Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie - Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.) - Elsevier

 
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Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie - Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.) - Elsevier
Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.)

Leitfaden
Physiotherapie
in der Pädiatrie
Leitfaden Physiotherapie in der Pädiatrie - Ute Hammerschmidt Janine Koch (Hrsg.) - Elsevier
12 1     Entwicklungsphysiologie des Kindes

           1

                  Abb. 1.13 Sichere Seitenlage [G705]

                  1.1.3 10. bis 18. Lebensmonat
                  Bei einer idealen motorischen Entwicklung sieht man die verschiedenen hier be-
                  schriebenen Haltungs- und Bewegungsmuster binnen weniger Wochen. Die Rei-
                  henfolge kann dabei variieren.
                  Reifes Krabbeln – mit 10 Lebensmonaten
                  Zu Beginn des Krabbelns mit ca. 8 Le-
                  bensmonaten kann es sein, dass das
                  Kind noch ein unreifes Krabbeln zeigt.
                  Das Becken ist noch nach ventral ge-
                  kippt, die Wirbelsäule in ihren Ab-
                  schnitten nicht physiologisch extendiert
                  und es ist eine assoziierte Dorsalextensi-
                  on der oberen Sprunggelenke bei der
                  Flexionsbewegung der Beine zu beob-
                  achten.
                  Merkmale des reifen Krabbelns
                  (▶ Abb. 1.14):
                  • Kreuzkoordinierte Fortbewegung
                  • Leichte Außenrotation in den             Abb. 1.14 Reifes Krabbeln [P236]
                     Schlüsselgelenken der Extremitäten
                  • Wirbelsäule um die Körperlängs-
                     achse gestreckt gehalten
                  • Füße in Plantarflexion
                  Zangengriff
                  Im 9. Lebensmonat steht dem Säugling
                  der Zangengriff zur Verfügung. Das
                  Kind greift nun mit den Fingerspitzen
                  von Zeigefinger und Daumen nach sehr
                  kleinen Gegenständen. Die Endphalan-
                  gen sind dabei gebeugt. Der Daumen ist
                  in Opposition (▶ Abb. 1.15).

                                                             Abb. 1.15 Zangengriff mit 10 Lebensmo-
                                                             naten [G705]

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1.1 Ideale motorische Entwicklung 13

                  Langsitz – mit 9–10 Lebensmonaten
                  Aus dem Bestreben heraus, sich nach
                  oben zu orientieren, kommt das Kind in
                  den Langsitz.
                                                                                                        1
                  Zu den Merkmalen des Langsitz gehö-
                  ren (▶ Abb. 1.16):
                  • Stützpunkte sind die Tubera ossis
                     Ischii
                  • Die Hände sind frei zum Spielen
                     und Untersuchen von Gegenstän-
                     den
                  • Wirbelsäule wird um die Körper-
                     längsachse gestreckt gehalten
                  Die kleine Stützfläche in dieser Aus-
                  gangsstellung verlangt dem Kind eine
                  andere Haltungssteuerung gegen die
                  Schwerkraft ab. Den sicheren Langsitz
                  kann das Kind durch fließende Bewe-
                  gungen über den Seitsitz einnehmen
                  und auch wieder auflösen.
                                                           Abb. 1.16 Langsitz [P236]

                     Merke
                     Ein frühzeitiges Hinsetzen des Kindes, ohne dass das Kind diese Position
                     eigenständig einnehmen kann, führt zu einer Überbelastung der Wirbelsäu-
                     le und kann zu Haltungsmängeln führen.

                  Entwicklung in die Vertikale – mit 10 Lebensmonaten
                  Zu Beginn zieht sich das Kind über die Arme hoch, die nun mehr als 135° Flexion
                  angehoben werden können, und kommt dann über einen kurzfristigen Kniestand in
                  den Stand. Später erst geschieht das Auf-
                  stehen über die Füße (▶ Abb. 1.17).
                  Zu Beginn dieser Entwicklung zeigen
                  sich folgende Merkmale:
                  • Das Kind orientiert sich zu einer
                      Seite (Gesichtsseite)
                  • Der Arm dieser Seite greift nach
                      vorne/oben
                  • Gleichzeitig wird der kontralaterale
                      Fuß auf Höhe des gesichtsseitigen
                      Knies aufgestellt
                  • Kreuzkoordiniertes Muster, was in
                      den Raum nach oben transportiert
                      wird                                  Abb. 1.17 Aufstehen aus dem Fortbewe-
                                                           gungsmuster des Krabbelns [P236]

                     Merke
                     Bei vorangegangenen Asymmetrien ist das Aufstehen häufig nur über eine
                     Seite zu beobachten. Dies ist dann als abnorm zu bewerten und sollte weiter
                     untersucht werden.

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 7_Koch.indb 13                                                                                    7/10/2018 1:13:19 PM
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14 1     Entwicklungsphysiologie des Kindes

                  Seitliches Gehen – mit 10–11 Lebensmonaten
                  Das seitliche Gehen ist ein kreuzkoordiniertes Fortbewegungsmuster.
                  Wir sehen immer wieder eine trianguläre Stützfläche zwischen den Extremitäten.
           1      Die Fortbewegung ist zu beiden Seiten möglich und wird über die Arme eingelei-
                  tet. (▶ Abb. 1.18)

                     Merke
                     Die Füße sollten beim Seitlichen Gehen nach vorne schauen. Dreht der Kör-
                     per bei der Fortbewegung konstant zu einer Seite auf, ist dies als abnorm zu
                     bewerten und sollte genauer untersucht werden.

                  Aufdrehen in den Raum mit 11 Lebensmonaten
                  Das Kind braucht nun nur eine Hand zum Halten, sodass es sich mit dem Körper
                  in den Raum aufdrehen kann (▶ Abb. 1.19). Dies sollte über beide Seiten gleicher-
                  maßen möglich sein.
                  „Küstenschifffahrt“ mit 10–12 Lebensmonaten
                  Das Kind kann nun bei dem seitlichen Gehen von einem Gegenstand zum ande-
                  ren übergreifen (▶ Abb. 1.20).

                  Abb. 1.18 Seitliches Gehen [P236]         Abb. 1.19 Aufdrehen in den Raum [P236]

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 7_Koch.indb 14                                                                                     7/10/2018 1:13:19 PM
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1.1 Ideale motorische Entwicklung 15

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                  Abb. 1.20 Küstenschiffahrt [G705]

                  Freies Gehen mit 12–18 Lebensmo-
                  naten
                  Bei den ersten freien Gehschritten wird
                  sich das Kind in die Arme der Eltern
                  retten. Häufig ist zu Beginn ein Anhal-
                  ten und auch Richtungswechsel nicht
                  möglich.
                  Erst nach einiger Zeit ist es möglich zu
                  stoppen oder die Richtung zu wechseln.
                  Nun spricht man vom freien Gehen
                  (▶ Abb. 1.21).
                  Tipps zum ersten Schuhkauf ▶ 5.4.

                     Klinischer Hinweis
                     •   Eine Ventralkippung des Be-
                         ckens ist bis zum 3. Lebens-
                         jahr ein physiologischer Aus-
                         druck des freien Gehens.
                     •   Ein Knick-Senkfuß kann bei
                         einem gesunden Kind bis zum
                         3. Lebensjahr als physiolo-
                         gisch bewertet werden.
                     •   Das Armpendel entsteht erst
                         Monate nach Beginn des frei-
                         en Gehens.                          Abb. 1.21 Freie bipedale Fortbewegung
                                                             (die ersten Schritte) [P236]

                  1.1.4 Älter als 18 Lebensmonate
                  Der Grundstein der motorischen Entwicklung ist gelegt. Das Kind nutzt und fes-
                  tigt seine motorischen Fähigkeiten, um seine Neugier an der Umgebung zu stillen.
                  3. Lebensjahr
                  Bei der bipedalen Fortbewegung ist bei dem Kind nun ein Quer- und Längsgewöl-
                  be des Fußes zu erkennen. Das Becken steht beim freien Gehen in einer Mittelstel-

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 7_Koch.indb 15                                                                                      7/10/2018 1:13:19 PM
16 1      Entwicklungsphysiologie des Kindes

                  lung. Mit 3 Jahren kann das Kind auf einer Seite länger als 3 Sekunden auf einem
                  Bein stehen und kleine Sprünge machen.
                  Am Ende des dritten Lebensjahres ist eine erste Fangbereitschaft eines Balles mit
           1      beiden Händen zu erkennen.
                  4. Lebensjahr
                  Mit 4 Jahren kann das Kind auf beiden Seiten länger als 3 Sekunden auf einem
                  Bein stehen und mit geschlossenen Beinen springen. Das Kind kann nun die
                  Treppe frei reziprok rauf- und runtergehen.
                  Literatur
                  Ebelt-Paprotny G, Preis R. Leitfaden Physiotherapie. 6. A. München: Elsevier/Urban u.
                      Fischer, 2012.
                  Illing S, Claßen M. Klinik Leitfaden Pädiatrie. 9. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer,
                      2013.
                  Kienzle-Müller B, Wilke-Kaltenbach G. Babys in Bewegung. 1. A. München: Elsevier/
                      Urban u. Fischer, 2008.
                  Orth H. Das Kind in der Vojta-Therapie. 3. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer,
                      2017.
                  Vojta V. Die zerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter. 9. A. Internationale
                      Vojta Gesellschaft e. V., 2017.
                  Vojta V, Schweitzer E. Die Entdeckung der idealen Motorik. 1. A. München: Pflaum,
                      2009.
                  Zukunft-Huber B. Der kleine Fuß ganz groß. 2. A. München: Elsevier/Urban u. Fischer,
                      2011.

                  1.2 Psychomotorische Entwicklung
                  Stephanie Burgenger
                  Die Psychomotorik befasst sich mit der Verbindung von körperlich-motorischen
                  und psychisch-geistigen Prozessen. Das Zusammenspiel von Bewegung und
                  Wahrnehmung beeinflusst sowohl die motorische als auch die sozial-emotionale
                  Entwicklung.

                  Entwicklungsverlauf von psychomotorischen Fähigkeiten
                  •   Neuromotorik (bis 3. LM): Frühkindliche Reaktionen stehen im Vorder-
                      grund (▶ 1.1.1)
                  • Sensomotorik (ab dem 3. LM): Verbindung von Wahrnehmung und Bewe-
                      gung, koordinative Fähigkeiten entwickeln sich (erste koordinative Fähigkei-
                      ten sind: Hand-Hand-Koordination, Hand-Mund Koordination, Hand-Knie-
                      Koordination, Hand-Fuß-Koordination ▶ 1.1.1)
                  • Psychomotorik (intensiv im 2. und 3. LJ):
                      – Verbindung von Bewegung und Psyche – Gefühle werden stark motorisch
                          ausgedrückt (z. B. Wutausbrüche mit auf den Boden werfen)
                      – Entwicklung der Ich-Kompetenz steht im Vordergrund ൺ Abgrenzung
                          von anderen Personen
                  • Soziomotorik (ab dem 3. LJ – bis zum Schulalter): Ein angepasstes und an-
                      gemessenes Verhalten gegenüber anderen Personen/in Gruppen entwickelt
                      sich zur Sozialkompetenz.
                  Bewegung ist die Voraussetzung für eine ganzheitliche Entwicklung. Durch die
                  Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt kann diese erst begriffen und wei-
                  tere Kompetenzen erworben werden (▶ Tab. 1.1).

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 7_Koch.indb 16                                                                                          7/10/2018 1:13:20 PM
1.2 Psychomotorische Entwicklung 17

                  Tab. 1.1 Entwicklung aufgrund von Bewegungserfahrungen
                  Entwicklungs-   Fähigkeiten
                  bereich                                                                                         1
                  Sensorische     • Orientierung zur Zeit, zum Raum und an Personen
                  Entwicklung     • Informationsaufnahme und -verarbeitung von sensorischen Rei-
                                    zen (auditiv, visuell, olfaktorisch, gustatorisch, taktil, vestibulär,
                                    propriozeptiv, räumlich-visuell)
                                  • Körperschema
                  Körperliche     • Entwicklung von Muskulatur, Kraft, Ausdauer, Koordination,
                  Entwicklung         Schnelligkeit und Beweglichkeit

                  Motorische      • Körperorganisation
                  Entwicklung     • Handlungs- und Bewegungsplanung
                                  • Koordinative Fähigkeiten
                  Kognitive       • Aufmerksamkeit fokussieren und lenken
                  Entwicklung     • Abstraktionsvermögen
                                  • Kognitive Flexibilität (ändern von Strategien und Denkansätzen,
                                      Problemlösestrategien)
                                  • Sprachliche und mathematische Kompetenzen
                                  • Einfache und Mehrfachaufgaben übernehmen und bearbeiten
                                  • Merkfähigkeit
                  Emotionale      •   Psychische Stabilität (Ausgeglichenheit, Ruhe)
                  Entwicklung     •   Selbstvertrauen
                                  •   Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen
                                  •   Motivation
                                  •   Impulskontrolle
                                  •   Frustrationstoleranz

                  Soziale         • Adaptationsfähigkeit – auf neue Erfahrungen/Situationen ange-
                  Entwicklung         messen agieren bzw. reagieren
                                  •   Eigene Bedürfnisse erkennen, durchsetzen und zurückstellen
                                  •   Verantwortung übernehmen
                                  •   Rücksichtnahme/Toleranz
                                  •   Regelverständnis

                  Das Durchführen von Tätigkeiten beinhaltet verschiedene Funktionen, durch die
                  das Kind sich in unterschiedlichen Bereichen weiterentwickeln kann (▶ Tab. 1.2).
                  Dabei können sich in ein und derselben Handlung mehrere Funktionen überlap-
                  pen bzw. ergänzen.

                  Tab. 1.2 Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern
                  Personale       Den eigenen Körper und damit sich selbst besser kennenlernen,
                  Funktionen      sich mit den körperlichen Fähigkeiten auseinandersetzen und ein
                                  Bild von sich selbst entwickeln

                  Soziale         Mit anderen gemeinsam etwas tun, mit und gegeneinander spie-
                  Funktionen      len, sich mit anderen absprechen, nachgeben und durchsetzen

                  Produktive      Selbst etwas machen, herstellen, mit dem eigenen Körper etwas
                  Funktionen      hervorbringen (z. B. eine sportliche Fertigkeit wie einen Handstand
                                  oder einen Tanz)

                  Expressive      Gefühle und Empfindungen in Bewegung ausdrücken, körperlich
                  Funktionen      ausleben und ggf. verarbeiten

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 17                                                                                              7/10/2018 1:13:20 PM
18 1     Entwicklungsphysiologie des Kindes

                  Tab. 1.2 Funktionen der Bewegung für die Entwicklung von Kindern (Forts.)
                  Impressive        Gefühle wie Lust, Freude, Erschöpfung sowie Energie empfinden
           1      Funktionen        und in Bewegung erfahren

                  Explorative       Die dingliche und räumliche Umwelt kennenlernen und sich er-
                  Funktionen        schließen, sich mit Objekten und Geräten auseinandersetzen und
                                    ihre Eigenschaften erfassen, sich den Umweltanforderungen an-
                                    passen bzw. sie sich passend machen

                  Komparative       Sich mit anderen vergleichen, sich mit anderen messen, wetteifern
                  Funktionen        und dabei sowohl Siege verarbeiten als auch Niederlagen ertragen
                                    lernen

                  Adaptive          Belastungen ertragen, die körperlichen Grenzen kennenlernen und
                  Funktionen        die Leistungsfähigkeit steigern, sich selbst gesetzten und von au-
                                    ßen gestellten Anforderungen anpassen

                  Literatur
                  Ayres AJ. Bausteine der kindlichen Entwicklung. 4. A. Berlin: Springer; 2002.
                  Zimmer R. Handbuch der Bewegungserziehung. Grundlagen für Ausbildung und päd-
                    agogische Praxis. Freiburg: Herder; 2014.

                  1.3 Feinmotorische Entwicklung
                  Maike Heidtmann
                  Die Entwicklung der feinmotorischen Fähigkeiten beginnt mit dem Tag der Ge-
                  burt und wird in Kapitel ▶ 1.1 zur motorischen Entwicklung gesondert dargestellt.
                  In diesem Kapitel geht es um die fein- und grafomotorische Entwicklung ab dem
                  12. Lebensmonat:
                  • Feinmotorik: motorischen Fähigkeiten eines Kindes bezogen auf seine Fin-
                      ger, Zehen und Gesicht (sehr präzise, kleine Bewegungen, bei denen Kraftdo-
                      sierung eine große Rolle spielt)
                  • Grafomotorik: Stifthaltung und Strichführung (Schreiben und Malen sind
                      komplexe, feinmotorische Tätigkeiten, welche eine differenzierte, manuelle
                      Koordination voraussetzt)

                  12. Monat bis 18. Monat
                  Das Kind versucht, Gegenstände mit den Händen zu untersuchen. In dieser Zeit
                  bilden sich zwei wichtige Vorläuferfertigkeiten zum Schreiben heraus. Das ad-
                  äquate Festhalten und Loslassen.
                  Feinmotorische Entwicklung
                  • Das Kind isst mit dem Löffel im Faustgriff und
                  • Legt das Essen mit den Fingern auf den Löffel.
                  • Zwei Klötzchen können nach Aufforderung und Zeigen aufeinandergesetzt
                     werden.
                  • Gegenstand wird in ein Gefäß gelegt oder herausgeholt.
                  • Kind gibt Gegenstand auf Verlangen aus der Hand („Bitte-Danke“-Spiel).
                  • Komplexere feinmotorische Verrichtungen gelingen (z. B. Auspacken eines
                     Bonbons).

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 7_Koch.indb 18                                                                                      7/10/2018 1:13:20 PM
1.3 Feinmotorische Entwicklung 19

                  Grafomotorische Entwicklung
                  • Kritzeleien entstehen unwillkürlich.
                  • Das Kind beginnt sich für Mal- und Schreibutensilien zu interessieren, wenn        1
                     andere Personen diese zum Malen und Schreiben benutzen (Nachahmungs-
                     verhalten).
                  • Es wird versucht, in verschiedensten Körperpositionen zu malen.
                  • Beim Kritzeln wird das obere Ende des Schreibgeräts umfasst, der Unterarm
                     ist hierbei nicht auf dem Tisch bzw. auf der Unterlage abgelegt.

                  1,5 bis 2 Jahre
                  In dieser Zeit wird beim Spielen eine Hand bevorzugt und die andere Hand zum
                  Halten genutzt.
                  Feinmotorische Entwicklung
                  • Große Perlen können aufgefädelt werden.
                  • Buchseiten können umgeblättert werden.
                  • Aufschrauben von Gefäßen beginnt.
                  • Kind trinkt alleine beidhändig aus einem Becher.
                  Grafomotorische Entwicklung
                  • Stift wird noch zwischen beiden Händen gewechselt, wobei keine Hand unbe-
                     dingt als Haltehand dient.
                  • Die bleibende Linie wird entdeckt.
                  • Striche werden immer wieder neu begonnen, es kommt jedoch noch zu kei-
                     ner gezielten Verbindung.
                  • Kreisende Linien zeigen eine sich weiter entwickelte Motorik.
                  • Schreibbewegungen werden aus Schulter- und Ellenbogengelenk geführt.
                  2 Jahre
                  In dieser Zeit zeigt sich deutlicher, welche Hand die Kinder als Arbeitshand und
                  welche als Haltehand verwenden. Hand und Augen arbeiten für kurze Sequenzen
                  koordiniert zusammen.
                  Feinmotorische Entwicklung
                  • Die ersten Bauten aus Duplo Steinen gelingen nun sicher.
                  • Das Kind kann den Deckel einer Flasche oder einen Wasserhahn auf-und zu-
                     drehen.
                  Grafomotorische Entwicklung
                  • Blattfüllende Spiralen entstehen.
                  • Das Kind versucht, aus Spiralen einen Kreis zu malen.
                  3 Jahre
                  In dieser Zeit beginnt vermehrt der Gebrauch von Papier, Stiften und Kleber.
                  Feinmotorische Entwicklung
                  • Das Kind öffnet und schließt große Knöpfe und Reißverschlüsse,
                  • malt verstärkt im Dreipunktgriff,
                  • schneidet mit der Schere großzügige Formen und
                  • kann mit Papier und Kleber basteln.

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 7_Koch.indb 19                                                                                   7/10/2018 1:13:20 PM
242 5      Störungsbilder in der Orthopädie

                   5.6 Craniomandibuläres System
                   Heidi Orth, Corinna E. Zimmermann
                   Zum craniomandibulären System gehören:
                   Im engeren Sinne
                   • Oberkiefer (OK/Maxilla)
                   • Unterkiefer (UK/Mandibula)
                   • Zähne
                   • Zunge
                   • Kiefergelenke (KG) mit Gelenkkapsel und Bändern
                   • die sie bewegenden Muskeln
                   Im weiteren Sinne
                   • Wechselbeziehungen zu Wirbelsäule (WS) und ZNS

                      Merke
                      Maxilla, Mandibula und Kiefergelenk bilden eine Funktionseinheit mit dem
                      Cranium. Deshalb wird diese Funktion als Craniomandibuläre Funktion,
                      ihre Störung als Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) bezeichnet.

                   5.6.1 Postnatale Gebissentwicklung in drei Phasen
                   Milchgebissphase (Geburt bis 2,5. Lebensjahr, LJ)
           5       • Durchbruch der Milchzähne, danach Ruhephase, lediglich Attrition (Zahnab-
                      rieb), Lückenbildung
                   • Bisshebung im 14.–18. Lebensmonat (LM) (Vergrößerung des Abstands OK/
                      UK)
                   Frühe Wechselgebissphase (5.–8. LJ)
                   • Durchbruch der Inzisivi und 1. Molaren (6-Jahr-Molaren)
                   • Bisshebung
                   • Wechsel vom Kleinkind zum Kind, danach Ruhephase
                   Späte Wechselgebissphase (10.–13. LJ)
                   • Wechsel der Stützzone (Seitenzahnbereich)
                   • Durchbruch der 2. Molaren (12-Jahr-Molaren)
                   • Bisshebung
                   • Wechsel vom Kind zum Jugendlichen
                   • Durchbruch der Weisheitszähne erst nach dem 16. Lebensjahr
                   Die Okklusion (Schlussbiss mit maximalem Zahnkontakt) verändert sich in die-
                   sen drei Phasen (▶ Abb. 5.16). Danach erfolgt eine selbstregulierende Feineinstel-
                   lung der Okklusion im bleibenden Gebiss:
                   • Der Aufbau der Okklusion vollzieht sich zwischen dem 10. und 15. LJ. Dabei
                      sind Abweichungen von bis zu 3 Jahren möglich. In dieser Zeit steigt die Inzi-
                      denz craniomandibulärer Funktionsstörungen.
                   • Die Entwicklung der Kieferform und der Zahnstellung hängt wesentlich von
                      gesunden Milchzähnen, der Zungenlage und ihrer Funktion sowie dem
                      Schluckvorgang ab.
                   • Eine normale Okklusion kann sich bei gestörter Funktion nicht einstellen.
                      Okklusale Störungen sind oft Folge, nicht Ursache einer CMD.

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 7_Koch.indb 242                                                                                   7/10/2018 1:13:42 PM
5.6 Craniomandibuläres System 243

                      .LQG                                                         6FKQHLGH]¦KQH
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                                                        :HLVKHLWV]DKQ                                      5
                   Abb. 5.16 Milchgebiss und Erwachsenengebiss, jeweils mit Durchbruchzeitpunkt der
                   einzelnen Zähne [L190]

                   5.6.2 Funktionelle Anatomie von Kiefergelenk und
                   Kaumuskulatur
                   Die Kenntnis der funktionellen Anatomie des Kiefergelenks und der relevanten
                   (Kau-) Muskulatur ist für das Verständnis einer CMD essenziell.
                   Kiefergelenk
                   Die Kiefergelenke (KG) sind über die Mandibula miteinander verbunden und be-
                   wegen sich in Abhängigkeit voneinander. Sie verbinden die (bewegliche) Mandi-
                   bula mit dem Cranium. Da sie in direkter Wechselbeziehung mit den Funktionen
                   des cranio-zervikalen Übergangs von C0, C1 und C2 (den sog. „Kopfgelenken“)
                   stehen, können die KG funktionell als „oberstes Kopfgelenk“ angesehen werden.
                   Aufbau
                   • Gelenkpfanne (Fossa glenoidalis) mit Tuberculum articulare des Os tempora-
                       le
                   • Gelenkkopf/Kondylus (Caput mandibulae des Processus condylaris)
                   • Diskus (Discus articularis) gleicht die inkongruenten Kontaktflächen aus und
                       teilt das Gelenk in ein oberes und unteres Kompartiment. Er ist mit Bändern
                       mit der Gelenkkapsel verbunden:
                       – Posteriores Band (bilaminäre Zone, reich an Gefäßen/Nervenendigungen)
                       – Anteriores Band (verbunden mit Gelenkkapsel und M. pterygoideus late-
                            ralis)

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 7_Koch.indb 243                                                                                      7/10/2018 1:13:42 PM
244 5           Störungsbilder in der Orthopädie

                   •   Gelenkkapsel aus elastischen Fasern umfasst locker und weit das Gelenk und
                       wird durch die Bindegewebszüge des Ligamentum mediale und laterale ver-
                       stärkt
                   •   Weitere Bänder: Ligg. stylomandibulare und sphenomandibulare
                   Funktion
                   Bei Mundöffnung, Protrusion, Laterotrusion finden folgende Bewegungen statt
                   (▶ Abb. 5.17):
                   • Rotation um eine Transversalachse im unteren Kompartiment zwischen Dis-
                      kus und Kondylus und
                   • Translation in der Sagittalen im oberen Kompartiment zwischen Fossa/Tu-
                      berculum und Diskus

                           Merke
                           Eine Bewegung in einem KG geht immer mit einer Bewegung des kontra-
                           lateralen Gelenks einher.

                       a
           5

                       b

                       c

                   Abb. 5.17 Bewegungsablauf im Kiefergelenk (KG): schematische Darstellung des rech-
                   ten KG bei Mundöffnung (von links nach rechts) und Mundschließen (von rechts nach
                   links)
                   a) Normaler Bewegungsablauf im KG
                   b) Bewegungsablauf bei anteriorer Diskusverlagerung mit Reposition des Kondylus
                   c) Bewegungsablauf bei anteriorer Diskusverlagerung ohne Reposition des Kondy-
                   lus und Blockade der Translationsbewegung [P487/L231]

                   Beim Kauen (Mastikation) findet eine komplexe rhythmische dreidimensionale
                   Bewegung in beiden Kiefergelenken statt. Die Auf- und Ab-Bewegung wird dabei
                   mit einer Seitwärtsbewegung kombiniert.
                   Der Kauakt dient dabei der
                   • Zerkleinerung von fester Nahrung,
                   • Bildung eines schluckbaren Bissens (Bolus) und der
                   • Durchmischung des entstehenden Speisebreis mit Speichel als Vorbereitung
                      der Verdauung.

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 244                                                                                   7/10/2018 1:13:43 PM
5.6 Craniomandibuläres System 245

                      Merke
                      Jede Bewegung der Mandibula wird über die Kopf-/Halsmuskulatur stabili-
                      siert. Störungen der Kopf- und Körperhaltung beeinflussen regelmäßig die
                      Kaumuskulatur.

                   Kaumuskulatur
                   Die folgende Tabelle zeigt die Funktion der Kaumuskulatur für die Unterkieferbe-
                   wegungen (▶ Tab. 5.11):

                   Tab. 5.11 Funktion der Kaumuskulatur
                   Muskel                                Mund-     Mund-   Pro-      Re-       Latero-
                                                         schluss   öffnung trusion   trusion   trusion

                   M. masseter pars superficialis         X                   X                 X

                   M. masseter pars profunda             X

                   M. temporalis anterior                X

                   M. temporalis medialis et posterior   X                           X

                   M. pterygoideus medialis              X                                     X

                   M. pterygoideus lateralis                       X         X                 X

                   M. digastricus                                  X                 X         X
                                                                                                              5
                   Infrahyoidale Muskulatur                        X                 X

                   5.6.3 Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD)
                   Eine CMD ist eine Funktionsstörung von Kaumuskulatur, Kiefergelenk und/oder
                   Okklusion und den dazugehörigen Strukturen im Mund-, Kopf- und Halsbereich.
                   Klinik
                   Schmerzen:
                   • Kaumuskel-/Kiefergelenkschmerz
                   • Parafunktioneller Zahnschmerz
                   • Übertragener Gesichtsschmerz in Schläfe, Auge, Ohr, Wange, Zähnen
                   Funktionsstörungen:
                   • Schmerzhafte oder nicht schmerzhafte Bewegungseinschränkungen (asym-
                       metrische oder eingeschränkte Mundöffnung, MÖ)
                   • Hypermobilität oder Koordinationsstörung im KG
                   Geräusche bei Funktion:
                   • Knacken/Knirschen im KG
                   Vorkontakte und Gleithindernisse der Zähne bei:
                   • Okklusion
                   • Artikulation
                   Missempfindungen:
                   • Taubheitsgefühl
                   • Brennen der Mundschleimhaut/Zunge
                   • Globusgefühl im Hals
                   • Engegefühl beim Atmen

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 245                                                                                         7/10/2018 1:13:43 PM
246 5       Störungsbilder in der Orthopädie

                   •   Schluckbeschwerden
                   •   Tinnitus
                   •   Schwindel

                       Klinischer Hinweis
                       Das Vorliegen einer CMD ist wahrscheinlich, wenn mindestens zwei der fol-
                       genden Symptome vorliegen:
                       • Schmerzen der Kaumuskulatur
                       • Limitationen bei der Mundöffnung
                       • Kiefergelenkgeräusche
                       • Störungen der Okklusion
                       Bei Kindern und Jugendlichen sind CMD-bedingte Schmerzen der Kaumus-
                       kulatur im Vergleich zum Erwachsenen eher selten. Sie treten meist tempo-
                       rär auf und sind physiotherapeutisch gut behandelbar.

                   Epidemiologie
                   Mindestens 5 % der Kinder und Jugendlichen haben unerkannte Kiefergelenkprob-
                   leme. Die Prävalenz von CMD bei Kindern nimmt kontinuierlich vom Kleinkind
                   zum Jugendlichen zu, v. a. ab dem10. LJ (von 10 % im 10. LJ auf 30 % im 15. LJ), pa-
                   rallel zur Gebissentwicklung. Aus präventiver Sicht gilt es, möglichst frühzeitig ätio-
                   logische Faktoren einer CMD zu erkennen, da unerkannte Funktionsstörungen im
                   (frühen) Kindesalter ein Risiko für eine CMD beim Erwachsenen darstellen können.

           5       Ätiologie
                   Eine CMD ist stets multifaktoriell (anatomisch, funktionell, bio-psycho-sozial)
                   bedingt. Mögliche Ursachen sind:
                   Arthrogen:
                   • Fehlbildungen
                   • Entzündungen
                   • Verlagerungen des Kondylus
                   • Diskopathie
                   • Degenerative Veränderungen
                   • Systemische Erkrankungen
                   Myogen:
                   • Dysfunktion von Kau- und Kauhilfsmuskulatur
                   • Erhöhter Tonus
                   Okklusal:
                   • Störungen der Okklusion
                   • Parafunktionen (Sammelbegriff für einen nicht natürlichen Gebrauch des
                      Kauorgans)
                   Vertebragen:
                   • Fehlhaltungen/Fehlfunktionen, v. a. der HWS
                   • Cranio-zervikale Dysfunktion
                   • Cranio-sakrale Dysfunktion
                   Psychogen:
                   • Emotionaler Stress (z. B. hohe Ansprüche an sich, Selbstständigkeitskonflikt,
                      mangelndes Selbstwertgefühl, Missbrauch)
                   • Frühere Schmerzerfahrungen
                   • Depression
                   • Posttraumatische Belastungsstörung

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 246                                                                                        7/10/2018 1:13:43 PM
5.6 Craniomandibuläres System 247

                   Weitere potenzielle Faktoren:
                   • Symmetriestörungen (genetisch bedingt oder erworben)
                   • Fehlbildungen (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kiefergelenkankylose)
                   • Syndrome (z. B. Down [▶ 9.1], Pierre-Robin, Marfan [▶ 9.6])
                   • Zentrale Koordinationsstörungen mit und ohne Asymmetrie (▶ 6.1)
                   • Infantile Zerebralparesen (z. B. Spastik, Dyskinesie [▶ 6.1])
                   • Habits (z. B. Wangen-/Lippensaugen, Zungenpressen)
                   • Durchbruch der Weisheitszähne

                      Klinischer Hinweis
                      Den häufigsten Funktionsstörungen des Kiefergelenks liegt eine gestörte
                      Vorschubbewegung des Komplexes Fossa/Tuberculum-Diskus-Kondylus
                      zugrunde. Hier besteht die Gefahr der
                      • Kondylusluxation bei MÖ durch Hypermobilität des Kondylus (Kondy-
                         lushypermobilität) und der
                      • Diskusluxation (gestörte Ruhelage des Diskus) mit/ohne Reposition des
                         Kondylus bei MÖ.

                      Expertenwissen
                      Vor einer kieferorthopädischen Behandlung (KFO) sollte eine CMD ausge-
                      schlossen werden, denn eine latente CMD kann sich im Rahmen einer KFO
                      verschlechtern. Die KFO ist jedoch nicht die Ursache der Störung.
                                                                                                     5
                   Ärztliche Diagnostik
                   Siehe auch unten: Physiotherapeutischer Befund
                   Dentale Befunde:
                   • Massive, nicht alterstypische Abrasionen (Schlifffacetten)
                   • Veränderter Okklusionsschall
                   • Verlust der Eckzahnführung
                   • Okklusionshindernisse bei Laterotrusion
                   • Vorkontakte, Balancekontakte
                   • Anterior oder seitlich offener Biss
                   • Einseitiger Kreuzbiss
                   Bildgebende Diagnostik (Röntgen, MRT) indiziert bei:
                   • Fehlbildungen
                   • Verlagerungen des Kondylus
                   • Diskopathie
                   • Degenerativen Veränderungen
                   • Tumoren
                   Differenzialdiagnosen:
                   • Neuralgien
                   • Entzündungen innerhalb/außerhalb des Kausystems
                   • Kopfschmerzen anderer Genese:
                      – Vaskuläre Erkrankungen (inkl. Migräne ([▶ 6.5])
                      – Medikamenteninduzierter Kopfschmerz
                      – Spannungskopfschmerz
                      – Nicht korrigierte Refraktionsanomalien (Fehlsichtigkeit)

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 247                                                                                7/10/2018 1:13:43 PM
248 5       Störungsbilder in der Orthopädie

                   5.6.4 Arthrogene Befunde einer CMD
                   Retralverlagerung des Kondylus
                   •  Die Retralverlagerung des Kondylus ist die häufigste funktionelle KG-Störung
                      bei Kindern und Jugendlichen.
                   • Sie führt zu einer höheren Belastung der bilaminären Zone mit Ausdünnung
                      des posterioren Bandapparates und kann eine anteromediale Diskusverlage-
                      rung (DV) ▶ Abb. 5.17 zur Folge haben.
                   Befunde:
                   • Intraartikuläre Druckempfindlichkeit
                   • Initiales Knacken in einem/beiden KG
                   • Limitation der UK-Bewegung, Deflexion, Deviation
                   • Hohe Aktivität der UK-Retraktoren (M. digastricus, M. temporalis pars pos-
                      terior, suprahyoidale Muskulatur)
                   • Tiefer Biss (reflektorische Retrallage des Kondylus)
                   • Vorkontakte im Frontzahnbereich
                   • Typischerweise gleitet der UK beim Sprechen nach ventral
                   Ärztliche Behandlung
                   • Bei Retralverlagerung mit anteromedialer DV ohne Reposition: umgekehrter
                      Hippokrates-Griff
                   • Bei Retralverlagerung mit anteromedialer DV mit Reposition: Positionie-
                      rungsschiene im UK ganztägig über 3–6 Monate, UK dabei leicht ventral der
                      Position des Knackens
           5
                   Posteriore Diskusverlagerung
                   •  Die posteriore Diskusverlagerung liegt meist bei Hypermobilität eines oder
                      beider KG durch starke Belastungen (Kirschen, Pressen) vor.
                   • Der Kondylus befindet sich bei MÖ vor dem Diskus und reponiert in Okklu-
                      sion wieder.
                   Befunde:
                   • Intermediäres bis terminales Knacken
                   • Der Ausschluss einer anteromedialen DV erfolgt durch ein MRT!
                   Ärztliche Behandlung
                   • Bewegungsraum des Kondylus begrenzen
                   • KG entlasten
                   • Äquilibrierungsschiene in zentrischer Kondylenposition
                   Kiefergelenkkompression und Osteoarthrose
                   •  Eine Kiefergelenkkompression mit strukturellen Veränderungen im Sinne ei-
                      ner Osteoarthrose ist auch bei Kindern möglich!
                   Befund: Steifigkeit der KG beim Aufwachen (v. a. nach nächtlichem Knirschen
                   und Pressen)
                   Ärztliche Behandlung
                   • Antirheumatika
                   • Entspannungsübungen
                   • Physiotherapie
                   • Dekompressionsschiene (betroffenes Gelenk 0,3–0,9 mm; gesundes Gelenk
                      0,3–0,6 mm) für 2–6 Wochen 24 Stunden pro Tag, danach nur noch bei ho-
                      her Belastung durch Pressen oder Knirschen

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 248                                                                                7/10/2018 1:13:43 PM
5.6 Craniomandibuläres System 249

                   Bruxismus
                   Bruxismus ist eine vom Hirnstamm initiierte, autonome rhythmische Kaumus-
                   kelaktivität, die zu Knirschen oder Pressen zwischen den Zähnen bzw. zum Pres-
                   sen der Kiefer aufeinander führt. Man unterscheidet:
                   Schlafbruxismus:
                   • In Verbindung mit Schlaf-Arousal-Reaktionen
                   • Zur Sicherung geöffneter Atemwege
                   • Bei Kindern häufig: Prävalenz zwischen 14–18 %
                   Wachbruxismus:
                   • Im Kleinkindalter physiologisch (Feinabstimmung der Okklusion)
                   • Mit Durchbruch der bleibenden Zähne sollten die Knirschgeräusche rückläu-
                       fig sein
                   Ärztliche Behandlung
                   Zum Schutz der Zahnhartsubstanz und zur Entlastung der KG kann im bleiben-
                   den Gebiss eine Aufbissschiene eingesetzt werden.

                      Klinischer Hinweis
                      Bruxismus kann bei Kindern und Jugendlichen ein Zeichen von Stress (An-
                      spannung, Angst, Überforderung) sein. Bei Zerebralparesen ist Bruxismus
                      durch die zentrale Koordinationsstörung bedingt.
                      Ob Bruxismus ein Risikofaktor für die Entstehung einer CMD ist, wird
                      kontrovers diskutiert, es besteht kein linearer Ursache-Wirkungs-Zusam-
                      menhang.
                                                                                                     5
                   Physiotherapeutischer Befund
                   Anamnese:
                   • Allgemeine Erkrankungen, Wirbelsäulenerkrankungen (▶ 5.5)
                   • Trauma (inkl. Operationen), Tinnitus, Schwindel, Schnarchen, Schlaf-/
                      Wachbruxismus
                   • Störung der Sprechmotorik
                   • Fehlbildungen (z. B. Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, Kiefergelenkankylose)
                   • Vorzeitiger Milchzahnverlust, kieferorthopädische Behandlung, bevorzugte
                      Kauseite (einseitig), Zahnelongation
                   • Schmerzen beim Abbeißen, Kauen, Öffnen des Mundes, in der Schläfenregi-
                      on, im Schulter/Nackenbereich, Kopfschmerzen, Halsschmerzen, Schluckbe-
                      schwerden
                   • Informationen aus der frühkindlichen motorischen Entwicklung können zu-
                      sätzliche Hinweise auf „eingeübte“ motorische Fehlfunktionen geben:
                      – Besonderheiten bei der Geburt (z. B. Zange, Saugglocke)
                      – Asymmetrien in der Körper-/Kopfhaltung
                      – Blockierung/Einschränkung der Kopfdrehung (z. B. zu einer Seite)
                      – Auffälligkeiten der Mundmotorik (Nahrungsaufnahme, Lautbildung), ge-
                          störtes Schluckverhalten
                      – Schnuller nach dem 2. LJ
                   Inspektion:
                   • Beurteilung der spontanen Haltung und Bewegung: Stellung von Becken, WS,
                      Schultergürtel und Kopf in der Frontal-/Sagittalebene (▶ 1.1, ▶ 2.4)
                   • Gestörter Kau- und/oder Schluckakt, viszerales Schlucken nach dem 4. LJ,
                      (physiologisch bis zum 3. LJ, ▶ 1.4)
                   • Wangen-, Lippen-, Zungen-Impressionen bei Habits

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 249                                                                                7/10/2018 1:13:43 PM
250 5      Störungsbilder in der Orthopädie

                   Palpation:
                   • Schmerzen und/oder erhöhter Tonus/Triggerpunkte der Kau-, Kauhilfs-,
                      Hals-, Schulter- und Nackenmuskulatur bei Palpation
                   • Passive Endbeweglichkeit des KG („Endgefühl“):
                      – Weich-elastisch (= Muskulatur)
                      – Fest-elastisch (= Bandapparat)
                      – Hart-elastisch (= Knorpel)
                      – Hart-unelastisch (= Knochen)
                   • Kiefergelenkgeräusche (Palpation über Kondylus, Knacken und/oder Reiben):
                      – Bei Diskusverlagerung durch Vor- oder Rückbewegung des Kondylus
                          über das posteriore Band des Diskus entsteht ein „hartes Knacken“
                      – Bei Kollision des gespannten Lig. laterale mit dem lateralen Kondyluspol
                          entsteht ein „weiches“ Knacken
                      – Bei Schädigung bis hin zur Perforation des Diskus durch Knirschen und/
                          oder Pressen entsteht ein „Reiben“, hart-unelastisch (= Knochen)
                   Funktionsüberprüfung:
                   • Eingeschränkte Beweglichkeit der HWS: Flexion, Extension, Rotation, Seit-
                      neigung (aktiv, passiv, resistiv)
                   • Eingeschränkte MÖ (< 33 mm Schneidekantendistanz)
                   • Asymmetrische MÖ (Deviation oder Deflexion > 2 mm gegenüber Vertikalen)
                   • Eingeschränkte Vor- und Seitbewegung des UK
                   Physiotherapie
           5       Ziele
                   Die Ziele müssen dem Alter entsprechend angepasst werden:
                   • Lösen von Weichteilblockaden
                   • Aktivieren des Schluckakts (Koordination) in Wechselfunktion mit dem Sta-
                       bilisieren der Haltung in WS, Schultergürtel, Becken
                   • Muskuläres Gleichgewicht in Körper-Kopf-Haltung/Bewegung herstellen
                       und stabilisieren
                   • Schmerzen reduzieren
                   • Gelenkfunktion koordiniert aktivieren
                   • Strukturelle Veränderungen des KG und der umgebenden Strukturen (wie
                       Muskulatur, Bänder und Faszien) verhindern
                   • Kauen und Schlucken während der Nahrungsaufnahme bewusstmachen und
                       ggf. verändern
                   Maßnahmen
                   Kleinkinder
                   • Osteopathie (▶ 3.4); Manualtherapeutische Techniken (▶ 3.3)
                   • Vojta-Therapie, Stimuli/Widerstand am Kopf (Kausystem als Teilmuster im
                      globalen Muster beachten) (▶ 3.2)
                   Kinder, Jugendliche
                   Vorbereitende physikalische Maßnahmen:
                   • Wärme (z. B. Infrarot, „heiße“ Rolle bei verspannter Muskulatur)
                   • Kälte (z. B. Eiswasserpackung bei Entzündungen, Schwellungen)
                   • Massagetechniken
                   Physiotherapeutische Maßnahmen:
                   • Manualtherapeutische Techniken (▶ 3.3); Osteopathie (▶ 3.4)
                   • Vojtatherapie (Kausystem als Teilmuster des globalen Körpermusters aktivie-
                      ren, Stimuli und Widerstände am Kopf) (▶ 3.2)

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 7_Koch.indb 250                                                                              7/10/2018 1:13:43 PM
5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder 251

                   •   Haltungs- und Bewegungsschulung
                   •   Häusliches Übungsprogramm
                   Literatur
                   Ahlers MO. Jackstat HA. Zahnärztliche klinische Funktionsanalyse. In: Ahlers MO, Jack-
                      stat HA (Hrsg.) Klinische Funktionsanalyse. Hamburg: dentaConcept, 2011. S. 141–
                      291.
                   Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie: Bruxismus: Ätiologie,
                      Diagnostik und Therapie. http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/
                      DGFDT_Wissenschaftliche_Mitteilung_Bruxismus.pdf (letzter Zugriff: 14.1.2018)
                   Friedrich P., Waschke J. Sobotta, Atlas der Anatomie. 24. A. München: Elsevier, 2017.
                   Fernandez de Sena M et al. Prevalence of temporomandibular dysfunction in children
                      and adolescents. Rev Paul Pediatr 2013; 32 (4): 538–45.
                   Freesmeyer WB, Jenatschke F. Beziehungen zwischen kieferorthopädischer Therapie
                      und Kiefergelenk – Vorgehen in der täglichen Praxis. Kieferorthop. 2005; 19 (3):
                      223–230.
                   Kohlbach W. Anatomie der Zähne und des kraniofazialen Systems. 1. A. Berlin:
                      Quintessence, 2007.
                   England M. A. Farbatlas der Embryologie. 1. A. Stuttgart: Schattauer, 1985.
                   Orth H. Das Kind in der Vojta-Therapie. 3. A. München: Elsevier, 2017.

                   5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder
                   Nina Derkum, Ute Hammerschmidt, Janine Koch
                   Die Krankeitsbilder dieses Kapitels wurden nach ihrer klinischen Relevanz ausge-
                   sucht. Sowohl die Arthrogryposis multiplex congenita als auch die Osteogenesis
                   imperfecta verlangen ein interdisziplinäres Behandlungskonzept mit funktionie-            5
                   renden Schnittstellen. Die Alltagsrelevanz kindlicher Frakturen steht außer Frage.

                   5.7.1 Arthrogryposis multiplex congenita
                   Die Arthrogryposis multiplex congenita (AMC) kann in sehr unterschiedlicher
                   Ausprägung auftreten und ist nicht heilbar. Sie verläuft nicht progredient und
                   kommt etwa einmal auf 3.000 Geburten vor. Typisch sind Kontrakturen, die je
                   nach Krankheitstyp an allen Gelenken auftreten können.
                   Ätiologie
                   Die Ursachen sind vielfältig:
                   • Punktmutation am Zinkfinger-Gen
                   • Pränatale Infektionen
                   • Medikamente in der Schwangerschaft
                   • Zentral bedingt/Fehlbildung von Nerven
                   Klinik
                   Die unterschiedlichen Ausprägungsgrade können folgendermaßen klassifiziert
                   werden:
                   • Typ 1: normale geistige und sensorische Entwicklung, keine weiteren Fehlbil-
                       dungen
                       – Typ 1a: betroffen sind vor allem Hände und Füße
                       – Typ 1b: betroffen sind die Extremitäten inkl. Schultern und Hüften
                   • Typ 2: zusätzlich weitere Fehlbildungen an Blase, Kopf, Wirbelsäule, Bauch-
                       decke
                   • Typ 3: zwingend Wirbelsäulenfehlbildungen, Fehlbildungen des ZNS

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 7_Koch.indb 251                                                                                        7/10/2018 1:13:43 PM
252 5       Störungsbilder in der Orthopädie

                   Symptome:
                   • Kontrakturen der Gelenke, häufig der Extremitäten
                   • Skoliose (primär, sekundär durch die Kontrakturen anderer Gelenke [▶ 5.5.4])
                   • Muskelatrophien (▶ 6.3.1)
                   • Motorische Entwicklungsverzögerung
                   Ärztliche Diagnostik
                   Neben der Ursachenforschung (genetische Untersuchung, Untersuchung auf prä-
                   natale Infektionen) steht die Suche nach verdeckten Fehlbildungen im Vorder-
                   grund. Dazu findet die bildgebende Diagnostik des Gehirns statt (zunächst Sono-
                   grafie) und dann ggf. der Wirbelsäule. Mittels weiterer Sonografie wird auf mögli-
                   che Organfehlbildungen hin untersucht.
                   Die radiologische Darstellung der Gelenke ist zunächst nachrangig, da sie oft we-
                   nig aussagekräftig ist. Sie sollte in der Regel erst durch einen erfahrenen Orthopä-
                   den eingeleitet werden, sobald es um die Planung einer operativen Therapie geht
                   (z. B. beim Klumpfuß ▶ 5.4.1).
                   Ärztliche Behandlung
                   Es findet vor allem die konservative Behandlung durch die Verordnung von Phy-
                   siotherapie statt.
                   Bei einigen massiven Fehlstellungen (sowie ggf. bei Erschöpfung der physiothera-
                   peutischen Möglichkeiten) stehen operative Maßnahmen (z. B. Sehnenverlänge-
                   rung mittels Z-Naht) zur Verfügung. Diese kommen jedoch selten zum Einsatz.
                   Ziel ist es, die Gelenkfunktion im globalen Muster im Sinne der Teilhabe zu ver-
                   bessern.
           5
                   Physiotherapeutischer Befund
                   •   Anamnese:
                       – Familienanamnese
                       – Geburt
                       – Medizinische Voruntersuchungen und Ergebnisse
                       – Schmerzen
                   •   Inspektion:
                       – Körperproportionen
                       – Gelenke: Schwellungen, sichtbare Deformitäten, Dysproportionen
                       – Muskelatrophien
                       – Alltagsaktivitäten (z. B. Essen, Schreiben, Treppen steigen, Kämmen)
                   •   Palpation
                       – Haut
                       – Muskulatur
                       – Gelenke
                   •   Spontanmotorik in Haltung und Bewegung (▶ 1.1, ▶ 2.4)
                   •   Längenmessung der Extremitäten (rechts und links, sowie der Acren)
                   •   Bewegungstest
                       – Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit vor allem der Extremitäten
                       – Messung des Bewegungsausmaßes der Gelenke (▶ s. Umschlagseite)
                       – Muskelfunktionstest (▶ 2.5)
                       – Vorlauf im Stand/Sitz
                       – Schober/Ott (▶ 2.6)
                   •   Lagereaktionen (▶ 2.8.2)
                   •   Reflexe (▶ 2.8.1)

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 7_Koch.indb 252                                                                                     7/10/2018 1:13:43 PM
5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder 253

                      Klinischer Hinweis
                      Lagereaktionen: Es sind Abweichungen von den normalen Reaktionen zu
                      erwarten, da aufgrund der Kontrakturen eine physiologische Reaktion nicht
                      möglich ist.
                      Reflexe: Da keine Erkrankung des ZNS vorliegt, sind normale Reflexe zu
                      erwarten.

                   Physiotherapie
                   Ziele
                   Da bei der AMC keine Heilung zu erwarten ist, liegt das Hauptziel in der Erarbei-
                   tung der größtmöglichen Selbstständigkeit der Kinder, sodass eine Teilhabe am
                   alltäglichen Leben möglich ist.
                   Dazu dienen folgende Nahziele:
                   • Erhalt bzw. Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit
                   • Aktivierung, Kräftigung und auch Dehnung der Muskulatur
                   • Erarbeitung von ADLs
                   • Beratung des Kindes/der Familien bei der Hilfsmittelversorgung

                      Merke
                      Ein früher Beginn der Therapie ist wichtig, um das bestmögliche Ergebnis zu
                      erreichen.
                                                                                                          5
                   Maßnahmen
                   • Neurophysiologische Behandlungen:
                     – Vojta (▶ 3.2); Bobath (▶ 3.1)
                     – Bei älteren Kindern nach PNF zur Anbahnung physiologischer Bewe-
                         gungsmuster
                   • Fußtherapie nach Zukunft-Huber (▶ 3.10)
                   • Manuelle Therapie der Extremitäten und der Wirbelsäule (▶ 3.4)
                   • Dehnung verkürzter Muskulatur
                   • Training auf Vibrationsplatten (▶ 3.13)
                   • Gezielte Tapeanlagen mit elastischem Tape (▶ 3.14)
                   • Hilfsmittelversorgung (so viel wie nötig, so wenig wie möglich, ▶ 10.3., ▶ 10.4).
                   • Hippotherapie (▶ 3.12)

                      Expertenwissen
                      Sind deutliche Kontrakturen an den oberen Extremitäten zu erkennen, ist
                      eine unterstützende Ergotherapie sinnvoll. Auf diese Weise kann die Hand-
                      funktion weiter zu streichen verbessert werden.

                   5.7.2 Osteogenesis imperfecta
                   Die Osteogenesis imperfecta (OI) ist eine angeborene Knochenstoffwechselstö-
                   rung. Sie geht einher mit
                   • Vermehrter Knochenbrüchigkeit
                   • Reduzierter Knochenmasse
                   • Skelettdeformierungen

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 253                                                                                     7/10/2018 1:13:43 PM
254 5      Störungsbilder in der Orthopädie

                   Ätiologie
                   Ursächlich ist meist eine genetisch bedingte Veränderung des Kollagen Typ 1. Die
                   meisten verantwortlichen Gene sind bekannt und können nachgewiesen werden.
                   Es kommt zu einem Ungleichgewicht im Knochenumbauprozess, bei dem die Ak-
                   tivität der Osteoklasten die der Osteoblasten übersteigt. Auf diese Weise wird
                   mehr Knochen abgebaut als wiederaufgebaut und der Knochen wird brüchig.
                   Außerdem gibt es Formen, bei denen eine OI unabhängig von der Kollagenbil-
                   dung hervorgerufen wird: Durch gestörte Reifungsprozesse von Osteoklasten und
                   Osteoplasten ist das Zusammenspiel der Umbauprozesse gestört. Auch hier wird
                   der Knochen brüchig.

                      Klinischer Hinweis
                      Das Kollagen „Typ 1“ ist auch Bestandteil von anderen Bindegewebsstruktu-
                      ren wie Gefäßwänden, Sehnen und Bändern, sodass es ebenfalls zu einer
                      Schwäche in diesen Bindegewebsstrukturen kommen kann.

                   Klinik
                   Die klinische Ausprägung ist sehr variabel. Neben sehr milden Formen mit nur
                   wenigen Frakturen im Kindesalter existieren schwere Verläufe, teils mit intraute-
                   rinem Fruchttod.
                   Typisch sind:
                   • Neigung zu Frakturen bei hoher Knochenbrüchigkeit (insbesondere in der
                       Zeit der Aufrichtung)
           5       • Knochendeformationen, z. B.
                       – Verkürzung und Deformierung proximaler Extremitätenknochen
                       – Schädelknochen
                       – Rippen (mit der Folge einer eingeschränkten Lungenfunktion)
                   • Häufigkeit der Frakturen nimmt in der Pubertät ab
                   • Hypermobile Gelenke
                   • Neigung zu Luxationen
                   • Hämatomneigung
                   • Blaue Skleren
                   Ärztliche Diagnostik
                   Bei entsprechendem Verdacht wird eine (molekular-)genetische Untersuchung
                   eingeleitet. Bei negativem Befund kann eine Osteogenesis imperfecta jedoch nicht
                   ausgeschlossen werden, sodass die Diagnose klinisch gestellt werden muss.
                   Im Verlauf ist immer wieder Röntgendiagnostik erforderlich, um mögliche Frak-
                   turen und deren Heilungsverlauf beurteilen zu können.
                   Ärztliche Behandlung
                   Schwere Formen der OI (mehrere Frakturen pro Jahr):
                   Die ärztliche Behandlung schwerer Formen besteht aus intravenösen Bisphospho-
                   naten, denn diese binden sich an die Knochenoberfläche und bewirken eine Apo-
                   ptose (Zelltod) der Osteoklasten (knochenabbauenden Zellen):
                   1. Der übersteigerte Knochenabbauprozess wird auf diese Weise gestoppt.
                   2. Es kommt zu einer Zunahme der Knochenmasse und -festigkeit,
                   3. einer Abnahme der Frakturrate,
                   4. chronische Knochenschmerzen nehmen ab und die
                   5. Mobilität wird hierdurch verbessert.

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 7_Koch.indb 254                                                                                  7/10/2018 1:13:44 PM
5.7 Andere orthopädische Krankheitsbilder 255

                       Merke
                       Die Therapie ist besonders in der Phase des Wachstums effektiv und weniger
                       in der Pubertät. Da die Erkrankung in der Regel mit der Pubertät zur Ruhe
                       kommt, kann diese Therapieform dann beendet werden.

                   Behandlung einfacher Frakturen:
                   Einfache Frakturen werden konservativ behandelt. Dabei ist die Dauer der Hei-
                   lung nicht länger als beim gesunden Patienten.

                       Merke
                       Auf Muskelatrophie und Abbau der Knochenmasse im Gips muss geachtet
                       werden.

                   Behandlung dislozierter Frakturen:
                   Mittelgradig bis schwer dislozierte Frakturen der Röhrenknochen können mittels
                   Teleskopmarknägeln behandelt werden. Diese spießen durch beide Epiphysenfu-
                   gen und wachsen mit dem Knochen mit. Sie sind einer Behandlung mittels Fixa-
                   teur externe vorzuziehen. Weitere Indikationen für Marknägel sind:
                   • Häufige Frakturen am selben Knochen
                   • Pseudarthrose
                   Physiotherapeutischer Befund
                   •   Anamnese (medizinisch, sozial)
                   •   Inspektion:                                                                       5
                       – Haltung und Bewegung im globalen Muster entsprechend der Spontan-
                          motorik (▶ 1.1, ▶ 2.4)
                       – Haut (z. B. bläulich)
                   •   Palpation:
                       – Haut, pastös
                       – Muskelstruktur
                   •   Funktionsuntersuchungen (▶ 2.6):
                       – Längenmessungen der Extremitäten
                       – Wenn nötig Umfangmessungen
                       – Gelenkbeweglichkeit (▶ s. Umschlagseite)
                       – Messung der Muskelkraft (▶ 2.5)
                       – Assessments, z. B. GMFM, Timed up & go-Test (▶ 2.7)

                       Merke
                       Vorsicht mit manipulativen Techniken und Untersuchungsmethoden, denn
                       die Gefahr einer Fraktur ist dabei sehr groß.

                   Physiotherapie
                   Ziele
                   • Vermeidung von weiterem Knochenabbau
                   • Erhalt und Verbesserung der Mobilität
                   • Anbahnung physiologischer Haltungs- und Bewegungsmuster
                   • Zurückhaltende Kräftigung der Muskulatur
                   • Frakturenprophylaxe

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 7_Koch.indb 255                                                                                    7/10/2018 1:13:44 PM
9.1 Trisomie 21 373

                   9.1 Trisomie 21
                   Die Trisomie 21 (auch Down-Syndrom) ist mit einer Prävalenz von etwa 0,15 %
                   die häufigste numerische Chromosomenabweichung. Sie kennzeichnet sich durch
                   unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome wie einer mentalen Beeinträchti-
                   gung, einem typischen äußeren Erscheinungsbild, einer Muskelhypotonie und
                   Organfehlbildungen.
                   Ätiologie
                   • Bei der freien Trisomie 21 (95 % der Fälle) liegt ein zusätzliches freies Chro-
                      mosom 21 vor.
                   • Bei der Translokationstrisomie 21 (3–4 % der Fälle) ist ein überschüssiges Chro-
                      mosom 21 oder ein Teil davon mit einem anderen Chromosom transloziert.
                   • Bei der Mosaiktrisomie 21 (1–2 % der Fälle) ist eine Zelllinie mit freier Triso-
                      mie gepaart mit einem normalen Chromosomensatz.
                   Klinik
                   In der Klinik zeigen sich craniofaziale Auffälligkeiten (▶ Abb. 9.1):
                   • Bachyzephalus: kurzer Kopf mit abgeflachtem Hinterkopf (bei spätem Be-
                       handlungsbeginn)
                   • Hypertelorismus: verbreiterter Augenabstand
                   • Mongoloide Lidspalte: lateral ansteigende Lidspalten
                   • Epikantus: sichelförmige Augenfalte am inneren Augenrand
                   • Breite Nasenwurzel mit kleiner Nase
                   • Offener Mund mit großer, hervorstehender und gefurchter Zunge (Makro-
                       glossie)
                   • Tiefer Ohransatz mit kleinen, rundlichen Ohren
                   • Kurzer Hals
                   Es zeigen sich außerdem Auffälligkeiten an den Extremitäten:
                   • Kleine Hände und Füße mit kurzen Fingern und Zehen
                   • Sandalenlücke: großer Abstand zw. erstem und zweiten Zeh
                   • 4-Finger-Furche: durchgehende Linie auf der Handinnenfläche
                   Es können Auffälligkeiten der Körper-
                   strukturen auftreten:
                   • Muskuläre Hypotonie
                   • Hypermobile Gelenke (insbesonde-
                       re atlanto-axiales Kopfgelenk, Wir-
                       belsäule, Hüfte, Patella und Sprung-
                       gelenke)
                   • Vorgewölbter Bauch mit Rektusdia-
                       stase auf Grund von Bindegewebs-
                       schwäche und undifferenzierter
                       Bauchmuskulatur
                   • Narben- und Leistenbrüche
                   • Verdauungsproblematiken (wie
                       Obstipation)
                   Auffälligkeiten der inneren Organe:                                                       9
                   • Herzfehler (> 50 %)
                   • Anomalien des Verdauungstrakts
                   • Erhöhte Infektanfälligkeit
                   • Sehstörungen
                   • Etwa 20-fach erhöhtes Leukämieri- Abb.        9.1 Trisomie 21 – Craniofaziale
                                                              Auffälligkeiten [O1074]
                       siko

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 7_Koch.indb 373                                                                                        7/10/2018 1:13:54 PM
374 9      Genetische Erkrankungen

                   Abweichungen der kindlichen Entwicklungsphysiologie:
                   • Geistige Retardierung (v. a. des abstrakten Denkens)
                   • Verlangsamte motorische Entwicklung
                   • Zentrale Koordinationsstörungen mit Asymmetrien (▶ 6.1)
                   • Minderwuchs

                      Klinischer Hinweis
                      Oft zeigen sich aufgrund der Hypotonie und der großen Zunge Schwierigkei-
                      ten beim Essen und Trinken sowie eine verzögerte Sprachentwicklung. Logo-
                      pädie ist hier hilfreich, um diese Problematiken anzugehen und die Sprach-
                      entwicklung zu fördern.

                   Ärztliche Diagnostik
                   Zu den pränatalen Maßnahmen gehören die Nackentransparenzmessung in der
                   12. SSW, Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) oder Chorionzottenbiopsie
                   (Plazenta-Punktion) mit Chromosomenanalyse.
                   Postnatal kann die Verdachtsdiagnose durch typisches Erscheinungsbild, Chro-
                   mosomenanalyse bestätigt werden.
                   Ärztliche Behandlung
                   Eine kausale Therapie der Trisomie 21 ist nicht möglich. Organfehlbildungen wie
                   Herzfehler, Darmverschlüsse und Leistenbrüche werden operativ behandelt. In-
                   fektionen (z. B. der Atemwege) können medikamentös behandelt werden.

                   Physiotherapeutischer Befund
                   Auf Grund des stark variierenden Krankheitsbildes muss abhängig vom Alter des
                   Kindes ein individueller physiotherapeutischer Befund angefertigt werden.
                   • Motorischer Entwicklungsstand
                      – Beurteilung der Spontanmotorik (▶2.4)
                      – Validierte Grenzsteine der Entwicklung nach Michaelis und Niemann
                      – Neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen (ICF-CY)
                         (▶ 2.10.2): Muskeltonus, Aufrichtungsfähigkeit Rumpf, Stabilisation von
                         Hüfte, Knie und Fuß, Stützfähigkeit obere Extremität, Koordination, Aus-
                         dauer
                      – Lagereaktion nach Vojta (▶ 2.8.2)
                      – Testung der Frühkindlichen Reflexe (▶ 2.8.1)
                   • Kognitiver Entwicklungsstand (Spielentwicklung nach Piaget ▶ 1.5)
                   Physiotherapie
                   Ziele
                   0–18 Monate (freier Gang):
                   • Physiologische Bewegungsmuster (u. a. Bauchlage, Drehen, Robben, Krab-
                       beln, Sitz, Stand und Positionswechsel, ▶ 1.1)
                   • Tonusaufbau und physiologische Aufrichtung:
           9           – Aufrichtung und Stabilisation des Rumpfes, zunächst in horizontalen Po-
                          sitionen (Bauchlage, Vierfüßlerstand), in die Vertikale folgend (Sitz,
                          Stand)
                       – Stützfunktion der oberen und unteren Extremität
                       – Symmetrie des Rumpfes

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 7_Koch.indb 374                                                                                   7/10/2018 1:13:54 PM
9.2 Prader-Willi-Syndrom 375

                   1,5–5 Jahre:
                   • Zielgerichtete Wahrnehmung, Verarbeitung und Integration sensorischer
                      Reize (Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung)
                   • Aufrichtung der Wirbelsäule, des Beckens und der Beinachsen im Stand und
                      Gang
                   • Kontrolle und Koordination komplexer Willkürbewegungen (wie bipedale
                      und monopedale Sprünge, Koordination der Körperhälften und Kreuzen der
                      Mittellinie)
                   • Rotation um die Körperlängsachse
                   • Selbstständigkeit im Alltag (Körperpflege, An- und Auskleiden, Nahrungs-
                      aufnahme)
                   Ab 5 Jahren:
                   • Visuomotorik: Hand-Auge-Koordination zum zielgerichteten Fangen und
                      Werfen, Schreiben, bimanuellen Besteckgebrauch, Schleife binden, Brote
                      schmieren etc.
                   • Vermeidung von Fehlstellungen (wie Skoliosen, Fuß- und Beinfehlstellungen)
                   • Kräftigung und Stabilisation von Rumpf, Hüfte, Knie und Sprunggelenken
                   • Ausdauerfähigkeit
                   Maßnahmen
                   Die aufgrund der Komplexität des Krankheitsbildes sehr vielfältigen Maßnahmen
                   beruhen auf neurophysiologischen Konzepten und werden je nach Zielsetzung
                   ausgewählt:
                   • Unterstützung der motorischen Entwicklung nach Bobath und/oder Vojta
                      (▶ 3.1 und ▶ 3.2)
                   • Anleitung von Handling im Alltag nach Bobath (▶ 3.1)
                   • Orofaziale Stimulation nach Castillo Morales (▶ 3.8)
                   • Psychomotorische Entwicklungsförderung (▶ 3.7)
                   • Sensorische Integrationstherapie (▶ 3.6)
                   • Tiergestützte Therapie und Hippotherapie (▶ 3.11 und ▶ 3.12)

                      Expertenwissen
                      Interdisziplinäre Zusammenarbeit
                      Im Säuglings- und Kleinkindalter sollte die Entwicklung des Spiel- und Sozi-
                      alverhaltens sowie der kognitiven Fähigkeiten von Heilpädagogen unter-
                      stützt werden.
                      Um im Kindergarten- und Schulkindalter gezielte Handlungen zu trainieren
                      und kognitive Fähigkeiten zu stärken, kommt die Ergotherapie zum Einsatz.
                      Eine frühzeitige und komplexe Unterstützung hilft dem Kind, seine Potenzi-
                      ale nutzen und später ein möglichst selbstständiges Leben führen zu können.
                      Dabei sollten die Therapien aufeinander aufbauen und maximal 2 Therapie-
                      formen gleichzeitig stattfinden.

                   9.2 Prader-Willi-Syndrom                                                               9
                   Das Prader-Willi-Syndrom ist mit einer Prävalenz von etwa 1:20.000 eine seltene
                   genetische Erkrankung. Sie ist durch eine ausgeprägte Muskelhypotonie, eine Ess-
                   störung (die zur Adipositas führen kann), einer mentalen Retardierung und einer
                   Unterentwicklung der Geschlechtsorgane gekennzeichnet.

17_Koch.indb
 7_Koch.indb 375                                                                                     7/10/2018 1:13:54 PM
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