Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg

 
WEITER LESEN
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Toxischer Stress
in der Familie

ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG
In Kooperation mit der Kroschke Kinderstiftung, mamamia e. V.
und dem Competence Center Gesundheit (CCG)

Dokumentationsband vom 3. / 4. September 2020

fizkes / stock.adobe.com                                        1
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Dokumentationsband zur
                                                                                        Fachtagung „Toxischer Stress
                                                                                        in der Familie“

                                                                                        „Stressbewältigung als (Über-)Lebenskompetenz –
                                                                                        welche Auswirkungen hat Stresserleben in der
                                                                                        Schwangerschaft und in der frühen Kindheit für das
                                                                                        System Familie?“

                  Von Silke S. an alle:
                  Ich freue mich auch sehr darüber, dass Kerstin Michaelis moderiert!
                  Das ist großartig. :-)

2 KOLUMNENTITEL                                                                                                                              3
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Vorwort                                                        7     Die Bedeutung sozialer Beziehungen bei der Stressregulierung   28
                                                                      und Dysregulierung
                                                                      Prof. Dr. Megan Gunnar
 Grußworte                                                      11

 Vorträge                                                       12    Seelisch gesund aufwachsen                                     30
                                                                      Prof. Dr. Jörg Maywald

 Traumatische Erfahrungen und deren Folgen im Säuglings- und    14
 Kindesalter – erkennen und geeignet vorsorgen                        Stressbewältigung und Musiktherapie von bindungs-              32
 Dr. Andreas Krüger                                                   traumatisierten Kindern. Ist toxischer Stress hörbar?
                                                                      Prof. Dr. Gitta Strehlow

 Stress im System Familie bei Trennung und Scheidung            18
 Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll                                      Übersicht Dialogforen                                          34

                                                                      Nachwort                                                       38
 Wenn der Körper nicht vergisst: die Auswirkungen frühkindlicher 20
 Stresserfahrungen auf die kindliche Hirnentwicklung
 Prof. Dr. Kerstin Konrad
                                                                      Impressum                                                      41

 Stress und pränatale Programmierung der Gehirnentwicklung      24
 und das damit zusammenhängende Risiko für psychiatrische
 Störungen
 Prof. Dr. Claudia Buß

4 KOLUMNENTITEL                                                                                                                           5
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Vorwort

            LIEBE LESERINNEN,
            LIEBE LESER ,

            seit über 20 Jahren ist es mir eine Herzensangelegenheit, Kinder und
            Jugendliche auf ihrem Weg in ein gelingendes Leben zu unterstützen.
            Unsere Stiftungsprojekte verfolgen das Ziel, Kindern aus belasteten
            Familien faire Startbedingungen und damit Chancengleichheit zu ermögli-
            chen. Kinder brauchen Zeit, Zuwendung und ein schützendes Umfeld.
            Dies ist in stressbehafteten Familien oft nicht ausreichend gegeben.
            Welche Auswirkungen das auf die Kleinsten und selbst auf Ungeborene
            hat, wollten wir gemeinsam mit Expert*innen und Fachkräften auf unserer
            Fachtagung erfahren.
            Die Corona-Pandemie hat es noch einmal verstärkt gezeigt: Stress wirkt
            toxisch. Und so kam unsere Fachtagung zur richtigen Zeit. Das spiegelte
            auch die erfreuliche Zahl von über 200 Teilnehmenden wider, die sich mit
            uns auf das Abenteuer Online-Konferenz einließen. An zwei Tagen hörten
            wir sieben Fachvorträge, die wir hier für Sie nochmals zusammengestellt
            haben. Besonders inspirierend war der Austausch in den Dialogforen, die
            in digitalen Zoom Rooms stattfanden. Die vielen Chats zeigten, wie lebhaft
            und engagiert überall diskutiert und sich ausgetauscht wurde.
            Es freut mich sehr, dass wir durch das Engagement aller Akteur*innen
            diesen neuen digitalen Weg gehen konnten und damit gemeinsam einen
            wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit diesem akuten Thema
            geleistet haben.
            Zusammen mit dem Competence Center Gesundheit und in Kooperation
            mit der Kroschke Kinderstiftung sowie mit mamamia e. V. ist es uns
            gelungen, das fragile Familiensystem ins Sichtfeld zu rücken, um präventiv
            in die Familien zu wirken. Damit Kindern das Leben gelingt!

            Ingrid Ehlerding
            Stifterin und Vorstandsvorsitzende der Ehlerding Stiftung

6 VORWORT                                                                                7
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Die Ehlerding Stiftung fördert seit dem                                  Das Competence Center Gesundheit
  Jahr 2000 Kinder und Jugendliche mit                                     (CCG) bündelt seit mehr als 10 Jahren
  stiftungseigenen Projekten. Aktuell sind                                 gesundheitsbezogene Kompetenzen
  dies die mitKids Aktivpatenschaften, das                                 aus fünf Departments. Das CCG ist
  Erlebnispädagogische Schullandheim                                       eine Kooperation der Fakultäten Life Sciences und
  Barkhausen und das bedarfsorientierte                                    Wirtschaft & Soziales der HAW Hamburg und besteht aus einem Zusam-
  Engagement Impulse mit seinen tem-                                       menschluss von mehr als 30 Professorinnen und Professoren sowie
  porären Projekten, Fachtagungen und                                      zahlreichen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
  Veranstaltungen zum Weiterdenken. In 20 Jahren konnte die Stiftung       Durch die Expertise der CCG Mitglieder werden nicht nur regionale,
  bereits über 57.000 Kinder unterstützen.                                 sondern auch darüber hinausgehende Forschungsprojekte mitgestaltet.
  www.ehlerding-stiftung.de                                                Das gemeinsame Ziel des CCG ist es, den Zugang zu relevanten Gesund-
                                                                           heitsdienstleistungen und -gütern zu fördern und einen Beitrag zur
                                                                           Chancengerechtigkeit in der gesundheitlichen Versorgung zu leisten.
                                                                           www.haw-hamburg.de/ccg

                                                                           Der Verein mamamia e. V. setzt
  Die Kroschke Kinderstiftung unter-                                       sich für eine ganzheitliche
  stützt Initiativen und Projekte für                                      Familienförderung ein. Die in
  Kinder mit einer Erkrankung oder                                         der Vergangenheit betriebene
  Behinderung und die Prävention. Im                                       gleichnamige Kinderkrippe für
  Fokus stehen Musik- und Kunsttherapie                                    hochbelastete junge Familien wurde für die Umsetzung bindungs-
  sowie Frühe Hilfen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1993 hat die Hamburger   basierter Leitideen in enger Kooperation zwischen Schule und sozialpäda-
  Stiftung mehr als 700 Projekte mit ca. 5 Millionen Euro unterstützt,     gogischer Ausbildung mehrfach ausgezeichnet. Den inhaltlichen Schwer-
  überwiegend finanziert durch Spenden.                                    punkt bildet heute die Fortbildung auf dem Gebiet der Krippenpädagogik
  www.kinderstiftung.de                                                    und der Förderung der frühkindlichen Bindung insbesondere bei hochbe-
                                                                           lasteten jungen Eltern. Im Fokus der methodischen Fortbildung steht die
                                                                           Weiterbildung von pädagogisch Vorgebildeten zu STEEP™-Berater*innen
                                                                           auf der Basis des evaluierten STEEP™-Programms. Der Verein mamamia
                                                                           ist Träger der STEEP™-Weiterbildung im deutschsprachigen Raum.
                                                                           www.steep-weiterbildung.de

8 KOOPERATIONSPARTNER                                                                                                                                 9
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Grußworte

                                                                             Am 3. und 4. September 2020 fand die Fachtagung „Toxischer Stress in der
                                                                             Familie: Stressbewältigung als (Über-)Lebenskompetenz – welche Aus-
                                                                             wirkungen hat Stresserleben in der Schwangerschaft und in der frühen
                                                                             Kindheit für das System Familie?“ der Ehlerding Stiftung als Online-
                                                                             Konferenz statt.
                                                                             Die Ehlerding Stiftung engagiert sich seit über 20 Jahren für Kinder und
                                                                             Jugendliche und stellt den Schutz der Gesundheit dieser Zielgruppe in das
                                                                             Zentrum ihres Handelns mit Fokus auf gesellschaftliche Belange. Toxischer
                                                                             Stress innerhalb der Familie ist seit jeher ein wichtiges und grundlegendes
                                                                             Thema für Wissenschaft und Forschung. Bedingt durch die Corona-Pan-
                                                                             demie und die daraus resultierenden gravierenden und oftmals heraus-
                                                                             fordernden Veränderungen familiärer Alltagsstrukturen und Verantwort-
                                                                             lichkeiten hat das Thema noch einmal an Brisanz gewonnen.
                                                                             Die Ziele der Ehlerding Stiftung und des Competence Center Gesundheit
                                                                             haben vieles gemeinsam: den Gesundheitsbezug, die Aktualität in der
                                                                             Forschung und den relevanten gesellschaftlichen Stellenwert. Die best-
                                                                             mögliche Gesundheit für alle, besonders aber für vulnerable Gruppen, zu
                                                                             unterstützen, sowie das Bemühen, solche Zielgruppen ins Sichtfeld der
                                                                             verschiedenen Handlungsakteur*innen zu rücken, sind wichtige Vorha-
                                                                             ben, die das CCG mit der Ehlerding Stiftung teilt.
                                                                             Das CCG hat mit Freude die Veranstaltung als Kooperationspartner und
                                                                             Unterstützer begleitet und damit einen Beitrag zur Auseinander-
                                                                             setzung mit dem Thema geleistet.
                                                                             Wir wünschen Ihnen eine spannende und erkenntnissreiche Lektüre.

                                                                             Mit freundlichen Grüßen

                Von Maria K. an alle:                                        Prof. Dr. Susanne Busch             Prof. Dr. Joachim Westenhöfer
                Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen allen für die sehr   Leitung CCG                         Leitung CCG
                interessante und anregende Online-Konferenz bedanken.
                Ich konnte viele Informationen und Gedanken für meine
                Arbeit mitnehmen.

10 BEGRÜSSUNG                                                                                                                                              11
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Von Stephan K. an alle:
     Gelungene Veranstaltung, an der ich vermutlich nicht
     teilgenommen hätte, wenn es eine Präsenzveranstaltung
     gewesen wäre. Online hat also auch seine Vorzüge.

                                      Vorträge

12                                                           13
Toxischer Stress in der Familie - ONLINE-FACHTAGUNG DER EHLERDING STIFTUNG - HAW Hamburg
Traumatische Erfahrungen und deren Folgen im                                    zum Beispiel nach Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen
   Säuglings- und Kindesalter –                                                    durch die Erziehungsberechtigten, entstehen. Die Langzeitfolgen unver-
   erkennen und geeignet vorsorgen                                                 sorgter Traumata sind psychische und/oder körperliche Erkrankungen,
                                                                                   Kriminalität sowie sozioökonomisch prekäre Verhältnisse. Neben der post-
                                                                                   traumatischen Belastungsstörung entwickeln Patient*innen, besonders
  Dr. Andreas Krüger                                                               regelmäßig nach Typ-II-Traumata, dissoziative Störungen. Weiterhin sind
  (Ankerland e. V. Hamburg, Institut für Psychotraumatologie                       regelmäßig Bindungs- und Beziehungsstörungen zu finden, die zum Teil
  des Kindes- und Jugendalters)                                                    durch traumatische (Beziehungs-)Erfahrungen bedingt sind und/oder
                                                                                   durch die posttraumatische Belastungsstörung/dissoziative Störungen
                                                                                   selbst mitbedingt entstehen.
                                    Dieser Vortrag thematisiert die verschiede-    Als Ergänzung zur klinischen und testpsychologischen Diagnostik kommt
                                    nen grundlegenden Erkenntnisse der             in der Kooperation zwischen Therapie und Jugendhilfe der Trauma-
                                    Psychotraumatologie (früh-)kindlicher          pädagogische Symptom- und Resilienzfragebogen (TPSR, Krüger & Radler,
                                    Extrembelastungen. Sogenannte Sing-            2015) zum Einsatz, welcher als ein standardisiertes Selbst- und Fremdbe-
                                    le-Blow-Traumata (Typ I), die oft mit einer    urteilungsinstrument für den Einsatz in der traumasensiblen Jugendhilfe-
                                    posttraumatischen Belastungsstörung            arbeit differenzierte diagnostische Informationen liefert und als bezie-
                                    einhergehen, werden am häufigsten              hungsstiftend angesehen wird: Unsichtbares Leid bei den Klient*innen
                                    diskutiert, jedoch treten diese viel weniger   wird für die Betreuer*innen „sichtbar“ und Unterstützung im Umgang mit
                                    auf als chronisch komplexe, wiederholte        Störungszeichen als Ausdruck von Traumafolge kann so gemeinsam und
                                    (Beziehungs-)Traumatisierungen (Typ II). Die   konstruktiv erarbeitet werden und traumasensibles pädagogisches
                                    meisten Kinder erleiden Typ-II-Traumata        Handeln prägen.
                                    und kommen erst etwa in der Frühpubertät       Auf dem Heilungsweg geht es unter anderem um traumapsychologisches
  in die therapeutisch-psychiatrischen Versorgungseinrichtungen. Ein großes        Wissen, was Kind und Bezugspersonen handlungskompetent im Umgang
  Dilemma liegt dabei in der diagnostischen Zuordnung der beobachtbaren            mit Störungszeichen der posttraumatischen Belastungsstörung unter
  (chronifizierten) Störungsbilder, im engeren Sinn sogenannter Trauma-            anderem macht. Das Konzept der Psychodynamisch Imaginativen Trauma-
  Folgestörungen.                                                                  therapie für Kinder und Jugendliche (PITT-KID, Krüger & Reddemann,
  Die meisten Versorgungsangebote sind, wenn überhaupt traumaspezifisch,           2007), welche der bekannten Drei-Phasen-Gliederung von Trauma-
  wider die klinische Realität (nur) auf Typ-I-Traumata ausgerichtet.              therapie nach Janet folgt, beinhaltet wichtige methodische Besonderhei-
  Je nach Ergebnis einzelner Studien entwickeln ein bis zu drei Viertel der        ten gegenüber anderen Verfahren. Im Konzept der PITT-KID wurde unter
  Kinder nach einer schweren traumatischen Erfahrung eine posttraumati-            anderem eine Trauma-adaptierte Ego-State-Arbeit eingeführt, die sich
  sche Belastungsstörung. Es ist wichtig, dem betroffenen Kind zu sagen,           auch für frühe, komplexe Trauma-Folgestörungen sowie oft assoziierte
  dass seine Beeinträchtigungen völlig normal sind, aber nicht das, was ihm        Bindungsstörungen eignet. Ansätze einer intensiven Kooperation auf
  passiert ist. Es liegt bisher kein systematisches, an den entwicklungs-          Augenhöhe mit der (stationären) Jugendhilfe ist wichtiger Bestandteil des
  psychologischen Gegebenheiten des Kindes und Jugendlichen orientiertes           Behandlungskonzeptes.
  Diagnosemanual vor, das Trauma-Folgestörungen bei diesen differenziert           Ein Grundprinzip, das die therapeutische Arbeit prägt, ist die partizipative
  beschreibt. Die in Teilen hilfreiche Konzeption der Entwicklungs-                Allianz. Bei der partizipativen Allianz werden geeignete primäre Bezugs-
  Trauma-Störung (Developmental Trauma Disorder, van der Kolk, 2009) ist           personen (Betreuer*innen, leibliche, Pflege-/Adoptiveltern), die dem Kind
  bis dato nicht in die psychiatrischen Diagnosemanuale aufgenommen                Sicherheit und ausreichende Fürsorge bieten, in die Arbeit mit einbezogen
  worden.                                                                          und im Auftrag des Kindes zu Co-Therapeut*innen. Über die wichtigsten
  Bereits im Säuglingsalter kann eine posttraumatische Belastungsstörung,          und oft besonders wertvollen Informationen, zum Beispiel über die

14 VORTRÄGE                                                                                                                                                       15
Symptomatik und die Entwicklung, die das Kind nicht liefern kann, verfü-    Umfeld erfahren. Kinder leiden unter Zuständen, in denen sie sich regelmä-
   gen ausschließlich die primären Bezugspersonen, aber sie werden in der      ßig emotional wie im alten, schrecklichen „falschen Film“ wiederfinden.
   Regel zu wenig in traumatherapeutische Prozesse integriert und als          Dieser wird, gezielt angestoßen durch die Traumatherapie, durch Imagina-
   Ressource für die erfolgreiche Traumatherapie identifiziert.                tion, Mitgefühl und Fürsorgefunktionen mit einem neuen, guten Film
   Die Kooperation auf Augenhöhe ist die einzig vernünftige Lösung bei         „überschrieben“.
   komplex belasteten Kindern und Jugendlichen. Häufig kommt es zu             Willentliche Destruktivität, zum Beispiel suizidales Agieren von Kindern
   Missverständnissen und irreführenden Lösungsansätzen hier und da,           und Jugendlichen, begrenzt regelmäßig die traumatherapeutische Arbeit
   wenn das gesamte Hilfesystem nicht traumasensibel und koordiniert           mit schwer (beziehungs-)traumatisierten Kindern und Jugendlichen.
   arbeitet. Es geht um gemeinsames Erkennen, gemeinsames Verstehen            Diese wird oft durch aversive Impulse bei den Erwachsenen quittiert,
   und Mitgefühl, gemeinsames Handeln und einen gemeinsamen heilsamen          wenn perfide Fremdaggression sichtbar wird, „ein Kind zum Beispiel
   Weg. Dabei haben Störungen in allen Kontexten Vorrang: In der Trauma-       absichtsvoll ein Tier quält“. Ein differenziertes Verständnis dieses
   therapie mit Kindern und Jugendlichen kommt das Prinzip „First things       „Fiesizitätsfaktors“ im Verhalten des Kindes wird im Rahmen von PITT-KID
   first“ der systemischen Therapie besonders bedeutsam zum Tragen.            gemeinsam mit dem Bezugssystem und dem Kind erarbeitet und Bewälti-
   Durch extrem belastende Erfahrungen macht es oftmals „wie Klick im          gungsstrategien werden entwickelt.
   Kopf“ – es kommt zu neurobiologisch fassbaren Veränderungen durch           Andreas Krüger ist Initiator und ärztlicher Leiter des 2008 in Hamburg
   traumatischen Stress. Diese Veränderungen müssen gemeinsam verstan-         gegründeten Ankerland e. V., der 2016 das erste innovative, rein spenden-
   den werden, bevor Unterstützung geplant wird. Viele Störungszeichen, die    finanzierte, tagesklinikähnliche Ankerland Trauma-Therapiezentrum im
   als psychische Verletzungszeichen verstanden werden, haben möglicher-       deutschsprachigen Raum eröffnet hat. Hier werden jährlich ca. 50 Kinder
   weise einen evolutions-psycho-biologischen „Sinn“ und entsprechen           und Jugendliche spezifisch traumatherapeutisch und bedarfsorientiert in
   primitiven Überlebensstrategien in einer archaischen Welt, die es zu        einem multiprofessionellen Team behandelt. Die meisten der Patient*in-
   verstehen gilt. Für einen besseren Zugang zu traumatisierten Kindern        nen wohnen aufgrund traumatischer Erfahrungen nicht mehr bei ihren
   (und Jugendlichen) wurde im Rahmen der PITT-KID eine zielgruppen-           leiblichen Eltern. Das Trauma-Info-Telefon und die Ankerland-Beratung
   spezifische, durch lebendige bildsprachliche Erklärgeschichten erweiterte   unterstützen Angehörige und Bezugssysteme potenziell traumatisierter
   Therapiekonzeption vorgestellt. Kommt es zu einer traumatischen             junger Menschen. Ziel des Vereins ist eine Regelversorgung durch das
   Situation im engeren Sinn („Nichts-geht-mehr-Situation“ / „Katze-Kanin-     Ankerland Trauma-Therapiezentrum.
   chen-Geschichte“), entsteht traumatischer Stress („Superstress“), wo-
   durch der Mandelkern (die „Alarmanlage im Kopf“), der im Mittelgehirn
   lokalisiert ist, aktiviert und so unter Umständen die posttraumatische
   Belastungsstörung (das „Notfallprogramm im Kopf“) ausgelöst wird. In der
   Welt von Fred Feuerstein, dem alten Komikhelden aus der Steinzeit, stellt
   das „Notfallprogramm im Kopf“ einen Überlebensvorteil dar, wenn der
   Säbelzahntiger Fred angegriffen hat und dieser nur um Haaresbreite
   überlebt hat (siehe Selbsthilfebücher: Powerbook, Bände 1 und 2, Krüger,
   2011, 2015).
   Ressourcenorientierung ist ein wichtiges Prinzip von Traumatherapie nach
   PITT-KID. Selbstregulationstechniken werden gemeinsam mit dem Kind
   entwickelt. Weitere heilsame Effekte ergeben sich aus emotional zuge-
   wandter Fürsorge und Mitgefühl, das die Patient*innen vor allem durch
   die gemeinsame Ego-State-Arbeit für sich selbst entwickeln und das sie
   von der Therapeutin bzw. dem Therapeuten und vom weiteren sozialen

16 VORTRÄGE                                                                                                                                                 17
Sicherheit“. Eltern fungieren dann sowohl als sichere Basis als auch als
   Stress im System Familie bei Trennung
                                                                                  sicherer Hafen und übernehmen die Verantwortung für das Wohlergehen
   und Scheidung                                                                  des Kindes.
                                                                                  Wut, Furcht und Angst sind bereits bei der Geburt des Kindes angelegt,
                                                                                  um dessen Überleben zu sichern. Das Schreien des Kindes symbolisiert
   Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll
                                                                                  den Eltern, dass es Hilfe braucht. Diese extreme physiologische Stress-
   (Staatsinstitut für Frühpädagogik, München)
                                                                                  überflutung im Gehirn des Kindes wird erst eingestellt, wenn die Bedürf-
                                                                                  nisbefriedigung durch die Hinwendung der Eltern erfolgt ist. Durch die
                                                                                  Hinwendung der Eltern werden im Gehirn des Kindes Pfade entwickelt, die
                                   Eine liebevolle Partnerschaft der Eltern ist
                                                                                  Stress wirksam bewältigen und eine gute Regulation begünstigen.
                                   für die optimale Entwicklung der Kinder die
                                                                                  Reagieren die Eltern nicht, werden diese Pfade nicht entwickelt und eine
                                   beste Voraussetzung. Kinder sind von ihren
                                                                                  Stressregulation bleibt aus. Was Kinder auf diese Weise immer wieder mit
                                   Bezugspersonen (= Bindungspersonen)
                                                                                  ihren Eltern erfahren (externale Emotionsregulation), beeinflusst langfris-
                                   abhängig, da sie ihre seelischen Bedürfnisse
                                                                                  tig das Selbsterleben, die Herangehensweise an Herausforderungen und
                                   befriedigen möchten. Als Kinder sind sie
                                                                                  die Stressregulation (interne Selbstregulation). Bindungserfahrungen
                                   dazu noch nicht selbstständig in der Lage.
                                                                                  wirken sich daher auf den Umgang mit Belastungen aus, auf das
                                   Sie hegen von Geburt an ein Grundbedürf-
                                                                                  sogenannte Coping.
                                   nis nach Kompetenzerleben in Form einer
                                                                                  Nach Bowlby sind für das Gelingen von Partnerschaften die gleichen
                                   effektiven Interaktion mit der Umwelt mit
                                                                                  Aspekte wichtig wie für die Eltern-Kind-Beziehungen, allerdings sind sie
                                   dem Ziel, positive Ergebnisse zu erzielen
                                                                                  gegenseitig angelegt. Die Qualität der Paarbeziehung hat eine besondere
                                   und negative möglichst zu verhindern. Ein
                                                                                  Bedeutung für das Funktionieren der gesamten Familie. Hier spielen die
   wichtiges Grunderleben hierfür ist die Vorhersehbarkeit von Abläufen,
                                                                                  Erfahrungen mit frühen Bindungsbeziehungen der Eltern eine wesentliche
   Situationen und Strukturen. Wenn Familien in großen Stress geraten,
                                                                                  Rolle und beeinflussen die Partnerschaft und damit auch die Bindungs-
   leiden nicht nur die Bindungsbeziehung und die Fähigkeit der Eltern, sich
                                                                                  erlebnisse der Kinder. Andauernde Konflikte führen zu extremer emotio-
   dem Kind feinfühlig zuzuwenden, sondern auch das Grundbedürfnis der
                                                                                  naler Belastung und Stress sowie eingeschränkter Feinfühligkeit der Eltern
   Kinder nach Kompetenzerleben sowie das Grundbedürfnis nach Autono-
                                                                                  für die Kinder. Der dauerhafte Stress wird für das Erleben und die Ent-
   mie, das heißt die freie Bestimmung des eigenen Handelns und die
                                                                                  wicklung des Kindes zu toxischem Stress, der nicht mehr reguliert werden
   selbstbestimmte Interaktion mit der Umwelt. Die Befriedigung der
                                                                                  kann und damit zu einem großen Risikofaktor für die Entwicklung des
   Grundbedürfnisse ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für die gesunde
                                                                                  Kindes wird. Nicht das Ereignis der Trennung belastet die betroffenen
   Entwicklung des Kindes. Die Bezugspersonen haben die Verantwortung,
                                                                                  Kinder in ihrer Entwicklung, sondern dauerhafte Konflikte zwischen den
   bei erhöhtem Stressaufkommen innerhalb der Familie Unterstützung und
                                                                                  Eltern. Eine bindungsorientierte Begleitung von Eltern in Trennung sollte
   Hilfe aufzusuchen, um die Stressregulation zu optimieren, da Kinder
                                                                                  daher den Fokus immer auf den Schutz der Kinder legen, auf die kindli-
   hierzu noch nicht in der Lage sind. Im sozialen Umfeld des Kindes bedarf
                                                                                  chen Bedürfnisse sowie auf die Stabilisierung der Bindung zwischen den
   es des feinfühligen Engagements der Eltern, um das Bindungsbedürfnis
                                                                                  Eltern und dem Kind, damit sie als Bindungspersonen für das Kind
   gut zu befriedigen. Elterliches Engagement, Struktur und Unterstützung
                                                                                  fungieren, also die Bindungsverantwortung (wieder) übernehmen können.
   sowie Autonomieförderung sind die Eckpfeiler für die Beziehungsfähigkeit,
   das Erlangen von Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie eine ausgewogene
   Selbstregulation des Kindes. In konfliktreichen Familienstrukturen wird
   das Bindungsverhaltenssystem des Kindes aktiviert, wohingegen das
   Explorationsverhaltenssystem des Kindes deaktiviert wird.
   Bei Kindern mit einer guten Bindungsfähigkeit entsteht der „Kreis der

18 VORTRÄGE                                                                                                                                                     19
Wenn der Körper nicht vergisst: die Auswirkungen                               Es handelt sich hier also um einen Anpassungsmechanismus, der basierend
   frühkindlicher Stresserfahrungen auf die kindliche                             auf den Erfahrungen des Kindes im frühen Lebensalter die Aktivität dieses
   Hirnentwicklung                                                                Gens beeinflussen kann. Ein Vorteil dadurch kann sein, dass ein Kind zum
                                                                                  Beispiel in „raueren Umwelten“ in gewisser Weise besser angepasst
                                                                                  weiterleben kann. Der große Nachteil ist jedoch, dass es sich hier um einen
   Prof. Dr. Kerstin Konrad                                                       Faktor der Vulnerabilität handelt, der zu funktionellen Narben führt, die die
   (Universitätsklinik RWTH, Aachen)                                              Betroffenen dann ihr Leben lang begleiten.
                                                                                  Eine weitere Studie zeigte, dass im Alter von sechs bis zwölf Monaten die
                                                                                  Aktivität des Gehirns stark von dem Ausmaß der mitgehörten Partner-
                                  Der Mensch als soziale Spezies benötigt den     schaftskonflikte der Eltern beeinflusst wird. Hierzu wurden Säuglinge von
                                  sozialen Kontakt zum Überleben. Sowohl für      gesunden Eltern mithilfe eines MRT-Scans schlafend (ohne Sedierungsmaß-
                                  die psychische als auch die physische           nahmen) im Scanner untersucht, während man sie mit bestimmten Non-
                                  Gesundheit des Menschen spielt er eine          sensewörtern in einem neutralen sowie im Vergleich dazu in einem har-
                                  große Rolle. Negative Erfahrungen aus der       schen Ton beschallte. Parallel dazu wurde in einem Fragebogen die
                                  frühen Kindheit können Einfluss auf die         Häufigkeit von Partnerschaftskonflikten in der Elternbeziehung für den
                                  Entwicklung auch in späteren Lebensphasen       späteren Vergleich dokumentiert. Säuglinge von besonders häufig streiten-
                                  nehmen und die Qualität der sozialen Interak-   den Eltern reagieren auf das Hören von Nonsensewörtern (in einem
                                  tionserfahrungen maßgeblich und langfristig     harscheren Tonfall) viel stärker als üblich in Arealen, die wichtig für die
                                  beeinflussen. Die ersten Lebensjahre eines      Emotionsregulation des Säuglings sind.
                                  Menschen sind von hoher Relevanz in Bezug       Warum benötigen Säuglinge die emotionale Unterstützung ihrer Eltern, um
                                  auf die weitere neurobiologische Entwicklung.   selbst Emotionsregulation zu erlernen? Säuglinge können sich am Anfang
   Wird in dieser Zeit dauerhaft Stress auf ein Kind ausgeübt, werden be-         kaum selbst regulieren, sondern brauchen ein emotionales Referenzieren
   stimmte neurobiologische Prozesse in Gang gesetzt.                             mit der primären Bezugsperson, um dann von der Fremdregulation zur
   Über das menschliche Stresssystem werden Cortisolausschüttungen                eigenen Regulation von Emotionen zu gelangen. Mit dem sogenannten
   verändert, die wiederum starke Auswirkungen auf Immunreaktionen sowie          Still-Face-Paradigma wurde so etwas sehr häufig untersucht.
   das autonome Nervensystem haben. Dies zeigt deutlich, dass frühe               Dieses Paradigma zeigt deutlich, wie ein Säugling mit seiner Mutter intera-
   Stresserfahrungen neben der mentalen Gesundheit auch die somatische            giert und immer wieder den emotionalen Ausdruck der Mutter benutzt und
   Gesundheit negativ beeinflussen.                                               darauf reagiert. Weist die Mutter ein Still Face auf, das heißt, dass sie
   Eine Studie, die sich mit dem Vorkommen von Kindheitsbelastungen in            emotional mimisch nicht reagiert, führt dies dazu, dass der Säugling sich
   einer unausgelesenen Population beschäftigte, zeigte, dass gut die Hälfte      verunsichert fühlt und unruhig wird, da von Seiten der Mutter keine
   der Befragten keine oder nur eine traumatische Kindheitsbelastung angab.       Reaktion kommt. Sobald die Mutter erneut mit ihrem Säugling interagiert,
   Bei Befragten, die eine Kindheitsbelastung angaben, steigt das Risiko, dass    wird dieser wieder emotional zufriedener. Weitere Studien zu diesem
   weitere traumatische Kindheitsbelastungen vorliegen, deutlich. Auch sind       Thema zeigen, dass das Anschauen eines Smartphones in Gegenwart des
   sogenannte Risikopopulationen erkennbar, bei denen sogar mind. vier            Säuglings für diesen ähnlich ist wie die Still-Face-Exposition.
   traumatische Belastungen angegeben wurden. Hier besteht insbesondere           Säuglinge, deren Mütter häufiger aufgrund ihrer depressiven Symptome
   bei den weiblichen Befragten ein stark ansteigendes Risiko, eine chronische    Still-Face-Situationen im Alltag zeigen, reagieren auf diese Still-Face-Reaktio-
   Depression zu entwickeln.                                                      nen bedeutend anders als solche, deren Mütter kein erhöhtes Vorkommen
   Die epigenetische Forschung brachte viele neue Erkenntnisse. Das soge-         von depressiven Symptomen in dieser frühen Entwicklungszeit aufweisen.
   nannte Anti-Stress-Gen, das Stressreaktionen im Körper herunterregulieren      Die primäre Bezugsperson (zum Beispiel Mutter oder Vater) und das Kind
   kann, ist in den ersten Jahren eines Menschen erst einmal deaktiviert und      werden als Dyade gesehen, wobei sie nicht nur in ihrem Verhalten aufeinan-
   wird erst durch Erfahrungen der elterlichen Zuwendung aktiviert.               der bezogen sind, sondern auch in biologischen Parametern, zum Beispiel

20 VORTRÄGE                                                                                                                                                          21
in den Herzraten, Cortisolausschüttungen oder sogar Hirnaktivitäten,          elterlichen Feinfühligkeit, also das Wahrnehmen und auch das korrekte
   miteinander in Wechselbeziehung treten. Je besser in der normalen             Interpretieren von kindlichen Signalen und das angemessene Reagieren auf
   Entwicklung diese Prozesse aufeinander abgestimmt sind, desto besser          diese Signale. Das Programm setzt neben der Verhaltensebene mittels
   kann sich das Kind emotional, kognitiv und sozial entwickeln. Je synchro-     Video-Feedback auch an der Repräsentationsebene durch die Reflexion von
   ner die neuronale Aktivität, desto besser die Emotionsregulationsfähigkeit    eigenen Bindungserfahrungen (auch aus der eigenen Kindheit) an. Eine
   des Kindes. Diese biobehaviorale Synchronizität scheint sich extrem auf       verlässliche Beziehung mit dem/der STEEP™-Berater*in soll aufgebaut
   die Entwicklung auszuwirken.                                                  werden und ermöglichen, dass durch Gruppenarbeit ein soziales Netzwerk
   Insbesondere Eltern, die aufgrund von psychischen Erkrankungen nicht in       für Risikoeltern entsteht.
   der Lage sind, ihrem Kind diese emotionale Verfügbarkeit zu geben,            Das Programm wurde in einer modifizierten Form (STEEP™ B) durch eine
   sollten eine Unterstützung im „Parenting“ erhalten.                           randomisierte kontrollierte Studie erprobt. Dazu wurden jugendliche Mütter,
   Jugendliche Mütter weisen im Umgang mit ihren Kindern nachweislich eine       die bereits soziale Hilfen (wie zum Beispiel die Hilfe vom Jugendamt oder die
   geringere Feinfühligkeit für die Bedürfnisse ihres Kindes auf. Grund dafür    Unterstützung einer Familien-Hebamme) in Anspruch genommen haben,
   könnte zum einen die Mehrfachbelastung der Teenage-Mütter sein, zum           zusätzlich durch Hausbesuche einer STEEP™-Beraterin/eines STEEP™-
   anderen aber auch das noch unreifere Gehirn, das eine höhere emotiona-        Beraters unterstützt. Leider konnte hier jedoch im Vergleich zu den Müttern,
   le Impulsivität aufweist, die dazu führt, dass das mütterliche Fürsorgever-   die nur die übliche Regelversorgung in Anspruch nahmen, keine Verbesserung
   halten nicht immer ausreichend ist.                                           festgestellt werden. Ursache dafür könnte eine zu kurze Dauer des Trainings
   Eine holländische Studie zeigte, dass jene Mütter, die ein wenig feinfühli-   sowie auch ein zu spätes Einsetzen der Interventionsmaßnahmen sein.
   ges Erziehungsverhalten aufwiesen, bei Beschallung mit kindlichen             Es wurde jedoch ein indirekter Kontrolleffekt festgestellt, der sich darin
   Weingeräuschen stärker auf das Weinen des Kindes reagierten, wobei es         äußerte, dass schwerwiegende Fälle, wie zum Beispiel eine Herausnahme des
   auch nicht zu der üblichen Abnahme dieser Stressreaktion kam. Vielmehr        Kindes aus der biologischen Familie oder Folgen von Gewalteinwirkung mit
   blieb diese auf einem konstant hohen Level. Das zeigt, dass die Mutter die    Tod des Säuglings, weniger häufig in der Gruppe der Teenage-Mütter
   Bedürfnisse ihres Kindes sehr wohl wahrnimmt, dies jedoch möglicher-          auftraten, die durch die Hausbesuche der STEEP™-Berater*innen unterstützt
   weise so stark, dass sie keine andere Lösung dafür findet, als wenig          wurden. Eine deutschsprachige Metaanalyse zeigte, dass deutsche Interven-
   feinfühlig darauf zu reagieren.                                               tionsprogramme im Vergleich zu internationalen Programmen oft nur geringe
   Im Vergleich zeigten Mütter, die sehr feinfühlig waren, während der           positive Effekte in Bezug auf die Entwicklung der Mutter aufwiesen. In der
   Beschallung mit diesen Reizen auf neurobiologischer Ebene eine geringere      kindlichen Entwicklung der Psyche sowie auch in der körperlichen Entwick-
   Reaktion im Mandelkern und eine bessere Stressregulation.                     lung konnten keine nachhaltigen positiven Effekte festgestellt werden. Eine
   Weitere internationale Studien zeigten, dass gerade frühzeitige Interventi-   mögliche Erklärung für das Ausbleiben der Wirkung der Programme in
   onen elterliche Feinfühligkeit sehr gut verbessern und so ein unsicheres      Deutschland kann das ohnehin schon im internationalen Vergleich bessere
   Bindungsverhalten beim Kind reduzieren können. Verhaltensorientierte          Standard-Care-System sein. Trotzdem muss weiterhin an diesen Program-
   Therapien erwiesen sich als sehr wirksam, vor allem auch in Hochrisiko-       men gearbeitet werden, um Risikogruppen besser unterstützen zu können.
   populationen. Interventionen, die elterliche Feinfühligkeit verbessern        Es wäre wichtig, hier die neurobiologische Forschung besser zu integrieren
   konnten, zeigen dann auch die besten Ergebnisse in der Erhöhung der           sowie Formate zu finden, die die Verbreitung solcher Programme gut
   Bindungssicherheit des Kindes.                                                ermöglichen. Auch die Frage der Integration von Supervisoren-Tätigkeiten in
   Ein mögliches Interventionsprogramm ist das STEEP™-Programm (Steps            Teams, die es ermöglichen, fallbezogen zu schauen, wie man Mutter und Kind
   Toward Effective Enjoyable Parenting), ein bindungsbasiertes, aufsuchen-      helfen kann, um eine positive Entwicklung auf psychischer und physischer
   des Frühinterventionsprogramm, das geeignet ist für Familien mit psycho-      Ebene zu erreichen, ist hier von großer Bedeutung.
   sozialer Belastung. Im günstigsten Fall beginnt es bereits in der Schwan-
   gerschaft und kann bis zum zweiten Lebensjahr fortgeführt werden. Das
   Ziel ist die Verbesserung der Eltern-Kind-Bindung durch Förderung der

22 VORTRÄGE                                                                                                                                                      23
Stress und pränatale Programmierung der Gehirn-                               erhöhen. In der weiteren Folge kann es zu psychiatrischen Störungen oder
   entwicklung und das damit zusammenhängende                                    sogar zu neurodegenerativen Erkrankungen kommen.
   Risiko für psychiatrische Störungen                                           Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit die damit verbundenen Bedingun-
                                                                                 gen während der fetalen Entwicklung zu Veränderungen im Gehirn führen
                                                                                 können und somit die Vulnerabilität für besagte Krankheiten bedingen.
   Prof. Dr. Claudia Buß                                                         In eigenen prospektiven Longitudinalstudien wurden MRT-Untersuchun-
   (Institut für Medizinische Psychologie, Charité –                             gen der Gehirne bei Kindern zwischen sechs und neun Jahren vorgenom-
   Universitätsmedizin Berlin)                                                   men, deren Mütter im Laufe der Schwangerschaft hinsichtlich ihres
                                                                                 Stresserlebens und ihrer Stressbiologie charakterisiert wurden. Da es
                                  Grundlegend wirken sich der Verlauf und        jedoch keine Messungen aus der postnatalen Phase gab, wurde zusätzlich
                                  die Umgebung einer Schwangerschaft auf         eine weitere Studie gestartet, in der die Mütter dreimal während der
                                  die gesundheitliche Entwicklung des Kindes     Schwangerschaft untersucht und die Kinder ab der Geburt charakterisiert
                                  aus. Um sich dieser Thematik mit einem         wurden. Zudem erfolgte die Einbeziehung der postnatalen Umwelt wie
                                  Fokus auf den Zusammenhang von Stress in       zum Beispiel die mütterliche Sensitivität, das Stillen und die stimulierende
                                  der Schwangerschaft der Mütter und der         Umwelt. Die Kinder wurden im ersten Monat nach der Geburt, mit zwölf
                                  Vulnerabilität für psychische Erkrankungen     und mit 24 Monaten untersucht.
                                  ihrer Kinder anzunähern, führte ein For-       In den Forschungsergebnissen wurde der Zusammenhang zwischen
                                  schungsteam der University of California die   mütterlichem Stress und der grauen Substanz des Kindes im Alter von
                                  ersten Untersuchungen durch. Anstoß für        sieben Jahren bestätigt. Auch mütterliche Depressivität hing zusammen
                                  diese und weitere Studien gab der englische    mit einem dünneren Kortex, welcher wiederum mit externalisierender
                                  Forscher David Barker, der in epidemiologi-    Störung beim Kind zusammenhing. Des Weiteren war auch der Hippocam-
   schen Studien zeigte, dass es einen Zusammenhang zwischen dem                 pus, welcher Gedächtnisprozesse und die Stressregulationen unterstützt,
   Geburtsgewicht von Neugeborenen und späteren kardiovaskulären                 in Zusammenhang mit mütterlicher Depression während der Schwanger-
   Erkrankungen gibt. Es wurde erst später klar, dass das Geburtsgewicht         schaft verkleinert. Jedoch wurde mithilfe von Baby-IQ-Tests (Bayley Scales
   nicht kausal gedeutet werden kann, sondern lediglich die Einwirkungen         of Infant Development) deutlich, dass es zwar keinen Zusammenhang
   widerspiegelt, welche die fetale Entwicklung beeinflussen. Zu diesen          zwischen einem größeren Hippocampus und einer höheren kognitiven
   gehören beispielsweise mütterliches Unter- oder Übergewicht, Infektio-        Leistung gibt, dennoch profitieren die Kinder mit einem größeren Volumen
   nen, Umweltgifte, aber auch Stress während der Schwangerschaft.               mehr von einer positiven, stimulierenden Umwelt. Diese Ergebnisse sind
   Für ein weitergehendes Verständnis ist die Frage der Programmierung           nicht als Vulnerabilität, sondern als Potenzial zu deuten.
   zentral, womit der Einfluss der frühen Umwelt, in Verbindung mit der          Des Weiteren stand im Fokus, ob mütterliche Depression während der
   psychologischen Ausstattung, auf den heranwachsenden Organismus               Schwangerschaft mit epigenetischen Veränderungen beim Kind zusam-
   gemeint ist. Dabei wird von folgender Grundannahme ausgegangen:               menhängt. Dafür wurden spezifische Genomregionen analysiert, deren
   Biologische Systeme, die sich entwicklungsbedingt rapide verändern, sind      Methylierungsgrad sich wissentlich durch Einfluss von vermehrten
   im Zusammenspiel von Prädisposition und Risikofaktoren besonders              Stresshormonen der Mutter verändert. Es gab Zusammenhänge zwischen
   vulnerabel für Umwelteinflüsse. Aus dieser Perspektive ist insbesondere       mütterlicher Depression und Veränderungen der Genmethylierung beim
   das Gehirn relevant, da es sich so schnell und so lang (prä- und postnatal)   Kind, welche mit dem Volumen des Hippocampus zusammenhingen. Es
   wie kein anderes Organ entwickelt und in diesem Prozess besonders             wird davon ausgegangen, dass das Stresshormon Cortisol bei der Vermitt-
   vulnerabel ist. Viele epidemiologische Studien zeigen, dass mütterlicher      lung von Stresseffekten von der Mutter auf ihr Kind eine wichtige Rolle
   Stress, exogene Glucocorticoide, Infektionen, inflammatorische Prozesse       spielt. Wichtig zu erwähnen ist, dass der Fötus vor dem Stresshormon
   und andere Einflüsse das Risiko für klassische Entwicklungsstörungen          Cortisol durch die Plazenta bis zu einer bestimmten Konzentration

24 VORTRÄGE                                                                                                                                                     25
geschützt ist. Steigt diese jedoch zu stark an, kann die Plazenta bzw. das
   zuständige Enzym das Cortisol nicht mehr genügend vom Fötus fernhal-
   ten, was die fetale Entwicklung beeinflussen kann. Bei Stress kann es des
   Weiteren zu einer zusätzlichen Ausschüttung von Cortisol durch die
   Aktivierung von plazentarem Corticotropin Releasing Hormone (CRH)
   kommen, welches durch Cortisol stimuliert wird und die Stressachse der       Von Gerlind G. an alle:
   Mutter und des Fötus weiter stimuliert und die Cortisolausschüttung im       Sie waren die Ersten, die es geschafft haben, eine Online-Konferenz
   Sinne eines positiven Feedbackkreises weiter antreibt. Ein weitergehender    so durchzuführen, dass es rundum gut war.
   Blick auf die Forschungsergebnisse zeigt, dass beispielsweise bei der        Auch der Walk & Talk im Nachgang war sehr gewinnbringend.
   Kohorte der siebenjährigen Kinder ein Zusammenhang zwischen erhöh-
   tem Cortisol der Mutter und dem des Amygdala-Volumens, des Angstzent-
   rums des Gehirns, existiert.
   Zudem wurde in einer eigenen Studie der Einfluss mütterlicher Kind-
   heitstraumata untersucht. Bekannt ist, dass mütterliches Kindheitstrauma
   das Risiko für Verhaltensauffälligkeiten und psychische sowie körperliche
   Erkrankungen bei ihren Nachkommen erhöht. Das könnte daran liegen,
   dass Frauen mit frühkindlichen traumatischen Erfahrungen in der
   postnatalen Phase weniger sensitives Verhalten ihrem Kind gegenüber
   zeigen und häufiger Bindungsschwierigkeiten haben. Es wurde aber
   gezeigt, dass es auch charakteristische Veränderungen der Stressphysio-
   logie (zum Beispiel Cortisol, plazentares CRH) während der Schwanger-
   schaft gibt, welche einen Einfluss auf die fetale Hirnentwicklung nehmen
   können, so dass die intergenerationale Transmission von Kindheitstrauma
   auch bereits pränatal erfolgen kann. Dazu passen Befunde, die zeigen,
   dass Kinder von Frauen mit Kindheitstrauma bereits kurz nach der Geburt
   kleinere Gehirnvolumen haben, also zu einem Zeitpunkt, wenn postnatale
   Einflüsse (mütterliches Verhalten) noch keine Rolle gespielt haben.
   Insgesamt liegen zahlreiche Ergebnisse dafür vor, dass Stress und eine
   entsprechende pränatale Programmierung der Gehirnentwicklung das
   Risiko für psychiatrische Störungen von Kindern erhöhen. Für die Praxis
   des damit verbundenen Hilfs- und Unterstützungssystems ergeben sich
   daraus verschiedene Handlungsoptionen. Wichtig ist aber, dass all diese
   Forschungsergebnisse keinesfalls zu einer Stigmatisierung der Mütter
   führen dürfen. Vielmehr sollten sie dazu beitragen, dass schwangeren
   vulnerablen Frauen frühzeitig interventiv geholfen werden kann. Es ist
   besser, in starke, gesunde Kinder zu investieren, als später kranke
   Erwachsene zu therapieren!

26 VORTRÄGE                                                                                                                                           27
Die Bedeutung sozialer Beziehungen bei der Stress-                                 hohen Cortisolreaktivität beim Kind, die nicht abgebaut werden kann. Eine
   regulierung und Dysregulierung                                                     sichere Bindung hingegen puffert die Cortisolreaktion bei bedrohlichen
                                                                                      Ereignissen ab.
                                                                                      Besonders während der Eingewöhnungszeit im Kindergarten wird die
   Prof. Dr. Megan Gunnar                                                             Bindungssicherheit tragend und messbar: Steigt der Cortisolspiegel bei
   (Direktorin des Institute of Child Development und stellvertretende Direkto-       Kindern mit und ohne sichere Bindung zur Bezugsperson zu Beginn
   rin des Center for Neurobehavioral Development, University of Minnesota)           gleichermaßen, kommt es bei Kindern mit einer sicheren Bindung zu einer
                                                                                      schnellen Regulierung, während es bei Kindern mit einer unsicheren
                                                                                      Bindung auf einem niedrigeren Pegel dauerhaft erhöht bleibt.
                                                                                      Untersuchungen von US-amerikanischen Familien, die unterhalb der
                                   Beziehungen spielen eine bedeutende Rolle im       Armutsgrenze leben, zeigen, dass ein gesicherter sozialer Puffer, z. B.
                                   Leben des Menschen, besonders in seiner            durch die Mutter, die verschiedenen Stresssituationen, die durch die
                                   Kindheit. Sie können bei auftretenden Stresssi-    Armut hervorgerufen werden und auch auf das Kind wirken, abmildern
                                   tuationen als sozialer Puffer („social buffer“)    kann.
                                   wirken, wenn sie in der Vergangenheit gut          Doch die Bedeutung der Eltern als sozialer Puffer nimmt während des
                                   ausgebildet wurden.                                Heranwachsens deutlich ab. Ist die Bedeutung bei Säuglingen und in der
                                   Eine besondere Funktion nimmt hierbei das          frühen wie auch mittleren Kindheit noch hoch, ändert sich dies mit Eintritt
                                   Hormon Cortisol ein, ein sogenanntes               in die Pubertät. Bei einem sich verändernden Cortisolspiegel spielen dabei
                                   Stresshormon. Wichtig bei seiner Wirkung ist       allerdings weder das Alter an sich noch die (Nicht-)Anwesenheit der Eltern
                                   das Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-           eine Rolle, sondern der Einfluss und das Wirken der Freunde (= Peergroup).
                                   rinden-Achsen-(HPA-)System. Denn im Gehirn         Ein weiterer Indikator zur Messung von Stressreaktionen ist die Konzentra-
                                   befinden sich die durch das Cortisol regulierten   tion des Hormons Oxytocin. Es wird zumeist im Urin gemessen und kann
   Gene in den Neuronen, die u. a. am Gedächtnis, an den Emotionen sowie der          bei einer hohen Konzentration den Cortisolspiegel senken und dadurch
   Gefühlsregulation beteiligt sind. Der Cortisolspiegel zeigt an, wie hoch das       dem empfundenen Stress entgegenwirken. In Untersuchungen mit
   empfundene Stresslevel in einer bestimmten Situation ist: So steigt er in          Heranwachsenden zeigte sich, dass die Oxytocinkonzentration in einer
   einer akuten Stresssituation deutlich an, bei chronischem Stress befindet er       Stress hervorrufenden Situation bei der Anwesenheit der Eltern deutlich
   sich hingegen auf einem gleichbleibenden niedrigen Level. Beide Situationen        ansteigt, also regulierend wirkt, aber kaum bei der Anwesenheit der Peers.
   stellen ein hohes Gesundheitsrisiko dar, wenn es nicht zu einer Regulierung        Gleichaltrige übernehmen demnach in der Adoleszenz nicht die Rolle des
   von außen kommt.                                                                   sozialen Puffers. Im Gegenteil, sie können die Stressreaktion sogar noch
   Untersuchungen bei Neugeborenen haben gezeigt, dass der gemessene                  verstärken. Andererseits kann eine gute Qualität der Freundschaften unter
   Cortisolanteil im Plasma bei auftretenden Stresssituationen für den Säugling,      Gleichaltrigen bei der Genesung aus einer stressigen oder bedrohlichen
   wie z. B. durch eine ärztliche Untersuchung, deutlich ansteigt, also sehr          Situation positiv wirken.
   sensibel reagiert (= hohe Responsivität). Ab dem ersten Lebensjahr allerdings      Kinder, denen eine konsistente Bindung in ihrer frühen Lebensphase
   nimmt die Responsivität dieses Systems stetig ab. Selbst in einer als Stress       fehlte, können neue Bezugspersonen als sozialen Puffer nutzen. Unter-
   empfundenen Situation, bei der das Kind mit Weinen reagiert, zeigt sich nach       sucht wurden Kinder, die zwischen dem 18. und 36. Monat adoptiert
   kurzem Anstieg des Cortisols ein zunehmend niedriger Cortisolwert im               wurden. Es war bei 90 Prozent der untersuchten Kinder nach neun
   Speichel. In dieser Phase nimmt die Bedeutung von sehr engen Bezugsperso-          Monaten festzustellen, dass sie die neuen Bezugspersonen als sozialen
   nen wie der Mutter zu und wirkt als sozialer Puffer regulierend auf das Kind.      Puffer nutzen konnten. Je früher ein Kind adoptiert wird, desto besser ist
   Eine hohe Bindungssicherheit durch eine responsive und feinfühlige Sorge           der soziale Puffer anwendbar.
   und Pflege in der Vergangenheit bildet hier die Grundlage für eine sichere         Die Qualität der Bindung ist demnach genauso wichtig wie die Möglichkeit,
   Bindungsbeziehung. Ist die Bindung wenig responsiv, führt das zu einer             in der frühen Kindheit sichere Bindungen aufzubauen.

28 VORTRÄGE                                                                                                                                                         29
Seelisch gesund aufwachsen                                                      hängig von ihrem sozioökonomischen Status, sei es durch Beratung, durch
                                                                                   die Frühen Hilfen oder engmaschigere institutionelle Hilfsangebote der
                                                                                   Kinder- und Jugendhilfe.
   Prof. Dr. Jörg Maywald                                                          Die Deutsche Liga für das Kind hat in Kooperation mit vielen Partner*in-
   (Deutsche Liga für das Kind, Berlin)                                            nen, u. a. verschiedenen Krankenkassen, dem Berufsverband der Kinder-
                                                                                   und Jugendärzte, dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen sowie der BZgA
                                                                                   ein Projekt ins Leben gerufen, das Eltern entlang der Krankheitsfrühunter-
                                   Toxischer Stress ist nicht nur ein Merkmal in   suchungen (U1 bis U9) über die Ärzt*innen anhand von Merkblättern
                                   belasteten und hochbelasteten Familien.         Informationen zu spezifischen Themen zur Verfügung stellt. Es sollen
                                   Das Thema reicht tief in die Mitte der          darüber hinaus auch Gesprächsanlässe geschaffen werden, die die
                                   Gesellschaft.                                   seelische Gesundheit des Kindes in den Fokus rücken. Die Merkblätter
                                   Vor einigen Jahren führte die Robert Bosch      beinhalten Wissen und Informationen und berücksichtigen sowohl die
                                   Stiftung eine Befragung unter Eltern durch      Kinder- wie auch die Elternsicht. Aufbereitet sind sie unterstützend
                                   mit der Frage „Was fehlt Ihnen am meisten?“.    multimedial, d. h. Inhalte werden über abgerufene Videos filmisch
                                   Zur Disposition standen die Antworten           dargestellt und erläutert.
                                   Geld, Zeit oder Infrastruktur (Spielplätze,     Alle Filme und Merkblätter werden unter https://seelisch-gesund-
                                   Kitaplätze o. Ä.). Die überwiegende Mehrheit    aufwachsen.de/filme/ kostenlos zur Verfügung gestellt.
                                   der Eltern antwortete, dass das, was ihnen
                                   am meisten fehle, die Zeit sei. Besonders in
   den letzten Monaten ist dieser Aspekt – bedingt durch die Pandemie und
   die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen – vermehrt in den Fokus
   gerückt. Denn die Verbindung von Arbeit, Partnerschaft, Kinderbetreuung,
   Homeschooling und Befriedigung der eigenen Bedürfnisse machte den
   Zeitfaktor in vielen Familien rar.
   Kinderärzte und -ärztinnen stellen fest, dass Eltern nicht nur mit den
   reinen Kinderkrankheiten die Behandlung aufsuchen, sondern dass die
   sogenannten „neuen Kinderkrankheiten“ mit zwei großen Tendenzen in
   den Fokus der Praxen rücken: zum einen das Thema „Vom Körper zur
   Seele“, zum anderen „Von den akuten zu den chronischen Erkrankungen“.
   Symptome wie Schlaf- und Konzentrationsmangel, Fütterstörungen und
   Erkrankungen wie ADHS oder Neurodermitis stehen hierbei im Zentrum.
   In diesem neuen Krankheitsspektrum rückt die seelische Gesundheit
   zunehmend ins Blickfeld.
   Studien weisen darüber hinaus auch Ängste, Störungen des Sozialverhal-
   tens, Destruktivität, Grenzverletzungen und depressive Verstimmungen
   als häufig genannte Symptomatik auf, was oft in engem Verhältnis zum
   sozioökonomischen Status der betroffenen Familien steht. Auf der
   anderen Seite sind Eltern heute sehr gebildet und an Erziehungsthemen
   interessiert, gleichzeitig aber weisen sie ein hohes Maß an Verunsicherung
   auf. Daraus folgt ein hoher Unterstützungsbedarf bei allen Eltern unab-

30 VORTRÄGE                                                                                                                                                     31
Stressbewältigung und Musiktherapie von                                      dem einzelnen Menschen. Es gibt hierbei keine Musik, welche unter-
   bindungstraumatisierten Kindern.                                             schiedliche Menschen auf die gleiche Weise stimuliert oder beruhigt.
   Ist toxischer Stress hörbar?                                                 Gerade schnelle Musik mit starken Bässen kann auch als beruhigend emp-
                                                                                funden werden. Ein weiterer Aspekt der Musik ist der Spannungsbogen.
                                                                                Ist dieser sehr in Bewegung mit eher geringer und darauf folgend hoher
   Prof. Dr. Gitta Strehlow                                                     Spannung, wird Musik eher als belebend wahrgenommen. Genau dieses
   (Hochschule für Musik und Theater, Hamburg)                                  Spannungskonstrukt kann von anderen jedoch auch als bedrohlich
                                                                                empfunden werden. Diese Personengruppe braucht eher einen dauerhaft
                                                                                niedrigen Spannungsbogen in der Musik. Der Schwerpunkt des Vortrages
                                   Musik ist zunächst einmal ein universelles   wurde auf die psychodynamische Musiktherapie für bindungstraumati-
                                   Phänomen und ein Kulturgut und gehört in     sierte Kinder, die in ihrer frühen Entwicklung vielzähligen Stressfaktoren
                                   jeglicher Form zu allen Übergängen in        ausgesetzt sind, gelegt. Dabei wurden musiktherapeutische Interventio-
                                   unserem Leben. Musik kann dazu führen,       nen vorgestellt, welche in folgende vier Abschnitte unterteilt werden
                                   dass Gefühle und Stimmungen hervorgeru-      können: Das Erregungsniveau des Kindes wird betrachtet, die Experimen-
                                   fen werden, dabei ist das Musik-Erleben      tierfreude wird geweckt, emotionale Regulierungsmöglichkeiten werden
                                   immer persönlich, das heißt, dass das        geschaffen und neue Beziehungserfahrungen werden ermöglicht. Bei der
                                   Musik-Erleben immer auch etwas mit der       Therapie geht es immer auch um die Problem- und Konfliktbehandlung.
                                   eigenen Lebensgeschichte zu tun hat. Diese   Sie soll vor allem dazu beitragen, das Gefühl des Alleinseins zu minimie-
                                   Stimmungen, die durch die Musik übertra-     ren. Die Stärke der Musikimprovisation ist, dass sie Verbindungen schafft
                                   gen werden, können sich auf unterschiedli-   und so den Kindern hilft, aus der Isolation zu kommen.
                                   che Art und Weise zeigen: Sie kann zum
   Träumen einladen, sie kann uns munter machen und zum Tanzen auf-
   fordern. Von vertrauter Musik werden dabei meist Freude und Neugier
   ausgelöst, aber auch negative Gefühle wie Stress und Angst können
   hervorgerufen werden, was auch damit zusammenhängt, dass uns die
   Musik in vergangene Zeiten zurückversetzen und als Erinnerungsträger
   fungieren kann, welcher Gefühle wieder aufleben zu lassen vermag. Dabei
   wird schon seit Jahrtausenden Musik zur Heilung und als Therapieform
   eingesetzt. Die eigentliche Musiktherapie und die nebenstehenden
   Disziplinen der Musikmedizin und Musikpsychologie sind jedoch erst vor
   ca. 50 Jahren entstanden. Musik wird unterschieden in ergotrope Musik,
   welche belebend wirken soll, und trophotrope Musik, die eher beruhigend
   und entspannend wirken soll. Dadurch werden auch der Sympathikus und
   der Parasympathikus angesprochen – zwei Nervenstränge, die im ganzen
   Körper verteilt zu finden sind. Der Sympathikus ist dabei der Ner-
   venstrang, der uns in Alarmbereitschaft versetzt, der Gegenspieler hierzu
   ist der Parasympathikus, der für die Ruhe und die Entspannungsphase
   zuständig ist. Dies sind zwei wichtige Mechanismen, die sich konkret auf
   den Körper auswirken. Musik hat dabei keine einzelne Wirkung auf den
   Körper, es geht vielmehr um die Wechselwirkung zwischen der Musik und

32 VORTRÄGE                                                                                                                                                  33
Dialogforen

             Sich nicht stressen (lassen) –                      Bindungsbasierte Begleitung von Familien
             wie geht das?                                       in Trennung und Scheidung
             Antje Ahlborn                                       Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll
             (Ergotherapeutin, Hamburg)                          (Staatsinstitut für Frühpädagogik, München)

             Stress und pränatale Programmie-                    Handwerkszeug für
             rung der Gehirnentwicklung und das                  resiliente Beziehungen
             damit zusammenhängende Risiko für
                                                                 Monica Blotevogel
             psychiatrische Störungen                            (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf,
                                                                 Zentrum für Psychosoziale Medizin,
             Prof. Dr. Claudia Buß                               CORESZON)
             (Institut für Medizinische Psychologie, Charité –
             Universitätsmedizin Berlin)

             Der Säugling in einer mit Reizen                    Was muss der Kliniker über die Neu-
             überfluteten Umwelt                                  robiologie von Stress und die Rolle der
                                                                 Eltern bei der Stressregulierung wissen?
             Dipl.-Psych. Bärbel Derksen
             (Landeskoordination Frühe Hilfen Brandenburg)
                                                                 Prof. Dr. Megan Gunnar
                                                                 (Inst. of Child Development, Center for Neurobehavioral
                                                                 Development, University of Minnesota)

34                                                                                                                         35
Dialogforen

             Wie können Angebote aussehen, die im        Stressbewältigung in einer doppelten Über-
             Rahmen von Hilfen zur Erziehung Stress      gangsphase – Schwangerschaft und Geburt
             in den Familien reduzieren?                 in der Ankommensphase nach Flucht und
             Wir haben Antworten für Sie vorbereitet
                                                         Migration
             Dipl.-Soz.-Päd. Agnes Mali
             (Netzwerkkoordinatorin Frühe Hilfen und
                                                         Mareike Paulus M. A.
             Kinderschutzkoordinatorin Hamburg-Altona)

             Traumatisierte Eltern – kindliche           Stationäre Therapie von psychisch
             Entwicklung im Spannungsfeld von            erkrankten Müttern mit ihren Säuglingen
             Traumakompensation und Bewältigung          Prof. Dr. Gitta Strehlow
                                                         (Hochschule für Musik und Theater, Hamburg)
             Dipl.-Päd. Corinna Renk

             Pflegekinder und traumatischer Stress –
             Verständnis und Unterstützung

             Dipl.-Psych. Margarete Udolf
             (Kompetenzzentrum Traumapädagogik)

36                                                                                                     37
Nachwort                                                                        Ein Highlight war der musikalische Beitrag des Toto Lightman Kinderchors.
                                                                                   Zur Lockerung und zum Neustart in die Nachmittagsrunde trug Marion
                                                                                   Böller von der LÜTTE SKOL Musikschule einige Lieder aus ihrem
                                                                                   Repertoire vor. Um Stress und Verspannung vor dem Bildschirm entge-
                                                                                   genzuwirken, sorgte Monica Blotevogel vom Universitätsklinikum Ham-
   FACHTAGUNG –                                                                    burg in den Pausen für genügend Bewegung und Entspannung.
   VIEL INPUT, TOLLER AUSTAUSCH                                                    Wir bedanken uns bei allen Teilnehmer*innen, die sich auf das Abenteuer
                                                                                   Online-Konferenz eingelassen haben, für ihr reges Interesse und den
   „Stress in Familien“ war als Tagungsthema für uns Vorbereitende hoch            engagierten Austausch. Glückwunsch an unsere Moderatorin Kerstin
   ansteckend, die Tagung selbst hingegen verlief weitgehend ohne Stress. Wie      Michaelis, die gekonnt durch die Zoom-Konferenz führte. Wir danken
   sehr die aufkommende Corona-Pandemie zusätzlich Stress erzeugen, aber           herzlich allen Unterstützer*innen der Fachtagung, vor allem unseren
   auch für Aktualität sorgen würde, konnten wir da noch nicht ahnen. Erst im      Kooperationspartnern Ehlerding Stiftung, Kroschke Kinderstiftung und
   Nachhinein stellte sich heraus, dass und wie eine Tagung mit über 200           dem Competence Center Gesundheit der HAW Hamburg.
   Teilnehmer*innen aus dem gesamten Bundesgebiet, Österreich und der              Wir freuen uns auf ein Wiedersehen bei der nächsten Fachtagung im
   Schweiz an zwei Konferenztagen mit Vorträgen und einem fachlichen               Spätsommer 2021.
   Austausch in verschiedenen Foren im Online-Format gelingen kann. Dieses
   Gelingen hat mich persönlich sehr beeindruckt, und eine solche Erfahrung        Prof. Dr. Gerhard J. Suess
   ist auch für die Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) wertvoll.       HAW Hamburg, mamamia e. V. und Stiftungsrat der Ehlerding Stiftung
   Seit etwa 15 Jahren haben Uta Bohlen und ich zusammen mit unterschiedli-
   chen Kooperationspartnern Fachtagungen zu Themen rund um die Arbeit
   mit Familien im Hörsaal Maschinenbau der HAW organisiert, nun das erste
   Mal im World Wide Web – und es geht.
   Besonders freuten wir uns über die herzlichen und fachkundigen Gruß-
   worte der Hamburger Senatorin Dr. Melanie Leonhard sowie der Dekanin
   der HAW Hamburg, Prof. Dr. Ute Lohrentz. Neben dem produktiven Streit
   brauchen wir mehr Bemühen um Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Ohne
   Zusammenarbeit mit den Stiftungen und ohne deren Flexibilität hätte
   unsere Tagung kaum gelingen können. Nur so konnten international tätige
   und führende Fachwissenschaftler*innen das bestverfügbare Wissen
   darüber, wie Stress unter die Haut gerät und sich dann auch toxisch
   auswirken kann, bereitstellen: allen voran Prof. Dr. Megan Gunnar, eine welt-
   weit anerkannte Stressforscherin aus Minneapolis/MN, jedoch auch Prof.
   Dr. Claudia Buß von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Prof. Dr.
   Kerstin Konrad von der Universitätsklinik der RWTH Aachen, um nur drei
   der Vortragenden zu nennen.
   In elf verschiedenen Foren wurden die Vorträge in diskussionsfreundlicher
   Atmosphäre vertieft und mit Praxisbeispielen veranschaulicht, wie zum
   Beispiel bindungsbasierter Intervention. Darüber hinaus wurden neue
   Themenfelder eröffnet, wie beispielsweise traumatischer Stress bei Pflege-
   kindern und Stressbewältigung bei Flucht und Migration.

38 NACHWORT                                                                                                                                                    39
Sie können auch lesen