vielfältig: • Punktmutation am Zinkfinger-Gen • Pränatale Infektionen • Medikamente in der Schwangerschaft • Zentral bedingt/Fehlbildung von Nerven Klinik Die unterschiedlichen Ausprägungsgrade können folgendermaßen klassifiziert werden: • Typ 1: normale geistige und sensorische Entwicklung, keine weiteren Fehlbil- dungen – Typ 1a: betroffen sind vor allem Hände und Füße – Typ 1b: betroffen sind die Extremitäten inkl. Schultern und Hüften • Typ 2: zusätzlich weitere Fehlbildungen an Blase, Kopf, Wirbelsäule, Bauch- decke • Typ 3: zwingend Wirbelsäulenfehlbildungen, Fehlbildungen des ZNS 17_Koch.indb 7_Koch.indb 251 7/10/2018 1:13:43 PM
252 5 Störungsbilder in der Orthopädie Symptome: • Kontrakturen der Gelenke, häufig der Extremitäten • Skoliose (primär, sekundär durch die Kontrakturen anderer Gelenke [▶ 5.5.4]) • Muskelatrophien (▶ 6.3.1) • Motorische Entwicklungsverzögerung Ärztliche Diagnostik Neben der Ursachenforschung (genetische Untersuchung, Untersuchung auf prä- natale Infektionen) steht die Suche nach verdeckten Fehlbildungen im Vorder- grund. Dazu findet die bildgebende Diagnostik des Gehirns statt (zunächst Sono- grafie) und dann ggf. der Wirbelsäule. Mittels weiterer Sonografie wird auf mögli- che Organfehlbildungen hin untersucht. Die radiologische Darstellung der Gelenke ist zunächst nachrangig, da sie oft we- nig aussagekräftig ist. Sie sollte in der Regel erst durch einen erfahrenen Orthopä- den eingeleitet werden, sobald es um die Planung einer operativen Therapie geht (z. B. beim Klumpfuß ▶ 5.4.1). Ärztliche Behandlung Es findet vor allem die konservative Behandlung durch die Verordnung von Phy- siotherapie statt. Bei einigen massiven Fehlstellungen (sowie ggf. bei Erschöpfung der physiothera- peutischen Möglichkeiten) stehen operative Maßnahmen (z. B. Sehnenverlänge- rung mittels Z-Naht) zur Verfügung. Diese kommen jedoch selten zum Einsatz. Ziel ist es, die Gelenkfunktion im globalen Muster im Sinne der Teilhabe zu ver- bessern. 5 Physiotherapeutischer Befund • Anamnese: – Familienanamnese – Geburt – Medizinische Voruntersuchungen und Ergebnisse – Schmerzen • Inspektion: – Körperproportionen – Gelenke: Schwellungen, sichtbare Deformitäten, Dysproportionen – Muskelatrophien – Alltagsaktivitäten (z. B. Essen, Schreiben, Treppen steigen, Kämmen) • Palpation – Haut – Muskulatur – Gelenke • Spontanmotorik in Haltung und Bewegung (▶ 1.1, ▶ 2.4) • Längenmessung der Extremitäten (rechts und links, sowie der Acren) • Bewegungstest – Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit vor allem der Extremitäten – Messung des Bewegungsausmaßes der Gelenke (▶ s. Umschlagseite) – Muskelfunktionstest (▶ 2.5) – Vorlauf im Stand/Sitz – Schober/Ott (▶ 2.6) • Lagereaktionen (▶ 2.8.2) • Reflexe (▶ 2.8.1) 17_Koch.indb 7_Koch.indb 252 7/10/2018 1:13:43 PM
5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder 253 Klinischer Hinweis Lagereaktionen: Es sind Abweichungen von den normalen Reaktionen zu erwarten, da aufgrund der Kontrakturen eine physiologische Reaktion nicht möglich ist. Reflexe: Da keine Erkrankung des ZNS vorliegt, sind normale Reflexe zu erwarten. Physiotherapie Ziele Da bei der AMC keine Heilung zu erwarten ist, liegt das Hauptziel in der Erarbei- tung der größtmöglichen Selbstständigkeit der Kinder, sodass eine Teilhabe am alltäglichen Leben möglich ist. Dazu dienen folgende Nahziele: • Erhalt bzw. Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit • Aktivierung, Kräftigung und auch Dehnung der Muskulatur • Erarbeitung von ADLs • Beratung des Kindes/der Familien bei der Hilfsmittelversorgung Merke Ein früher Beginn der Therapie ist wichtig, um das bestmögliche Ergebnis zu erreichen. 5 Maßnahmen • Neurophysiologische Behandlungen: – Vojta (▶ 3.2); Bobath (▶ 3.1) – Bei älteren Kindern nach PNF zur Anbahnung physiologischer Bewe- gungsmuster • Fußtherapie nach Zukunft-Huber (▶ 3.10) • Manuelle Therapie der Extremitäten und der Wirbelsäule (▶ 3.4) • Dehnung verkürzter Muskulatur • Training auf Vibrationsplatten (▶ 3.13) • Gezielte Tapeanlagen mit elastischem Tape (▶ 3.14) • Hilfsmittelversorgung (so viel wie nötig, so wenig wie möglich, ▶ 10.3., ▶ 10.4). • Hippotherapie (▶ 3.12) Expertenwissen Sind deutliche Kontrakturen an den oberen Extremitäten zu erkennen, ist eine unterstützende Ergotherapie sinnvoll. Auf diese Weise kann die Hand- funktion weiter zu streichen verbessert werden. 5.7.2 Osteogenesis imperfecta Die Osteogenesis imperfecta (OI) ist eine angeborene Knochenstoffwechselstö- rung. Sie geht einher mit • Vermehrter Knochenbrüchigkeit • Reduzierter Knochenmasse • Skelettdeformierungen 17_Koch.indb 7_Koch.indb 253 7/10/2018 1:13:43 PM
254 5 Störungsbilder in der Orthopädie Ätiologie Ursächlich ist meist eine genetisch bedingte Veränderung des Kollagen Typ 1. Die meisten verantwortlichen Gene sind bekannt und können nachgewiesen werden. Es kommt zu einem Ungleichgewicht im Knochenumbauprozess, bei dem die Ak- tivität der Osteoklasten die der Osteoblasten übersteigt. Auf diese Weise wird mehr Knochen abgebaut als wiederaufgebaut und der Knochen wird brüchig. Außerdem gibt es Formen, bei denen eine OI unabhängig von der Kollagenbil- dung hervorgerufen wird: Durch gestörte Reifungsprozesse von Osteoklasten und Osteoplasten ist das Zusammenspiel der Umbauprozesse gestört. Auch hier wird der Knochen brüchig. Klinischer Hinweis Das Kollagen „Typ 1“ ist auch Bestandteil von anderen Bindegewebsstruktu- ren wie Gefäßwänden, Sehnen und Bändern, sodass es ebenfalls zu einer Schwäche in diesen Bindegewebsstrukturen kommen kann. Klinik Die klinische Ausprägung ist sehr variabel. Neben sehr milden Formen mit nur wenigen Frakturen im Kindesalter existieren schwere Verläufe, teils mit intraute- rinem Fruchttod. Typisch sind: • Neigung zu Frakturen bei hoher Knochenbrüchigkeit (insbesondere in der Zeit der Aufrichtung) 5 • Knochendeformationen, z. B. – Verkürzung und Deformierung proximaler Extremitätenknochen – Schädelknochen – Rippen (mit der Folge einer eingeschränkten Lungenfunktion) • Häufigkeit der Frakturen nimmt in der Pubertät ab • Hypermobile Gelenke • Neigung zu Luxationen • Hämatomneigung • Blaue Skleren Ärztliche Diagnostik Bei entsprechendem Verdacht wird eine (molekular-)genetische Untersuchung eingeleitet. Bei negativem Befund kann eine Osteogenesis imperfecta jedoch nicht ausgeschlossen werden, sodass die Diagnose klinisch gestellt werden muss. Im Verlauf ist immer wieder Röntgendiagnostik erforderlich, um mögliche Frak- turen und deren Heilungsverlauf beurteilen zu können. Ärztliche Behandlung Schwere Formen der OI (mehrere Frakturen pro Jahr): Die ärztliche Behandlung schwerer Formen besteht aus intravenösen Bisphospho- naten, denn diese binden sich an die Knochenoberfläche und bewirken eine Apo- ptose (Zelltod) der Osteoklasten (knochenabbauenden Zellen): 1. Der übersteigerte Knochenabbauprozess wird auf diese Weise gestoppt. 2. Es kommt zu einer Zunahme der Knochenmasse und -festigkeit, 3. einer Abnahme der Frakturrate, 4. chronische Knochenschmerzen nehmen ab und die 5. Mobilität wird hierdurch verbessert. 17_Koch.indb 7_Koch.indb 254 7/10/2018 1:13:44 PM
5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder 255 Merke Die Therapie ist besonders in der Phase des Wachstums effektiv und weniger in der Pubertät. Da die Erkrankung in der Regel mit der Pubertät zur Ruhe kommt, kann diese Therapieform dann beendet werden. Behandlung einfacher Frakturen: Einfache Frakturen werden konservativ behandelt. Dabei ist die Dauer der Hei- lung nicht länger als beim gesunden Patienten. Merke Auf Muskelatrophie und Abbau der Knochenmasse im Gips muss geachtet werden. Behandlung dislozierter Frakturen: Mittelgradig bis schwer dislozierte Frakturen der Röhrenknochen können mittels Teleskopmarknägeln behandelt werden. Diese spießen durch beide Epiphysenfu- gen und wachsen mit dem Knochen mit. Sie sind einer Behandlung mittels Fixa- teur externe vorzuziehen. Weitere Indikationen für Marknägel sind: • Häufige Frakturen am selben Knochen • Pseudarthrose Physiotherapeutischer Befund • Anamnese (medizinisch, sozial) • Inspektion: 5 – Haltung und Bewegung im globalen Muster entsprechend der Spontan- motorik (▶ 1.1, ▶ 2.4) – Haut (z. B. bläulich) • Palpation: – Haut, pastös – Muskelstruktur • Funktionsuntersuchungen (▶ 2.6): – Längenmessungen der Extremitäten – Wenn nötig Umfangmessungen – Gelenkbeweglichkeit (▶ s. Umschlagseite) – Messung der Muskelkraft (▶ 2.5) – Assessments, z. B. GMFM, Timed up & go-Test (▶ 2.7) Merke Vorsicht mit manipulativen Techniken und Untersuchungsmethoden, denn die Gefahr einer Fraktur ist dabei sehr groß. Physiotherapie Ziele • Vermeidung von weiterem Knochenabbau • Erhalt und Verbesserung der Mobilität • Anbahnung physiologischer Haltungs- und Bewegungsmuster • Zurückhaltende Kräftigung der Muskulatur • Frakturenprophylaxe 17_Koch.indb 7_Koch.indb 255 7/10/2018 1:13:44 PM
9.1 Trisomie 21 373 9.1 Trisomie 21 Die Trisomie 21 (auch Down-Syndrom) ist mit einer Prävalenz von etwa 0,15 % die häufigste numerische Chromosomenabweichung. Sie kennzeichnet sich durch unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome wie einer mentalen Beeinträchti- gung, einem typischen äußeren Erscheinungsbild, einer Muskelhypotonie und Organfehlbildungen. Ätiologie • Bei der freien Trisomie 21 (95 % der Fälle) liegt ein zusätzliches freies Chro- mosom 21 vor. • Bei der Translokationstrisomie 21 (3–4 % der Fälle) ist ein überschüssiges Chro- mosom 21 oder ein Teil davon mit einem anderen Chromosom transloziert. • Bei der Mosaiktrisomie 21 (1–2 % der Fälle) ist eine Zelllinie mit freier Triso- mie gepaart mit einem normalen Chromosomensatz. Klinik In der Klinik zeigen sich craniofaziale Auffälligkeiten (▶ Abb. 9.1): • Bachyzephalus: kurzer Kopf mit abgeflachtem Hinterkopf (bei spätem Be- handlungsbeginn) • Hypertelorismus: verbreiterter Augenabstand • Mongoloide Lidspalte: lateral ansteigende Lidspalten • Epikantus: sichelförmige Augenfalte am inneren Augenrand • Breite Nasenwurzel mit kleiner Nase • Offener Mund mit großer, hervorstehender und gefurchter Zunge (Makro- glossie) • Tiefer Ohransatz mit kleinen, rundlichen Ohren • Kurzer Hals Es zeigen sich außerdem Auffälligkeiten an den Extremitäten: • Kleine Hände und Füße mit kurzen Fingern und Zehen • Sandalenlücke: großer Abstand zw. erstem und zweiten Zeh • 4-Finger-Furche: durchgehende Linie auf der Handinnenfläche Es können Auffälligkeiten der Körper- strukturen auftreten: • Muskuläre Hypotonie • Hypermobile Gelenke (insbesonde- re atlanto-axiales Kopfgelenk, Wir- belsäule, Hüfte, Patella und Sprung- gelenke) • Vorgewölbter Bauch mit Rektusdia- stase auf Grund von Bindegewebs- schwäche und undifferenzierter Bauchmuskulatur • Narben- und Leistenbrüche • Verdauungsproblematiken (wie Obstipation) Auffälligkeiten der inneren Organe: 9 • Herzfehler (> 50 %) • Anomalien des Verdauungstrakts • Erhöhte Infektanfälligkeit • Sehstörungen • Etwa 20-fach erhöhtes Leukämieri- Abb. 9.1 Trisomie 21 – Craniofaziale Auffälligkeiten [O1074] siko 17_Koch.indb 7_Koch.indb 373 7/10/2018 1:13:54 PM
374 9 Genetische Erkrankungen Abweichungen der kindlichen Entwicklungsphysiologie: • Geistige Retardierung (v. a. des abstrakten Denkens) • Verlangsamte motorische Entwicklung • Zentrale Koordinationsstörungen mit Asymmetrien (▶ 6.1) • Minderwuchs Klinischer Hinweis Oft zeigen sich aufgrund der Hypotonie und der großen Zunge Schwierigkei- ten beim Essen und Trinken sowie eine verzögerte Sprachentwicklung. Logo- pädie ist hier hilfreich, um diese Problematiken anzugehen und die Sprach- entwicklung zu fördern. Ärztliche Diagnostik Zu den pränatalen Maßnahmen gehören die Nackentransparenzmessung in der 12. SSW, Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) oder Chorionzottenbiopsie (Plazenta-Punktion) mit Chromosomenanalyse. Postnatal kann die Verdachtsdiagnose durch typisches Erscheinungsbild, Chro- mosomenanalyse bestätigt werden. Ärztliche Behandlung Eine kausale Therapie der Trisomie 21 ist nicht möglich. Organfehlbildungen wie Herzfehler, Darmverschlüsse und Leistenbrüche werden operativ behandelt. In- fektionen (z. B. der Atemwege) können medikamentös behandelt werden. Physiotherapeutischer Befund Auf Grund des stark variierenden Krankheitsbildes muss abhängig vom Alter des Kindes ein individueller physiotherapeutischer Befund angefertigt werden. • Motorischer Entwicklungsstand – Beurteilung der Spontanmotorik (▶2.4) – Validierte Grenzsteine der Entwicklung nach Michaelis und Niemann – Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen (ICF-CY) (▶ 2.10.2): Muskeltonus, Aufrichtungsfähigkeit Rumpf, Stabilisation von Hüfte, Knie und Fuß, Stützfähigkeit obere Extremität, Koordination, Aus- dauer – Lagereaktion nach Vojta (▶ 2.8.2) – Testung der Frühkindlichen Reflexe (▶ 2.8.1) • Kognitiver Entwicklungsstand (Spielentwicklung nach Piaget ▶ 1.5) Physiotherapie Ziele 0–18 Monate (freier Gang): • Physiologische Bewegungsmuster (u. a. Bauchlage, Drehen, Robben, Krab- beln, Sitz, Stand und Positionswechsel, ▶ 1.1) • Tonusaufbau und physiologische Aufrichtung: 9 – Aufrichtung und Stabilisation des Rumpfes, zunächst in horizontalen Po- sitionen (Bauchlage, Vierfüßlerstand), in die Vertikale folgend (Sitz, Stand) – Stützfunktion der oberen und unteren Extremität – Symmetrie des Rumpfes 17_Koch.indb 7_Koch.indb 374 7/10/2018 1:13:54 PM
9.2 Prader-Willi-Syndrom 375 1,5–5 Jahre: • Zielgerichtete Wahrnehmung, Verarbeitung und Integration sensorischer Reize (Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung) • Aufrichtung der Wirbelsäule, des Beckens und der Beinachsen im Stand und Gang • Kontrolle und Koordination komplexer Willkürbewegungen (wie bipedale und monopedale Sprünge, Koordination der Körperhälften und Kreuzen der Mittellinie) • Rotation um die Körperlängsachse • Selbstständigkeit im Alltag (Körperpflege, An- und Auskleiden, Nahrungs- aufnahme) Ab 5 Jahren: • Visuomotorik: Hand-Auge-Koordination zum zielgerichteten Fangen und Werfen, Schreiben, bimanuellen Besteckgebrauch, Schleife binden, Brote schmieren etc. • Vermeidung von Fehlstellungen (wie Skoliosen, Fuß- und Beinfehlstellungen) • Kräftigung und Stabilisation von Rumpf, Hüfte, Knie und Sprunggelenken • Ausdauerfähigkeit Maßnahmen Die aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes sehr vielfältigen Maßnahmen beruhen auf neurophysiologischen Konzepten und werden je nach Zielsetzung ausgewählt: • Unterstützung der motorischen Entwicklung nach Bobath und/oder Vojta (▶ 3.1 und ▶ 3.2) • Anleitung von Handling im Alltag nach Bobath (▶ 3.1) • Orofaziale Stimulation nach Castillo Morales (▶ 3.8) • Psychomotorische Entwicklungsförderung (▶ 3.7) • Sensorische Integrationstherapie (▶ 3.6) • Tiergestützte Therapie und Hippotherapie (▶ 3.11 und ▶ 3.12) Expertenwissen Interdisziplinäre Zusammenarbeit Im Säuglings- und Kleinkindalter sollte die Entwicklung des Spiel- und Sozi- alverhaltens sowie der kognitiven Fähigkeiten von Heilpädagogen unter- stützt werden. Um im Kindergarten- und Schulkindalter gezielte Handlungen zu trainieren und kognitive Fähigkeiten zu stärken, kommt die Ergotherapie zum Einsatz. Eine frühzeitige und komplexe Unterstützung hilft dem Kind, seine Potenzi- ale nutzen und später ein möglichst selbstständiges Leben führen zu können. Dabei sollten die Therapien aufeinander aufbauen und maximal 2 Therapie- formen gleichzeitig stattfinden. 9.2 Prader-Willi-Syndrom 9 Das Prader-Willi-Syndrom ist mit einer Prävalenz von etwa 1:20.000 eine seltene genetische Erkrankung. Sie ist durch eine ausgeprägte Muskelhypotonie, eine Ess- störung (die zur Adipositas führen kann), einer mentalen Retardierung und einer Unterentwicklung der Geschlechtsorgane gekennzeichnet. 17_Koch.indb 7_Koch.indb 375 7/10/2018 1:13:54 PM
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