LINKE STRATEGIEN IN DER EUROKRISE - EINE KOMMENTIERTE ÜBERSICHT ANALYSEN - ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG
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Analysen Parteien und Demokratie Linke Strategien in der Eurokrise eine kommentierte ÜBERSICHT Mario Candeias
Linke Strategien in der Eurokrise einschlieSSlich einer kommentierten Synopse der europapolitischen Positionen der Partei DIE LINKE Mario Candeias unter Mitwirkung von Cornelia Hildebrandt, Etienne Schneider, Thomas Sablowski, Horst Kahrs, Judith Dellheim, Erhard Crome und Sabine Reiner
Inhalt 1 Autoritärer Neoliberalismus und Postdemokratie 5 in der Europäischen Union 1.1 Surfen auf der Krise: die Exportökonomie der Bundesrepublik 6 1.2 Perspektive für die Krisenländer? 9 1.3 Sonderwirtschaftszone Südeuropa? 12 2 Europa.links? (Divergierende) Positionen der Partei DIE LINKE – eine Synopse 15 2.1 Kurzfristige Krisenintervention 15 2.2 Finanzmarktregulierung und öffentliches Bankensystem 17 2.3 Europäische Ausgleichsunion 21 2.4 Marshallplan, europäische Industriepolitik und sozial-ökologischer Umbau 22 2.5 Gerechte Steuern: Reichtum ist teilbar 24 2.6 Sozialkorridore und Mindeststandards 25 2.7 Exit – Ausgewählte Positionen jenseits der Partei 26 3 Die Neugründung Europas 29 3.1 Zwischen Pro-Europa und Euroskepsis 29 3.2 Die Verdichtung gesellschaftlicher Mobilisierung 31 3.3 Strategische Unterbrechung 34 3.4 Mehrheiten gewinnen im Herzen der Bestie? 35 Literatur 38
4 1 Autoritärer Neoliberalismus und Postdemokratie in der Europäischen Union Es bestätigt sich, dass die (wahrschein- wühlt» und sie daher – insbesondere in Kri- lich) «letzte Konjunktur» des Neoliberalis- senzeiten – «sich nach den unvollständi- mus (Candeias 2004 u. 2009) seine auto- gen, unterentwickelteren und eben darum ritäre Wendung ist. Er begegnet der Krise gefahrloseren Form derselben» [Demokra- (wie in vorangegangenen großen Krisen) tie] zurücksehnt (Marx, MEW 8: 140). Für mit einer Intensivierung der alten Regu- den neoliberalen Vordenker Friedrich Au- lationsmechanismen (Candeias 2008; IfG gust von Hayek (1980: 156) oder Ordolibe- 2011). Die Krise wird genutzt, um neoli- rale wie Wilhelm Röpke (1958: 107) sind berale Prinzipien über Kürzungspolitiken daher Demokratie und Diktatur keine un- und sogenannte Schuldenbremsen zu vereinbaren Gegensätze, nur unterschied- verschärfen und europaweit institutio- liche Formen der Machtgewinnung. nell mit Verfassungsrang festzuschrei- Die technokratisch-politische «Lösung» ben. Das zielt auf die Wiederherstellung führt keineswegs zu einer Überwindung des «Vertrauens» der Finanzmärkte und der (organischen) Krise, sie dient vielmehr auf die Disziplinierung der Politik. Wenn der ungleichen Verteilung ihrer Folgen nötig, werden gewählte Regierungen und der Sicherung von Herrschaftsinte zum Rücktritt gezwungen und durch ver- ressen in Zeiten, in denen der neolibera- meintlich neutrale Technokraten ersetzt, le Block an der Macht längst seine Fähig- wie 2011 in Griechenland oder Italien. keit zur Führung und Organisation eines Hier wird Macht umverteilt: Die Kons- aktiven Konsenses verloren hat. Ein An- truktion supranationaler Sachzwänge zeichen hierfür waren zunehmende poli- wird als Begründung für eine Politik des tische Instabilitäten vor allem in einigen Abbaus von Sozial- und Arbeitsrechten, Ländern der Eurozone. Zwischen 2009 der Privatisierung sowie der Enteignung und 2012 fanden in zwölf Ländern der Eu- von Schuldnern genutzt. Sie dienen der ropäischen Union, darunter neun Länder Delegitimierung der Ansprüche jener, die der Eurozone, vorgezogene Wahlen oder nicht in erster Linie «stabilitätsorientier- Regierungsumbildungen statt. Die Ursa- te» Interessen verfolgen: Beschäftigte, chen hierfür sind in allen Fällen (außer in Gewerkschaften, Arbeitslose und sozial Belgien) Auseinandersetzungen um das Benachteiligte. «Die Neuausrichtung der Ausmaß radikaler Sozialkürzungen und EU wird damit noch stärker als zuvor zu Reprivatisierungen infolge verordneter einem entscheidenden Kampfplatz für Kürzungsmaßnahmen unter dem Diktat gesellschaftliche Entwicklungen, auch in der Troika, bestehend aus Europäischer der Bundesrepublik»(IfG 2011: 6). Kommission, Europäischer Zentralbank Marx beschreibt eine postdemokratische und Internationalem Währungsfonds. Situation wie folgt: Die der kapitalistischen Aber auch die im Amt befindlichen Re- Produktionsweise entsprechende «voll- gierungen, zum Beispiel in Griechenland, endete» politische Form ist die Demokra- Portugal, Spanien oder Slowenien, sind tie. Die Bourgeoisie lehrt jedoch «der In- nicht stabil. Die bulgarische Regierung stinkt», dass die Demokratie «zugleich ist Ende Ferbuar 2013 zurückgetreten. deren gesellschaftliche Grundlage unter- Äußerst schwierig gestaltet sich die Re-
gierungsbildung derzeit in Italien. Ob So- politischen Partner mehr haben bezie- 5 zialdemokraten oder Konservative – die hungsweise diese (einschließlich der autoritäre «Austeritätspolitik» wird un- Linken) als Teil des etablierten Systems abhängig von Massenprotesten gegen unfähig sind, gesellschaftliche Alterna- die Bevölkerung durchgesetzt. Die Par- tiven aufzuzeigen, entwickeln sich Anti- teien verlieren selbst in den eigenen Rei- Parteien: in Italien die Cinque Stelle (die hen ihre Legitimationsbasis. 1,5 Millionen Fünf-Sterne-Bewegung) von Beppe Gril- Portugiesinnen und Portugiesen (15 Pro- lo oder in Polen die Palikot-Partei. Proble- zent der Bevölkerung) folgten am ersten matischer noch: Es gewinnen rechtspo- Märzwochenende 2013 dem Aufruf der pulistische und rechtsextreme Parteien «Empörten-Bewegung» und forderten – an Stärke, in Griechenland oder Italien ähnlich wie die Demonstrantinnen und und vor allem in Ungarn, dem ersten EU- Demonstranten in Spanien – den Rücktritt Land, in dem das Parlament einem Ver- der Regierung und das Ende der zerstö- fassungsgericht das Recht auf die Prü- rerischen Kürzungspolitik. Der Preis für fung von Gesetzen hinsichtlich ihrer die Troika-Kredite, 78 Milliarden Euro für Verfassungskonformität entzogen hat. Portugal, 65 Milliarden für Spanien und Damit wird die Verteidigung der Demo- 31,5 Milliarden Euro für Griechenland (die kratie zu einer europäischen Aufgabe, nächste Kreditrate), sind strikte Kürzungs- wobei es angesichts der weitverbreiteten maßnahmen, die noch die letzten Reste Wahrnehmung mangelnder Partizipa- europäischer Sozialstaatlichkeit hinweg- tionsmöglichkeiten darauf ankäme, die fegen werden. In Bulgarien, wo diese nur Kämpfe sozialer Bewegungen und linker äußerst rudimentär vorhanden ist, kann Parteien zusammenzuführen. die drastische Anhebung der Strompreise Auch in den Kernländern der Europä- und anderer Lebenshaltungskosten durch ischen Union wird die Zahl der Proteste keine sozialen Transfers aufgefangen wer- zunehmen, insbesondere wenn es tat- den. Folgerichtig gingen die Menschen sächlich zu einer Umsetzung der in den dort Tag für Tag auf die Straße und klag- «Memoranda of Understanding» festge- ten ihr Recht auf eine warme Wohnung legten Vereinbarungen zur Deregulierung ein. Es kam zu schweren Auseinanderset- nationaler Arbeitsmärkte und weiteren zungen zwischen der Polizei und den Pro- Privatisierungsmaßnahmen käme, die testierenden, die den Ministerpräsiden- von Irland, Griechenland und Portugal un- ten Bojko Borissow Ende Februar 2013 terschrieben werden mussten, um Gelder schließlich zum Rücktritt veranlassten. aus dem europäischen Rettungsschirm Wie lange sich die Regierung Griechen- zu erhalten. Schon jetzt wird in Frankreich lands unter dem Druck der anhaltenden gegen die Regierungspolitik der Sozialis- Proteste und Generalstreiks noch halten ten demonstriert, die auf der Grundlage kann, ist ebenso offen wie die Situation in des Gallois-Berichts1 und in Anlehnung Slowenien oder Spanien, wo Regierungs- politiker in Korruptionsaffären verstrickt 1 In einem Gutachten für die französische Regierung schlägt sind und weiter ungehemmt gekürzt wird. Ex-EADS-Chef Louis Gallois 22 Maßnahmen vor, die einen – wie er es nennt – «Wettbewerbsschock» auslösen sollen, Und dort, wo die politische Linke be- um insbesondere die Industrie und die Arbeitsmärkte wie- deutungslos geworden ist, wo soziale der konkurrenzfähig zu machen. Im Kern geht es darum, die Lohnnebenkosten um 30 Milliarden Euro zu senken (vgl. auch Bewegungen schwach sind oder keine Dellheim/Wolf 2013).
6 an die deutsche Agenda 2010 einen Ab- d.h. hat nur die Macht, die Krise selbst bau von Arbeitsrechten und sozialen Ab- zu verlängern» (Gramsci 1991–2002: sicherungen vorantreiben. Heft 14, §58). Tatsächlich werden auch In Südeuropa, wo auf Konsensproduk- systemimmanente Krisenlösungen blo- tion mittlerweile verzichtet wird, tritt ckiert: ohne massive Kapitalvernichtung der Zwang offen zutage. Die herrschen- oder Erschließung neuer Akkumulations- den Klassen sind uneinig angesichts felder keine Bearbeitung der finanziellen der Unwägbarkeiten der Krise und hin- Überakkumulation. Der in dieser Hin- sichtlich der Maßnahmen, die benötigt sicht vielversprechende «Grüne Kapita- werden, um diese zu beenden: Die Re- lismus» (oder green economy) wird durch regulierung der Finanzmärkte stockt, der die Beharrungskraft «fossilistischer Ka- Schuldenabbau misslingt, die finanzielle pitalgruppen» und die Beschränkungen Überakkumulation wächst (wenn auch der Austeritätspolitik in seiner Dynamik etwas langsamer als vor 2008). Aber sie behindert. Seine Potenziale lassen sich sind imstande, sich mit Blick auf die au- unter dem autoritären Neoliberalismus toritäre Sicherung und Ausübung der nicht realisieren (links-keynesianische Staatsmacht zu einigen, sich strategisch Bearbeitungsformen haben zurzeit noch «auf den Staat als finalen Garanten ih- weniger Durchsetzungschancen). Anto- res Überlebens zu fokussieren» (Porcaro nio Gramsci unterscheidet zwei Formen 2013: 135). Es wird «auf Sicht gefahren», des Autoritarismus (bzw. Cäsarismus): inkrementelle Politik wird zum Akt der eine Form, die nur eine quantitative Ent- Vernunft in unübersichtlichen Zeiten er- wicklung des bestehenden gesellschaft- hoben. Die Krise zwingt immer wieder zu lichen Typus erlaubt (die Politik Napole- Anpassungen, Prinzipien müssen über ons III.), und Formen (bezogen auf Cäsar Bord geworfen werden: Ob nun Schul- und Napoleon Bonaparte), die tatsäch- denschnitte, Rettungsfonds, zusätzliche lich auch zu qualitativen Neuerungen Hilfspakete, Lockerung der Zahlungs- führen (vgl. ebd.: Heft 1, 194 f.). Der neo- bedingungen, Ankauf von Staatsschul- liberale Autoritarismus ist zum Letzteren, den durch die Europäische Zentralbank dem Cäsarismus, nicht in der Lage. (EZB) oder europäische Bankenkontrolle, in fast jedem Fall musste zumindest die deutsche Regierung ihre Position revidie- 1.1 Surfen auf der Krise: ren; häufig zu spät, womit sie die Krise die Exportökonomie der zusätzlich schürte. Bundesrepublik «Für ein eigenes hegemoniales Pro- «Wir sind gut durch die Krise gekom- jekt ist der Autoritarismus sicher unzu- men», wird von der deutschen Regierung reichend, da Attraktivität und ökono- und den hiesigen Medien immer wieder misches Potenzial begrenzt bleiben» verkündet. Dabei fällt die wirtschaftliche (Candeias 2009: 16). Ergebnis ist, dass Situation in der Bundesrepublik und die «verhindert wird, dass die Elemente der in anderen EU-Ländern immer mehr aus- Lösung sich mit der nötigen Geschwin- einander: Während die europäische Pe- digkeit entwickeln; wer herrscht, kann ripherie in Schuldenkrise und Depressi- die Krise nicht lösen, hat aber die Macht on versinkt, waren Krisenkorporatismus [zu verhindern], dass andere sie lösen, und Krisenmanagement in Deutschland
vergleichsweise erfolgreich: Die magi- Von der Bundesregierung bis hin zur IG 7 schen Worte lauten Bankenrettung, Kurz- Metall sehen sich viele durch den Erfolg arbeitergeld und Abwrackprämie – also des «Modells Deutschland» bestätigt. genau das Gegenteil von der Kürzungs In Zukunft werden wir in nachindustriel- politik, die man anderen Ländern verord- len Gesellschaften leben, hieß es lange. net hat. Die Konjunkturprogramme hal- Die USA und Großbritannien galten als fen, die enormen Investitionsrückstände Vorbild mit ihrer Ausrichtung auf gut be- bei Schulen und anderen Infrastruktur- zahlte Finanzdienste und billig entlohnte einrichtungen hier und dort aufzuholen. personennahe Dienstleistungen. Inzwi- Einschnitte in soziale Leistungen und bei schen ist klar geworden, dass der starke öffentlichen Diensten fielen vergleichs- Anteil der Industrie in der Bundesrepu- weise moderat aus, da es bereits vor der blik Beschäftigung gesichert hat (aller- Krise zur Kürzung staatlicher Lohnersatz- dings ist dies zwischen Dienstleistungs- leistungen (vom Arbeitslosengeld bis hin und Industriegewerkschaften durchaus zur Rente), zur Verlängerung der Lebens- umstritten, da auch skandinavische Län- arbeitszeit und zur Austrocknung und der mit hohem Dienstleistungsanteil und Verscherbelung des Öffentlichen gekom- kleinem Industriesektor gut durch die Kri- men war. se kommen). Beschäftigung und relativ Nach Fukushima hat die Regierung Mer- hohe Löhne in den industriellen Kernen kel in rasender Geschwindigkeit ihre gibt es allerdings oft nur zum Preis hoher Position gewechselt und das Ende der Arbeitsverdichtung, Überlastung und zu- Atomkraft und den Beginn einer Ener- nehmendem Zeitmangel. Zugleich bleibt giewende ausgerufen. Auf dem letz- vielen Menschen außerhalb der Kernbe- ten CDU-Parteitag hat sie die zentralen legschaften sowie in anderen Branchen Punkte für die Zukunft benannt: Konso- ein zu geringes Einkommen, genauso lidierung der Haushalte und ökologische wie den Erwerbslosen. Die Reallöhne Modernisierung (klingt wie ein zukünfti- stagnieren seit über einem Jahrzehnt, ges Programm für Schwarz-Grün). Und im Niedriglohnbereich mussten seit der nun wollen Angela Merkel und Ursula Agenda 2010 Lohnverluste von über 20 von der Leyen eine Art Mindestlohn ein- Prozent hingenommen werden. Viele führen, Altersarmut bekämpfen, insge- Menschen und Haushalte können da- samt die sozialen Bedürfnisse betonen, mit kaum mehr ihre grundlegenden Be- um weitergehenden Ansprüchen wie dürfnisse abdecken. Daher bleibt die der Forderung nach einem allgemeinen Binnennachfrage auch in wirtschaftlich gesetzlichen Mindestlohn in angemes- guten Zeiten schwach. Staatliche Investi- sener Höhe den Wind aus den Segeln zu tionen können das nicht ausgleichen, da nehmen. All das sind nicht ganz erfolglo- öffentliche Dienste und Infrastrukturen se Versuche, die Krise zu managen, mög- über Jahrzehnte ausgedünnt wurden. lichen Protesten die Spitze zu nehmen Zudem stößt die Fortführung des alten und die Gewerkschaften einzubinden. industriellen Wirtschafts- und Entwick- Auch Sozialdemokraten und GRÜNE be- lungsmodells an ihre ökologischen Gren- tonen mit Blick auf die kommenden Bun- zen. Dethematisiert wird von Regierung destagswahlen wieder das Soziale. So und Medien die Rolle der Lohnpolitik in wird das Feld für DIE LINKE eng. Deutschland, der Handelsbilanzüber-
8 schüsse sowie der Kreditpolitik deut- herzige ökologische Modernisierung scher Banken bei der Verursachung der ausreichend sein, um die Vorteile des Eurokrise. Lieber wird auf die vermeint- deutschen Exportmodells auf Kosten an- lich verlotterten Griechen geschimpft. derer vorläufig zu bewahren. Gerade die Dabei wird mit dem Schreckgespenst der Schwäche der Eurozone kann zu einer re- Eurokrise gearbeitet: Dass es den Men- lativen Unterbewertung des Euro führen schen in anderen Ländern schlechter und so die deutsche Position gegenüber geht, zeige, dass Abstriche bei Löhnen Konkurrenten wie Japan verbessern» (IfG und Gehältern, beim Lebensstandard 2011: 8). und bei der sozialen Sicherheit – also die Die Exportindustrie in Deutschland hin- Politik der Agenda 2010 – richtig und not- terlässt deutliche Bremsspuren, sie wendig gewesen seien. wächst langsamer, doch sie wächst und Prognose bestätigt: Selbstverständlich erzielt Rekordüberschüsse, im Jahr 2012 kann Deutschland sich der Krise nicht ganze 188 Milliarden Euro (die tageszei- entziehen. Die einseitige Abhängigkeit tung, 9.2.2013). Zwar wird immer noch vom Export, kombiniert mit der über- überwiegend in die Euroländer exportiert all in Europa verordneten Kürzungspoli- (2012 im Wert von 411,9 Milliarden Eu- tik, gefährdet die Existenz der Industrie. ro), der Warenwert (minus 2,1 Prozent Kaum ein anderes Land ist so abhängig gegenüber dem Vorjahr) und der Anteil von Exporten wie die Bundesrepublik der Euroländer am Gesamtexport der (sie machen fast 50 Prozent des BIP aus). deutschen Ökonomie (noch etwas über Wie erwartet, stürzte Südeuropa in eine 37 Prozent) sinken jedoch: «Damit setzt Depression und der Rest Europas 2012 sich ein längerer Trend fort» (IfG 2011: 8; in eine Rezession (Candeias 2010b: 61). vgl. auch Candeias 2010a). Das Export- Trotzdem bestätigt sich unsere Prog- wachstum wird schon seit Jahren von nose, dass die deutsche Wirtschaft im anderen Wachstumsmärkten getrieben, Großen und Ganzen wie bisher weiter- neben China (plus 28 Prozent gegenüber machen kann. Die globale Nachfrage er- dem Vorjahr) und den anderen (teilweise litt trotz Rückgang keinen dramatischen überschätzten) BRICS-Staaten2 verspre- Einbruch. «In diesem Fall könnten deut- chen Schwellenländer wie die Türkei, In- sche Exporterfolge auf kleinerer Flamme donesien, Vietnam oder Mexiko bessere weiterhin das Wachstum in Deutschland Bedingungen und höhere Wachstums- gewährleisten, ohne dass ein Wechsel raten – Potenziale, die die südeuropäi- des Modells notwendig würde, allen- schen Ökonomien auf Jahre hinaus nicht falls werden – getrieben von Akzeptanz- erkennen lassen. Der große Vorteil der verlusten und Ereignissen wie Fukushi- neuen kapitalistischen Zentren und se- ma – kleine und graduelle Änderungen mipheripheren Aufsteiger: Sie verfügen in Richtung Energiewende und ökolo- über eine wettbewerbsfähige Produk- gische Modernisierung unternommen. tionsstruktur, anders als Griechenland Auch bei insgesamt schwacher globa- oder Portugal, Spanien und Italien, deren ler Dynamik könnten selbst eine abge- industrieller Sektor in den vergangenen schwächte Nachfrage aus den neuen Jahrzehnten erheblich geschrumpft ist. kapitalistischen Zentren wie China, In- 2 Zu den BRICS-Staaten zählen neben China noch Brasilien, dien und Brasilien und eine nur halb- Russland, Indien und Südafrika.
Das heißt auch, Erhard Crome zufolge: lichen (und östlichen) Krisenländer sowie 9 «Die EU-Einbindung ist für die Bundes- möglicherweise auch für Irland vorgese- regierung dabei nicht mehr ein Wert an hen? sich, sondern die Voraussetzung für eine Die linke Kritik an der Struktur der Wäh- internationale Geltung Deutschlands, die rungsunion Ende der 1990er Jahre, wie sich auf die starke Position im Welthan- sie schließlich im Vertrag von Maast- del stützt, oder, mit anderen Worten, die richt und im Stabilitätspakt festgeschrie- Dominanz Deutschlands in der EU ist die ben wurde, war zutreffend. Die moneta- Grundlage für die Expansion im globalen ristische Form berücksichtigte nur den Handel» (zit. n. IFG 2011: 6). Die Regie- Schuldenstand, die Neuverschuldung rung verfolgt in erster Linie das Interes- und die Inflation, nicht jedoch die Leis- se einer wirtschaftlichen und politischen tungsbilanzen, die Produktivitätsent- Dominanz Deutschlands ohne Hegemo- wicklung sowie die Sozialleistungs- und nialanspruch. Dabei werden Partikular Lohnniveaus. Im Ergebnis konnten die interessen ideologisch verkehrt und zum Unterschiede zwischen den einzelnen allgemeinen Prinzip erhoben: «Es geht Mitgliedsstaaten und Regionen im eu- den deutschen Eliten nicht um deutsche ropäischen Währungsraum bei der Pro- Vorherrschaft, sondern um die Vorherr- duktivität nicht mehr durch Wechsel- schaft bestimmter Prinzipien» (Brangsch kursanpassungen ausgeglichen werden. 2013). Ergebnis ist eine Herrschaft ohne Zugleich fehlte es an sozialen Mindest- Führung in Europa – auf Basis des kleins- standards, einer Angleichung der Leis- ten gemeinsamen neoliberalen Nenners: tungsbilanzen und einer Art Länderfi- Kürzungspolitik, plus unvermeidbare nanzausgleich (über die Regional- und Maßnahmen zur Finanz- und Bankensta- Konversionsfonds hinaus). Als möglicher bilisierung. Auf dieser Basis soll die eu- Ausgleichsmechanismus bleibt nur die ropäische Integration vertieft werden. Lohn- und Tarifpolitik (Busch 1996: 61; Über die Finalität der Europäischen Uni- Altvater/Mahnkopf 1993: 93) sowie die on besteht allerdings keinerlei Einigkeit weitere Absenkung der sozialstaatlichen (vgl. die jüngste Cameron-Rede; Dell- Absicherung in Ländern mit Leistungsbi- heim u. a. 2013). Auch wenn ein Zerfall lanzdefiziten. Der europaweiten Anglei- der Union unwahrscheinlich ist, liegen chung des Preisniveaus steht eine weite- sowohl ein Zusammenbruch der Wäh- re Lohndifferenzierung gegenüber. rungsunion als auch ein Zurück zum Mo- Vonseiten der Sozialdemokratie wurde dell «Freihandelszone-Plus» im Bereich die Bedeutung der Regional-, Struktur- des Möglichen. Linke sollten bei ihren und Konversionsfonds der Europäischen Strategien alle möglichen Szenarien be- Union hochgehalten, um die Angleichung rücksichtigen. der Lebensbedingungen zu fördern. Die Einbindung in den europäischen Binnen- markt und die Währungsunion führten je- 1.2 Perspektive für doch zur Differenzierung, was durchaus die Krisenländer? gewollt war: Die massiven Infrastruktur- Welche Rolle, welche Perspektiven sind maßnahmen und Investitionen in europä- in diesem autoritär-neoliberalen und ische Netze (Transport, Energie etc.) dien- postdemokratischen Europa für die süd- ten der Erschließung der Märkte in der
10 europäischen Peripherie. Europäisierung Es bleibt einer Regierung wie zum Bei- hieß zugleich Globalisierung und Wegfall spiel der griechischen nichts anderes üb- von nationalen Handels- und Kapitalver- rig, als Wachstum über Staatskonsum kehrsbeschränkungen zum Schutz der (und private Verschuldung) zu fördern, eigenen Produktion. Die bestehenden um Arbeitsplatzverluste zu kompensie- Industriestrukturen in den Peripherien ren, was wiederum zu steigenden Haus- konnten trotz des geringen Lohnniveaus haltsdefiziten führt. Andere Länder wie gegen die hochproduktive Konkurrenz Spanien oder Portugal konnten trotz Han- nicht bestehen – es setzte eine massive delsdefiziten die Staatsschuld über lange Deindustrialisierung ein und traditionelle Zeit relativ stabil halten (Spanien sogar Branchen brachen weg, was durch Inves- abbauen), durch steigende Steuerein- titionen von transnationalen Konzernen nahmen im Zuge des Wirtschaftswachs- (zum Beispiel Volkswagen) keineswegs tums. Die massive Arbeitslosigkeit konn- kompensiert wurde. Teilweise wurden te nach und nach gesenkt werden durch (ähnlich wie in Ostdeutschland) Betriebe den Bedeutungsgewinn der Bau- und trotz bestehender Profitabilität von finanz- Finanzindustrie sowie der (zuvor kaum starken Konkurrenten aufgekauft und existenten) staatlichen Dienstleistun- nach und nach geschlossen, um Über- gen. Der damit verbundene Boom wur- kapazitäten abzubauen, eigene Stand- de durch einen Mechanismus befördert, orte zu sichern oder noch produktivere den linke Kritiker der Währungsunion zu eröffnen (etwa in Osteuropa). Nicht nicht vorhergesehen hatten: eine Kredit- zuletzt der stetige Druck davoneilender schwemme. Das war solange kein Pro- Produktivitäten bei drastischer «Lohn- blem, solange bei einem niedrigen Zins- zurückhaltung» in den Exportindustrien niveau und reichlich Liquidität auf den in Deutschland hat die südeuropäischen Märkten Kredite günstig zu haben waren Industrien zu Tode konkurriert.3 Als alter- und Staatsanleihen stets ihre Abnehmer nativer Billigstandort wiederum war Süd- fanden (nicht zuletzt bei den deutschen europa nicht billig genug im Vergleich zu Großbanken). Der immense Kapitalex- Osteuropa, vor allem aber im Vergleich port vonseiten der Überschussländer ga- mit asiatischen Ländern. Dagegen gelang rantierte eine stetige Refinanzierung. Die es der Landwirtschaft in Südeuropa, ihre Position zu halten, indem sie zu einer «ef- 3 Jannis Milios, Berater von Alexis Tsipras, und Dimitris Sotiropoulos (2010) weisen darauf hin, dass die Leistungs- fizienten» Agroindustrie umgebaut wur- bilanzdefizite der Krisenländer nicht als Ursache, sondern als de.4 Die Ausbeutung der hier Beschäf- Folge hoher Kapitalimporte zustande kamen. Sie bestreiten den Konkurrenzdruck deutscher Industrieunternehmen und tigten, vornehmlich schlecht bezahlte betrachten die hohen Wachstums- und Investitionsraten in Migrantinnen und Migranten, ist enorm, Griechenland vor der Krise als Folge der hohen Profitabilität des Kapitals, im Gegensatz zu der Rede von der mangelnden genauso wie die Wasserverschwendung Wettbewerbsfähigkeit. Angesichts der Felder ausländischer Investitionen vor allem im Finanz- und Bausektor bezwei- sowie der Verlust von fruchtbaren Böden feln wir dies jedoch und sehen die Leistungsb ilanzdefizite und Biodiversität. Entsprechend spielt der als Ausdruck einer Kombination von Konkurrenz- und Ver- schuldungsdruck. 4 Dies gilt insbesondere für Spanien. Export hier jenseits von Agrarprodukten Griechenland hingegen weist selbst im Bereich der Nah- keine große Rolle mehr.5 Länder wie Grie- rungsmittel Handelsbilanzdefizite auf. 5 Zwischen 1997 und 2007 (dem Jahr vor der Krise) stieg das Handelsbilanz- chenland oder Portugal mussten deswe- defizit in Griechenland von 14 auf 38 Milliarden Euro an, in Portugal von 8 auf 15 Milliarden Euro und in Spanien von gen massive Handelsbilanzdefizite hin- 12 auf 88 Milliarden Euro (Daten zusammengestellt aus der nehmen. AMECO-Datenbank).
langjährige kreditfinanzierte Nachfrage bilanzen in Europa hat verhindert, dass 11 von Privathaushalten, Unternehmen und sich der Anpassungsdruck innerhalb der Regierungen der Defizitländer stützte in Währungsunion schneller direkt auf die allererster Linie auch den deutschen Ex- Löhne, Tarife und staatlichen Leistungen port und damit ein bescheidenes Wachs- auswirkte. Erst mit der Krise und dann tum in Deutschland. Der Spekulations- insbesondere mit den durch die Troika er- boom trieb die Preise: Das Preisniveau in zwungenen Kürzungsprogrammen stieg südeuropäischen Metropolen liegt heute die Staatsverschuldung sprunghaft an.6 deutlich über dem in den meisten deut- Die Troika setzte gleichzeitig auch die so- schen Städten – bei wesentlich niedrige- genannte innere Abwertung durch, an- ren Löhnen. geblich um die Wettbewerbsfähigkeit Die Gewerkschaften, auch in anderen Pe- der Krisenländer wiederherzustellen. ripherieländern, versuchten die Schere Aber was bedeutet «innere Abwertung» zwischen Preis- und Lohnentwicklung in einem ohnehin vergleichsweise ar- auszugleichen: Die Reallöhne beispiels- men Land wie Griechenland mit Durch- weise in Polen und Griechenland stie- schnittslöhnen um die 700 Euro? Um gen zwischen 2000 und 2008 um 40 Pro- einigermaßen wettbewerbsfähig zu wer- zent, in Großbritannien um 26 Prozent, in den, müssten die Löhne um weitere 20 Frankreich um 10 Prozent und in Spanien bis 30 Prozent sinken. Tatsächlich sind um 4,5 Prozent, während sie in der Bun- die Löhne seit Beginn der drastischen desrepublik im selben Zeitraum um ein Kürzungspolitiken um etwa diesen Wert Prozent sanken. Dies hat die Konkurrenz- gefallen, der Mindestlohn wurde um bedingungen in der europäischen Peri- 22,8 Prozent herabgesetzt. Und selbst pherie nicht gerade verbessert. Darüber das hatte in einer tendenziell deflationä- hinaus versuchten die Haushalte, ihren ren Situation in Europa keine Exportstei- Konsumstandard zu halten (und teilwei- gerungen zur Folge. Überhaupt: Was soll se zu erhöhen) und (angesichts kaum ent- denn exportiert werden angesichts der wickelter Mietwohnungsmärkte) Wohn Deindustrialisierung und den erhebli- eigentum zu erwerben, indem sie sich chen Produktivitätsrückständen? massiv verschuldeten (was ihnen von Das vorläufige Ergebnis ist eine Spira- Banken in Zeiten von niedrigen Zinsen als le des Elends: Massenentlassungen bei unproblematisch verkauft wurde). Diesen einer offiziellen Erwerbslosigkeit von 25 Zusammenhang von Preis- und Lohn- Prozent und mehr, Tendenz steigend. 3,5 druck verfehlt der IG-Metall-Vorsitzende Millionen Menschen verloren allein in Berthold Huber, wenn er erklärt, die (spa- Spanien seit 2008 ihren Job (Frankfurter nischen) Metallarbeiter-Gewerkschaften Allgemeine Zeitung, 16.2.2012), bei ei- hätten «in erster Linie den Reallohnaus- ner Jugendarbeitslosigkeit von über 60 gleich als Sinn und Zweck ihrer Tarifpolitik Prozent und einer Arbeitslosenquote un- gesehen» und damit «ihren Vorteil ver- 6 Zwischen 2000 und 2007 stieg die Staatsschuld in Grie- spielt, dass sie nämlich billiger als die chenland um 4 Prozent, zwischen 2008 und 2011 explodierte deutsche Industrie waren» (zit. n. Bernd sie um 58 Prozent. In Portugal erhöhten sich die Staatsschul- den bis 2007 um immerhin 20 Prozent, mit Krise und Kür- Riexinger, in: Junge Welt, 11.1.2013). zungsprogrammen jedoch um weitere 40 Prozent. In Spani- en fielen die Schulden zwischen 2000 und 2007 sogar um 23 Der inflationäre Kreditkreislauf auf Basis Prozent, von 2007 bis 2011 legten sie jedoch um mehr als 33 der auseinanderlaufenden Leistungs- Prozent zu (eigene Berechnung auf Grundlage von Eurostat).
12 ter den 50- bis 60-Jährigen von 80 Pro- schwinden. Wie dumm das neoliberale zent. Die im Zuge der Kürzungsprogram- Leitbild einer EU als Staatenkonkurrenz me vorgenommene Arbeitsmarktreform aber ist, wird spätestens bei der Fra- in Spanien hat Entlassungen noch ein- ge klar, wohin denn eigentlich die EU- facher gemacht, woraufhin abermals Mitgliedsländer verschwinden sollen, 850.000 Menschen arbeitslos wurden die im Staatenwettlauf verlieren. Sol- (ebd.). Hinzu kommen drastische Lohn- len sie vom ‹Staaten-Markt› verschwin- und Rentenkürzungen, längere Arbeits- den? Soll Griechenland nun zerschlagen zeiten im öffentlichen Dienst, die Ein- werden, und die Belegschaft der Grie- schränkung von Arbeits-, Streik- und chenland AG – sprich die griechische Sozialrechten, ein Zusammenbruch öf- Bevölkerung – sucht sich eine neue Wir- fentlicher Dienstleistungen, darunter das kungsstätte?» (Troost/Hersel 2012: 2). öffentliche Gesundheitssystem (Grie- Wohl kaum. Was soll aus Sicht des neo- chenland), eine halbe Million Wohnungs- liberalen Blocks an der Macht aus Öko- räumungen (Spanien) sowie massive Er- nomien wie Griechenland werden? Wird höhungen von Gebühren und Steuern sich Südeuropa zu einer Art Sonderwirt- (insbesondere der Mehrwertsteuer). Die schaftszone entwickeln? Belastung ist für viele inzwischen uner- Der kritische Ökonom William Tabb 7 träglich: Die Zahl depressiver Erkrankun- spitzt zu: «Nicht Griechenland ist das gen explodiert, Selbstmorde sind an der Problem, sondern Deutschland. Die Tagesordnung, Hunderttausende verlas- EU sollte das Land aus dem Euro wer- sen das Land (in Spanien fast eine Million fen.» Was hier eine ironische Wendung seit Beginn der Krise), aber auch der Pro- auf Basis der Analyse realer Ursachen test wächst. ist, meint der ehemalige Präsident des Und wozu dies alles? Was ist jenseits der Bundesverbands der Deutschen Indus- Sicherung von (staatlichen) Schuldtiteln trie (BDI), Hans-Olaf Henkel, ernst: «Es das Ziel einer solch brutalen Kürzungs- gibt eine Alternative zur ‹alternativlosen› politik? Eine Verschiebung der Kräfte- Euro-Politik: den gemeinsamen Austritt verhältnisse zuungunsten der Lohn- Deutschlands, Hollands, Österreichs und abhängigen und eine Vernichtung der Finnlands» (Handelsblatt, 10.12.2010). Gewerkschaften? Und dann? Welches Der derzeitige BDI-Präsident Hans-Pe- Produktionsmodell sollen die Krisenlän- ter Keitel sieht das anders: Die Krisen- der in Zukunft verfolgen, welche Arbeits- länder «werden ihre Probleme vor allem teilung könnte in einer Eurozone funk selbst schultern müssen» (Spiegel-On- tionieren? line, 10.9.2012). Aber «als Geschäfts- mann würde ich meine desolate Toch- ter nicht fallen lassen, sondern sanieren. 1.3 Sonderwirtschafts D.h., Griechenland soll eine Art Sonder- zone Südeuropa? wirtschaftszone im Euro-Raum werden, Man kann darüber streiten, «ob es ausgestattet mit den notwendigen und nicht ein notwendiges Übel oder gar zulässigen finanziellen Mitteln, aber auch ein Segen der Marktwirtschaft ist, dass mit auswärtigem EU-Personal» und ex- schwache Unternehmen aus dem Markt 7 Beim «North American Left Dialogue» der Rosa-Luxem- ausscheiden, zerschlagen werden, ver- burg-Stiftung am 1. Dezember 2012 in Berlin.
ternen «Pfändern». Über Jahre hinweg und der Kriminalisierung von Gewerk- 13 sollen substanzielle Souveränitätsrech- schaftern sind diese Versprechen der Re- te abgegeben werden. «Keine Leistung gierung jedoch mehr als fraglich. ohne Gegenleistung, keine Solidarität Das Wachstumswunder soll sich al- ohne Kontrolle», fordert Keitel und warnt lein aus niedrigeren Abgaben und weni- zugleich, die anderen Länder dürften ger Bürokratie für Investoren ergeben. Deutschland nicht überfordern. Diese Da dies angesichts der desolaten La- die Ursachen verkehrende Position teilt ge auch nicht unbedingt zu mehr Aus- auch die Bundesregierung. Überall in landsinvestitionen führt, fordert der Prä- Europa sollten «schwierige Reformen», sident des Europaparlaments, Martin vergleichbar mit der Agenda 2010, an- Schulz (SPD), auch noch Investitionszu- gepackt werden, auch in Ländern wie lagen für Unternehmen: Das Land soll Frankreich (ebd.). also auf potenzielle Einnahmen verzich- Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung ten und zusätzlich Subventionen leisten. Griechenlands sehen einige der Vertrete- Diese Kombination aus Niedrigststeu- rinnen und Vertreter dieser Position die ersätzen und der subventionierten An- NAFTA und die Sonderwirtschaftszonen siedlung von Unternehmen, die rasch im Norden Mexikos sowie in den US- wieder abwandern, hat sich aber in der amerikanischen Südstaaten als Vorbild, Vergangenheit bereits in Ostdeutschland die mit niedrigen Steuersätzen, einem und Osteuropa (und Griechenland vor gewerkschaftsfeindlichen Klima und der Krise) als ineffektiv erwiesen. Oben- niedrigen Lohn- und Arbeitsstandards ei- drein fordert Schulz die Einrichtung einer ne Reindustrialisierung erlebt haben. Mit «Wachstumsagentur». «Der griechische der Produktionsverlagerung in diese Re- Staat müsse akzeptieren, dass EU-Beam- gionen ist zugleich eine extreme Schwä- te vor Ort die Reformen umsetzen.»8 chung der Gewerkschaften in den alten Offen bleibt immer noch, was eigent- industriellen Zentren der USA verbun- lich produziert werden soll, angesichts den. Wohl ein stiller Traum des BDI und der allgemein anerkannten mangeln- der Bundesvereinigung der Deutschen den Wettbewerbsfähigkeit.9 Es ist kaum Arbeitgeberverbände (BDA). möglich, nur durch Lohnkürzungen und Die griechische Regierung nahm im Jahr noch niedrigere Steuern sowie mehr 2012 tatsächlich Verhandlungen mit der Subventionen diese wiederherzustel- Europäischen Union auf, um in ausge- len. Hier hat Hans-Werner Sinn, Präsi- wählten Regionen des Landes Sonder- dent des (neoliberalen) Ifo-Instituts für wirtschaftszonen zuzulassen. Die Re- Wirtschaftsforschung, ausnahmswei- gierung versicherte, dass damit keine se recht: «Die griechischen Güter müss- weiteren Lohnsenkungen verbunden ten um 30 Prozent billiger werden, um seien (der monatliche Mindestlohn wur- mit der Türkei aufzuschließen» (Spiegel- de bereits von 751 auf 586 Euro herab- 8 Tagesschau v. 2.9.2012, unter: www.tagesschau.de/wirt- gesetzt) und Tarifverträge ihre Gültigkeit schaft/griechenland-rettung100.html. 9 Dies ist weniger behalten würden. Angesichts alltäglicher eine Frage der Wettbewerbsfähigkeit bei Ländern, die wie Griechenland traditionell einen geringen Außenhandelsan- Arbeitskämpfe und Streiks und der mit- teil haben. Bei solchen Ländern ist die negative Multiplikato- unter harten Reaktion der Regierung bis renwirkung von Kürzungspolitiken viel stärker, selbst wenn der (eher bedeutungslose) Außenhandel wieder ein Stück hin zur Einschränkung des Streikrechts anzieht.
14 Online, 20.2.2012). Nachdem Griechen- ro (wenn die Gläubiger auf 60 Prozent ih- land «mit moderner Kapitalvernichtung rer Forderungen verzichten würden und zunächst auf Schwellenland-Niveau zu- die Drachme um etwa 50 Prozent abge- rückgeworfen» wurde, «scheint sogar wertet würde). Am schlimmsten träfe es ein begrenzter Aufschwung» wieder vor- Griechenland selbst: Den Berechnun- stellbar (Händel/Puskarev 2012b), eine gen zufolge müsste das Land sich auf Perspektive jenseits eines Lieferanten Wachstumsverluste bis 2020 von über von gut ausgebildeten und zugleich bil- 164 Milliarden Euro einstellen (Handels- ligen Arbeitskräften allerdings nicht. Die blatt, 17.10.2012). Am dramatischsten Europäische Union hat kein Produktions- aber wären die unmittelbaren Folgen: Bei modell für Griechenland anzubieten, kei- einem Austritt würden «die Kapitalmärk- ne neue europäische Arbeitsteilung, die te dann auch Portugal, Spanien und Ita- tragfähig wäre und nicht wieder zum sel- lien das Vertrauen entziehen» und «dort ben Ergebnis führen würde.10 ebenfalls Staatsbankrotte» hervorrufen, Entsprechend wird insbesondere von «die Weltwirtschaft würde in eine tiefe konservativ-neoliberaler Seite ein Aus- Rezession fallen» (ebd.). Billiger wäre es tritt Griechenlands aus der Währungs- also, Griechenland über eine echte Trans- union gefordert: der Grexit. Außer ferunion mittelfristig mit den nötigen fi- Prominenten wie Hans-Werner Sinn, nanziellen Mitteln für einen wirtschaftli- Hans-Olaf Henkel, Thilo Sarrazin oder chen Neuanfang zu versorgen. Dies ist Frank Schäffler, dem Sprecher der Euro- jedoch nicht vorgesehen. Über geringe skeptiker innerhalb der FDP, wird diese zeitliche Zugeständnisse bei den Kür- Forderung bislang noch von keiner rele- zungsauflagen sowie die Anwendung vanten Organisation von Unternehmen immer neuer Maßnahmen zur zeitwei- und auch keiner Regierung offiziell ver- ligen Verhinderung eines Zahlungsaus- treten. Dennoch haben die Befürwor- falls und zur Stabilisierung der Banken ter eines «Grexit» in Deutschland medi- kommt die Troika kaum hinaus. Damit al erheblichen Einfluss und liefern der verbessert sich aber weder etwas an der Bundesregierung starke Gründe für die Einnahmesituation der Mitgliedsstaaten eigene Position: Griechenland solle im noch an der Struktur der Währungsunion Euro verbleiben und weitere Hilfen erhal- selbst. Die großen Ungleichheiten blei- ten im Austausch für noch härtere Kür- ben bestehen. zungsmaßnahmen und Eingriffe in seine Souveränität. Laut einer Studie von Prognos würde der Austritt Griechenlands aus der Wäh- rungsunion in den 42 wichtigsten Volks- wirtschaften Wachstumseinbußen in Höhe von rund 17,2 Billionen Euro ver- 10 Auch im Falle Zyperns wird dies nun besonders deut- lich: Selbstverständlich muss der überdimensionierte Fi- ursachen. Deutschland allein müss- nanz- und Bankensektor der Insel massiv verkleinert wer- te bis 2020 etwa 73 Milliarden Euro an den. Doch was dann? Außer Tourismus und der Hoffnung auf mögliche Einnahmen aus der Ausbeutung kürzlich ent- Verlusten verkraften. Dazu kämen Ab- deckter Gasvorkommen vor der Küste bleibt nicht viel wirt- schaftliches Potenzial. Auch Zypern benötigt ein alternatives schreibungen privater und öffentlicher Wirtschaftsmodell und eine solidarische Perspektive in der Gläubiger in Höhe von 64 Milliarden Eu- europäischen Arbeitsteilung.
2 Europa.links? (Divergierende) Positionen 15 in der Partei DIE LINKE – eine Synopse DIE LINKE will erstens durch kurzfristige Eurozone, bei einem Verstoß gegen den Krisenintervention finanzielle und soziale von der Europäischen Kommission über- Belastungen von den Menschen abwen- wachten Stabilitäts- und Wachstumspakt den – zulasten derjenigen, die die Krise ein Verfahren gegen den betreffenden verursacht und mit ihr noch Profite ge- Mitgliedsstaat einzuleiten. Die jeweilige macht haben –, zweitens einen alterna- Regierung hat dann zehn Tage Zeit, den tiven wirtschaftlichen Entwicklungspfad Nachweis zu erbringen, dass besondere in Europa möglich machen, der krisen- Umstände vorlagen, und darzulegen, wel- fest ist und soziale Gerechtigkeit in den che Maßnahmen ergriffen werden sollen, Mittelpunkt stellt, und hat, drittens, eine um das strukturelle Defizit zu reduzieren. langfristig tragfähige Vision für die Zu- Andernfalls greifen die Sanktionen. Die kunft des Projekts der europäischen Ei- Verschärfung der Maastricht-Kriterien nigung (vgl. DIE LINKE 2013: 46). Die- wird damit doppelt abgesichert: durch ses Kapitel beschränkt sich auf eng mit automatisierte Verfahren auf der Ebene der Eurokrise verbundene Aspekte. Die der Europäischen Union und durch dau- vielfältigen Vorschläge und Positionen erhafte, nach Möglichkeit verfassungs- hierzu sind bislang nirgends zusammen- rechtliche Bestimmungen auf national- gefasst. Dies ist der Versuch, eine kom- staatlicher Ebene. Die mit dem Fiskalpakt mentierte Übersicht herzustellen. verbundene einseitige Kürzungspolitik verschärft die Krise und ist ein unmittelba- rer Angriff auf Arbeits- und Sozialrechte. 2.1 Kurzfristige Die Hauptlast der Krisenfolgen wird auf Kriseninterventionen die transfer- oder lohnabhängige Bevölke- DIE LINKE hat bislang öffentlichkeits- rung abgewälzt, so Bernd Riexinger und wirksam gegen das autoritär-neolibe- Sahra Wagenknecht.12 DIE LINKE hat lei- rale Krisenmanagement Stellung bezo- gen, insbesondere gegen den Fiskalpakt. 11 Wird in einem Mitgliedsstaat ein Haushaltsdefizit von Letzterer erweitert das bereits bestehen- 3 Prozent überschritten, startet die Europäische Kommis- sion ein «Verfahren wegen übermäßigen Defizits». In einer de sanktionsbewährte EU-Defizitverfah- ersten Stufe müssen die betroffenen Länder einen Plan vor- ren,11 indem er die Vorgaben des Stabi- legen, wie sie das Defizit abzubauen gedenken. Halten sie diesen Plan nicht ein, können Sanktionen verhängt werden: litäts- und Wachstumspaktes verschärft Geldstrafen von 0,2 bis zu 0,5 Prozent des BIP des betroffe- nen Landes. Der EU-Ministerrat kann von defizitären Staaten und dauerhaft – nach Möglichkeit auf Ver- verlangen, dass sie eine unverzinsliche Einlage in «angemes- fassungsebene – in nationalstaatliches sener Höhe» in Brüssel hinterlegen, bis das übermäßige Defi- zit korrigiert ist. Ein Staat kann aufgefordert werden, vor der Recht einschreibt. Mit dem Fiskalpakt Ausgabe von Schuldverschreibungen und sonstiger Wert- papiere zusätzliche Angaben zu veröffentlichen. Es kann soll, inspiriert von der gesetzlichen Schul- die Europäische Investitionsbank aufgefordert werden, ihre denbremse in Deutschland und mittels Darlehenspolitik gegenüber einem Land zu überprüfen. Die Verhängung von Strafen hängt nicht zuletzt von der Macht «Erziehung der Partnerländer» zu Haus- eines Mitgliedsstaates ab, ein Verfahren abzublocken. Als haltsdisziplin und strikter Wettbewerbs- Disziplinierungsmechanismus wirkt das Verfahren jedoch in jedem Fall, unabhängig von konkreten Sanktionen. 12 Ge- orientierung, der Staatsschuldenkrise in äußert auf der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Europa kriegt die Krise» beim Fest der Linken am 16. Juni Europa begegnet werden. Darüber hin- 2012 in Berlin, vgl. www.rosalux.de/event/46273/fest-der- aus verpflichten sich die Mitglieder der linken-2012.html.
16 der als einzige Partei im deutschen Bun- le Vorgehen der Zentralbank. Damit sei destag gegen den Fiskalpakt gestimmt kurzfristig das weitere Ansteigen der (auch die Linken bei den GRÜNEN haben, Zinssätze für Staatsanleihen der Krisen- trotz gegenteiliger Erklärungen im Vor- länder vermieden und eine drohende feld, dafür gestimmt – mit Ausnahme von Zahlungsunfähigkeit und letztlich eine Hans-Christian Ströbele). Kettenreaktion unterbunden worden. In diesem Zusammenhang positionierte Sahra Wagenknecht hingegen kritisierte sich DIE LINKE auch gegen die Einrich- die erneute «Aushebelung der Parlamen- tung von sogenannten europäischen te» und die Entwicklung der Zentralbank Rettungsfonds. Zwar war und ist eine un- zur «Müllhalde für toxische Wertpapiere» mittelbare Intervention und Stützung von bei weiterer Sozialisierung der Kosten. Banken und Regierungen über die neu Stattdessen fordert sie einen harten eingerichtete Europäische Finanzstabili- Schuldenschnitt und eine Vergesell- sierungsfazilität (EFSF) und den Europäi- schaftung von (angeschlagenen) Ban- schen Stabilitätsmechanismus (ESM) ken. Sie plädiert also dafür, mehr private notwendig. Die Form der «Rettungsmaß- Banken bankrott gehen zu lassen, wäh- nahmen» ist jedoch inakzeptabel: Es be- rend andere Parteivertreter wie Troost vor steht eine enorme Schieflage zwischen unkalkulierbaren Auswirkungen wie bei den Hunderten von Milliarden Euro für der Lehman-Pleite warnen. die Bankenrettung sowie die Sicherung In der zum Teil polemisch geführten De- des Schuldendienstes bei Sozialisierung batte treten kurzfristige und mittelfristige der Kosten, während für soziale Siche- Perspektiven auseinander. Von allen ge- rungsmaßnahmen keine Mittel zur Verfü- teilt wird in der Partei DIE LINKE die Kri- gung stehen. Im Gegenteil: Steigende tik an der einseitigen Verteilung der Kri- Kosten für Bankenrettung und Staatsfi- senkosten. Einigkeit besteht auch in der nanzierung werden eng mit Kürzungs- Perspektive der Vergesellschaftung von zwängen und einer Einschränkung der Banken beziehungsweise der Schaffung Souveränität der betroffenen Regierun- eines Systems öffentlicher Banken (sie- gen zugunsten der Troika verknüpft. Es he unten). Letzteres ist jedoch unmittel- geht also nicht um eine generelle Ableh- bar kaum durchsetzbar. Insofern können nung kurzfristiger Kriseninterventionen aus unserer Sicht unkonventionelle qua- oder von Rettungsfonds, sondern erneut si keynesianische Liquiditätsspritzen der um deren neoliberal-autoritäre Form. EZB zumindest das Schlimmste verhin- Dies gilt auch für die milliardenschweren dern. Auch ein harter Schuldenschnitt, Käufe von (Staats-)Anleihen durch die so wie ihn Wagenknecht fordert, könnte Europäische Zentralbank (EZB) und de- Linderung verschaffen (Candeias 2010c). ren billionenschweren Liquiditätssprit- Über die Auswirkungen einer solchen zen für Banken. Besonders der Kauf von Maßnahme gehen die Meinungen je- Staatsanleihen – nicht direkt, sondern doch auseinander. Troost sieht hiervon auf dem sogenannten Sekundärmarkt – auch Kleinsparer und Pensionsfonds be- wurde von den deutschen Vertretern in droht. Die Finanzmärkte könnten einen der EZB und der Bundesregierung heftig harten Schuldenschnitt als Zahlungs- kritisiert. Axel Troost von der LINKEN da- ausfall bewerten und eine Kettenreaktion gegen befürwortete das unkonventionel- auslösen. Tatsächlich würde ein Ausei-
nanderbrechen der Eurozone unvorher- ventionierte Extraprofite – zu ermögli- 17 sehbare, in jedem Fall katastrophale chen, wäre es sinnvoller und günstiger, Folgen und Massenarmut nach sich zie- Krisenstaaten direkt über die Zentral- hen. Ungeklärt ist auch, ob ein Schulden- bank zu geringen Zinsen zu refinanzie- schnitt nur für Griechenland gelten solle ren. Nicht nur ein Teil, sondern die ge- oder für alle Krisenländer oder sogar dar- samte Liquidität sollte für Staatsanleihen über hinaus. verwendet werden: Die Zinsen für die Diese Probleme ließen sich allerdings Krisenstaaten wären niedriger, und die durchaus im Zuge eines öffentlichen Zinseinnahmen würden an die EZB zu- Schulden-Audits (siehe unten) lösen rückfließen. Troost und Wagenknecht (Candeias 2011).13 Dabei wäre zum Bei- fordern daher: «Die Staaten brauchen in spiel zu klären, ob und wie die Forde- einem definierten Rahmen denselben rungen von Kleinsparern und Pensions- Zugang zu billigen Krediten bei der EZB fonds und bis zu einer gewissen Höhe [...] und solidarische Gemeinschafts-An- auch Lebensversicherungen garantiert leihen aller Staaten (Euro-Bonds).» Die werden könnten. Mit Blick auf die Strei- öffentliche Kreditaufnahme soll «von der chung von Schulden fordern Troost und Diktatur der Finanzmärkte» befreit wer- Wagenknecht (2013): «Um den Schaden den, und die Europäische Zentralbank für die öffentlichen Kassen zu begren- soll die Staaten in der Eurozone in einem zen, müssen die Banken und Hedge- festgelegten Rahmen direkt finanzieren. fonds sofort zum Verzicht ihrer verblie- benen Forderungen gegen Griechenland gezwungen werden.» Im Entwurf des 2.2 Finanzmarkt Programms der LINKEN zur Bundes- regulierung und öffent liches Bankensystem tagswahl 2013 heißt es, dass «Schulden mindestens soweit gestrichen werden Da der Europäischen Zentralbank nach [sollen], wie sie auf die Bankenrettung geltendem EU-Recht keine direkte Finan- zurückgehen. Die Einlagen der Klein- zierung von Staaten erlaubt ist – allenfalls sparer und das seriöse Kreditgeschäft über die Europäische Investitionsbank, der Banken sind dabei öffentlich abzusi- die allerdings nur Infrastrukturmaßnah- chern» (DIE LINKE 2013). men finanzieren darf –, fordert DIE LINKE Einigkeit besteht auch bei der Einschät- zusammen mit dem Deutschen Gewerk- zung der billionenschweren Liquiditäts- schaftsbund (DGB) die Einrichtung einer spritzen für Banken, verbunden mit der Bank für öffentliche Anleihen (vgl. Her- Hoffnung, diese würden wiederum auf sel/Troost 2012). Dies wäre auch nach den Primärmärkten direkt Staatsanleihen geltendem Recht möglich. der Krisenstaaten aufkaufen, was zu ei- DIE LINKE tritt zudem für die Einführung ner Senkung der entsprechenden Zins- einer echten Finanztransaktionssteuer sätze führen würde. Es ist absurd und zwischen 0,05 und 0,1 Prozent ein. Denn nicht einzusehen, dass sich Banken billig die Planungen der Bundesregierung be- bei der EZB Geld leihen können, um es anschließend teuer an die Staaten wei- 13 Vgl. Griechische Kampagne zum Schulden-Audit, in: Lu- Xemburg 2/2012, S. 34 f.; vgl. CADTM – Committee for the terzuverleihen. Statt den Banken damit Abilition of the Third World Debt, unter: vgl. http://cadtm.org/ risikolos Zinseinnahmen – staatlich sub- Citizen-debt-audits-how-and-why.
18 ziehungsweise der Europäischen Kom- Rohstoffen. Nach den Vorstellungen der mission beinhalten entweder zu niedri- LINKEN muss der Handel mit Derivaten, ge Steuersätze oder enthalten zahlreiche wenn er überhaupt weiterhin erlaubt sein Ausnahmeregelungen, insbesondere für soll, restriktiv gehandhabt werden. Der Derivate wie zum Beispiel die besonders Partei nahestehende NGOs wie WEED gefährlichen Kreditausfallversicherun- und andere streiten allerdings noch über gen (credit default swaps).14 In den Plä- den Nutzen von Absicherungsgeschäf- nen der EU-Kommission sollen sie nur ten etwa von Landwirten, aber auch von mit 0,01 Prozent besteuert werden. Dies Unternehmen gegen Währungsschwan- würde eine Verlagerung von klassischen, kungen.16 Unstrittig ist jedoch die For- standardisierten Börsenprodukten wie derung nach einem Verbot des Handels Aktien und Anleihen hin zu Derivaten intermediärer Finanzinstitutionen (Zwi- noch weiter befördern (Frankfurter All- schenhändler), die beispielsweise mit gemeine Zeitung, 16.2.2013). Mit einer Nahrungsmitteln oder Rohstoffen nur echten Finanztransaktionssteuer ohne spekulieren. Ausnahmen, wie sie DIE LINKE fordert, Zum angestrebten Umbau des Banken- würden zahlreiche Finanzgeschäfte, bei- sektors haben Philipp Hersel und Axel spielsweise der computerisierte Hoch- Troost (2012) wesentliche Positionen geschwindigkeitshandel, unrentabel erarbeitet. Als eine der Kernfunktionen werden sowie die Finanzmärkte «ent- von Banken betrachten sie erstens die schleunigt».15 Sicherstellung eines zuverlässigen und Eine weitere Forderung der LINKEN ist, kostengünstigen Zahlungsverkehrs, in- die privaten Rating-Agenturen zu ent- klusive einer entsprechenden Bargeld- machten (vgl. DIE LINKE 2013: 51). versorgung. Zweitens sollten Banken Bislang haben ihre Bewertungen von auf die Rolle als Kapitalsammelstellen Risiken in Bilanzen von Banken oder Ver- sicherungen teilweise bindende Wir- 14 Die französische Variante einer Finanztransaktionssteuer gleicht eher einer Börsensteuer, wie sie bereits in Großbri- kung. So ist bei Versicherungen oder tannien als sogenannte Stempelsteuer auf Aktien existiert. auch Landesbanken nur ein geringer Geschäfte jenseits der Börsen, die direkt zwischen zwei Fi- nanzinvestoren getätigt werden (over the counter), werden Anteil risikoträchtiger Finanztitel zuge- nicht konsequent erfasst. Bei Derivaten betrifft das mehr als lassen. Werden bestimmte Titel, nicht 60 Prozent aller Transaktionen. 15 Ein neuer Entwurf der EU-Kommission sieht nun verschärfte Maßnahmen gegen zuletzt Staatsanleihen, von Rating-Agen- eine Umgehung der Steuer vor: Er ergänzt das sogenann- te Herkunftsprinzip durch das sogenannte Ausgabeprinzip. turen in ihrer Bewertung herabgestuft, Herkunftsprinzip bedeutet, dass alle Finanzinstitutionen, die sind die Unternehmen gezwungen, die- ihren Sitz im Geltungsbereich des Gesetzes haben, steuer- pflichtig sind, also auch wenn zum Beispiel eine deutsche se zu verkaufen, unabhängig davon, ob Bank außerhalb Europas Aktien- oder Derivatgeschäfte tä- sie die Einschätzung der Rating-Agen- tigt. Ausgabeprinzip bedeutet, dass auch der Handel mit al- len Vermögenstiteln aus dem Geltungsbereich des Gesetzes turen teilen. DIE LINKE will die privaten steuerpflichtig wird, also wenn zum Beispiel eine US-Bank in Hongkong italienische Staatsanleihen handelt (vgl. Wahl Agenturen durch eine öffentliche euro- 2013). 16 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung www.weed- paweite Behörde ersetzen. Darüber hi- online.org/themen/finanzen/nahrungsmittelspekulation/ index_2010.html; den Foodwatch-Bericht «Die Hungerma- naus fordert sie die Einführung eines cher» (2011) von Harald Schuhmann unter: http://foodwatch. Finanz-TÜVs, den alle neuen Finanzinst- de/foodwatch/content/e10/e45260/e45263/e45318/food- watch-Report_Die_Hungermacher_Okt-2011_ger.pdf; und rumente zu durchlaufen hätten. Dies gilt Heiner Flassbeck zur Nahrungsmittelspekulation im Ernäh- rungsausschuss des Bundestages, unter: http://germanys- insbesondere für Derivate und Futures nextkabinettskueche.wordpress.com/2012/10/01/heiner- im Bereich von Nahrungsmitteln und flassbeck-dirk-muller-u-a-nahrungsmittelspekulation.
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