LIEBLINGS RÄUME - DAS AGAZIN ZUR AUSSTELLUNG - Martinsclub Bremen
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LIEBLINGS RÄUME Thomas Bretschneider Vorstand des Martinsclub Bremen e. V. Keyvisual Titel: closer Werbeagentur
Editorial Die Vielfalt unserer Gesellschaft mit allen Sinnen erleben und verstehen. Das ist das Ziel unserer Sonderausstellung „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir“, die wir als Martinsclub Bremen e. V. und Universum® Bremen gemein- sam entwickelt haben. Die Zusammenarbeit bei diesem Thema war für unsere beiden Einrichtungen ein absoluter Glücksgriff. Auf der einen Seite der Martins- club, der sich als einer der größten Träger der Behindertenhilfe in Bremen jeden Tag dafür einsetzt, dass Menschen selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Und auf der anderen Seite das Universum® Bremen, das wissenschaftliche und komplexe Themen so einfach wie möglich für jeder- mann zugänglich machen will. Diese Kombination ermöglicht es uns, selbst einen vermeintlich trockenen Begriff wie „Inklusion“ zu einem spannenden und anfassbaren Thema zu machen. Dr. Herbert Münder Von der ersten Minute an war es uns wichtig, dass sich vielfältige Menschen Geschäftsführer der an der Idee und der Umsetzung beteiligen – denn genau darum geht es uns: Universum Managementges. mbH um unterschiedliche Sichtweisen und Perspektiven. Unser besonderer Dank geht deshalb an die weit über 200 Menschen aus Bremen und umzu, die an der Entwicklung und Entstehung der Ausstellung mitgewirkt haben. Von den zahl- reichen freiwilligen Helfern, die die Grundausrichtung unserer verschiedenen Räume diskutiert und begleitet haben, über unsere Teams im Universum® Bremen und dem Martinsclub, die den gesamten Prozess von der ersten Idee bis zur Eröffnung vorangetrieben haben, bis hin zu den Menschen, die unsere Ausstellung mit ihren Geschichten zum Leben erwecken. Bis zum 7. Januar 2018 zeigen sich die „Lieblingsräume“ nun auf der Sonder- ausstellungsfläche des Universum® Bremen – doch nicht nur dort! Denn be- gleitet wird die Ausstellung von einem Rahmenprogramm, das mindestens so bunt und vielfältig ist, wie die Ausstellung selbst. Wir freuen uns jetzt schon auf spannende Dialogveranstaltungen, Führungen durch die Ausstellung für Menschen mit Beeinträchtigungen, Comedy-Shows und Kooperationen mit vielen weiteren Bremer Einrichtungen, die sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzen möchten. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Besuch unserer Ausstellung und beim Lesen dieses Magazins! Thomas Bretschneider Dr. Herbert Münder 1
Inhaltsverzeichnis Grußworte Küche // KULTUREN 4 Stiftung Wohnhilfe 14 Welcome Dinner: Welten verbinden 5 Aktion Mensch 15 Essen ist Musik 16 Tischsitten in aller Welt Lieblingsräume // WER? WAS? WIE? 18 Rezept: Seniat belahma 6 Lieblingsräume – so vielfältig wie wir 7 Von der Idee zur Ausstellung Straße // MOBILITÄT 20 Weniger ist mehr: Bremen ohne Hindernisse? Bühne, Bett oder Balkon? 22 Raul Krauthausen fordert Barrierefreiheit 10 Promis verraten ihre Lieblingsorte 24 Reisen mit dem Martinsclub Wohnzimmer // SEXUALITÄT & PARTNERSCHAFT 26 Mein Körper gehört mir! 27 Let’s talk about Sex 28 Verliebt … verlobt … verheiratet … 30 Buchtipps Klassenzimmer // AUSBILDUNG 32 Lieblings-Lernorte im Karton 34 Lernen wie bei Pippi Langstrumpf 36 Die unsichtbaren Helfer 2
Bad // SCHÖNHEIT & KÖRPERKULT Von Exklusion zu Inklusion 38 Ich bin nicht meine Haare! 62 Wir räumen auf mit komplizierten Begriffen 40 Der Mensch als Maschine 42 Komplimente to go Die Verantwortlichen 64 Der Martinsclub e. V. Bühne // FREIZEIT 64 Das Universum® Bremen 44 Grenzenloser Humor 46 Die durchblicker in der Werkstatt des Universum® Autoren // Impressum 48 Kulturelle Teilhabe Internet // MEDIEN & INFORMATION 50 Digital Barrieren überwinden 52 Zeig mir dein Duckface 53 Be My Eyes – mit anderen Augen sehen 53 Das Internet in 60 Sekunden Werkstatt // ARBEIT & BERUF 55 Ich arbeite, weil … 56 Meine Arbeit als Willkommenslotse 57 Inklusionsbarometer in Zahlen 58 Reine Männersache? 60 auticon – entgegen allgemeiner Regeln 3
Grußworte Stiftung Wohnhilfe Im Namen des Kuratoriums der Stiftung Wohnhilfe möchte ich meine große Freude zum Ausdruck bringen, dass es dem Martinsclub Bremen e. V. in Kooperation mit dem Universum® Bremen gelun- gen ist, das Projekt „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir“ umzusetzen. Bereits in der Planungsphase der Ausstellung hat die Zusammenarbeit von Menschen mit und ohne Behin- derung stattgefunden. Diese gelebte Inklusion möch- te ich an dieser Stelle ganz besonders erwähnen. Die interaktive Ausstellung, die Leben mit Beein- trächtigungen in alltäglichen Situationen erlebbar macht, regt zum Nachdenken und Nachfühlen an. Inklusion bedeutet hier nicht nur, dass Menschen mit einem Handicap an der Gesellschaft teilhaben, sondern, dass dies einmal genau anders herum ge- zeigt wird! Diese Ausstellung erreicht beide Seiten, die für ein gelebtes Miteinander absolut notwendig sind. Denn die Anforderungen, die sich aus der UN- Konvention ergeben, können und dürfen nicht nur von Menschen umgesetzt werden, die privat oder beruflich beteiligt sind. Inklusion ist ein gesamt- gesellschaftliches Thema – es geht uns alle an! In diesem Sinne wünscht die Stiftung Wohnhilfe dem Martinsclub Bremen e. V. und dem Universum® Bremen einen erfolgreichen Verlauf der Ausstellung „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir“! Klaus-Michael Vogel Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Wohnhilfe 4
Aktion Mensch „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir". Schon im Titel der Ausstellung wird deutlich, dass Lieblings- räume so verschieden sind wie wir Menschen: Sie können groß oder klein sein, verschlossen oder offen für andere, uns inspirieren, beschützen, zu neuen Taten anregen oder neue Begegnungen schaffen. Für mich als leidenschaftlicher BVB-Fan ist auch das Weser-Stadion hier in Bremen so ein Ort. Warum? Sportstadien sind wunderbare Spiel- felder, um Vorurteile abzubauen. Das hat auch der Inklusionsspieltag gezeigt, den die Aktion Mensch im vergangenen Jahr hier in Bremen veranstaltet hat: Hier haben Einlaufkinder mit und ohne Behin- derung für Vielfalt und Teilhabe geworben, Gebär- densprachdolmetscher und Blindenreporter für eine barrierefreie Verständigung gesorgt und nicht zuletzt ein Rollstuhlparcours zum Sichtwechsel beigetragen. Den Blick schärfen für neue Sichtweisen und In- klusion erlebbar machen, das will auch diese Aus- stellung erreichen. Denn noch immer müssen Barrieren überwunden werden, auf öffentlichen Plätzen ebenso wie in den Köpfen – und manchmal auch in Lieblingsräumen. Deshalb fördert die Aktion Mensch dieses Ausstellungsprojekt mit mehr als 249.000 Euro. Wir wünschen den Ausstellungsmachern weiterhin viel Erfolg und den Besuchern auf ihrem Weg durch die Lieblingsräume viel Spaß und gute Unterhaltung. Armin v. Buttlar Vorstand der Aktion Mensch 5
Lieblingsräume // WER? WAS? WIE? Lieblingsräume – so vielfältig wie wir Jeder Mensch hat seinen persönlichen Lieblings- raum. Das kann zum Beispiel die Küche, das Wohn- zimmer, aber auch die Theaterbühne sein. Jeder hat seine eigene Vorstellung von diesem Raum, richtet ihn nach seinen Wünschen ein und nimmt ihn auf seine Art und Weise wahr. Obwohl Menschen häufig die gleichen Lieblingsräume haben, erzählen sie dennoch alle eine ganz persönliche Geschichte und beweisen dadurch die unglaubliche Vielfalt unserer Gesellschaft. Der Martinsclub Bremen e. V. und das Universum® Bremen greifen einige dieser Geschichten auf und fül- len im Rahmen einer Ausstellung den Begriff Inklusi- on mit Leben. „Lieblingsräume – so vielfältig wie wir“ heißt das Projekt. Es wird von Aktion Mensch geför- Was genau Inklusion bedeutet, ist vielen Menschen noch nicht ganz dert. Menschen, deren Sichtweisen häufig nur wenig klar. Thomas Bretschneider, Vorstand des Martinsclubs, hofft, dass Beachtung finden, erhalten hier einen Raum, um ihren die Ausstellung Inklusion verständlich und erlebbar macht. eigenen Blick auf das Leben zu schildern: Wie findet man sich als Rollstuhlfahrer in einer Holzwerkstatt zurecht? Wie nimmt man als autistisches Kind am Schulunterricht teil? Wie versammelt sich in einer Küche die ganze Welt? Die Ausstellungsbesucher wer- den in Situationen versetzt, in denen sie gewohnte Umgebungen aus einem fremden Blickwinkel erleben. So sollen Barrieren abgebaut und die Akzeptanz für das Unbekannte gefördert werden. Denn jeder Mensch hat das gleiche Recht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es ist normal, verschieden zu sein. Ohne den erhobenen Zeigefinger oder pädagogische Schlagworte, aber mit viel Emotionen und wahren Ge- schichten greift die interaktive Ausstellung die wich- tigsten Themen unserer Gesellschaft auf. So verschafft sie den Besuchern einen Zugang zu dem vermeintlich sperrigen Begriff der „Inklusion“. Und lässt die Besu- cher erleben, was Inklusion bedeutet. 쐍 6
Von der Idee zur Ausstellung Die Entwicklung der Ausstellung „Lieb- Raumgestaltung der Ausstellung: Was lingsräume“ ging ungewöhnliche Wege. können Besucher konkret erkunden? Wie Jeder konnte sich beteiligen. Über Inter- soll die Raumstimmung sein? Und welche net und Zeitungen sowie über persönliche Erkenntnisse nehmen die Besucher mit Kontakte wurden Freiwillige für die Aus- nach Hause? stellungsentwicklung gesucht. Mehr als 50 Interessierte kamen im Oktober 2015 An Vielfalt gedacht zu einem ersten Treffen im Universum® Schnell wurde klar: Eine Ausstellung, die Bremen zusammen, um sich über das Geschichten über Inklusion erzählt, sollte Ausstellungsprojekt zu informieren und auch für möglichst viele Besucher ohne aktiv mitzumachen. Experten, die sich im Barrieren zugänglich sein. Ein klares Rahmen ihrer Arbeit mit dem Thema In- Leitsystem, erhabene Bodenlinien, Audio- klusion beschäftigen, waren ebenso ver- und Videoangebote, Braille-Schrift, einfa- treten wie Menschen, die persönlich mit che Sprache und Audioguides – allerdings Barrieren und Beeinträchtigungen zu tun konnten nicht alle Ideen umgesetzt wer- haben oder die sich für eine vielfältige Ge- den. Jedoch ist jeder Lieblingsraum so Mehr als 50 Interessierte kamen sellschaft engagieren möchten. gestaltet, dass ein möglichst breites Pu- im Oktober 2015 zu einem ersten Die Freiwilligen entschieden selbst, wie blikum möglichst viel erleben kann. Dafür Treffen im Universum® Bremen zusammen, um sich über das sie sich beteiligen wollten. Zu welchem wurde das sogenannte Zwei-Wege-Prin- Ausstellungsprojekt zu informie- Thema wollten sie sich engagieren? Als zip berücksichtigt. Jede Information und ren und aktiv mitzumachen. Experten ihr Wissen zu einem bestimmten jede Mitmach-Station ist auf zwei unter- Lebensbereich einbringen? Oder ihre per- schiedlichen Wegen erlebbar. So haben sönliche Geschichte vorstellen? Filme beispielsweise Untertitel bekom- men und Texte wurden in verständlicher Über Themen diskutiert Sprache (kurz: Verso) verfasst. Alle Freiwilligen teilten sich in verschiede- ne Arbeitsgruppen auf, die von November Mit vielen realisiert 2015 bis März 2016 die Ideen für je einen Auch an der Realisierung der Ausstellung Lieblingsraum entwickelten. Während die- waren sehr viele Menschen beteiligt: In- ser Gruppentreffen nahmen die Inhalte terviews wurden geführt, Filme gedreht, der einzelnen Räume Form an: Welche Lieblings-Lernorte im Karton gestaltet, Fakten sollen vermittelt werden? Was sol- Mitmach-Stationen getestet und gebaut. len Besucher in diesem Raum erfahren? In der Ausstellung „Lieblingsräume“ kann Welche spannenden Menschen oder Pro- man nicht nur Inklusion und eine vielfälti- jekte können in dem Raum vorgestellt ge Gesellschaft kennenlernen – sie wurde werden? Zusätzlich diskutierten die Frei- auch von vielen unterschiedlichen Men- willigen die Besuchererlebnisse sowie die schen auf die Beine gestellt. 쐍 7
Lieblingsräume // WER? WAS? WIE? Von der Idee zur Ausstellung Die Ausstellungsmacher teilten sich in verschiedene Arbeitsgruppen auf, die von November 2015 bis März 2016 die Ideen für je einen Lieblingsraum entwickelten. 8
Viele, viele Ideen wurden gesammelt, diskutiert – und zum Teil auch wieder verworfen. Bis am Ende jeder Raum ein eigenes Gesicht mit vielen spannenden Exponaten bekam. An der Realisierung der Ausstellung waren sehr viele Menschen beteiligt: Interviews wurden geführt, Filme gedreht, Lieblings-Lernorte im Karton gestaltet, Mitmach-Stationen getestet und gebaut. Bis die Köpfe rauchen: In den Gruppentreffen wurde intensiv diskutiert. Schließlich waren etliche Fragen zu klären. Wer kommt in den Räumen zu Wort? Welche Fakten sind wichtig? Und was sollen die Besucher erleben? 9
Bühne, Bett oder Balkon Wo sind Sie am liebsten? Promis verraten ihre Lieblingsorte „Ich fühle mich überall wohl. „Mein Lieblingsort? Ein kleiner Am Tatort-Set zum Beispiel Balkon; Glockenblumen, Efeu suche ich mir immer ein und Gräser um mich herum; ruhiges Eckchen, nicht zu mit Blick auf Amsel, Drossel weit vom Geschehen ent- und Elster, Katze Sternchen fernt, damit ich mitbekomme, schnarcht; mit türkischem wenn sie mich langsam Mokka in Ruhe Zeitung lesen.“ wieder brauchen ...“ Oliver Mommsen Annelie Keil (Soziologin, (Schauspieler) Gesundheitswissen- schaftlerin & Autorin) „Also, mein Lieblingsort ist „Mein Lieblingsraum ist das ein Platz auf einem Deich mit angemietete Schreibbüro. Blick auf die Nordsee! Da Meine kreative Oase. In die- ist Tiefe – im Blick. Da ist Be- sem geschützten Zimmer wegung – im Wasser. Da ist mit Gartenblick kann ich Ruhe und Unendlichkeit für ungestört neue Themen zu die Seele. Es gibt für mich meinen Büchern entwickeln. keinen schöneren Ort, um zu Der Lieblingsraum sieht mir selbst zu kommen, nicht mich verwundbar, ausge- mal in einem Kino! Der Blick lassen und ganz bei mir aufs Wasser ist auch immer selbst. Im Schreiben bin ich Eike Besuden Bärbel Schäfer eine Tankstelle für friesische (Regisseur, Drehbuch- Zuhause.“ (Autorin, Fernsehmode- Gelassenheit und die braucht autor & Produzent) ratorin & -produzentin) man, gerade im Filmgeschäft, nahezu täglich.“ „Einer meiner Lieblingsorte auf dieser Welt ist der Elbtun- nel. Er hat zwei Fahrtrichtungen, die eine führt in die Stadt, die andere aus der Stadt. Wenn ich raus fahre, habe ich das Gefühl unterwegs zu sein und freue mich auf das, was kommt. Wenn ich zurück in die Stadt fahre, bin ich nach einer Reise immer froh, in 20 Minuten endlich wieder zu Hause zu sein.“ Til Mette (Cartoonist & Maler) 10
Text: Frederike Treu | Foto: Frank Scheffka „Mein Lieblingsort ist das Weser- „Mein Lieblingsraum ist das wehr. Seit Jahren spaziere ich hier, Wohnzimmer. Dort kann wenn ich in Bremen bin. Ich höre ich auf der Couch relaxen, das Wasser unter mir gewaltig flie- am Computer arbeiten oder ßen, von Weitem sieht man Autos einfach nur Fernsehen fahren und ein bisschen Industrie. schauen. Es ist für mich ein Ich mag diese Industrieromantik. Ort der Ruhe.“ Immer wenn ich da bin, steht die Welt kurz still und ich habe eine Milo Milone (Sängerin Claudio Pizarro (Fußball- Sekunde für mich.“ der Band Rhonda) profi Werder Bremen) „Mein Lieblingsort ist schlicht und einfach meine Heimat- stadt Bremen, als Ganzes! Ich „Mein Lieblingsplatz mag die Menschen, das Un- ist mein Bett. Es gibt aufgeregte, das Maritime und keinen Ort, auf den das Grüne. Als Stadt ist Bre- ich mich täglich so men überschaubar, ohne pro- freue und wo ich mich vinziell zu sein. Ich bin in fünf so uneingeschränkt Minuten an der Weser, in der 'fallen lassen' kann.“ Innenstadt, im Bürgerpark oder irgendwo im Viertel. Gabriela Maria Schmeide Arnd Zeigler (Werder- (Schauspielerin) Stadionsprecher, Meine WDR-Kollegen sagen Journalist & Autor) oft: Bremen ist wie Urlaub.“ „Mein Lieblingsort ist mein "Mein Lieblingsort ist – je- Haus in der Toskana, von denfalls zur Zeit – das dem aus ich in den Bergen Yoga-Studio, das ich ein- bis aus ca. 400 Metern Höhe in zweimal die Woche besu- die wunderbare Landschaft che. Dort kann ich mich um die schöne Stadt Lucca anstrengen, konzentrieren herunterblicken kann.“ und entspannen zugleich." Professor Gerhard Roth (Biologe, Hirnforscher & Autor) Amelie Fried (Moderatorin & Schriftstellerin) 11
Bühne, Bett oder Balkon Promis verraten ihre z Lieblingsorte „Mein Lieblingsort ist ein Stop- „Mein absoluter Lieblingsort ist pelfeld, weil es für mich nichts der sonntägliche Frühstückstisch. Schöneres gibt, als mit meinem Wenn die ganze Familie in der Pferd darüber zu galoppieren – handyfreien Zone und mit Jogging- der Sonne entgegen. Die Natur hosenlook einfach nur Zeit erdet mich und macht mich für sich hat – mehr geht nicht!“ immer wieder demütig. Nir- gendwo sonst finde ich einen besseren Ausgleich zu dem oft Judith Rakers Jörg Pilawa (Fernseh- (Journalistin, Fernseh- sehr hektischen Arbeitsalltag moderator & Autor) moderatorin & Spreche- im Nachrichtengeschäft.“ rin der Tagesschau) „Seit ich als Vierjährige in der Tanzschule meiner Tante, geklei- det als Hase, zum ersten Mal in ein Mikrofon sprach, ist die Bühne mein Lieblingsort. In meiner Theaterausbildung habe ich nicht nur gelernt, dass jeder Körper ein tanzender Körper ist, sondern auch, dass ich überall anfangen kann. Ich muss nicht warten, bis mir jemand erlaubt auf die 'richtigen' Bühnen zu gehen. Ich mache den Ort, an dem ich gerade bin – die Straße, das Restaurant, die Wohnung – zur Bühne. Durch meine Präsenz und Konzentration. So ist jeder Moment eine Chance.“ Gayle Tufts (Entertainerin & Stand- up-Comedian) „Mein Lieblingsort ist draußen. „Mein Lieblingsort ist schlicht Am allerliebsten ein wilder und ergreifend mein Bett: Lesen, Weg, dessen Ausgang mir Essen, Schlafen, Schreiben, sogar noch unbekannt ist. Hier spüre Kaffee trinken (natürlich beim ich mein Herz und meine Lesen) – all diesen und auch allen Freiheit und bin König meines anderen Lieblingsbeschäftigungen Lebens.“ mag ich im Bett am liebsten frönen.“ Willi Weitzel (Reporter & Abenteurer) David Safier (Drehbuchautor & Schriftsteller) 12
Küche KULTUREN Bon appetit! Afiyet olsun! Bissaha! Eet smakelijk! Essen verbindet – egal, in welcher Sprache man sich an den Tisch setzt oder auf den Teppich. So unter- schiedlich die Menschen, die Nationen, auch sein mögen, Mahlzeiten haben in allen Kulturen einen besonderen Stellenwert. Und was eignet sich besser, um fremde Menschen und Kulturen kennenzulernen, als ein gemeinsames Essen? a 13
Küche // KULTUREN Welten verbinden „Welcome Dinner Bremen“ lädt ein von Andreas Troché Wir kennen alle dieses Bild: Fröhliche Menschen metern leben müssen? Krachen da nicht Welten sitzen zusammen an einem gedeckten Tisch. Wir aufeinander? „Die Begegnungen zwischen Flücht- laden gerne Freunde zum Essen ein, weil das ge- lingen und Einheimischen sind nicht auf Augenhö- meinsame Genießen verbindet und Beziehungen he“, sagt Eba Akermann, die Initiatorin der Welco- festigt. Aber funktioniert das auch mit Fremden me Dinner aus Schweden. „Aber wenn du dich hin- aus einer anderen Kultur? Genau das ist die Idee setzt, um am selben Tisch zu essen, verschwindet des „Welcome Dinner Bremen“: Bremerinnen und das. Das ist sehr stark!“ Bremer laden Geflüchtete zu sich nach Hause zum Essen ein. Einmalig und ohne weitere Verpflich- Könnte unser Essen – Auswahl, Zubereitung, Ritua- tungen. le – die Gäste nicht auch irritieren? Aber angesichts der vollen Teller sind wir beruhigt. Unser vorberei- Gute Idee, finden meine Frau, unsere 16-jährige tetes Crossover mit Ofengemüse, Reis und Lachs Tochter und ich. Aber dann tauchen auch Bedenken gefällt offenbar. Nur, dass hier der Mann kocht und auf: Wer kommt da? Wollen wir wirklich unbekann- auftischt, finden unsere Gäste wohl ungewöhnlich. te Menschen aus einem Krisengebiet an unseren Nachdem jeder einen gefüllten Teller vor sich hat, heimischen Tisch holen? Schaffen wir das? tritt ein Moment der Stille und Aufmerksamkeit ein. Wir genießen und entspannen gemeinsam. Viel- Obwohl sie sich doch mindestens genauso unsicher leicht, weil uns trotz kultureller Unterschiede we- fühlen müssten, scheinen unsere ersten Gäste vor sentliche Bedürfnisse verbinden: Hunger stillen, allem neugierig auf uns zu sein. „Wir waren noch genießen, nicht alleine sein, mit anderen kommuni- nie bei einer deutschen Familie“, begründet die 17- zieren. Letzteres fällt leichter, sobald der Bauch ge- jährige Tochter einer fünfköpfigen afghanischen füllt ist. Unter Führung der Kinder reden wir in Familie das Interesse an unserer Einladung. Ohne einem Mix aus Deutsch und Englisch über Kochen, Neugier, etwas Mut und Vertrauen auf beiden Sei- das Leben unserer Gäste vor der Flucht, den Alltag, ten geht es nicht. Zukunftspläne, Deutsch lernen. Was diese Familie an Brüchen erfahren musste, können wir nur Als die Gäste dann vor der Tür stehen, kocht die Un- ahnen. Es bleibt ein Herantasten, ein vorsichtiges sicherheit noch einmal hoch: Werden wir alles rich- Hineinblicken in unsere verschiedenen Welten. tig machen, wird man sich verstehen? Erst die Frau begrüßen, wie hierzulande üblich? Mit Handschlag? Wir wissen nicht, wie unsere Gäste das Ganze Oder aus Respekt zuerst den Mann als Familien- wahrgenommen haben. Für uns können wir sagen, oberhaupt? Die Begrüßung geht etwas durcheinan- dass wir am Ende das Gefühl haben, uns von Be- der, worüber wir alle lachen. kannten zu verabschieden. Das Bild vom gemeinsa- men Essen stimmt also auch, wenn sich anfangs Scheu betrachten die Gäste unsere Wohnung. Was Fremde gegenübersitzen. 쐍 denken sie von uns? Wie fühlen sie sich inmitten unseres Wohlstands, während sie auf 20 Quadrat- www.welcome-dinner-bremen.de 14
Luka Lübke: Essen ist Musik „Mit dem Kochen ist es wie mit der Musik. Beide bestehen aus vielen unterschiedlichen Komponenten. Süß und sauer, hart und weich, schnell und langsam, hoch und tief, scharf und bitter. Eine einzelne Zutat für sich wirkt allein oft lang- weilig und nichtssagend. Das perfekte Ei ohne Salz, ein Geigensolo ohne Pianist, ein gegrillter Fisch ohne Zitrone? Erst das Zusammenspiel aller Einzelkomponenten führt zum Wohlklang – sowohl auf dem Teller als auch im Kon- zertsaal. Und häufig sind es die geringen, unauffälligen Komponenten, wie etwa Salz und Pfeffer. Oder die un- scheinbaren, schüchternen, wie eine Prise Zimt oder der Kontrabass. Manchmal auch die schrillen, komischen, die das Ganze erst rund machen. So sind nie die Einzelzutaten, sondern das Miteinander das Geheimnis – jedes ist essen- ziell. Gemeinsames Essen ist mehr als nur das elementare Be- dürfnis, den Magen zu füllen, um satt zu werden. Genuss geht über das Körperliche hinaus. Er verbindet uns, er- weckt Erinnerungen. Er macht uns füreinander verantwort- lich und für diejenigen, die unsere Lebensmittel angebaut haben. Und er bringt zwischenmenschlichen Austausch über soziale und kulturelle Grenzen hinweg. Wir kommen ins Gespräch – auch ohne Sprache. Die Freude am gemeinsamen Kochen und Essen teilt jeder Mensch – egal ob jung oder alt, egal welcher Herkunft und Farbe, egal ob mit oder ohne Behinderung. Und wir lernen voneinander: Jede unserer Landesküchen hat ihre Eigenart und Raffinesse durch die Einflüsse fremder Esskulturen. Sie ist das Ergebnis von zusammen leben – und zusammen kochen.“ Luka Lübke ist Köchin, auch bekannt aus den Herdbesu- chen bei „buten & binnen“. Seit Herbst 2016 ist sie Küchen- chefin vom „Marie Weser“. www.marieweser.de 쐍 15
Küche // KULTUREN Tischsitten in aller Welt Aufessen oder nicht? Mit Besteck oder den Fingern? Schlürfen erwünscht oder verboten? Essen ver- bindet, aber was ist mit den Essgewohnheiten? Gerade am Tisch gibt es viele unterschiedliche Ritua- le, Vorlieben und Eigenheiten. Ein Blick um den Globus. In den USA wird das In Italien isst man Spa- Wenn man in der Türkei In Syrien gilt eine Einla- Essen zumeist vor Beginn ghetti nur mit der Gabel. zum Essen eingeladen wird, dung als große Ehre – der Mahlzeit in mund- Wie bei uns in Deutschland kann es durchaus sein, daher sollte diese zunächst gerechte Häppchen ge- den Löffel zu Hilfe zu neh- dass man auf dem Teppich höflich abgelehnt werden. schnitten und anschließend men, ist verpönt. Abbeißen sitzt und an einem Tablett Erst nach dreimaliger Wie- nur mit der Gabel verzehrt. oder Zerschneiden der oder niedrigen Tisch isst. derholung gilt das Angebot. Diese Sitte soll noch aus Nudeln gilt auch als unhöf- Dabei sollte man darauf Beim Essen sitzt der wich- der Zeit stammen, in der lich – daher ist Geschick achten, dass man nieman- tigste Gast, meistens der man sicherheitshalber gefragt. dem die Fußsohle zeigt. älteste Mann, auf einem lieber eine Hand am Colt Das gilt als Beleidigung. besonderen Platz. Er be- hatte. Am besten sitzt man im ginnt das Mahl und beendet Schneidersitz. es auch. Denn es gilt die Regel: Alle essen genauso lange wie der Ehrengast. 16
In Russland sollte In Indien wird mit der In China ist es üblich, In Japan werden Suppen man immer einen kleinen Hand gegessen. Aber nur mit offenem Mund zu getrunken beziehungsweise Happen übrig lassen. Das mit der rechten. Denn die kauen, zu schmatzen und geschlürft. Das darf durch- ist nicht unhöflich, sondern linke Hand wird nach dem zu rülpsen. Als anstößig gilt aus lautstark sein und gilt signalisiert, dass man satt Toilettengang statt Papier hingegen, sich bei Tisch als Kompliment. Alle ande- ist. Wer nämlich seinen zur Reinigung benutzt. Im die Nase zu schnäuzen. ren Speisen werden mit Teller leer isst, dem wird Essen hat sie auch nach Außerdem ist es durchaus Stäbchen gegessen. Mit ständig neues Essen dem Waschen daher nichts üblich, in Restaurants zu ihnen sollte man nicht he- nachgelegt. zu suchen. Am geschick- rauchen. Und das nicht nur rumspielen, auf andere testen formt man mit nach, sondern auch wäh- Leute zeigen oder sie able- Daumen, Zeigefinger und rend des Essens. cken. Außerdem werden Ringfinger ein Reisbäll- die Stäbchen nie in der chen, mit dem man dann Reisschale abgelegt. Das ist die anderen Speisen auf- nur bei den Opfergaben für nimmt. die Ahnen üblich und soll ansonsten Unglück bringen. 17
Küche // KULTUREN Mein Lieblingsessen: Seniat belahma Auflauf aus Tomaten, Kartoffeln und Hackfleisch Darwish Barkel kommt aus Syrien. Seit seiner Kindheit liebt er dieses Gericht. Jetzt kocht er es in seiner WG im Bremer Viertel. Die Mengen kann man nach Lust und Laune verändern. Zutaten für eine Auflaufform: 1 kg Kartoffeln 500 g Tomaten 1 kg Hackfleisch (Darwish mag Lammfleisch) 2 Zwiebeln 3 Knoblauchzehen 1 Chilischote 1 bis 2 TL „Siebengewürz“ – oder eine Mischung aus Koriander (oder Kreuzkümmel), Nelke, Zimt, Muskatnuss, Ingwer, weißem und schwarzem Pfeffer Salz 2 Bund frische (glatte) Petersilie Für dieses Gericht braucht man einen Fleischwolf, der alle Zutaten fein zerkleinert. 1. Kartoffeln schälen, würfeln und durch den Fleischwolf drehen. 2. Tomaten waschen, würfeln und im Fleischwolf zerkleinern. 3. Zwiebel und Knoblauch putzen, Chili von den Kernen befreien und alles im Fleischwolf zerkleinern. 4. Das Fleisch, falls es noch nicht gehackt ist, ebenfalls Guten Appetit! durch den Fleischwolf drehen. 5. Alle Zutaten vermengen und mit den Gewürzen vermischen. 6. In der Auflaufform flach verteilen und für etwa 40 bis 60 Minuten bei 200°C im Backofen garen. 7. Die Petersilie fein schneiden und über den fertigen Auflauf streuen. 8. Mit einem Salat und Ayran (einem Getränk aus Joghurt und Mineralwasser) servieren. 18
Straße MOBILITÄT Zum Bäcker, in die Schule oder zur Arbeit, zu Freunden und Verwandten, zum Sportverein und wieder nach Hause: Täglich legen wir Deutschen durch- schnittlich 42 Kilometer zurück. Mit dem Auto, dem Fahrrad, mit Bus und Bahn oder zu Fuß. Es scheint: Wer nicht unterwegs ist, verpasst den An- schluss ans Leben. Aber mobil zu sein ist nicht für jeden Menschen so einfach möglich. Besonders Rollstuhlfahrer, Sehbeeinträchtigte und Senioren sind jeden Tag Herausforderungen im Straßenverkehr ausgesetzt. Welche Barrieren müssen aus dem Weg geräumt werden? 1 19
Straße // MOBILITÄT 1 Die Umlaufschranken stehen zu eng zusammen, Menschen im Rollstuhl kommen da nicht durch 1 Zu enge Gehwege, Postkästen versperren den Weg ! Barrierefreie Rampe, um vom Ostdeich an die Weser zu gelangen 20
Weniger ist mehr Christoph Teiling testet Bremens Barrierefreiheit Ein schöner Samstagvormittag. Die Sonne scheint. Ich „Eine zuverlässige, durchgängige Begehbarkeit der Wohn- treffe Wilhelm Winkelmeier vom Verein „SelbstBestimmt straßen ist ebenso wichtig wie Orientierung und Sicherheit, Leben e. V.“ am Osterdeich an der Rampe zwischen Bürger- zum Beispiel an Ampeln und Haltestellen von Bus und haus Weserterrassen und Weserstadion. „Vor zehn Jahren Straßenbahn“, stellt Wilhelm nach unserem Ausflug durch gab es hier noch keine Möglichkeit, mit dem Rollstuhl rauf- die Wohnstraßen im Viertel fest. Den Ostertorsteinweg oder runterzukommen“, sagt Wilhelm, während wir ein wollen wir an der Ampel überqueren. Wir benutzen zusätz- Kind auf dem Laufrad und eine Rollstuhlfahrerin beobach- lich den Taster unter dem Ampelknopf und bekommen ten, die den Weg hinaufrollen. Jetzt ist die Rampe barriere- durch ein Vibrieren angezeigt, wann wir über die Straße frei und hat zwischendrin flache Stellen, die man zum Ver- gehen können. Wenn das Zusatzsignal für blinde und seh- schnaufen nutzen kann. behinderte Menschen funktioniert, ist es super. Wenn es fehlt, fehlen eben aber auch Orientierung und Sicherheit. 2005 haben wir in einer Kooperation der „Landesarbeits- „Gerade abends, wenn die Ampeln an manchen Stellen ab- gemeinschaft Selbsthilfe behinderter Menschen e. V.“ geschaltet werden und diese fühlbare und manchmal zu- (LAGS), „SelbstBestimmt Leben e. V.“ (SL) und dem Pla- sätzliche akustische Hilfe nicht mehr in Betrieb ist, können nungsbüro protze + theiling das Gutachten „Bremen baut sich blinde Menschen an Kreuzungen nicht ohne Hilfe orien- Barrieren ab“ bearbeitet. Seitdem sind manche Hindernis- tieren“, bemerkt Wilhelm. se im öffentlichen Raum verschwunden, aber auch noch viele vorhanden. Wo uns was den Weg versperrt, wollen wir Wir machen uns auf den Weg in Richtung Bürgerpark. An der auf einem Spaziergang erkunden. Kurfürstenallee können Menschen im Rollstuhl nun endlich problemlos die Straße ebenerdig an einer Ampel überque- Wir nehmen im Ostertorviertel eine Abkürzung zwischen ren. Bevor die Fußgängerampeln hier aufgestellt wurden, zwei Straßen. Ein Fußweg, der gegen zu schnelle Fahrrad- konnte man die Kurfürstenallee nämlich nur über wagemu- fahrer mit Umlaufschranken gesichert ist. Leider stehen die tig geschwungene Fußgängerbrücken mit langen Steigungen Schranken zu eng zusammen. Menschen im Rollstuhl von mehr als zehn Prozent überqueren. Undenkbar für Men- kommen dort selbst mit einem Sport-Rollstuhl schwer schen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Und auch durch. Mit einem Elektro-Rollstuhl gibt es keine Chance, blinde und sehbehinderte Menschen finden den Weg an der den Weg zu nutzen. Ärgerlicherweise sind Fahrräder an Ampel mit Zusatzeinrichtungen für blinde Menschen nun viel der Rampe abgestellt, die den Weg noch zusätzlich ein- leichter als den Weg über die Brücke. Früher sind alle – ob engen. jung oder alt – oft querbeet über die Insel in der Fahrbahn- mitte gelaufen. Das gab viele gefährliche Situationen. So In den Seitenstraßen des Viertels lauern viele weitere Bar- freuen wir uns über einen bequemen und sicheren Weg zum rieren: schmale Gehwege, die leider allzu oft zugeparkt Bürgerpark, dem Ziel unseres kleinen Ausflugs. sind und ein Umkehren erzwingen. Der Bordstein ist selten abgesenkt und das Pflaster in der Fahrbahnmitte derartig Unser Fazit: Bei einem Spaziergang durch die Stadt können holperig, dass es mit Rollstuhl oder Rollator nicht nutzbar etliche Hindernisse und Barrieren große Umwege oder ist. Häufig sind Hindernisse, wie zum Beispiel Postkästen, nervige Situationen verursachen. Deshalb gilt bei Barrie- in die Gehwege gestellt. ren im öffentlichen Raum ganz klar: weniger wäre mehr. 쐍 21
Straße // MOBILITÄT „Alles für alle, bis alles alle ist“ Raul Krauthausen fordert, dass alle Barrieren fafallen llen l Herr Krauthausen, was bedeutet Barrierefreiheit für Sie? mand mit einer Behinderung auf eine Barriere stößt. Und Barrierefreiheit bedeutet für mich, dass alle Menschen Zu- Barrieren sind meiner Meinung nach häufig bürokratischer gang zu allen Orten, Bildung und Dienstleistungen haben. Natur. Das können zum Beispiel Gesetze sein, die verhin- Ob das Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, Kin- dern, dass Menschen mit Beeinträchtigung selbstbe- der oder Menschen mit Migrationshintergrund sind, ist völ- stimmt und gleichberechtigt leben können. lig egal. Für mich bedeutet Barrierefreiheit daher: Alles für alle, bis alles alle ist. Wie steht es mit der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum? Wie sieht es mit Barrierefreiheit und Teilhabe in Na klar, die U-Bahnen und Busse werden zunehmend bar- Deutschland aus – hat sich die Situation für Menschen rierefrei. Das liegt aber auch daran, dass wir in einem Land mit Beeinträchtigung in den letzten Jahren verbessert? leben, das zunehmend vom demografischen Wandel be- Verbessert hat sich gar nicht so viel. Man hofft zwar immer, troffen ist. Immer mehr ältere Menschen sind aufgrund dass Deutschland als eine der führenden Industrienatio- ihres fortgeschrittenen Alters auf Rollatoren und Gehhilfen nen ein Vorreiter ist. Aber im Vergleich zu Österreich, Groß- angewiesen, so dass sich der öffentliche Nahverkehr britannien oder den skandinavischen Ländern, die alle schon allein deshalb auf eine barrierefreie Nutzbarkeit sei- ähnlich wirtschaftlich stark sind, muss man schon feststel- ner Fahrzeuge einstellen muss. Darüber hinaus geht das len, dass Deutschland hintenansteht. Hier werden Men- Ganze viel, viel zu langsam. Die Forderungen, die von der schen mit Beeinträchtigung immer noch betrachtet, als Behindertenrechtsbewegung geäußert werden, sind teil- hätten sie einen Makel. Das soziale Modell von Behinde- weise 30 bis 40 Jahre alt. Vor diesem Hintergrund finde ich, rung sagt aber, dass diese erst dann entsteht, wenn je- dass hier in Deutschland doch relativ wenig passiert. 22
Was fordern Sie? Denn wie es so schön heißt: Wer keine Lust hat, findet Aus- Alle Menschen sollten in der Lage sein, selbstbestimmt reden, und wer Lust hat, findet Wege. Busse und Bahnen zu nutzen. Oder jeder sollte Taxi fahren können, selbst wenn er in einem elektrischen Rollstuhl Sie haben eine Wheelmap entwickelt. Was ist das? Und unterwegs ist, ohne dass das vier Tage vorher angemeldet wie soll sie die Barrierefreiheit zukünftig verbessern? werden muss. Einfach in den Zug einsteigen, ohne dass Die Wheelmap ist eine Online-Karte für rollstuhl-gerechte sich die Bahnmitarbeiter beschweren, dass die Hilfe nicht Orte. Menschen, die mit dem Rollstuhl unterwegs sind, angemeldet wurde. Alle Dienstleistungen im Bereich der oder auch Familien mit dem Kinderwagen können bewer- Mobilität müssen für alle jederzeit zur Verfügung stehen. ten, ob und wie zugänglich ihre Nachbarschaft ist. Orte Und zwar nicht nur werktags, sondern auch spontan werden nach drei Kriterien bewertet. Grün ist dabei ein Ort, Samstagnacht um 1 Uhr. der voll zugänglich ist. In einem Café bedeutet das, dass sowohl der Gastraum als auch die Terrasse und der WC- Oft hört man, dass Barrierefreiheit große Kosten verursacht, Bereich zugänglich sind. Gelb würde bedeuten, dass ich die nicht so leicht zu bezahlen sind. Wie sehen Sie das? zwar im Café einen Kaffee kaufen kann, ich aber nicht auf Menschen mit Behinderung können zunächst einmal die Terrasse komme. Und Rot bedeutet dann natürlich, nichts dafür, dass sie behindert sind. Es ist ein Menschen- dass man beispielsweise aufgrund von Stufen am Eingang recht, teilhaben zu können. Da sind Diskussionen über als Rollstuhlfahrer gar nicht in das Café hineinkommt. Die Kosten nicht angebracht. Ich wünsche mir, dass endlich Wheelmap kann man sich auf alle verschiedenen mobilen mal über die Vorteile von Inklusion geredet wird und darü- Endgeräte herunterladen, installieren und sich sofort an ber, unter welchen Voraussetzungen etwas möglich wäre. der Bewertung seiner eigenen Nachbarschaft beteiligen 쐍 Raul Krauthausen ist Buchautor und Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit. Die Wheelmap gibt es hier: www.wheelmap.org 23
Straße // MOBILITÄT Pack' die Badehose ein Reisen mit dem Martinsclub Wenn man eine Reise tut, dann kann man was erzählen. Aber nicht nur das – man hat unbekannte Gegenden erkun- det, fremde Menschen und Bräuche kennengelernt, den Horizont erweitert und vermutlich auch mal so richtig ab- geschaltet. Kaum eine Freizeitbeschäftigung ist so vielseitig und erholsam wie das Reisen. Hier schildern einige Teilnehmer, die mit dem Martinsclub unterwegs waren, ihre liebsten Reiseziele und -erinnerungen. Burkhard Lemke ist ehrenamtlicher Reisebegleiter beim Martinsclub. Sein liebstes Reiseziel Ibiza. Seine schönste Urlaubserinnerung Das Erlebnis, von einem Delfin Auge in Auge intensiv „begutachtet“ zu werden. Ingrid Schröfel ist regelmäßig mit dem Martinsclub unterwegs, „weil es so schön ist!“ Ihr liebstes Reiseziel Trebel, bei Lothar und Ina. Ihre schönste Urlaubserinnerung Eine Kutschfahrt in Trebel. Ihr Traumziel Ist und bleibt Trebel. Winnie Sporen ist gerne mit dem Martinsclub auf Reisen. Ihr liebstes Reiseziel Der Reiterhof, auf dem sie mit dem Martinsclub war. Ihre schönste Urlaubserinnerung Die Pferde waren so nett auf dem Reiterhof. Sie haben sich gerne streicheln lassen. Ihr Traumziel Besonders das Pferd Lydia war sehr lieb! Seit vielen Jahren bietet der Martinsclub Gruppenreisen an, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen zugeschnitten sind. Inklusive Reisen gehören zum Programm – es können also auch Reiselustige ohne Beeinträchtigung mit dem m|c die Welt entdecken. Für alle Geschmäcker und Altersgruppen findet sich die passende Tour. Auf allen Reisen gibt es Begleitpersonen, die Unterstützung bieten. Der Betreuungs- schlüssel liegt in der Regel bei 1:3 – also drei Reisende, eine Begleitperson. Je nach Reise sind zwischen 6 und 16 Teilnehmer unterwegs. Mehr Infos gibt es auf: www.martinsclub.de 쐍 24
Wohnzimmer SEXUALITÄT & PARTNERSCHAFT Mehr als jeder dritte Haushalt in Deutschland ist ein Single-Haushalt. Jedoch nur 10 Prozent dieser Singles möchte auch alleine bleiben. Die meisten Menschen wünschen sich eine feste Partnerschaft. Patchworkfamilien, gleichgeschlecht- liche Partnerschaften, Fernbeziehungen … zum alten Muster „Vater, Mutter, Kind“ sind einige dazugekommen. Jeder Mensch hat das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Doch trifft das auch auf Menschen mit Beeinträchtigung zu? 25
Wohnzimmer // SEXUALITÄT & PARTNERSCHAFT Mein Körper gehört mir! Sexuelle Selbstbestimmung für alle Menschen von Karima Stadlinger Alle Menschen, auch beeinträchtigte Men- Förderung – auch beim Thema Sexualität. schen, dürfen ihre eigene Sexualität frei Oft ist es für sie schwerer, an gute Informa- bestimmen. Sie haben ein Recht auf Flirt, tionen und Aufklärung, besonders in leich- Liebe, Partnerschaft, Zärtlichkeit und Lei- ter Sprache, zu gelangen. Sie laufen eher denschaft. Alle Menschen haben ein Recht Gefahr, ausgenutzt und abgewertet zu wer- darauf, auszuprobieren, Risiken einzugehen den und Machtmissbrauch zu erleben. Viele und zu scheitern. Beeinträchtigte machen die Erfahrung, dass ihre Körpergrenzen überschritten werden. Dies erscheint uns heute auch für beein- Besonders beeinträchtigte Frauen sind dop- trächtigte Menschen selbstverständlich. Doch pelt so häufig von sexueller Gewalt betrof- es war ein langer Weg: Weg von Fremd- fen. Nahezu jede beeinträchtige Frau erlebt bestimmung, totgeschwiegener Sexualität, in ihrem Leben körperliche und seelische Karima Stadlinger arbeitet fehlender Aufklärung und fehlender Privat- Gewalt. Dies ist gerade durch neuere Stu- in der Beratungsstelle sphäre. Hin zur Behindertenprotestbewe- dien in erschreckendem Maße deutlich ge- Schattenriss, Beratungs- gung und zu mehr Selbstbewusstsein. Es worden. stelle gegen sexuellen wird in den Behinderteneinrichtungen, bei Missbrauch an Mädchen der Sexualbegleitung für beeinträchtigte Was kann helfen, damit Menschen ihr Recht e. V. in Bremen. Menschen und unterstützter Elternschaft auf sexuelle Selbstbestimmung leben kön- Sie ist Dipl.-Pädagogin, immer selbstverständlicher, über sexualpä- nen? Wie können sie vor Übergriffen oder systemische Familienbera- dagogische Konzepte zu sprechen. Die seit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim- terin und Supervisorin 2009 in Deutschland geltende UN-Behinder- mung geschützt werden? Wie können sie sowie Traumaberaterin. tenrechtskonvention ist dabei ein Meilen- sich selbst schützen? Arbeitsschwerpunkte: stein. Sie setzt sich für die Beseitigung der Beratung von Mädchen und Benachteiligung von Menschen mit Behin- Wenn Kinder bereits in der Grundschule und Frauen mit Lernschwierig- keiten und geistigen derungen ein und garantiert deren sexuelle dann in weiterführenden Schulen in inklusi- Beeinträchtigungen, auch in Selbstbestimmung, Ehe- und Familienpla- ven Klassen gut aufgeklärt werden, altersan- der Onlineberatung. nung sowie das Recht auf eigene Kinder. gemessen und auf alle zugeschnitten. Wenn Auch sie haben ein Recht auf Teilhabe an sie Wissen über Sexualität erwerben. Wenn Gesellschaft. Sie sind Bürger mit denselben sie lernen, Worte zu finden, Körperteile zu Rechten wie alle Menschen. benennen, ihren Gefühlen zu vertrauen. Wenn sie erfahren, wo sie Hilfe und Unter- Beeinträchtigte Menschen sind aber auch stützung bei erlebten Übergriffen holen kön- mit besonderen Lebensbedingungen kon- nen. Und wenn sie in sensiblen, feinfühligen, frontiert und sie werden behindert: Sie kön- sorgsamen Räumen leben können und erle- nen sich manchmal nicht so gut wehren und ben, dass Grenzen und Rechte eingehalten haben teilweise ein geringes Selbstwertge- werden. Dann sind wir auf einem guten Weg fühl. Sie brauchen mehr Unterstützung und in eine inklusive Gesellschaft. 쐍 26
Let’s talk about sex … Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Wer bin ich? Was macht mir Lust und Freude? Mit wem möchte ich glücklich werden? Die Antworten auf diese Fragen muss Regenbogenfamilien - jeder Mensch für sich selbst finden. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Sexualität und Partnerschaft zu leben. In Deutschland hat zum alten Muster der Familie sind jede Person ein Recht auf ihre Sexualität. Doch was ist eigentlich genau erlaubt und was nicht? einige dazugekommen. Hier können Sie Ihr Wissen testen: Frage 1 Ab wann dürfen Jugendliche in Deutschland Sex haben? a. Ab 14 Jahren b. Ab 16 Jahren c. Ab 18 Jahren Frage 2 Muss man jemanden um Erlaubnis fragen, wenn man Sex haben möchte? a. Ja, die Eltern b. Ja, die Person, mit der man schlafen möchte c. Ja, den besten Freund / die beste Freundin Frage 3 Wie alt muss eine Person sein, um Pornos schauen zu dürfen? a. Im Internet gibt es keine Altersbeschränkung b. Mindestens 18 Jahre alt c. Es ist egal, solange man sie nur zum Spaß guckt Frage 4 Dürfen erwachsene Menschen mit Behinderung in Deutschland eine Familie gründen? a. Ja, alle die es möchten, ohne Ausnahme b. Kommt auf die Behinderung an c. Nur mit Zustimmung eines Sachverständigen Die Antworten stehen auf der nächsten Seite. 27
Wohnzimmer // SEXUALITÄT & PARTNERSCHAFT Let´s talk about VERLIEBT… sex Antworten Antwort a ist richtig: In Deutschland dürfen Jugendliche ab 14 Jahren Sex mit jemand anderem haben, vorausgesetzt, dass beide es wollen und nicht dazu gedrängt oder gezwungen werden. Bis zum Alter von 18 Jahren kann Sex in besonderen Fällen verboten sein. Es kommt dabei auf das Verhältnis der beiden Personen an (z. B. ist Sex zwi- schen Minderjährigen und Lehrern bzw. Lehrerinnen verboten). Antwort b ist richtig: Es muss die Person zustimmen, der man näher kommen möch- te. Für alle sexuellen Handlungen gilt: Freiwilligkeit. Niemand darf unter Druck gesetzt oder gar zu Sex gezwungen werden. Kinder unter 14 Jahren stehen unter besonderem Schutz, Sex mit ihnen ist verboten. Antwort b ist richtig: Ab 18 Jahren kann jeder selbst entscheiden, ob er oder sie Por- „Ich bin diejenige, die die Hosen anhat“, nos ansehen möchte. Manche finden Pornos aufregend, andere sagt Michèle und fügt lachend hinzu „... einfach nur langweilig und doof. Pornos arbeiten mit Übertrei- wenn es ums Kochen geht.“ Matthias ist bungen und sind keine Anleitungen für das eigene Sexualleben. das nur recht. Ihm schmeckt alles, was Es ist viel sinnvoller, sich gegenseitig zu sagen, was einem gefällt seine Frau in der Küche zaubert. Ansons- und was nicht. ten entscheiden die beiden ganz gleichbe- rechtigt. Zum Beispiel, wenn es um die Antwort a ist richtig: Auswahl der Filme geht, die sie gemein- Menschen mit Behinderung haben die gleichen Rechte wie alle sam schauen. „Wir machen oft DVD-Aben- anderen Menschen in Deutschland. Sie dürfen somit auch selbst de, auch mit Freunden“, erzählt Michèle. entscheiden, mit wem sie Sex haben, wen sie heiraten und mit Allerdings sind diese Abende nichts für wem sie wann Kindern haben möchten. Für Eltern, die eine Be- schwache Nerven, denn die beiden lieben hinderung haben, gibt es spezielle Angebote und Unterstüt- Horror- und Actionfilme. Aber eine Hand- zungsmöglichkeiten. Der besondere Schutz der Familie und das lung müssen sie haben, sonst gefallen sie Kindeswohl stehen auch hier an erster Stelle. Matthias nicht. Seine Frau hat sogar schon als Statistin in einem Film mitgespielt, er- Diese Fragen und Antworten entstanden in Zusammenarbeit zählt sie stolz, in „Finnischer Tango“ von mit pro familia Bremen für die Ausstellung „Lieblingsräume“. Eike Besuden. Seit über 40 Jahren informiert und berät pro familia Menschen rund um die Themen Liebe, Sexualität und Partnerschaft. Wei- Michèle, 32, und Matthias, 39, sind seit tere Informationen unter gibt es unter www.profamilia.de 쐍 2011 ein Paar. Damals, auf dem Sommer- 28
… VERLOBT… VERHEIRATET… Zu Besuch bei Michèle und Matthias fest ihrer Arbeitsstelle, hat er sie einfach folgten ein Polterabend mit viel zerdepper- „Er liebt mich so, angesprochen und gefragt, ob sie sich eine tem Geschirr und eine romantische Hoch- Beziehung mit ihm vorstellen könnte. Mi- zeitsfeier. Natürlich mit cremeweißem wie ich bin, chèle lacht: „Ganz nach dem Motto: Wenn Hochzeitskleid und Anzug, mit Sektemp- ich schon mal auf dem Sommerfest bin, fang und Buffet, mit vielen Verwandten und und ich liebe ihn so, muss ich auch eine Frau klarmachen.“ Freunden. Michèle schwärmt: „Es war Dass mehr dahinter steckte, merkten die wunderschön, ganz unbeschreiblich!“ wie er ist.“ beiden bald. 2013 zogen sie zusammen, ein Jahr später heirateten sie. Einfach war das Für Matthias ist die Sache einfach: Er Michèle nicht, die Familie hatte Einwände. Denn: möchte eine Frau, die ehrlich ist und zu Michèle hat das Down-Syndrom, Matthias ihm passt. In Michèle hat er genau das ge- eine Lernbehinderung. Ihre Mutter hat dem funden. „Und welche Frau ist schon nor- Paar „Steine in den Weg gelegt“, wie Mi- mal?“, fragt er mit einem Augenzwinkern. chèle erzählt. Auch Matthias' Familie hatte Für Michèle war die Beziehung am Anfang sich für den jungen Mann eine Frau ohne nicht ganz so einfach, denn sie hatte schon Handicap vorgestellt. „Mein Onkel hatte einige Enttäuschungen hinter sich. Nach Bedenken. Aber dann hat er sie kennenge- und nach vertrauten sich beide. Und längst lernt und mir gesagt, die müsse ich mir weiß sie: „In meinem Mann habe ich das warmhalten“, erinnert sich Matthias. Den gefunden, was ich mir von einem Traum- Heiratsantrag machte er auf Knien, ganz, mann gewünscht habe. Er liebt mich so, wie wie es sich gehört. Nach dem erfreuten Ja ich bin, und ich liebe ihn so, wie er ist.“ 쐍 29
Wohnzimmer // SEXUALITÄT & PARTNERSCHAFT Medienkoffer bringt Vielfalt in KITAs Warum kann Lara nicht sprechen? Wieso hat Oscar zwei Mamis? Kinder sind von Natur aus neugierig. Ein guter Zeit- punkt also, um ihnen die Vielfalt der Gesellschaft aufzuzeigen und Fragen zu beantworten. Das RAT&TAT-Zentrum Bremen hat verschiedene Kinderbücher, Infomaterialien und Fachbü- cher zusammengestellt, die für eine inklusive und vielfältige pädagogische Praxis in Kindertageseinrichtungen hilfreich sind. Der Medienkoffer kann im RAT&TAT-Zentrum (Tel. 0421- 700007) kostenlos ausgeliehen werden. Nicole Müller, Kultur- wissenschaftlerin und Mutter, hat die Bücher gelesen und kann zwei besonders empfehlen: „Florian lässt sich Zeit“ von Adele Sansone Florian lässt sich Zeit – bei allem, was er tut – auch beim Trös- ten und Liebhaben der Menschen um ihn herum. Mir gefällt, wie liebevoll hier die Stärken und Besonderheiten eines Kindes mit Down-Syndrom in einer Geschichte erzählt werden, die einen Tag im Kindergarten aus Florians Perspektive zeigt. „Alles Familie!“ von Alexandra Maxeiner Dieser Klassiker vermittelt anschaulich und kindgerecht viel- fältige Lebensweisen und zeigt, was alles Familie sein kann. Dabei finde ich besonders sympathisch, dass eine Familien- form gleichberechtigt und selbstverständlich neben der ande- ren steht. Egal, ob Mutter-Vater-Kind-Modell, Trennungssi- tuation, Patchwork- oder Regenbogenfamilie. Die Schilderun- gen typischer familiärer Eigenheiten und die wunderbaren Illustrationen bringen selbst Erwachsene zum Schmunzeln und jeder Leser findet sich irgendwo wieder. Kurz: Ein Buch, das wirklich jeder und jedem ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt! 쐍 30
Klassenzimmer AUSBILDUNG Der Lehrer, der die Schüler mit dem Rohrstock züchtigt, gehört glücklicher- weise der Vergangenheit an. Heute sieht Schule anders aus. Lehrer-Teams und Schulassistenten, Freiarbeit, Lernen an Projekten oder Gesprächskreise: Die „Pädagogik der Vielfalt“ soll eine Lernatmosphäre schaffen, in der jedes Kind seine eigenen Fähigkeiten und Talente entdecken und entwickeln kann. Denn jeder Mensch lernt anders. Und wie sieht die Schule der Zukunft aus? 31
Klassenzimmer // AUSBILDUNG „Um mich wohl zu fühlen, brauche ich Musik, eine Bühne, ein Bett und Spiele für meinen Computer.“ Felix (14 Jahre, Oberschule an der Julius Brecht Allee) „Ich lerne am liebsten entspannt beim Spazieren- gehen mit meiner Katze. Es tut mir gut, wenn ich laufe, die Natur rieche und richtig abschalten kann.“ Bastian (13 Jahre, Schule an der Marcusallee) „Ich lerne gerne in der Küche. Da macht Mama mit Jannik Hausaufgaben, dann krieg ich alles mit und fühle mich nicht so allein.“ Marlen (9 Jahre, Geschwisterbibliothek) „Ich lerne am liebsten in meinem Zimmer. Ich habe noch Sachen dazu getan, die ich haben möchte: einen Fernseher und eine Hängematte. Außerdem hat mein Zimmer eine Tür, damit ich rausgehen kann.“ Imme (7 Jahre, Kinderschule Bremen) 32
„Ich lerne in der Hängematte“ Lieblings-Lernorte im Karton Wie lerne ich am liebsten? Wo macht mir Lernen Spaß? Wie sieht mein „Lieblings-Lernort“ aus? 80 Schüler und Schüle- rinnen zwischen 5 und 14 Jahren setzten sich mit diesen Fra- gen auseinander, diskutierten über Lernbedingungen und bastelten ihren Lieblings-Lernort im Karton. „Die Kinder waren mit Begeisterung und Ernst bei der Sache“, erinnern sich die Lehrerinnen. Sie waren erstaunt, wie genau viele Kinder wussten, was sie zum Lernen brauchen und wo „Mein Lieblings-Lernort ist die Uni. sie dieses am liebsten tun. Auch Schüler, die sonst einige Unter- Ich möchte auf die Uni gehen. stützung benötigen, haben ganz zielsicher ihren eigenen Lieb- Da kann man ganz viel lernen.“ lings-Lernort im Pappkarton gestaltet. Muhamed (10 Jahre, Georg-Droste-Schule) Entstanden sind überraschend unterschiedliche und persön- liche Lieblings-Lernräume. Eine Gemeinsamkeit lässt sich je- doch feststellen: Ein Lieblings-Lernort ist dort, wo man sich wohlfühlt, wo man entspannt ist – und das ist häufig außer- halb des Klassenzimmers. Deshalb fasst eine Lehrerin ihre Erkenntnis aus dem Projekt auch so zusammen: „Schule ist nicht immer der richtige Ort, um zu lernen. Wir müssten die Schule öfter verlassen und neue Möglichkeiten suchen.“ 쐍 „An meinem Lieblings-Lernort lerne ich am Strand in der Hänge- matte und lese mein Lieblings- buch. Meistens lerne ich aus Büchern. Geschichten helfen mir.“ Marlene (8 Jahre, Kinderschule Bremen) „Mein Lieblings-Lernort ist der Hahner Busch, ein Wald. Da kannst du viel über die Natur lernen.“ Anekin (12 Jahre, Georg-Droste-Schule) „Ich lerne Englisch mit Justin Bieber.“ Lisa (14 Jahre, Schule an der Marcusallee) 33
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