LINKE STRATEGIEN IN DER EUROKRISE - EINE KOMMENTIERTE ÜBERSICHT ANALYSEN - ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG

Die Seite wird erstellt Kevin Altmann
 
WEITER LESEN
Analysen

Parteien und Demokratie

Linke Strategien
in der Eurokrise
eine kommentierte ÜBERSICHT
Mario Candeias
Linke Strategien
in der Eurokrise
einschlieSSlich einer kommentierten Synopse der
europapolitischen Positionen der Partei DIE LINKE
Mario Candeias
unter Mitwirkung von Cornelia Hildebrandt, Etienne Schneider, Thomas Sablowski,
Horst Kahrs, Judith Dellheim, Erhard Crome und Sabine Reiner
Inhalt

1 Autoritärer Neoliberalismus und Postdemokratie            5
in der Europäischen Union
1.1 Surfen auf der Krise: die Exportökonomie
der Bundesrepublik                                          6
1.2 Perspektive für die Krisenländer?                       9
1.3 Sonderwirtschaftszone Südeuropa?                       12

2 Europa.links? (Divergierende) Positionen
der Partei DIE LINKE – eine Synopse                        15
2.1 Kurzfristige Krisenintervention                        15
2.2 Finanzmarktregulierung und öffentliches Bankensystem   17
2.3 Europäische Ausgleichsunion                            21
2.4 Marshallplan, europäische Industriepolitik und
sozial-ökologischer Umbau                                  22
2.5 Gerechte Steuern: Reichtum ist teilbar                 24
2.6 Sozialkorridore und Mindeststandards                   25
2.7 Exit – Ausgewählte Positionen jenseits der Partei      26

3 Die Neugründung Europas                                  29
3.1   Zwischen Pro-Europa und Euroskepsis                  29
3.2   Die Verdichtung gesellschaftlicher Mobilisierung     31
3.3   Strategische Unterbrechung                           34
3.4   Mehrheiten gewinnen im Herzen der Bestie?            35

Literatur                                                  38
4   1 Autoritärer Neoliberalismus und
    Postdemokratie in der Europäischen Union

    Es bestätigt sich, dass die (wahrschein-        wühlt» und sie daher – insbesondere in Kri-
    lich) «letzte Konjunktur» des Neoliberalis-     senzeiten – «sich nach den unvollständi-
    mus (Candeias 2004 u. 2009) seine auto-         gen, unterentwickelteren und eben darum
    ritäre Wendung ist. Er begegnet der Krise       gefahrloseren Form derselben» [Demokra-
    (wie in vorangegangenen großen Krisen)          tie] zurücksehnt (Marx, MEW 8: 140). Für
    mit einer Intensivierung der alten Regu-        den neoliberalen Vordenker Friedrich Au-
    lationsmechanismen (Candeias 2008; IfG          gust von Hayek (1980: 156) oder Ordolibe-
    2011). Die Krise wird genutzt, um neoli-        rale wie Wilhelm Röpke (1958: 107) sind
    berale Prinzipien über Kürzungspolitiken        daher Demokratie und Diktatur keine un-
    und sogenannte Schuldenbremsen zu               vereinbaren Gegensätze, nur unterschied-
    verschärfen und europaweit institutio-          liche Formen der Machtgewinnung.
    nell mit Verfassungsrang festzuschrei-          Die technokratisch-politische «Lösung»
    ben. Das zielt auf die Wiederherstellung        führt keineswegs zu einer Überwindung
    des «Vertrauens» der Finanzmärkte und           der (organischen) Krise, sie dient vielmehr
    auf die Disziplinierung der Politik. Wenn       der ungleichen Verteilung ihrer Folgen
    nötig, werden gewählte Regierungen              und der Sicherung von Herrschaftsinte­
    zum Rücktritt gezwungen und durch ver-          ressen in Zeiten, in denen der neolibera-
    meintlich neutrale Technokraten ersetzt,        le Block an der Macht längst seine Fähig-
    wie 2011 in Griechenland oder Italien.          keit zur Führung und Organisation eines
    Hier wird Macht umverteilt: Die Kons-           aktiven Konsenses verloren hat. Ein An-
    truktion supranationaler Sachzwänge             zeichen hierfür waren zunehmende poli-
    wird als Begründung für eine Politik des        tische Instabilitäten vor allem in einigen
    Abbaus von Sozial- und Arbeitsrechten,          Ländern der Eurozone. Zwischen 2009
    der Privatisierung sowie der Enteignung         und 2012 fanden in zwölf Ländern der Eu-
    von Schuldnern genutzt. Sie dienen der          ropäischen Union, darunter neun Länder
    Delegitimierung der Ansprüche jener, die        der Eurozone, vorgezogene Wahlen oder
    nicht in erster Linie «stabilitätsorientier-    Regierungsumbildungen statt. Die Ursa-
    te» Interessen verfolgen: Beschäftigte,         chen hierfür sind in allen Fällen (außer in
    Gewerkschaften, Arbeitslose und sozial          Belgien) Auseinandersetzungen um das
    Benachteiligte. «Die Neuausrichtung der         Ausmaß radikaler Sozialkürzungen und
    EU wird damit noch stärker als zuvor zu         Reprivatisierungen infolge verordneter
    einem entscheidenden Kampfplatz für             Kürzungsmaßnahmen unter dem Diktat
    gesellschaftliche Entwicklungen, auch in        der Troika, bestehend aus Europäischer
    der Bundesrepublik»(IfG 2011: 6).               Kommission, Europäischer Zentralbank
    Marx beschreibt eine postdemokratische          und Internationalem Währungsfonds.
    Situation wie folgt: Die der kapitalistischen   Aber auch die im Amt befindlichen Re-
    Produktionsweise entsprechende «voll-           gierungen, zum Beispiel in Griechenland,
    endete» politische Form ist die Demokra-        Portugal, Spanien oder Slowenien, sind
    tie. Die Bourgeoisie lehrt jedoch «der In-      nicht stabil. Die bulgarische Regierung
    stinkt», dass die Demokratie «zugleich          ist Ende Ferbuar 2013 zurückgetreten.
    deren gesellschaftliche Grundlage unter-        Äußerst schwierig gestaltet sich die Re-
gierungsbildung derzeit in Italien. Ob So-    politischen Partner mehr haben bezie-                         5
zialdemokraten oder Konservative – die        hungsweise diese (einschließlich der
autoritäre «Austeritätspolitik» wird un-      Linken) als Teil des etablierten Systems
abhängig von Massenprotesten gegen            unfähig sind, gesellschaftliche Alterna-
die Bevölkerung durchgesetzt. Die Par-        tiven aufzuzeigen, entwickeln sich Anti-
teien verlieren selbst in den eigenen Rei-    Parteien: in Italien die Cinque Stelle (die
hen ihre Legitimationsbasis. 1,5 Millionen    Fünf-Sterne-Bewegung) von Beppe Gril-
Portugiesinnen und Portugiesen (15 Pro-       lo oder in Polen die Palikot-Partei. Proble-
zent der Bevölkerung) folgten am ersten       matischer noch: Es gewinnen rechtspo-
Märzwochenende 2013 dem Aufruf der            pulistische und rechtsextreme Parteien
«Empörten-Bewegung» und forderten –           an Stärke, in Griechenland oder Italien
ähnlich wie die Demonstrantinnen und          und vor allem in Ungarn, dem ersten EU-
Demonstranten in Spanien – den Rücktritt      Land, in dem das Parlament einem Ver-
der Regierung und das Ende der zerstö-        fassungsgericht das Recht auf die Prü-
rerischen Kürzungspolitik. Der Preis für      fung von Gesetzen hinsichtlich ihrer
die Troika-Kredite, 78 Milliarden Euro für    Verfassungskonformität entzogen hat.
Portugal, 65 Milliarden für Spanien und       Damit wird die Verteidigung der Demo-
31,5 Milliarden Euro für Griechenland (die    kratie zu einer europäischen Aufgabe,
nächste Kreditrate), sind strikte Kürzungs-   wobei es angesichts der weitverbreiteten
maßnahmen, die noch die letzten Reste         Wahrnehmung mangelnder Partizipa-
europäischer Sozialstaatlichkeit hinweg-      tionsmöglichkeiten darauf ankäme, die
fegen werden. In Bulgarien, wo diese nur      Kämpfe sozialer Bewegungen und linker
äußerst rudimentär vorhanden ist, kann        Parteien zusammenzuführen.
die drastische Anhebung der Strompreise       Auch in den Kernländern der Europä-
und anderer Lebenshaltungskosten durch        ischen Union wird die Zahl der Proteste
keine sozialen Transfers aufgefangen wer-     zunehmen, insbesondere wenn es tat-
den. Folgerichtig gingen die Menschen         sächlich zu einer Umsetzung der in den
dort Tag für Tag auf die Straße und klag-     «Memoranda of Understanding» festge-
ten ihr Recht auf eine warme Wohnung          legten Vereinbarungen zur Deregulierung
ein. Es kam zu schweren Auseinanderset-       nationaler Arbeitsmärkte und weiteren
zungen zwischen der Polizei und den Pro-      Privatisierungsmaßnahmen käme, die
testierenden, die den Ministerpräsiden-       von Irland, Griechenland und Portugal un-
ten Bojko Borissow Ende Februar 2013          terschrieben werden mussten, um Gelder
schließlich zum Rücktritt veranlassten.       aus dem europäischen Rettungsschirm
Wie lange sich die Regierung Griechen-        zu erhalten. Schon jetzt wird in Frankreich
lands unter dem Druck der anhaltenden         gegen die Regierungspolitik der Sozialis-
Proteste und Generalstreiks noch halten       ten demonstriert, die auf der Grundlage
kann, ist ebenso offen wie die Situation in   des Gallois-Berichts1 und in Anlehnung
Slowenien oder Spanien, wo Regierungs-
politiker in Korruptionsaffären verstrickt    1 In einem Gutachten für die französische Regierung schlägt
sind und weiter ungehemmt gekürzt wird.       Ex-EADS-Chef Louis Gallois 22 Maßnahmen vor, die einen
                                              – wie er es nennt – «Wettbewerbsschock» auslösen sollen,
Und dort, wo die politische Linke be-         um insbesondere die Industrie und die Arbeitsmärkte wie-
deutungslos geworden ist, wo soziale          der konkurrenzfähig zu machen. Im Kern geht es darum, die
                                              Lohnnebenkosten um 30 Milliarden Euro zu senken (vgl. auch
Bewegungen schwach sind oder keine            Dellheim/Wolf 2013).
6   an die deutsche Agenda 2010 einen Ab-       d.h. hat nur die Macht, die Krise selbst
    bau von Arbeitsrechten und sozialen Ab-     zu verlängern» (Gramsci 1991–2002:
    sicherungen vorantreiben.                   Heft 14, §58). Tatsächlich werden auch
    In Südeuropa, wo auf Konsensproduk-         systemimmanente Krisenlösungen blo-
    tion mittlerweile verzichtet wird, tritt    ckiert: ohne massive Kapitalvernichtung
    der Zwang offen zutage. Die herrschen-      oder Erschließung neuer Akkumulations-
    den Klassen sind uneinig angesichts         felder keine Bearbeitung der finanziellen
    der Unwägbarkeiten der Krise und hin-       Überakkumulation. Der in dieser Hin-
    sichtlich der Maßnahmen, die benötigt       sicht vielversprechende «Grüne Kapita-
    werden, um diese zu beenden: Die Re-        lismus» (oder green economy) wird durch
    regulierung der Finanzmärkte stockt, der    die Beharrungskraft «fossilistischer Ka-
    Schuldenabbau misslingt, die finanzielle    pitalgruppen» und die Beschränkungen
    Überakkumulation wächst (wenn auch          der Austeritätspolitik in seiner Dynamik
    etwas langsamer als vor 2008). Aber sie     behindert. Seine Potenziale lassen sich
    sind imstande, sich mit Blick auf die au-   unter dem autoritären Neoliberalismus
    toritäre Sicherung und Ausübung der         nicht realisieren (links-keynesianische
    Staatsmacht zu einigen, sich strategisch    Bearbeitungsformen haben zurzeit noch
    «auf den Staat als finalen Garanten ih-     weniger Durchsetzungschancen). Anto-
    res Überlebens zu fokussieren» (Porcaro     nio Gramsci unterscheidet zwei Formen
    2013: 135). Es wird «auf Sicht gefahren»,   des Autoritarismus (bzw. Cäsarismus):
    inkrementelle Politik wird zum Akt der      eine Form, die nur eine quantitative Ent-
    Vernunft in unübersichtlichen Zeiten er-    wicklung des bestehenden gesellschaft-
    hoben. Die Krise zwingt immer wieder zu     lichen Typus erlaubt (die Politik Napole-
    Anpassungen, Prinzipien müssen über         ons III.), und Formen (bezogen auf Cäsar
    Bord geworfen werden: Ob nun Schul-         und Napoleon Bonaparte), die tatsäch-
    denschnitte, Rettungsfonds, zusätzliche     lich auch zu qualitativen Neuerungen
    Hilfspakete, Lockerung der Zahlungs-        führen (vgl. ebd.: Heft 1, 194 f.). Der neo-
    bedingungen, Ankauf von Staatsschul-        liberale Autoritarismus ist zum Letzteren,
    den durch die Europäische Zentralbank       dem Cäsarismus, nicht in der Lage.
    (EZB) oder europäische Bankenkontrolle,
    in fast jedem Fall musste zumindest die
    deutsche Regierung ihre Position revidie-   1.1 Surfen auf der Krise:
    ren; häufig zu spät, womit sie die Krise    die Exportökonomie der
    zusätzlich schürte.                         Bundesrepublik
    «Für ein eigenes hegemoniales Pro-          «Wir sind gut durch die Krise gekom-
    jekt ist der Autoritarismus sicher unzu-    men», wird von der deutschen Regierung
    reichend, da Attraktivität und ökono-       und den hiesigen Medien immer wieder
    misches Potenzial begrenzt bleiben»         verkündet. Dabei fällt die wirtschaftliche
    (Candeias 2009: 16). Ergebnis ist, dass     Situation in der Bundesrepublik und die
    «verhindert wird, dass die Elemente der     in anderen EU-Ländern immer mehr aus-
    Lösung sich mit der nötigen Geschwin-       einander: Während die europäische Pe-
    digkeit entwickeln; wer herrscht, kann      ripherie in Schuldenkrise und Depressi-
    die Krise nicht lösen, hat aber die Macht   on versinkt, waren Krisenkorporatismus
    [zu verhindern], dass andere sie lösen,     und Krisenmanagement in Deutschland
vergleichsweise erfolgreich: Die magi-      Von der Bundesregierung bis hin zur IG       7
schen Worte lauten Bankenrettung, Kurz-     Metall sehen sich viele durch den Erfolg
arbeitergeld und Abwrackprämie – also       des «Modells Deutschland» bestätigt.
genau das Gegenteil von der Kürzungs­       In Zukunft werden wir in nachindustriel-
politik, die man anderen Ländern verord-    len Gesellschaften leben, hieß es lange.
net hat. Die Konjunkturprogramme hal-       Die USA und Großbritannien galten als
fen, die enormen Investitionsrückstände     Vorbild mit ihrer Ausrichtung auf gut be-
bei Schulen und anderen Infrastruktur-      zahlte Finanzdienste und billig entlohnte
einrichtungen hier und dort aufzuholen.     personennahe Dienstleistungen. Inzwi-
Einschnitte in soziale Leistungen und bei   schen ist klar geworden, dass der starke
öffentlichen Diensten fielen vergleichs-    Anteil der Industrie in der Bundesrepu-
weise moderat aus, da es bereits vor der    blik Beschäftigung gesichert hat (aller-
Krise zur Kürzung staatlicher Lohnersatz-   dings ist dies zwischen Dienstleistungs-
leistungen (vom Arbeitslosengeld bis hin    und Industriegewerkschaften durchaus
zur Rente), zur Verlängerung der Lebens-    umstritten, da auch skandinavische Län-
arbeitszeit und zur Austrocknung und        der mit hohem Dienstleistungsanteil und
Verscherbelung des Öffentlichen gekom-      kleinem Industriesektor gut durch die Kri-
men war.                                    se kommen). Beschäftigung und relativ
Nach Fukushima hat die Regierung Mer-       hohe Löhne in den industriellen Kernen
kel in rasender Geschwindigkeit ihre        gibt es allerdings oft nur zum Preis hoher
Position gewechselt und das Ende der        Arbeitsverdichtung, Überlastung und zu-
Atomkraft und den Beginn einer Ener-        nehmendem Zeitmangel. Zugleich bleibt
giewende ausgerufen. Auf dem letz-          vielen Menschen außerhalb der Kernbe-
ten CDU-Parteitag hat sie die zentralen     legschaften sowie in anderen Branchen
Punkte für die Zukunft benannt: Konso-      ein zu geringes Einkommen, genauso
lidierung der Haushalte und ökologische     wie den Erwerbslosen. Die Real­löhne
Modernisierung (klingt wie ein zukünfti-    stagnieren seit über einem Jahrzehnt,
ges Programm für Schwarz-Grün). Und         im Niedriglohnbereich mussten seit der
nun wollen Angela Merkel und Ursula         Agenda 2010 Lohnverluste von über 20
von der Leyen eine Art Mindestlohn ein-     Prozent hingenommen werden. Viele
führen, Altersarmut bekämpfen, insge-       Menschen und Haushalte können da-
samt die sozialen Bedürfnisse betonen,      mit kaum mehr ihre grundlegenden Be-
um weitergehenden Ansprüchen wie            dürfnisse abdecken. Daher bleibt die
der Forderung nach einem allgemeinen        Binnennachfrage auch in wirtschaftlich
gesetzlichen Mindestlohn in angemes-        guten Zeiten schwach. Staatliche Investi-
sener Höhe den Wind aus den Segeln zu       tionen können das nicht ausgleichen, da
nehmen. All das sind nicht ganz erfolglo-   öffentliche Dienste und Infrastrukturen
se Versuche, die Krise zu managen, mög-     über Jahrzehnte ausgedünnt wurden.
lichen Protesten die Spitze zu nehmen       Zudem stößt die Fortführung des alten
und die Gewerkschaften einzubinden.         industriellen Wirtschafts- und Entwick-
Auch Sozialdemokraten und GRÜNE be-         lungsmodells an ihre ökologischen Gren-
tonen mit Blick auf die kommenden Bun-      zen. Dethematisiert wird von Regierung
destagswahlen wieder das Soziale. So        und Medien die Rolle der Lohnpolitik in
wird das Feld für DIE LINKE eng.            Deutschland, der Handelsbilanzüber-
8   schüsse sowie der Kreditpolitik deut-        herzige ökologische Modernisierung
    scher Banken bei der Verursachung der        ausreichend sein, um die Vorteile des
    Eurokrise. Lieber wird auf die vermeint-     deutschen Exportmodells auf Kosten an-
    lich verlotterten Griechen geschimpft.       derer vorläufig zu bewahren. Gerade die
    Dabei wird mit dem Schreckgespenst der       Schwäche der Eurozone kann zu einer re-
    Eurokrise gearbeitet: Dass es den Men-       lativen Unterbewertung des Euro führen
    schen in anderen Ländern schlechter          und so die deutsche Position gegenüber
    geht, zeige, dass Abstriche bei Löhnen       Konkurrenten wie Japan verbessern» (IfG
    und Gehältern, beim Lebensstandard           2011: 8).
    und bei der sozialen Sicherheit – also die   Die Exportindustrie in Deutschland hin-
    Politik der Agenda 2010 – richtig und not-   terlässt deutliche Bremsspuren, sie
    wendig gewesen seien.                        wächst langsamer, doch sie wächst und
    Prognose bestätigt: Selbstverständlich       erzielt Rekordüberschüsse, im Jahr 2012
    kann Deutschland sich der Krise nicht        ganze 188 Milliarden Euro (die tageszei-
    entziehen. Die einseitige Abhängigkeit       tung, 9.2.2013). Zwar wird immer noch
    vom Export, kombiniert mit der über-         überwiegend in die Euroländer exportiert
    all in Europa verordneten Kürzungspoli-      (2012 im Wert von 411,9 Milliarden Eu-
    tik, gefährdet die Existenz der Industrie.   ro), der Warenwert (minus 2,1 Prozent
    Kaum ein anderes Land ist so abhängig        gegenüber dem Vorjahr) und der Anteil
    von Exporten wie die Bundesrepublik          der Euroländer am Gesamtexport der
    (sie machen fast 50 Prozent des BIP aus).    deutschen Ökonomie (noch etwas über
    Wie erwartet, stürzte Südeuropa in eine      37 Prozent) sinken jedoch: «Damit setzt
    Depression und der Rest Europas 2012         sich ein längerer Trend fort» (IfG 2011: 8;
    in eine Rezession (Candeias 2010b: 61).      vgl. auch Candeias 2010a). Das Export-
    Trotzdem bestätigt sich unsere Prog-         wachstum wird schon seit Jahren von
    nose, dass die deutsche Wirtschaft im        anderen Wachstumsmärkten getrieben,
    Großen und Ganzen wie bisher weiter-         neben China (plus 28 Prozent gegenüber
    machen kann. Die globale Nachfrage er-       dem Vorjahr) und den anderen (teilweise
    litt trotz Rückgang keinen dramatischen      überschätzten) BRICS-Staaten2 verspre-
    Einbruch. «In diesem Fall könnten deut-      chen Schwellenländer wie die Türkei, In-
    sche Exporterfolge auf kleinerer Flamme      donesien, Vietnam oder Mexiko bessere
    weiterhin das Wachstum in Deutschland        Bedingungen und höhere Wachstums-
    gewährleisten, ohne dass ein Wechsel         raten – Potenziale, die die südeuropäi-
    des Modells notwendig würde, allen-          schen Ökonomien auf Jahre hinaus nicht
    falls werden – getrieben von Akzeptanz-      erkennen lassen. Der große Vorteil der
    verlusten und Ereignissen wie Fukushi-       neuen kapitalistischen Zentren und se-
    ma – kleine und graduelle Änderungen         mipheripheren Aufsteiger: Sie verfügen
    in Richtung Energiewende und ökolo-          über eine wettbewerbsfähige Produk-
    gische Modernisierung unternommen.           tionsstruktur, anders als Griechenland
    Auch bei insgesamt schwacher globa-          oder Portugal, Spanien und Italien, deren
    ler Dynamik könnten selbst eine abge-        industrieller Sektor in den vergangenen
    schwächte Nachfrage aus den neuen            Jahrzehnten erheblich geschrumpft ist.
    kapitalistischen Zentren wie China, In-
                                                 2 Zu den BRICS-Staaten zählen neben China noch Brasilien,
    dien und Brasilien und eine nur halb-        Russland, Indien und Südafrika.
Das heißt auch, Erhard Crome zufolge:        lichen (und östlichen) Krisenländer sowie     9
«Die EU-Einbindung ist für die Bundes-       möglicherweise auch für Irland vorgese-
regierung dabei nicht mehr ein Wert an       hen?
sich, sondern die Voraussetzung für eine     Die linke Kritik an der Struktur der Wäh-
internationale Geltung Deutschlands, die     rungsunion Ende der 1990er Jahre, wie
sich auf die starke Position im Welthan-     sie schließlich im Vertrag von Maast-
del stützt, oder, mit anderen Worten, die    richt und im Stabilitätspakt festgeschrie-
Dominanz Deutschlands in der EU ist die      ben wurde, war zutreffend. Die moneta-
Grundlage für die Expansion im globalen      ristische Form berücksichtigte nur den
Handel» (zit. n. IFG 2011: 6). Die Regie-    Schuldenstand, die Neuverschuldung
rung verfolgt in erster Linie das Interes-   und die Inflation, nicht jedoch die Leis-
se einer wirtschaftlichen und politischen    tungsbilanzen, die Produktivitätsent-
Dominanz Deutschlands ohne Hegemo-           wicklung sowie die Sozialleistungs- und
nialanspruch. Dabei werden Partikular­       Lohnniveaus. Im Ergebnis konnten die
interessen ideologisch verkehrt und zum      Unterschiede zwischen den einzelnen
allgemeinen Prinzip erhoben: «Es geht        Mitgliedsstaaten und Regionen im eu-
den deutschen Eliten nicht um deutsche       ropäischen Währungsraum bei der Pro-
Vorherrschaft, sondern um die Vorherr-       duktivität nicht mehr durch Wechsel-
schaft bestimmter Prinzipien» (Brangsch      kursanpassungen ausgeglichen werden.
2013). Ergebnis ist eine Herrschaft ohne     Zugleich fehlte es an sozialen Mindest-
Führung in Europa – auf Basis des kleins-    standards, einer Angleichung der Leis-
ten gemeinsamen neoliberalen Nenners:        tungsbilanzen und einer Art Länderfi-
Kürzungspolitik, plus unvermeidbare          nanzausgleich (über die Regional- und
Maßnahmen zur Finanz- und Bankensta-         Konversionsfonds hinaus). Als möglicher
bilisierung. Auf dieser Basis soll die eu-   Ausgleichsmechanismus bleibt nur die
ropäische Integration vertieft werden.       Lohn- und Tarifpolitik (Busch 1996: 61;
Über die Finalität der Europäischen Uni-     Altvater/Mahnkopf 1993: 93) sowie die
on besteht allerdings keinerlei Einigkeit    weitere Absenkung der sozialstaatlichen
(vgl. die jüngste Cameron-Rede; Dell-        Absicherung in Ländern mit Leistungsbi-
heim u. a. 2013). Auch wenn ein Zerfall      lanzdefiziten. Der europaweiten Anglei-
der Union unwahrscheinlich ist, liegen       chung des Preisniveaus steht eine weite-
sowohl ein Zusammenbruch der Wäh-            re Lohndifferenzierung gegenüber.
rungsunion als auch ein Zurück zum Mo-       Vonseiten der Sozialdemokratie wurde
dell «Freihandelszone-Plus» im Bereich       die Bedeutung der Regional-, Struktur-
des Möglichen. Linke sollten bei ihren       und Konversionsfonds der Europäischen
Strategien alle möglichen Szenarien be-      Union hochgehalten, um die Angleichung
rücksichtigen.                               der Lebensbedingungen zu fördern. Die
                                             Einbindung in den europäischen Binnen-
                                             markt und die Währungsunion führten je-
1.2 Perspektive für                          doch zur Differenzierung, was durchaus
die Krisenländer?                            gewollt war: Die massiven Infrastruktur-
Welche Rolle, welche Perspektiven sind       maßnahmen und Investitionen in europä-
in diesem autoritär-neoliberalen und         ische Netze (Transport, Energie etc.) dien-
postdemokratischen Europa für die süd-       ten der Erschließung der Märkte in der
10   europäischen Peripherie. Europäisierung        Es bleibt einer Regierung wie zum Bei-
     hieß zugleich Globalisierung und Wegfall       spiel der griechischen nichts anderes üb-
     von nationalen Handels- und Kapitalver-        rig, als Wachstum über Staatskonsum
     kehrsbeschränkungen zum Schutz der             (und private Verschuldung) zu fördern,
     eigenen Produktion. Die bestehenden            um Arbeitsplatzverluste zu kompensie-
     Industriestrukturen in den Peripherien         ren, was wiederum zu steigenden Haus-
     konnten trotz des geringen Lohnniveaus         haltsdefiziten führt. Andere Länder wie
     gegen die hochproduktive Konkurrenz            Spanien oder Portugal konnten trotz Han-
     nicht bestehen – es setzte eine massive        delsdefiziten die Staatsschuld über lange
     Deindustrialisierung ein und traditionelle     Zeit relativ stabil halten (Spanien sogar
     Branchen brachen weg, was durch Inves-         abbauen), durch steigende Steuerein-
     titionen von transnationalen Konzernen         nahmen im Zuge des Wirtschaftswachs-
     (zum Beispiel Volkswagen) keineswegs           tums. Die massive Arbeitslosigkeit konn-
     kompensiert wurde. Teilweise wurden            te nach und nach gesenkt werden durch
     (ähnlich wie in Ostdeutschland) Betriebe       den Bedeutungsgewinn der Bau- und
     trotz bestehender Profitabilität von finanz-   Finanzindustrie sowie der (zuvor kaum
     starken Konkurrenten aufgekauft und            existenten) staatlichen Dienstleistun-
     nach und nach geschlossen, um Über-            gen. Der damit verbundene Boom wur-
     kapazitäten abzubauen, eigene Stand-           de durch einen Mechanismus befördert,
     orte zu sichern oder noch produktivere         den linke Kritiker der Währungsunion
     zu eröffnen (etwa in Osteuropa). Nicht         nicht vorhergesehen hatten: eine Kredit-
     zuletzt der stetige Druck davoneilender        schwemme. Das war solange kein Pro-
     Produktivitäten bei drastischer «Lohn-         blem, solange bei einem niedrigen Zins-
     zurückhaltung» in den Exportindustrien         niveau und reichlich Liquidität auf den
     in Deutschland hat die südeuropäischen         Märkten Kredite günstig zu haben waren
     Industrien zu Tode konkurriert.3 Als alter-    und Staatsanleihen stets ihre Abnehmer
     nativer Billigstandort wiederum war Süd-       fanden (nicht zuletzt bei den deutschen
     europa nicht billig genug im Vergleich zu      Großbanken). Der immense Kapitalex-
     Osteuropa, vor allem aber im Vergleich         port vonseiten der Überschussländer ga-
     mit asiatischen Ländern. Dagegen gelang        rantierte eine stetige Refinanzierung. Die
     es der Landwirtschaft in Südeuropa, ihre
     Position zu halten, indem sie zu einer «ef-    3 Jannis Milios, Berater von Alexis Tsipras, und Dimitris
                                                    Sotiropoulos (2010) weisen darauf hin, dass die Leistungs-
     fizienten» Agroindustrie umgebaut wur-         bilanzdefizite der Krisenländer nicht als Ursache, sondern als
     de.4 Die Ausbeutung der hier Beschäf-          Folge hoher Kapitalimporte zustande kamen. Sie bestreiten
                                                    den Konkurrenzdruck deutscher Industrieunternehmen und
     tigten, vornehmlich schlecht bezahlte          betrachten die hohen Wachstums- und Investitionsraten in
     Migrantinnen und Migranten, ist enorm,         Griechenland vor der Krise als Folge der hohen Profitabilität
                                                    des Kapitals, im Gegensatz zu der Rede von der mangelnden
     genauso wie die Wasserverschwendung            Wettbewerbsfähigkeit. Angesichts der Felder ausländischer
                                                    Investitionen vor allem im Finanz- und Bausektor bezwei-
     sowie der Verlust von fruchtbaren Böden        feln wir dies jedoch und sehen die Leistungs­b ilanzdefizite
     und Biodiversität. Entsprechend spielt der     als Ausdruck einer Kombination von Konkurrenz- und Ver-
                                                    schuldungsdruck. 4 Dies gilt insbesondere für Spanien.
     Export hier jenseits von Agrarprodukten        Griechenland hingegen weist selbst im Bereich der Nah-
     keine große Rolle mehr.5 Länder wie Grie-      rungsmittel Handelsbilanzdefizite auf. 5 Zwischen 1997
                                                    und 2007 (dem Jahr vor der Krise) stieg das Handelsbilanz-
     chenland oder Portugal mussten deswe-          defizit in Griechenland von 14 auf 38 Milliarden Euro an, in
                                                    Portugal von 8 auf 15 Milliarden Euro und in Spanien von
     gen massive Handelsbilanzdefizite hin-         12 auf 88 Milliarden Euro (Daten zusammengestellt aus der
     nehmen.                                        AMECO-Datenbank).
langjährige kreditfinanzierte Nachfrage         bilanzen in Europa hat verhindert, dass                         11
von Privathaushalten, Unternehmen und           sich der Anpassungsdruck innerhalb der
Regierungen der Defizitländer stützte in        Währungsunion schneller direkt auf die
allererster Linie auch den deutschen Ex-        Löhne, Tarife und staatlichen Leistungen
port und damit ein bescheidenes Wachs-          auswirkte. Erst mit der Krise und dann
tum in Deutschland. Der Spekulations-           insbesondere mit den durch die Troika er-
boom trieb die Preise: Das Preisniveau in       zwungenen Kürzungsprogrammen stieg
südeuropäischen Metropolen liegt heute          die Staatsverschuldung sprunghaft an.6
deutlich über dem in den meisten deut-          Die Troika setzte gleichzeitig auch die so-
schen Städten – bei wesentlich niedrige-        genannte innere Abwertung durch, an-
ren Löhnen.                                     geblich um die Wettbewerbsfähigkeit
Die Gewerkschaften, auch in anderen Pe-         der Krisenländer wiederherzustellen.
ripherieländern, versuchten die Schere          Aber was bedeutet «innere Abwertung»
zwischen Preis- und Lohnentwicklung             in einem ohnehin vergleichsweise ar-
auszugleichen: Die Reallöhne beispiels-         men Land wie Griechenland mit Durch-
weise in Polen und Griechenland stie-           schnittslöhnen um die 700 Euro? Um
gen zwischen 2000 und 2008 um 40 Pro-           einigermaßen wettbewerbsfähig zu wer-
zent, in Großbritannien um 26 Prozent, in       den, müssten die Löhne um weitere 20
Frankreich um 10 Prozent und in Spanien         bis 30 Prozent sinken. Tatsächlich sind
um 4,5 Prozent, während sie in der Bun-         die Löhne seit Beginn der drastischen
desrepublik im selben Zeitraum um ein           Kürzungspolitiken um etwa diesen Wert
Prozent sanken. Dies hat die Konkurrenz-        gefallen, der Mindestlohn wurde um
bedingungen in der europäischen Peri-           22,8 Prozent herabgesetzt. Und selbst
pherie nicht gerade verbessert. Darüber         das hatte in einer tendenziell deflationä-
hinaus versuchten die Haushalte, ihren          ren Situation in Europa keine Exportstei-
Konsumstandard zu halten (und teilwei-          gerungen zur Folge. Überhaupt: Was soll
se zu erhöhen) und (angesichts kaum ent-        denn exportiert werden angesichts der
wickelter Mietwohnungsmärkte) Wohn­             Deindustrialisierung und den erhebli-
eigentum zu erwerben, indem sie sich            chen Produktivitätsrückständen?
massiv verschuldeten (was ihnen von             Das vorläufige Ergebnis ist eine Spira-
Banken in Zeiten von niedrigen Zinsen als       le des Elends: Massenentlassungen bei
unproblematisch verkauft wurde). Diesen         einer offiziellen Erwerbslosigkeit von 25
Zusammenhang von Preis- und Lohn-               Prozent und mehr, Tendenz steigend. 3,5
druck verfehlt der IG-Metall-Vorsitzende        Millionen Menschen verloren allein in
Berthold Huber, wenn er erklärt, die (spa-      Spanien seit 2008 ihren Job (Frankfurter
nischen) Metallarbeiter-Gewerkschaften          Allgemeine Zeitung, 16.2.2012), bei ei-
hätten «in erster Linie den Reallohnaus-        ner Jugendarbeitslosigkeit von über 60
gleich als Sinn und Zweck ihrer Tarif­politik   Prozent und einer Arbeitslosenquote un-
gesehen» und damit «ihren Vorteil ver-
                                                6 Zwischen 2000 und 2007 stieg die Staatsschuld in Grie-
spielt, dass sie nämlich billiger als die       chenland um 4 Prozent, zwischen 2008 und 2011 explodierte
deutsche Industrie waren» (zit. n. Bernd        sie um 58 Prozent. In Portugal erhöhten sich die Staatsschul-
                                                den bis 2007 um immerhin 20 Prozent, mit Krise und Kür-
Riexinger, in: Junge Welt, 11.1.2013).          zungsprogrammen jedoch um weitere 40 Prozent. In Spani-
                                                en fielen die Schulden zwischen 2000 und 2007 sogar um 23
Der inflationäre Kreditkreislauf auf Basis      Prozent, von 2007 bis 2011 legten sie jedoch um mehr als 33
der auseinanderlaufenden Leistungs-             Prozent zu (eigene Berechnung auf Grundlage von Eurostat).
12   ter den 50- bis 60-Jährigen von 80 Pro-      schwinden. Wie dumm das neoliberale
     zent. Die im Zuge der Kürzungsprogram-       Leitbild einer EU als Staatenkonkurrenz
     me vorgenommene Arbeitsmarktreform           aber ist, wird spätestens bei der Fra-
     in Spanien hat Entlassungen noch ein-        ge klar, wohin denn eigentlich die EU-
     facher gemacht, woraufhin abermals           Mitgliedsländer verschwinden sollen,
     850.000 Menschen arbeitslos wurden           die im Staatenwettlauf verlieren. Sol-
     (ebd.). Hinzu kommen drastische Lohn-        len sie vom ‹Staaten-Markt› verschwin-
     und Rentenkürzungen, längere Arbeits-        den? Soll Griechenland nun zerschlagen
     zeiten im öffentlichen Dienst, die Ein-      werden, und die Belegschaft der Grie-
     schränkung von Arbeits-, Streik- und         chenland AG – sprich die griechische
     Sozialrechten, ein Zusammenbruch öf-         Bevölkerung – sucht sich eine neue Wir-
     fentlicher Dienstleistungen, darunter das    kungsstätte?» (Troost/Hersel 2012: 2).
     öffentliche Gesundheitssystem (Grie-         Wohl kaum. Was soll aus Sicht des neo-
     chenland), eine halbe Million Wohnungs-      liberalen Blocks an der Macht aus Öko-
     räumungen (Spanien) sowie massive Er-        nomien wie Griechenland werden? Wird
     höhungen von Gebühren und Steuern            sich Südeuropa zu einer Art Sonderwirt-
     (insbesondere der Mehrwertsteuer). Die       schaftszone entwickeln?
     Belastung ist für viele inzwischen uner-     Der kritische Ökonom William Tabb 7
     träglich: Die Zahl depressiver Erkrankun-    spitzt zu: «Nicht Griechenland ist das
     gen explodiert, Selbstmorde sind an der      Problem, sondern Deutschland. Die
     Tagesordnung, Hunderttausende verlas-        EU sollte das Land aus dem Euro wer-
     sen das Land (in Spanien fast eine Million   fen.» Was hier eine ironische Wendung
     seit Beginn der Krise), aber auch der Pro-   auf Basis der Analyse realer Ursachen
     test wächst.                                 ist, meint der ehemalige Präsident des
     Und wozu dies alles? Was ist jenseits der    Bundesverbands der Deutschen Indus-
     Sicherung von (staatlichen) Schuldtiteln     trie (BDI), Hans-Olaf Henkel, ernst: «Es
     das Ziel einer solch brutalen Kürzungs-      gibt eine Alternative zur ‹alternativlosen›
     politik? Eine Verschiebung der Kräfte-       Euro-Politik: den gemeinsamen Austritt
     verhältnisse zuungunsten der Lohn-           Deutschlands, Hollands, Österreichs und
     abhängigen und eine Vernichtung der          Finnlands» (Handelsblatt, 10.12.2010).
     Gewerkschaften? Und dann? Welches            Der derzeitige BDI-Präsident Hans-Pe-
     Produktionsmodell sollen die Krisenlän-      ter Keitel sieht das anders: Die Krisen-
     der in Zukunft verfolgen, welche Arbeits-    länder «werden ihre Probleme vor allem
     teilung könnte in einer Eurozone funk­       selbst schultern müssen» (Spiegel-On-
     tionieren?                                   line, 10.9.2012). Aber «als Geschäfts-
                                                  mann würde ich meine desolate Toch-
                                                  ter nicht fallen lassen, sondern sanieren.
     1.3 Sonderwirtschafts­                       D.h., Griechenland soll eine Art Sonder-
     zone Südeuropa?                              wirtschaftszone im Euro-Raum werden,
     Man kann darüber streiten, «ob es            ausgestattet mit den notwendigen und
     nicht ein notwendiges Übel oder gar          zulässigen finanziellen Mitteln, aber auch
     ein Segen der Marktwirtschaft ist, dass      mit auswärtigem EU-Personal» und ex-
     schwache Unternehmen aus dem Markt           7 Beim «North American Left Dialogue» der Rosa-Luxem-
     ausscheiden, zerschlagen werden, ver-        burg-Stiftung am 1. Dezember 2012 in Berlin.
ternen «Pfändern». Über Jahre hinweg         und der Kriminalisierung von Gewerk-                             13
sollen substanzielle Souveränitätsrech-      schaftern sind diese Versprechen der Re-
te abgegeben werden. «Keine Leistung         gierung jedoch mehr als fraglich.
ohne Gegenleistung, keine Solidarität        Das Wachstumswunder soll sich al-
ohne Kontrolle», fordert Keitel und warnt    lein aus niedrigeren Abgaben und weni-
zugleich, die anderen Länder dürften         ger Bürokratie für Investoren ergeben.
Deutschland nicht überfordern. Diese         Da dies angesichts der desolaten La-
die Ursachen verkehrende Position teilt      ge auch nicht unbedingt zu mehr Aus-
auch die Bundesregierung. Überall in         landsinvestitionen führt, fordert der Prä-
Europa sollten «schwierige Reformen»,        sident des Europaparlaments, Martin
vergleichbar mit der Agenda 2010, an-        Schulz (SPD), auch noch Investitionszu-
gepackt werden, auch in Ländern wie          lagen für Unternehmen: Das Land soll
Frankreich (ebd.).                           also auf potenzielle Einnahmen verzich-
Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung     ten und zusätzlich Subventionen leisten.
Griechenlands sehen einige der Vertrete-     Diese Kombination aus Niedrigststeu-
rinnen und Vertreter dieser Position die     ersätzen und der subventionierten An-
NAFTA und die Sonderwirtschaftszonen         siedlung von Unternehmen, die rasch
im Norden Mexikos sowie in den US-           wieder abwandern, hat sich aber in der
amerikanischen Südstaaten als Vorbild,       Vergangenheit bereits in Ostdeutschland
die mit niedrigen Steuersätzen, einem        und Osteuropa (und Griechenland vor
gewerkschaftsfeindlichen Klima und           der Krise) als ineffektiv erwiesen. Oben-
niedrigen Lohn- und Arbeitsstandards ei-     drein fordert Schulz die Einrichtung einer
ne Reindustrialisierung erlebt haben. Mit    «Wachstumsagentur». «Der griechische
der Produktionsverlagerung in diese Re-      Staat müsse akzeptieren, dass EU-Beam-
gionen ist zugleich eine extreme Schwä-      te vor Ort die Reformen umsetzen.»8
chung der Gewerkschaften in den alten        Offen bleibt immer noch, was eigent-
industriellen Zentren der USA verbun-        lich produziert werden soll, angesichts
den. Wohl ein stiller Traum des BDI und      der allgemein anerkannten mangeln-
der Bundesvereinigung der Deutschen          den Wettbewerbsfähigkeit.9 Es ist kaum
Arbeitgeberverbände (BDA).                   möglich, nur durch Lohnkürzungen und
Die griechische Regierung nahm im Jahr       noch niedrigere Steuern sowie mehr
2012 tatsächlich Verhandlungen mit der       Subventionen diese wiederherzustel-
Europäischen Union auf, um in ausge-         len. Hier hat Hans-Werner Sinn, Präsi-
wählten Regionen des Landes Sonder-          dent des (neoliberalen) Ifo-Instituts für
wirtschaftszonen zuzulassen. Die Re-         Wirtschaftsforschung, ausnahmswei-
gierung versicherte, dass damit keine        se recht: «Die griechischen Güter müss-
weiteren Lohnsenkungen verbunden             ten um 30 Prozent billiger werden, um
seien (der monatliche Mindestlohn wur-       mit der Türkei aufzuschließen» (Spiegel-
de bereits von 751 auf 586 Euro herab-
                                             8 Tagesschau v. 2.9.2012, unter: www.tagesschau.de/wirt-
gesetzt) und Tarifverträge ihre Gültigkeit   schaft/griechenland-rettung100.html. 9 Dies ist weniger
behalten würden. Angesichts alltäglicher     eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit bei Ländern, die wie
                                             Griechenland traditionell einen geringen Außenhandelsan-
Arbeitskämpfe und Streiks und der mit-       teil haben. Bei solchen Ländern ist die negative Multiplikato-
unter harten Reaktion der Regierung bis      renwirkung von Kürzungspolitiken viel stärker, selbst wenn
                                             der (eher bedeutungslose) Außenhandel wieder ein Stück
hin zur Einschränkung des Streikrechts       anzieht.
14   Online, 20.2.2012). Nachdem Griechen-        ro (wenn die Gläubiger auf 60 Prozent ih-
     land «mit moderner Kapitalvernichtung        rer Forderungen verzichten würden und
     zunächst auf Schwellenland-Niveau zu-        die Drachme um etwa 50 Prozent abge-
     rückgeworfen» wurde, «scheint sogar          wertet würde). Am schlimmsten träfe es
     ein begrenzter Aufschwung» wieder vor-       Griechenland selbst: Den Berechnun-
     stellbar (Händel/Puskarev 2012b), eine       gen zufolge müsste das Land sich auf
     Perspektive jenseits eines Lieferanten       Wachstumsverluste bis 2020 von über
     von gut ausgebildeten und zugleich bil-      164 Milliarden Euro einstellen (Handels-
     ligen Arbeitskräften allerdings nicht. Die   blatt, 17.10.2012). Am dramatischsten
     Europäische Union hat kein Produktions-      aber wären die unmittelbaren Folgen: Bei
     modell für Griechenland anzubieten, kei-     einem Austritt würden «die Kapitalmärk-
     ne neue europäische Arbeitsteilung, die      te dann auch Portugal, Spanien und Ita-
     tragfähig wäre und nicht wieder zum sel-     lien das Vertrauen entziehen» und «dort
     ben Ergebnis führen würde.10                 ebenfalls Staatsbankrotte» hervorrufen,
     Entsprechend wird insbesondere von           «die Weltwirtschaft würde in eine tiefe
     konservativ-neoliberaler Seite ein Aus-      Rezession fallen» (ebd.). Billiger wäre es
     tritt Griechenlands aus der Währungs-        also, Griechenland über eine echte Trans-
     union gefordert: der Grexit. Außer           ferunion mittelfristig mit den nötigen fi-
     Prominenten wie Hans-Werner Sinn,            nanziellen Mitteln für einen wirtschaftli-
     Hans-Olaf Henkel, Thilo Sarrazin oder        chen Neuanfang zu versorgen. Dies ist
     Frank Schäffler, dem Sprecher der Euro-      jedoch nicht vorgesehen. Über geringe
     skeptiker innerhalb der FDP, wird diese      zeitliche Zugeständnisse bei den Kür-
     Forderung bislang noch von keiner rele-      zungsauflagen sowie die Anwendung
     vanten Organisation von Unternehmen          immer neuer Maßnahmen zur zeitwei-
     und auch keiner Regierung offiziell ver-     ligen Verhinderung eines Zahlungsaus-
     treten. Dennoch haben die Befürwor-          falls und zur Stabilisierung der Banken
     ter eines «Grexit» in Deutschland medi-      kommt die Troika kaum hinaus. Damit
     al erheblichen Einfluss und liefern der      verbessert sich aber weder etwas an der
     Bundesregierung starke Gründe für die        Einnahmesituation der Mitgliedsstaaten
     eigene Position: Griechenland solle im       noch an der Struktur der Währungsunion
     Euro verbleiben und weitere Hilfen erhal-    selbst. Die großen Ungleichheiten blei-
     ten im Austausch für noch härtere Kür-       ben bestehen.
     zungsmaßnahmen und Eingriffe in seine
     Souveränität.
     Laut einer Studie von Prognos würde
     der Austritt Griechenlands aus der Wäh-
     rungsunion in den 42 wichtigsten Volks-
     wirtschaften Wachstumseinbußen in
     Höhe von rund 17,2 Billionen Euro ver-       10 Auch im Falle Zyperns wird dies nun besonders deut-
                                                  lich: Selbstverständlich muss der überdimensionierte Fi-
     ursachen. Deutschland allein müss-           nanz- und Bankensektor der Insel massiv verkleinert wer-
     te bis 2020 etwa 73 Milliarden Euro an       den. Doch was dann? Außer Tourismus und der Hoffnung
                                                  auf mögliche Einnahmen aus der Ausbeutung kürzlich ent-
     Verlusten verkraften. Dazu kämen Ab-         deckter Gasvorkommen vor der Küste bleibt nicht viel wirt-
                                                  schaftliches Potenzial. Auch Zypern benötigt ein alternatives
     schreibungen privater und öffentlicher       Wirtschaftsmodell und eine solidarische Perspektive in der
     Gläubiger in Höhe von 64 Milliarden Eu-      europäischen Arbeitsteilung.
2 Europa.links? (Divergierende) Positionen                                                                       15
in der Partei DIE LINKE – eine Synopse

DIE LINKE will erstens durch kurzfristige      Eurozone, bei einem Verstoß gegen den
Krisenintervention finanzielle und soziale     von der Europäischen Kommission über-
Belastungen von den Menschen abwen-            wachten Stabilitäts- und Wachstumspakt
den – zulasten derjenigen, die die Krise       ein Verfahren gegen den betreffenden
verursacht und mit ihr noch Profite ge-        Mitgliedsstaat einzuleiten. Die jeweilige
macht haben –, zweitens einen alterna-         Regierung hat dann zehn Tage Zeit, den
tiven wirtschaftlichen Entwicklungspfad        Nachweis zu erbringen, dass besondere
in Europa möglich machen, der krisen-          Umstände vorlagen, und darzulegen, wel-
fest ist und soziale Gerechtigkeit in den      che Maßnahmen ergriffen werden sollen,
Mittelpunkt stellt, und hat, drittens, eine    um das strukturelle Defizit zu reduzieren.
langfristig tragfähige Vision für die Zu-      Andernfalls greifen die Sanktionen. Die
kunft des Projekts der europäischen Ei-        Verschärfung der Maastricht-Kriterien
nigung (vgl. DIE LINKE 2013: 46). Die-         wird damit doppelt abgesichert: durch
ses Kapitel beschränkt sich auf eng mit        automatisierte Verfahren auf der Ebene
der Eurokrise verbundene Aspekte. Die          der Europäischen Union und durch dau-
vielfältigen Vorschläge und Positionen         erhafte, nach Möglichkeit verfassungs-
hierzu sind bislang nirgends zusammen-         rechtliche Bestimmungen auf national-
gefasst. Dies ist der Versuch, eine kom-       staatlicher Ebene. Die mit dem Fiskalpakt
mentierte Übersicht herzustellen.              verbundene einseitige Kürzungspolitik
                                               verschärft die Krise und ist ein unmittelba-
                                               rer Angriff auf Arbeits- und Sozialrechte.
2.1 Kurzfristige                               Die Hauptlast der Krisenfolgen wird auf
Krisen­interventionen                          die transfer- oder lohnabhängige Bevölke-
DIE LINKE hat bislang öffentlichkeits-         rung abgewälzt, so Bernd Riexinger und
wirksam gegen das autoritär-neolibe-           Sahra Wagenknecht.12 DIE LINKE hat lei-
rale Krisenmanagement Stellung bezo-
gen, insbesondere gegen den Fiskalpakt.        11 Wird in einem Mitgliedsstaat ein Haushaltsdefizit von
Letzterer erweitert das bereits bestehen-      3 Prozent überschritten, startet die Europäische Kommis-
                                               sion ein «Verfahren wegen übermäßigen Defizits». In einer
de sanktionsbewährte EU-Defizitverfah-         ersten Stufe müssen die betroffenen Länder einen Plan vor-
ren,11 indem er die Vorgaben des Stabi-        legen, wie sie das Defizit abzubauen gedenken. Halten sie
                                               diesen Plan nicht ein, können Sanktionen verhängt werden:
litäts- und Wachstumspaktes verschärft         Geldstrafen von 0,2 bis zu 0,5 Prozent des BIP des betroffe-
                                               nen Landes. Der EU-Ministerrat kann von defizitären Staaten
und dauerhaft – nach Möglichkeit auf Ver-      verlangen, dass sie eine unverzinsliche Einlage in «angemes-
fassungsebene – in nationalstaatliches         sener Höhe» in Brüssel hinterlegen, bis das übermäßige Defi-
                                               zit korrigiert ist. Ein Staat kann aufgefordert werden, vor der
Recht einschreibt. Mit dem Fiskalpakt          Ausgabe von Schuldverschreibungen und sonstiger Wert-
                                               papiere zusätzliche Angaben zu veröffentlichen. Es kann
soll, inspiriert von der gesetzlichen Schul-   die Europäische Investitionsbank aufgefordert werden, ihre
denbremse in Deutschland und mittels           Darlehenspolitik gegenüber einem Land zu überprüfen. Die
                                               Verhängung von Strafen hängt nicht zuletzt von der Macht
«Erziehung der Partnerländer» zu Haus-         eines Mitgliedsstaates ab, ein Verfahren abzublocken. Als
haltsdisziplin und strikter Wettbewerbs-       Disziplinierungsmechanismus wirkt das Verfahren jedoch in
                                               jedem Fall, unabhängig von konkreten Sanktionen. 12 Ge-
orientierung, der Staatsschuldenkrise in       äußert auf der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
                                               «Europa kriegt die Krise» beim Fest der Linken am 16. Juni
Europa begegnet werden. Darüber hin-           2012 in Berlin, vgl. www.rosalux.de/event/46273/fest-der-
aus verpflichten sich die Mitglieder der       linken-2012.html.
16   der als einzige Partei im deutschen Bun-     le Vorgehen der Zentralbank. Damit sei
     destag gegen den Fiskalpakt gestimmt         kurzfristig das weitere Ansteigen der
     (auch die Linken bei den GRÜNEN haben,       Zinssätze für Staatsanleihen der Krisen-
     trotz gegenteiliger Erklärungen im Vor-      länder vermieden und eine drohende
     feld, dafür gestimmt – mit Ausnahme von      Zahlungsunfähigkeit und letztlich eine
     Hans-Christian Ströbele).                    Kettenreaktion unterbunden worden.
     In diesem Zusammenhang positionierte         Sahra Wagenknecht hingegen kritisierte
     sich DIE LINKE auch gegen die Einrich-       die erneute «Aushebelung der Parlamen-
     tung von sogenannten europäischen            te» und die Entwicklung der Zentralbank
     Rettungsfonds. Zwar war und ist eine un-     zur «Müllhalde für toxische Wertpapiere»
     mittelbare Intervention und Stützung von     bei weiterer Sozialisierung der Kosten.
     Banken und Regierungen über die neu          Stattdessen fordert sie einen harten
     eingerichtete Europäische Finanzstabili-     Schuldenschnitt und eine Vergesell-
     sierungsfazilität (EFSF) und den Europäi-    schaftung von (angeschlagenen) Ban-
     schen Stabilitätsmechanismus (ESM)           ken. Sie plädiert also dafür, mehr private
     notwendig. Die Form der «Rettungsmaß-        Banken bankrott gehen zu lassen, wäh-
     nahmen» ist jedoch inakzeptabel: Es be-      rend andere Parteivertreter wie Troost vor
     steht eine enorme Schieflage zwischen        unkalkulierbaren Auswirkungen wie bei
     den Hunderten von Milliarden Euro für        der Lehman-Pleite warnen.
     die Bankenrettung sowie die Sicherung        In der zum Teil polemisch geführten De-
     des Schuldendienstes bei Sozialisierung      batte treten kurzfristige und mittelfristige
     der Kosten, während für soziale Siche-       Perspektiven auseinander. Von allen ge-
     rungsmaßnahmen keine Mittel zur Verfü-       teilt wird in der Partei DIE LINKE die Kri-
     gung stehen. Im Gegenteil: Steigende         tik an der einseitigen Verteilung der Kri-
     Kosten für Bankenrettung und Staatsfi-       senkosten. Einigkeit besteht auch in der
     nanzierung werden eng mit Kürzungs-          Perspektive der Vergesellschaftung von
     zwängen und einer Einschränkung der          Banken beziehungsweise der Schaffung
     Souveränität der betroffenen Regierun-       eines Systems öffentlicher Banken (sie-
     gen zugunsten der Troika verknüpft. Es       he unten). Letzteres ist jedoch unmittel-
     geht also nicht um eine generelle Ableh-     bar kaum durchsetzbar. Insofern können
     nung kurzfristiger Kriseninterventionen      aus unserer Sicht unkonventionelle qua-
     oder von Rettungsfonds, sondern erneut       si keynesianische Liquiditätsspritzen der
     um deren neoliberal-autoritäre Form.         EZB zumindest das Schlimmste verhin-
     Dies gilt auch für die milliardenschweren    dern. Auch ein harter Schuldenschnitt,
     Käufe von (Staats-)Anleihen durch die        so wie ihn Wagenknecht fordert, könnte
     Europäische Zentralbank (EZB) und de-        Linderung verschaffen (Candeias 2010c).
     ren billionenschweren Liquiditätssprit-      Über die Auswirkungen einer solchen
     zen für Banken. Besonders der Kauf von       Maßnahme gehen die Meinungen je-
     Staatsanleihen – nicht direkt, sondern       doch auseinander. Troost sieht hiervon
     auf dem sogenannten Sekundärmarkt –          auch Kleinsparer und Pensionsfonds be-
     wurde von den deutschen Vertretern in        droht. Die Finanzmärkte könnten einen
     der EZB und der Bundesregierung heftig       harten Schuldenschnitt als Zahlungs-
     kritisiert. Axel Troost von der LINKEN da-   ausfall bewerten und eine Kettenreaktion
     gegen befürwortete das unkonventionel-       auslösen. Tatsächlich würde ein Ausei-
nanderbrechen der Eurozone unvorher-         ventionierte Extraprofite – zu ermögli-                            17
sehbare, in jedem Fall katastrophale         chen, wäre es sinnvoller und günstiger,
Folgen und Massenarmut nach sich zie-        Krisenstaaten direkt über die Zentral-
hen. Ungeklärt ist auch, ob ein Schulden-    bank zu geringen Zinsen zu refinanzie-
schnitt nur für Griechenland gelten solle    ren. Nicht nur ein Teil, sondern die ge-
oder für alle Krisenländer oder sogar dar-   samte Liquidität sollte für Staatsanleihen
über hinaus.                                 verwendet werden: Die Zinsen für die
Diese Probleme ließen sich allerdings        Krisenstaaten wären niedriger, und die
durchaus im Zuge eines öffentlichen          Zinseinnahmen würden an die EZB zu-
Schulden-Audits (siehe unten) lösen          rückfließen. Troost und Wagenknecht
(Candeias 2011).13 Dabei wäre zum Bei-       fordern daher: «Die Staaten brauchen in
spiel zu klären, ob und wie die Forde-       einem definierten Rahmen denselben
rungen von Kleinsparern und Pensions-        Zugang zu billigen Krediten bei der EZB
fonds und bis zu einer gewissen Höhe         [...] und solidarische Gemeinschafts-An-
auch Lebensversicherungen garantiert         leihen aller Staaten (Euro-Bonds).» Die
werden könnten. Mit Blick auf die Strei-     öffentliche Kreditaufnahme soll «von der
chung von Schulden fordern Troost und        Diktatur der Finanzmärkte» befreit wer-
Wagenknecht (2013): «Um den Schaden          den, und die Europäische Zentralbank
für die öffentlichen Kassen zu begren-       soll die Staaten in der Eurozone in einem
zen, müssen die Banken und Hedge-            festgelegten Rahmen direkt finanzieren.
fonds sofort zum Verzicht ihrer verblie-
benen Forderungen gegen Griechenland
gezwungen werden.» Im Entwurf des            2.2 Finanzmarkt­
Programms der LINKEN zur Bundes-             regulierung und öffent­
                                             liches Bankensystem
tagswahl 2013 heißt es, dass «Schulden
mindestens soweit gestrichen werden          Da der Europäischen Zentralbank nach
[sollen], wie sie auf die Bankenrettung      geltendem EU-Recht keine direkte Finan-
zurückgehen. Die Einlagen der Klein-         zierung von Staaten erlaubt ist – allenfalls
sparer und das seriöse Kreditgeschäft        über die Europäische Investitionsbank,
der Banken sind dabei öffentlich abzusi-     die allerdings nur Infrastrukturmaßnah-
chern» (DIE LINKE 2013).                     men finanzieren darf –, fordert DIE LINKE
Einigkeit besteht auch bei der Einschät-     zusammen mit dem Deutschen Gewerk-
zung der billionenschweren Liquiditäts-      schaftsbund (DGB) die Einrichtung einer
spritzen für Banken, verbunden mit der       Bank für öffentliche Anleihen (vgl. Her-
Hoffnung, diese würden wiederum auf          sel/Troost 2012). Dies wäre auch nach
den Primärmärkten direkt Staatsanleihen      geltendem Recht möglich.
der Krisenstaaten aufkaufen, was zu ei-      DIE LINKE tritt zudem für die Einführung
ner Senkung der entsprechenden Zins-         einer echten Finanztransaktionssteuer
sätze führen würde. Es ist absurd und        zwischen 0,05 und 0,1 Prozent ein. Denn
nicht einzusehen, dass sich Banken billig    die Planungen der Bundesregierung be-
bei der EZB Geld leihen können, um es
anschließend teuer an die Staaten wei-       13 Vgl. Griechische Kampagne zum Schulden-Audit, in: Lu-
                                             Xemburg 2/2012, S. 34 f.; vgl. CADTM – Committee for the
terzuverleihen. Statt den Banken damit       Abilition of the Third World Debt, unter: vgl. http://cadtm.org/
risikolos Zinseinnahmen – staatlich sub-     Citizen-debt-audits-how-and-why.
18   ziehungsweise der Europäischen Kom-         Rohstoffen. Nach den Vorstellungen der
     mission beinhalten entweder zu niedri-      LINKEN muss der Handel mit Derivaten,
     ge Steuersätze oder enthalten zahlreiche    wenn er überhaupt weiterhin erlaubt sein
     Ausnahmeregelungen, insbesondere für        soll, restriktiv gehandhabt werden. Der
     Derivate wie zum Beispiel die besonders     Partei nahestehende NGOs wie WEED
     gefährlichen Kreditausfallversicherun-      und andere streiten allerdings noch über
     gen (credit default swaps).14 In den Plä-   den Nutzen von Absicherungsgeschäf-
     nen der EU-Kommission sollen sie nur        ten etwa von Landwirten, aber auch von
     mit 0,01 Prozent besteuert werden. Dies     Unternehmen gegen Währungsschwan-
     würde eine Verlagerung von klassischen,     kungen.16 Unstrittig ist jedoch die For-
     standardisierten Börsenprodukten wie        derung nach einem Verbot des Handels
     Aktien und Anleihen hin zu Derivaten        intermediärer Finanzinstitutionen (Zwi-
     noch weiter befördern (Frankfurter All-     schenhändler), die beispielsweise mit
     gemeine Zeitung, 16.2.2013). Mit einer      Nahrungsmitteln oder Rohstoffen nur
     echten Finanztransaktionssteuer ohne        spekulieren.
     Ausnahmen, wie sie DIE LINKE fordert,       Zum angestrebten Umbau des Banken-
     würden zahlreiche Finanzgeschäfte, bei-     sektors haben Philipp Hersel und Axel
     spielsweise der computerisierte Hoch-       Troost (2012) wesentliche Positionen
     geschwindigkeitshandel, unrentabel          erarbeitet. Als eine der Kernfunktionen
     werden sowie die Finanzmärkte «ent-         von Banken betrachten sie erstens die
     schleunigt».15                              Sicherstellung eines zuverlässigen und
     Eine weitere Forderung der LINKEN ist,      kostengünstigen Zahlungsverkehrs, in-
     die privaten Rating-Agenturen zu ent-       klusive einer entsprechenden Bargeld-
     machten (vgl. DIE LINKE 2013: 51).          versorgung. Zweitens sollten Banken
     Bislang haben ihre Bewertungen von          auf die Rolle als Kapitalsammelstellen
     Risiken in Bilanzen von Banken oder Ver-
     sicherungen teilweise bindende Wir-         14 Die französische Variante einer Finanztransaktionssteuer
                                                 gleicht eher einer Börsensteuer, wie sie bereits in Großbri-
     kung. So ist bei Versicherungen oder        tannien als sogenannte Stempelsteuer auf Aktien existiert.
     auch Landesbanken nur ein geringer          Geschäfte jenseits der Börsen, die direkt zwischen zwei Fi-
                                                 nanzinvestoren getätigt werden (over the counter), werden
     Anteil risikoträchtiger Finanztitel zuge-   nicht konsequent erfasst. Bei Derivaten betrifft das mehr als
     lassen. Werden bestimmte Titel, nicht       60 Prozent aller Transaktionen. 15 Ein neuer Entwurf der
                                                 EU-Kommission sieht nun verschärfte Maßnahmen gegen
     zuletzt Staatsanleihen, von Rating-Agen-    eine Umgehung der Steuer vor: Er ergänzt das sogenann-
                                                 te Herkunftsprinzip durch das sogenannte Ausgabeprinzip.
     turen in ihrer Bewertung herabgestuft,      Herkunftsprinzip bedeutet, dass alle Finanzinstitutionen, die
     sind die Unternehmen gezwungen, die-        ihren Sitz im Geltungsbereich des Gesetzes haben, steuer-
                                                 pflichtig sind, also auch wenn zum Beispiel eine deutsche
     se zu verkaufen, unabhängig davon, ob       Bank außerhalb Europas Aktien- oder Derivatgeschäfte tä-
     sie die Einschätzung der Rating-Agen-       tigt. Ausgabeprinzip bedeutet, dass auch der Handel mit al-
                                                 len Vermögenstiteln aus dem Geltungsbereich des Gesetzes
     turen teilen. DIE LINKE will die privaten   steuerpflichtig wird, also wenn zum Beispiel eine US-Bank
                                                 in Hongkong italienische Staatsanleihen handelt (vgl. Wahl
     Agenturen durch eine öffentliche euro-      2013). 16 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung www.weed-
     paweite Behörde ersetzen. Darüber hi-       online.org/themen/finanzen/nahrungsmittelspekulation/
                                                 index_2010.html; den Foodwatch-Bericht «Die Hungerma-
     naus fordert sie die Einführung eines       cher» (2011) von Harald Schuhmann unter: http://foodwatch.
     Finanz-TÜVs, den alle neuen Finanzinst-     de/foodwatch/content/e10/e45260/e45263/e45318/food-
                                                 watch-Report_Die_Hungermacher_Okt-2011_ger.pdf; und
     rumente zu durchlaufen hätten. Dies gilt    Heiner Flassbeck zur Nahrungsmittelspekulation im Ernäh-
                                                 rungsausschuss des Bundestages, unter: http://germanys-
     insbesondere für Derivate und Futures       nextkabinettskueche.wordpress.com/2012/10/01/heiner-
     im Bereich von Nahrungsmitteln und          flassbeck-dirk-muller-u-a-nahrungsmittelspekulation.
Sie können auch lesen