Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie

 
WEITER LESEN
Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 1

                                                               Kommunale Suffizienzpolitik
                                                               Strategische Perspektiven
                                                               für Städte, Länder und Bund
                                                               Kurzstudie des Wuppertal Instituts
                                                               für Klima, Umwelt, Energie
Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 2

          Inhalt

          Vorwort                                                                                                             3

          Zusammenfassung                                                                                                     4

          Einführung: Suffizienzbremsen für Kommunen                                                                          6

          Wohnen                                                                                                             11

          Mobilität                                                                                                          21

          Wenn der Staat einkauft                                                                                            33

          Der politische Weg zur Suffizienz                                                                                  36

          Endnoten                                                                                                           38

          Impressum
          Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND)
          Friends of the Earth Germany · Am Köllnischen Park 1 · 10179 Berlin   Förderhinweis
          Tel.: (030) 275 86-40 · info@bund.net · www.bund.net
                                                                                DIESES PROJEKT WURDE GEFÖRDERT VON:

          Autor: Dr. Michael Kopatz,
                 Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie

          Redaktion: Christine Wenzl · V.i.S.d.P.: Yvonne Weber
          Gestaltung: N & U GmbH · Titelbild: Christian Lück/fotolia.de ·       Die Verantwortung für den Inhalt dieser
          Druck: Z.B.!, Köln, 2016                                              Veröffentlichung liegt bei den AutorInnen.
Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 3

      Vorwort

      Liebe Leserin, lieber Leser,

      wie bewahren wir unsere Lebensgrundlagen, wie stoppen wir den weltweiten Klimawandel und Artenschwund, damit auch unsere Enkel und
      Urenkel noch eine lebenswerte Umwelt vorfinden? Dafür brauchen wir eine dezentrale Energiewende, das Ende des Flächenfraßes, spürbar
      weniger Materialverbrauch. Mehr Effizienz und technische Lösungen allein werden jedoch nicht reichen, um wirklich weniger zu konsumieren
      und die Wachstumsspirale zu durchbrechen. Hier kommt als zentraler Baustein nachhaltiger Entwicklung die Suffizienz ins Spiel. Suffizienz,
      abgeleitet vom lateinischen »sufficere« – ausreichen, genügen. Entscheidend dafür sind ein veränderter politischer Rahmen sowie Impulse und
      Anreize für ein »ressourcenleichtes« Leben – der BUND engagiert sich daher für eine Suffizienzpolitik.

      Vor Ort wird Suffizienzpolitik am ehesten Realität. Denn nicht nur ist der Beitrag der Städte von großer Relevanz für bundesweite umweltpoli-
      tische Ziele – drei Viertel der deutschen Bevölkerung leben in der Stadt, 80 Prozent unserer CO2-Emissionen werden hier erzeugt. Auch sind
      Veränderungen für die Menschen hier direkt erlebbar. Und: Zukunftsweisende Modelle lassen sich am ehesten in den Städten auf den Weg
      bringen – nicht umsonst gelten sie als »Reallabore der Zukunft«. Zugleich sind wir in vielen Bereichen von einer nachhaltigen Entwicklung
      weit entfernt. Eindrucksvoll zeigt sich am Beispiel des anhaltenden täglichen Flächenverbrauchs – vor Ort –, wo nach wie vor Fallstricke liegen
      und insbesondere auch Bund und Länder gefordert sind, politische Rahmenbedingungen zu setzen.

      Um diese Bedingungen näher zu beleuchten, hat der BUND das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie mit der vorliegenden Kurzstudie
      beauftragt. Welche Potenziale hat Suffizienzpolitik vor Ort für ein zukunftsfähiges Wohnen, für nachhaltige Mobilität und öffentliche
      Beschaffung? Wo liegen Restriktionen und ist die Landes- und Bundespolitik gefragt? Die Studie gibt inspirierende Einblicke, sie wirft Schlag-
      lichter und formuliert neue Lösungswege.

      Wir danken dem Autor Dr. Michael Kopatz für seinen wichtigen Beitrag zur Debatte und wünschen eine anregende Lektüre.

      Prof. Dr. Hubert Weiger                                                     Christine Wenzl

                                                                              3
Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 4

          Zusammenfassung

          Es ist eine Alltagserfahrung, dass auch umsichtigen Bürgerinnen            tehandel – ist grundsätzlich geeignet, den Wettbewerb zwischen
          und Bürgern der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen                  Kommunen in zukunftsfähige Bahnen zu lenken.
          schwerfällt. Schließlich wird allenthalben vom »Größer, Weiter,
          Schneller, Schwerer und Stärker« geschwärmt. Doch nicht nur Indi-          Mobilität
          viduen, sondern auch Unternehmen und selbst Städte und Gemein-             Die extreme Verschwendung von Öl ist selbstverständlicher Teil
          den – die vieles bereits tun – stoßen an Grenzen, wenn es gilt, eine       unserer Mobilitätskultur. Es ist erstaunlich, mit welcher Dynamik
          Vorbildfunktion in Sachen Nachhaltigkeit einzunehmen. Zu groß              Deutschland das amerikanische Vorbild nachahmt. Die Neuzulas-
          scheint das Risiko, die Nachbargemeinde werde die vermeintliche            sungen von Kleinwagen verringerten sich zwischen 2009 und 2014
          »Schwäche« für den eigenen Vorteil nutzen. Verschiedene Faktoren           um fast 20 Prozent, während die Zahl der SUVs und Geländewagen
          heizen den interkommunalen Wettbewerb an und behindern                     um 122 Prozent zunahm. Die Kommunen haben im Prinzip keine
          zukunftsfähige Entwicklungsstrategien. Die Kommunen konkurrie-             Möglichkeit, sich diesem Trend entgegenzustemmen. Hier sind
          ren um Nachfrage, Einwohnerzahlen und Gewerbeansiedlungen.                 Bund und EU gefragt. Gleichwohl gibt es für Städte und Gemeinde
          Zugleich stehen sie unter einem enormen Wachstumsdruck. Die                zahlreiche Konzepte, um eine Verkehrswende einzuleiten.
          Kurzstudie »Kommunale Suffizienzpolitik« sucht nach Strategien,
          um solchen und anderen nicht-nachhaltigen Entwicklungen entge-             Eine kommunale Politik für Verkehrssuffizienz sorgt für kurze Wege
          genzusteuern. Sie betrachtet auch, inwiefern dafür geänderte Rah-          zu Einkaufsmöglichkeiten für den alltäglichen Bedarf, sorgt für
          menbedingungen von Ländern, Bund oder gar EU angebracht sind.              eine exzellente Anbindung zum kostengünstigen Nahverkehr, ver-
                                                                                     längerte Wege zum Auto, schrittweise reduzierte Stellplätze und
          Wohnen                                                                     den Einsatz von besonders sparsamen Personenwagen. Tempo 30
          Private Haushalte sind für gut ein Viertel des gesamten Endener-           sollte die Regelgeschwindigkeiten in Städten und Gemeinden sein.
          gieverbrauchs in Deutschland verantwortlich. Rund 85 Prozent               Das halbiert den empfundenen Verkehrslärm, verringert Unfälle
          davon werden für Heizung und Warmwasserbereitung eingesetzt.               und fördert den Radverkehr. Maß aller Dinge ist freilich eine
          Das Gelingen der Energiewende hängt daher maßgeblich davon ab,             Begrenzung der Straßenverkehrsflächen auf das gegenwärtige
          ob wir es schaffen, den Aufwand für Heizenergie zu verringern,             Niveau. Bei entsprechenden Rahmenbedingungen kann es gelin-
          auch in Gebäuden, die nicht dem Wohnen dienen.                             gen, dass die Bürgerinnen und Bürger durch moderat suffizientes
                                                                                     Verhalten den Primärenergieverbrauch und die entsprechenden
          Erforderlich ist dafür auf jeden Fall, dass im Neubau höchste Effi-        Treibhausgasemissionen mehr als halbieren.
          zienzstandards umgesetzt werden und Bestandsgebäude effizient
          umgerüstet werden. Die breite Mehrheit der Bauherren und Eigen-            Wenn der Staat einkauft
          tümer hält sich nur an die gesetzlichen Vorgaben. Ein edles Bade-          Jährlich werden in der Bundesrepublik Deutschland öffentliche
          zimmer scheint den meisten wichtiger als eine effiziente solarge-          Aufträge im Wert von mindestens 300 Milliarden Euro vergeben.
          stützte Heizungsanlage. Da ist es gut, dass die Europäische Union          Daran haben die deutschen Kommunen im Vergleich zu Bund und
          die Standards immer weiter angehoben hat. Ab 2021 wird das                 Ländern den größten Anteil. Arbeitsbekleidung, Computer, Büroge-
          Nullenergiehaus im Neubau zur Selbstverständlichkeit.                      räte, elektronische Bauteile und vielfältiges Zubehör werden heute
                                                                                     überwiegend in Entwicklungsländern hergestellt. Daraus resultiert,
          Eine weitere Klimaschutzstrategie im Gestaltungsfeld »Wohnen«              über die gesamte Prozesskette betrachtet, ein hoher Energie- und
          wird von den zuständigen Akteuren jedoch fast vollständig igno-            Materialverbrauch.
          riert: die Begrenzung des Neubaus wie auch die suffizientere Nut-          Die Kommunen können ihre Beschaffung deutlich konsequenter als
          zung der Wohnflächen im Bestand. Allein wird sich eine Stadt oder          bislang an sozial-ökologischen Kriterien ausrichten, um Suffizienz,
          Gemeinde nicht dazu durchringen. Dazu bräuchte es ein Siedlungs-           Effizienz und erneuerbare Energien und Materialen zu fördern, wie
          limit oder Flächenmoratorium. Die absolute Begrenzung des Flä-             auch eine sozial nachhaltige Herstellung. Grundsätzlich halten sich
          chenverbrauchs – ob mit einem eigenen Moratoriumsgesetz oder               die Behörden und die für die Beschaffung zuständigen Mitarbeiter
          einem Paragraphen im Baurecht, ob mit oder ohne einen Zertifika-           an die rechtlichen Vorgaben. Da hier nicht explizit öko-faire Stan-

                                                                                 4
Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 5

      dards vorgeben werden, obliegt es den Einzelpersonen, also den
      Sachbearbeitern, Abteilungsleiterinnen, Bürgermeisterinnen u.a.,
      sich darüber hinaus zu engagieren. Rechtlich betrachtet haben die
      Kommunen inzwischen ausreichend Möglichkeiten an der Hand,
      öko-faire Kriterien bei der Vergabe zu berücksichtigen. Die Poten-
      ziale ließen sich systematisch heben, wenn die Länder – oder gar
      der Bund – weitergehende, verbindliche Vorgaben machen.

      Fazit
      Appelle, Kampagnen und Bildungsinitiativen genügen nicht, um die
      Realisierung von Suffizienzkonzepten ins Werk zu setzen. Seit
      Jahrzehnten wird lebhaft über die Art und Intensität der politi-
      schen Regulierung gestritten. Inzwischen ist die Liberalisierungs-
      euphorie verflogen. Allerorts fordern Politiker und Aktivisten mehr
      staatliche Regulierung. Und tatsächlich führt nichts an einer ver-
      pflichtenden Nachhaltigkeit und damit auch an einer verbindlich
      gemachten Suffizienz vorbei.

                                                                            5
Kommunale Suffizienzpolitik Strategische Perspektiven für Städte, Länder und Bund - Kurzstudie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 6

          Einführung: Suffizienzbremsen für Kommunen

          Es ist eine Alltagserfahrung, dass auch umsichtigen Bürgerinnen            Wachstumsdruck: Als wäre das nicht schon kompliziert genug,
          und Bürgern der verantwortungsvolle Umgang mit Ressourcen                  stehen die Kommunen noch unter einem enormen Wachstums-
          schwer fällt. Schließlich wird allenthalben vom »Größer, Weiter,           druck. Maschinen, Roboter, Computer und die fortschreitende Digi-
          Schneller, Schwerer und Stärker« geschwärmt. Doch nicht nur Indi-          talisierung machen es möglich, dieselbe Produktionsmenge mit
          viduen, sondern auch Unternehmen und selbst Städte und Gemein-             weniger Arbeitskräften herzustellen. Schon allein deshalb sind die
          den – die vieles bereits tun – stoßen an Grenzen, wenn es gilt, eine       Entscheiderinnen und Entscheider vor Ort bemüht, neue Unterneh-
          Vorbildfunktion in Sachen Nachhaltigkeit einzunehmen. Zu groß              men anzulocken, um die Arbeitsplatzverluste zu kompensieren.
          scheint das Risiko, die Nachbargemeinde werde die vermeintliche            Zugleich befeuert der forcierte Freihandel die Globalisierung der
          »Schwäche« für den eigenen Vorteil nutzen. Verschiedene Faktoren           Produktion. Selbst einfachste Produkte werden nur noch selten
          heizen den interkommunalen Wettbewerb an und behindern                     regional hergestellt. Bäcker, Metzger und Tante-Emma-Läden
          zukunftsfähige Entwicklungsstrategien.                                     haben geschlossen. Inhabergeführte Einzelhändler schließen, weil
                                                                                     sie der Konkurrenz im Versandhandel nicht mehr gewachsen sind.
          Konkurrenz um Nachfrage: Die Gemeinden tun sich schwer                     Die Konsumenten haben gelernt, dass Geiz klug ist.
          damit, den motorisierten Individualverkehr (besonders zum Ein-
          kauf) aus dem Umland in die Stadt zu begrenzen. Die Befürchtung            Bundes- und Landesmittel für Straßenbau und Flughäfen: Die
          ist groß, dass die Konsumenten dann in der Nachbarstadt einkau-            Verkehrsexperten wissen, dass neue und erweiterte Straßen zumeist
          fen und die Nachfrage abwandert. Das wäre schlecht für den                 weiteren Verkehr erzeugen. Doch Vermeidungsstrategien betreiben
          Einzelhandel, schlecht für die Wirtschaftslage, schlecht für den           die wenigsten Kommunen in Deutschland. Bund und Land haben
          Arbeitsmarkt.                                                              hierauf einen maßgeblichen Einfluss: Sie stellen im Regelfall einen
                                                                                     beträchtlichen Teil der Finanzierung bereit, etwa für verkehrswich-
          Werben um Einwohner: Mit der gleichen Begründung werden                    tige innerörtliche Straßen. Mit Blick auf die Kosten, die für Kommu-
          weitere Grünflächen für Gewerbe und Einfamilienhäuser erschlos-            nen anfallen, sind Bundesstraßen besonders attraktiv. Die Verlänge-
          sen. Durch interessante Neubauprojekte im Wohnungs- und Häu-               rung der A 100 in Berlin gäbe es wohl nicht ohne Bundesmittel.
          sermarkt versuchen Kommunen zum Beispiel junge Familien in ihre            Auch die neuen Provinzflughäfen wären ohne die Unterstützung
          Stadt zu locken. Jeder zusätzliche Steuerzahler erhöht die Einnah-         von Bund und Land und der EU kaum realisiert worden.
          men der Stadt. Deswegen fällt es den Städten schwer, ihre Neu-
          bautätigkeit zu beschränken: Sie fürchten, dass dann die Nachbar-          Gibt es also keinen Ausweg? Oder welche Möglichkeiten gibt es für
          stadt einen Vorteil daraus zieht. Ebenso lassen sich anspruchsvolle        Kommunen, solchen und anderen nicht-nachhaltigen Entwicklun-
          Energie- und Umweltstandards für Neubauten – wie Passivhäuser,             gen entgegenzusteuern? Und an welchen Punkten benötigen sie
          Dachbegrünung oder Solarenergie – in Regionen mit schwacher                dafür geänderte Rahmenbedingungen von Ländern, Bund oder gar
          Nachfrage nur schwer durchsetzen.                                          EU? Vor allem für die letzten beiden Fragen werden in dieser Kurz-
                                                                                     studie Antworten diskutiert.
          Werben um Gewerbe: Die Gewerbesteuer zählt zu den wichtigs-
          ten Einnahmequellen der Kommunen. Sie leiden doppelt, wenn ein
          Betrieb Pleite geht oder Teile der Produktion zurückfährt. Nicht nur       Was ist Suffizienz?
          die Steuereinnahmen fallen weg, zugleich steigen die Zahl der              Über kaum etwas können Wissenschaftler so episch streiten wie
          Arbeitslosen und die damit verbundenen Ausgaben. Im Gegenzug               über die »richtige« Definition von Begriffen und Konzepten. In ihren
          bemühen sich kommunale Wirtschaftsförderer um neue Betriebe                Veröffentlichungen klären sie daher vorsichtshalber, was sie unter
          und Arbeitsplätze – nicht zuletzt durch die Ausweisung von neuen           einem Begriff verstehen. So verhält es sich selbstverständlich auch
          Gewerbeflächen. Der Wettbewerb zwischen den Kommunen ver-                  mit Suffizienz und Effizienz.
          stärkt diesen Effekt.

                                                                                 6
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 7

      Definition und Diskurs                                                      sourcenbedarf kaum gesunken. Selbiges gilt seit 2008 für die Koh-
      Suffizienz heißt die Frage zu stellen, ob es immer größer, weiter,          lendioxidemissionen. Einen dritten Grund liefern Wertewandel
      schneller, schwerer und stärker sein muss, oder ob es auch anders           sowie Überdruss am Überfluss vor allem in jungen Generationen,
      geht. Auch die Voraussetzungen und die Unterstützung, die Bürge-            eine für viele attraktive Share-Economy und positive Erfahrungen
      rinnen und Bürger, Unternehmen und die Kommunen selbst für                  mit suffizienten Lebensstilen.
      dieses Anders benötigen, müssen bedacht und geschaffen werden.
      Zudem ist klarzustellen, dass Suffizienz nicht mit Verzicht gleich-         Unterschiede und Gemeinsamkeiten
      zusetzen ist. Das lateinische sufficere, gebildet aus sub und facere,       Suffizienz ist damit eine Strategie vor allem für eine ökologisch
      bedeutet so viel wie zu Gebote stehen, hinreichen, genug sein,              nachhaltige Entwicklung. Gemeinsam mit Energie- und Ressour-
      imstande sein, vermögen. Mit dem englischen sufficient, sufficien-          ceneffizienz – weniger Input für den gleichen Nutzen – und immer
      cy ist ebenso gemeint, was die Erwartungen erfüllt, was Befriedi-           größeren Anteilen erneuerbarer Energie und Materialien kann sie
      gung schafft oder ermöglicht, was genug und angemessen ist. Mit             den Verbrauch und die Umweltauswirkungen gegenüber heute
      keiner dieser Bedeutungen spricht Suffizienz von Verzicht oder              absolut verringern. Inzwischen bezweifeln auch prominente Befür-
      Mangel.1                                                                    worter von Effizienzstrategien nicht mehr, dass sich Klimaschutz
                                                                                  und Ressourcengerechtigkeit wesentlich leichter ins Werk setzen
      Nach Linz geht es bei der Suffizienz um »Maßnahmen, Instrumente             lassen, wenn wir zugleich Suffizienzkonzepte umsetzen.
      und Strategien, mit denen Ressourcen eingespart werden können,
      und zwar dadurch, dass Menschen ihr Verhalten verändern mit der             Viele Handlungsansätze verbinden auch zwei oder alle drei Strate-
      Absicht, Energie und Rohstoffe anders zu nutzen und von ihnen               gien.
      weniger zu verbrauchen als bisher.«2 Letztlich geht es also um den
      achtsamen Umgang mit Ressourcen. Damit kann das individuelle                Beispiel Busse und Bahnen: Sie sind einerseits effizienter als der
      Verhalten, der gesellschaftliche Lebensstil, aber auch die allgemei-        eigene PKW, aber bieten auch eine andere Art des Reisens, mit Vor-
      ne Wirtschaftsweise gemeint sein.                                           und Nachteilen. Der Umstieg ist also auch ein Akt der Suffizienz,
                                                                                  und es geht darum, die Vorteile zu stärken und die Nachteile zu
      Rund ein Jahrzehnt wurde in der Wissenschaft nur wenig über Suf-            verringern.
      fizienz diskutiert. Im Jahr 1996 sorgte das Motto »Gut leben statt
      viel haben« aus der Studie »Zukunftsfähiges Deutschland« noch               Beispiel A+++ Kühlschrank: Es handelt sich um eine reine Effi-
      für Schlagzeilen und regte intensive Diskussionen an.3 Doch in den          zienztechnologie, betrachtet man nur den Energieverbrauch
      2000er Jahren wurde der Suffizienzdiskurs nur noch von wenigen              ansonsten identischer Geräte. Entscheidet sich der Haushalt aber
      Institutionen vorangetrieben – zu unattraktiv schien eine Debatte,          zudem dafür, statt eines Geräts mit 300 Litern Nutzinhalt nur eines
      die mit Verzicht verbunden wurde.                                           mit 200 Litern und ohne neues 0°C-Fach zu nehmen, weil das für
                                                                                  den Haushalt völlig ausreicht, ist das Suffizienz. Auch die Einstel-
      Inzwischen hat eine Gemengelage aus verschiedenen Ereignissen               lung auf 7°C statt 5°C bei der Nutzung des Geräts ist Suffizienz.
      und Erkenntnissen zu einer Belebung des Suffizienzdiskurses                 Versteht man Suffizienz als absichtsvolles individuelles Verhalten,
      geführt. Ein Auslöser ist das extreme Auf und Ab der Öl- und Res-           das den Verbrauch von Energie und Material verringert, geht es um
      sourcenpreise. Ein zweiter wichtiger Treiber: Es haben sich Zweifel         Entscheidungen. Vertreter dieses Verständnisses sagen: Die Konsu-
      breitgemacht, ob die für unsere Zukunft notwendigen Ziele von               mentenentscheidung ist maßgeblich. Anders gesagt: Auch die
      Energiewende und Klimaschutz mit »grünen Technologien« allein               technische Effizienz wird erst durch die Kaufentscheidung für den
      erreichbar sind. Zwar haben die Deutschen im Jahr 2013 ein Viertel          A+++ Kühlschrank realisiert. Er ist deutlich teurer als die A-Varian-
      des Stroms mit Sonne, Wind, Wasser und Biomasse erzeugt und                 te, deswegen erfordert der Kauf eine bewusste Entscheidung.
      der Energiebedarf von Gerätschaften und Häusern hat sich relativ
      gesehen deutlich verringert. Doch absolut betrachtet ist der Res-

                                                                              7
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 8

          Beispiel Verzicht auf mehr. Jemand kauft einen neuen Fernseher               mehr tun, als der Gesetzgeber vorschreibt. Viele Maßnahmen sind
          oder Kühlschrank, der nicht größer ist als der alte, obwohl Freund           mit hohem Aufwand und einigen Kosten verbunden, die sich oft
          und Nachbarn inzwischen viel größere Geräte haben und obwohl                 erst längerfristig amortisieren. Für anderweitigen Konsum steht
          die Familie gewachsen ist. Das ist Suffizienz. Sie beginnt nicht erst,       zumindest zeitweilig weniger Geld zur Verfügung. Und so kann die
          wenn das Gerät kleiner wird, also tatsächlich jemand verzichtet.             beste Technik ihre Wirkung im Regelfall erst durch achtsame Bür-
                                                                                       gerinnen und Bürger entfalten – und ein entsprechend energie-
          Beispiel Gebäudesanierung: Der Einbau neuer Fenster, Isolierung,             und ressourcensparendes Verhalten. Essenziell sind dafür Beratung
          Lüftung etc. ist eine Investition in Effizienz, hat aber auch einen          sowie Fordern und Fördern (auch finanziell) seitens der Politik von
          Suffizienzaspekt. Im Kern geht es hier um effiziente Technik. Diese          Kommunen, Ländern und Bund sowie der EU.
          ist jedoch zunächst teuer, und meist sind es die Idealisten, die

                                                        CO2-Emissionen
                 14,5
           14                                           in Tonnen pro Kopf und Jahr

           12

                                                                   Mittlerer Summenwert
                                                                   der CO2-Emissionen
           10                                                10

            8

            6                                                                                                   Beeinflussungsmöglichkeiten
                                                                                                                durch selbstbestimmten
                                                                                                        5       Lebensstil:
            4
                                                                                                                stark, aber indirekt

            2                                                                                                   stark und direkt

                                                                                                                mäßig bis gar nicht
            0
                    Verschwenderischer                 Durchschnittlicher                         Effizienter
                    Lebensstil                         Lebensstil                                 Lebensstil

          Schon heute gibt es Bundesbürger, die nur fünf Tonnen CO2 emittieren. Bereiche wie »Ernährung« oder »Pkw-Verkehr« kann jeder Einzelne stark
          beeinflussen.6

                                                                                   8
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 9

      Weil Suffizienz mit Effizienz, erneuerbaren Energien und Naturver-
      träglichkeit Hand in Hand gehen muss, wurden hier auch manche
      wichtigen Handlungsansätze aus diesen Bereichen aufgenommen,
      etwa in den Kapiteln über Bauen und Beschaffung. Zugleich sind
      soziale Belange zu berücksichtigen, wie sich an einigen Stellen zei-
      gen wird.

      Suffizienzpotenzial
      Der sozial-kulturelle Faktor ist u.a. beim Klimaschutz von immenser
      Bedeutung. Das zeigt sich sehr deutlich, wenn man die Kohlen-
      dioxidemissionen nicht nach den klassischen Sektoren der Energie-
      statistik aufteilt, wonach zum Beispiel die Industrie verantwortlich
      ist für die Emissionen bei Herstellung, Veredelung und Transport
      von Gütern. Doch letztlich dient der überwiegende Teil der Wirt-
      schaft direkt oder indirekt dem Konsum der privaten Haushalte. Um
      das zu verdeutlichen ist es hilfreich, den CO2-Ausstoß Deutschlands
      auf die Bundesbürger zu verteilen. Gegenwärtig liegen wir hierzu-
      lande bei ca. neun Tonnen je Einwohner. Das ist ein international
      sehr gut vergleichbarer Wert, der sich bis 2050 auf unter 1,5 Tonnen
      verringern soll: um die Erderwärmung zu begrenzen und im Sinne
      internationaler Gerechtigkeit alle Menschen mit ihren Pro-Kopf-
      Emissionen gleich zu behandeln. Für Deutschland bedeutet dies, die
      Treibhausgasemissionen im Inland um 65–80 Prozent bis 2030 und
      um 95 Prozent bis 2050 zu verringern4.

      Der persönliche Lebensstil entscheidet mit darüber, ob der persön-
      liche CO2-Abdruck heute bei fünf Tonnen oder 15 Tonnen pro Jahr
      liegt. Wer sich einmal die Mühe macht und mit Hilfe eines Online-
      CO2-Rechners seinen persönlichen Ausstoß bilanziert, wird schnell
      feststellen: Eine Reduktion auf 1,5 Tonnen ist bei den gegenwärtigen
      Rahmenbedingungen kaum möglich. Beispielsweise wäre dieses ima-
      ginäre »CO2-Budget« mit einem Mittelklassewagen bereits nach
      10000 Kilometern verfahren.5 Doch auch wer kein eigenes Auto
      besitzt, in einem sehr sparsamen Gebäude wohnt, nur alle fünf Jahre
      einen Flug unternimmt, wenig Fleisch isst und überwiegend regionale
      Produkte kauft, wird seine Bilanz nur in seltenen Fällen unter fünf
      Tonnen drücken können. Das liegt auch an infrastrukturellen Voraus-
      setzungen in Sektoren wie Wohnungsbau, Beheizung und Warmwas-
      serbereitung – Bereiche, die besonders Mieterinnen und Mieter nur
      geringfügig beeinflussen können – oder dem öffentlichen Konsum.
      Dieser beinhaltet die gesamte öffentliche Infrastruktur, angefangen
      von der Straßenbeleuchtung über Schulen, Krankenhäuser, Polizei.

                                                                             9
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 10

                                                                                 © Nina Szebrowski/fotolia.de

                                                                         10
                                                                        Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 11

      Wohnen

      Private Haushalte sind für gut ein Viertel des gesamten Endener-            dass der haushaltsspezifische Verbrauch ca. 50 Prozent um den
      gieverbrauchs in Deutschland verantwortlich. Rund 85 Prozent                Mittelwert schwankte.13 Eine empirische Untersuchung des Heiz-
      davon werden für Heizung und Warmwasserbereitung eingesetzt.7               verbrauches von 1600 Haushalten ergab ebenfalls bei vergleich-
      Dabei wird in älteren Häusern zur Beheizung gut und gern zehnmal            baren Gebäuden derselben Gegend Verbrauchsunterschiede im
      so viel Energie benötigt wie in effizienten Neubauten.8 Das Gelin-          Verhältnis 3:1.14 Wärmebedarfsmessungen bei 52 gleichartigen
      gen der Energiewende hängt daher maßgeblich davon ab, ob wir                Niedrigenergiehäusern in Skive/Dänemark haben einen mittleren
      es schaffen, den Aufwand für Heizenergie zu verringern, auch in             Heizenergiewert von 50 kWh/qm ergeben. Indes liegt der gemesse-
      Gebäuden, die nicht dem Wohnen dienen.                                      ne haushaltsspezifische Verbrauch zwischen 20 und 70 kWh/qm15.
                                                                                  Dementsprechend kam Epp schon vor 20 Jahren zu dem Schluss,
      Erforderlich ist dafür auf jeden Fall, dass im Neubau höchste Effi-         dass der Wärmebedarf je nach Verhalten um bis zu 50 Prozent vom
      zienzstandards umgesetzt werden und Bestandsgebäude effizient               Mittelwert abweichen kann. Und das sowohl bei Niedrigenergie-
      umgerüstet werden. Dazu zählt, im Bestand die Wände und Dächer              häusern als auch konventioneller Bauart. Die Abweichungen ent-
      mit Dämmstoffen zu verkleiden und die Fenster zu erneuern.                  stünden durch Raumtemperaturniveau, Beheizungsumfang, Rege-
      Zudem gilt es sparsame Heizungen zu installieren, gegebenenfalls            lungsmechanismen, Lüftungsverhalten und Anwesenheitszeiten.
      auf Basis von Holz. Ergänzend ist es von Vorteil, wenn ein Teil der
      Wärme mit Sonnenkraft erzeugt wird und spezielle Lüfter die
      Frischluftzufuhr übernehmen. Kommunen obliegt es neben Bund                 Neubau
      und Ländern, die Bürger und Unternehmen beim Nutzen dieser                  Auch wenn wie gesehen in gleichen Gebäuden der Heizenergiever-
      Potenziale zu beraten, zu fördern und zu fordern.                           brauch der Bewohnerinnen und Bewohner stark unterschiedlich ist:
                                                                                  Im Durchschnitt liegt er in sehr energieeffizienten Gebäuden deut-
      Eine weitere Klimaschutzstrategie im Gestaltungsfeld »Wohnen«               lich niedriger, so dass der restliche Bedarf durch Sonnenenergie,
      wird von den zuständigen Akteuren jedoch fast völlig ignoriert: die         Biomasse oder Erdwärme gedeckt werden kann. Schon seit Anfang
      Begrenzung des Neubaus wie auch die suffizientere Nutzung der               der 1990er Jahre gibt es »Null-Energiehäuser«, später kamen »Plus-
      Wohnflächen im Bestand.                                                     Energiehäuser« hinzu: schöne Modellprojekte, die gezeigt haben,
                                                                                  was technisch möglich ist. Doch verbreitet haben sich die guten
                                                                                  Beispiele kaum. Zu teuer und unwirtschaftlich, begründen private
      Potenziale                                                                  Bauherren und Wohnungsunternehmen ihr dürftiges Engagement
      Lässt sich die Bedeutung von Suffizienz bzw. Lebensstilverände-             für den Klimaschutz. Selbst diejenigen, die persönlich davon über-
      rungen für Energiewende und Klimaschutz quantifizieren? Den                 zeugt sind, dass der Verbrauch an fossilen Energien eines Hauses
      Versuch hat beispielsweise eine Studie aus der Schweiz unternom-            auf ein Minimum zu reduzieren ist, scheiterten in der Regel an
      men. Sie kommt etwa zu dem Schluss, dass die Wohnfläche ein                 ihren Vorsätzen.
      markanter Einflussfaktor für den individuellen Verbrauch ist. Mit           Dabei wird häufig mehr Geld für schicke Bäder ausgegeben, als
      einer Reduktion der Standardpersonenfläche9 um ein Drittel ließe            für eine solare Warmwasserbereitung nötig gewesen wäre. Über
      sich bei der Primärenergie und den Treibhausgasemissionen eine              Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung denkt kaum jemand
      Einsparung von rund 15 Prozent ermöglichen, dies gelte für Neu-             ernsthaft nach. Während etwas mehr Komfort im Auto leicht mal
      bauten genauso wie für Umbauten.10                                          einige Tausend Euro extra kosten darf, nehmen Bauherren warme
                                                                                  Wände und frische Luft nicht einmal als Komfortmerkmal wahr,
      Solche Erkenntnisse sind übrigens nicht ganz neu. Liest man zum             geschweige dass sie bereit wären, dafür Geld auszugeben. Ganz
      Beispiel den Bericht vom Bärbel Epp über den »Einfluss des Verhal-          offenbar sind Individuen, ja ganze Wohnungsgesellschaften mit
      tens auf das Energiesparen von privaten Haushalten«12, kann das             dem Nachhaltigkeitspostulat überfordert.
      zu einem Déjà-vu führen. Bereits in den 1980er Jahren stellte die
      Eidgenössische Materialprüfungsanstalt bei Ölverbrauchsmessun-              Den Kommunen geht es dabei nicht viel anders. Nur wenige
      gen von 60 Einfamilienhäusern mit gleicher Wohnstruktur fest,               machen Vorgaben über die gesetzlichen Mindeststandards – die

                                                                             11
                                                                            Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 12

          Energieeinsparverordnung – hinaus. So etwas schien allenfalls in                                  seit 2002 unter dem Namen »Energieeinsparverordnung«. Mit dem
          gefragten Gegenden machbar, wie Frankfurt am Main oder Ham-                                       Jahr 2009 gab es sogar Vorgaben für die Nutzung von Wärme aus
          burg. Das hat sich bis heute nicht geändert. Im Gegenteil werden                                  erneuerbaren Energien. Ab 2016 werden die Standards um weitere
          die immer strengeren Vorgaben des Gesetzgebers zunehmend                                          25 Prozent angehoben, und mit dem Jahr 2019 müssen öffentliche
          beklagt. Das Bauen werde dadurch zunehmend komplizierter und                                      Gebäude (und alle übrigen Neubauten ab 2021) den Niedrigst-
          teurer, und auch sozial orientierten Unternehmen falle es zuneh-                                  Energiestandard erfüllen, also nahezu den Standard eines Null-
          mend schwer, günstige Mietwohnungen zu bauen.16                                                   energiehauses.17

          Die Chancen für den Klimaschutz im Gestaltungsfeld »Wohnen«                                       Jetzt liegt der Gedanke nahe, die Deutschen sind Vorreiter bei der
          stünden also schlecht, wenn Bundesregierung und Europäische                                       Gebäudeeffizienz. Doch diese Vorgabe gilt in der gesamten Euro-
          Union das Problem nicht längst erkannt hätten. Sie schufen einen                                  päischen Union. Das ist – ohne zu übertreiben – eine ganz vorzüg-
          ordnungsrechtlichen Rahmen für anspruchsvolle Standards, den sie                                  liche Entwicklung. Zwar ließe sich kritisieren, das man dies alles
          Schritt für Schritt anhoben. Wichtige Wegbereiter für die jeweils                                 schon viel früher hätte haben können, doch letztlich gilt, dass die
          nächsten Schritte waren und sind Informationskampagnen, Förder-                                   EU-Staaten überhaupt diesen Weg beschritten haben.
          programme und Geldanreize wie Steuervorteile und Ähnliches mehr.
                                                                                                            Das zeigt exemplarisch, wie sich kommunale Achtsamkeitspolitik
          Schon seit 1976 gibt es gesetzliche Bestimmungen für effizientes                                  mit europäischer und nationaler Rahmensetzung systematisch ins
          Bauen. Die Anforderungen für Heizungsanlagen und Wärmebedarf                                      Werk setzen lässt. Die hohen Effizienzstandards für die Bauwirt-
          von Büros und Wohnhäusern haben sich schrittweise verschärft,                                     schaft entlasten den einzelnen Bürger von der moralischen Abwä-

                                                    450       Wärmeschutzverordnung 1977

                                                    400
                                                                              Wärmeschutzverordnung 1982
                                                    350
           Jahresprimärenergiebedarf [KWh/(m2.a)]

                                                    300

                                                    250
                                                                                                  Wärmeschutzverordnung 1995
                                                    200
                                                                                                                 EnEV 2007
                                                    150
                                                                                                                            EnEV 2009
                                                                                                                                    EnEV 2014
                                                    100

                                                     50

                                                      0
                                                       1978      1983    1988     1993     1998     2003       2008        2013      2018

          Der ordnungsrechtliche Rahmen für Gebäudeeffizienz – die Anforderungen haben sich schrittweise verschärft. Maßgeblich ist derzeit die Ener-
          gieeinsparverordnung von 2014. Neubausiedlungen müssen ab 2021 nahezu den Nullenergiehaus-Standard erfüllen. Die Verordnung überwin-
          det dann – indem alle in die Pflicht genommen werden – das Wettbewerbsdilemma zwischen Kommunen.18

                                                                                                    12
                                                                                                   Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 13

      gung zwischen Klimaschutz und Küchendesign. Die Wärmeschutz-                 jedoch zunächst an der CSU-Regierung von Bayern gescheitert ist.
      verglasung wird nun von Beginn an eingeplant, und der verbleibende           Doch insgesamt hapert es bei der Verbindlichkeit.
      finanzielle Spielraum bestimmt darüber, wie kostspielig die Bad-
      keramik sein darf. Klimapolitisch ambitionierte Bürgermeister und            Das ist freilich auch ein Problem für die Städte und Gemeinden in
      Stadtplaner müssen fortan nicht darum bangen, dass das geplante              Deutschland. Einige streben »100 % Klimaschutz« an.22 Der Bund
      Neubaugebiet nicht angenommen wird, weil die energetischen                   fördert die Entwicklung der gleichnamigen Klimaschutzkonzepte
      Anforderungen zu hoch sind. Denn auch die Baugebiete der Nach-               mit dem Programm »Masterplan 100 % Klimaschutz«. Es richtet
      bargemeinde sind nun zum Klimaschutz verpflichtet.                           sich an Kommunen, die sich eine Treibhausgas-Reduzierung von
                                                                                   95 Prozent und eine Senkung des Endenergiebedarfs bis 2050 um
      Auch weiterhin wird es Kritiker geben, Skandalmeldungen zur                  50 Prozent verordnet haben. Es entstehen beeindruckende Pläne,
      »Volksverdämmung«, Brandgefahr, Schimmel etc. All das wird bald              deren Umsetzung gerade im Gebäudebereich nur bedingt möglich
      vergessen sein. Eigenheimbesitzerinnen werden bei den Hausfüh-               ist. Denn den Kommunen stehen nur relativ sanfte Instrumente zur
      rungen künftig mit einigem Stolz auf die technologischen Errun-              Verfügung, um die Sanierung der Gebäude voranzutreiben. Sie sind
      genschaften ihres Häuschens und den äußerst geringen Energiever-             momentan angewiesen auf achtsame und umsichtige Eigentüme-
      brauch hinweisen.                                                            rinnen und Investoren, die sich dem Klimaschutz verpflichtet füh-
                                                                                   len, und auf die Förderprogramme von Bund und Ländern für Bera-
                                                                                   tung und Investition.
      Umbau: Sanierungsfahrplan
      Ebenso wie beim Neubau lassen sich auch für den Bestand Zug um               Kommunale Rahmenbedingungen für Suffizienz und Effizienz soll-
      Zug die energetischen Standards anheben. Denn bei jedem Haus                 ten jedoch darauf abzielen, dass sich achtsame Einsparinvestition
      steht nach 15 bis 40 Jahren ein Austausch der Heizung oder eine              gleichsam verselbständigen. Im Idealfall bleibt beispielweise Ver-
      Erneuerung der Fassade auf dem Plan. Das ist eigentlich der                  mietern dann gar nichts anderes übrig, als ihre Immobilien auch
      Moment, um etwas für den Klimaschutz zu tun. Doch von allein                 energetisch verantwortungsvoll zu gestalten. Solches hat die Ener-
      geschieht das selten. Eigenheimbewohner scheuen die hohen Kosten,            gieeinsparverordnung nunmehr in zwei Bereichen realisiert. Erstens
      und Vermieter müssen ohnehin nicht für die Heizkosten aufkommen.             müssen Öl- und Gasheizkessel, die vor 1985 eingebaut wurden, seit
      Nun hat die Bundesregierung für die Sanierung der Gebäude einen              2015 außer Betrieb genommen werden. Wurden die entsprechen-
      Sanierungsfahrplan aufgelegt. So wie die Bahn die Ankunftszeit ihrer         den Heizungsanlagen nach dem 1. Januar 1985 eingebaut, müssen
      Züge festlegt, so plant die Regierung den Fortschritt der energeti-          sie nach 30 Jahren ersetzt werden.
      schen Sanierung. Demnach soll bis 2050 der Energiebedarf um 80
      Prozent sinken.19 Der Gebäudebestand soll dann nahezu klimaneu-              Zweitens sind Eigentümer nunmehr verpflichtet, die oberste
      tral sein. Im Bestand müsste sich die derzeitige Sanierungsrate von          Geschossdecke zu isolieren. Bis Ende 2015 soll die Nachrüstung
      etwa einem Prozent der Häuser pro Jahr mindestens verdoppeln.20              abgeschlossen sein. Gemeint sind Decken beheizter Räume, die an
                                                                                   ein unbeheiztes Dachgeschoss angrenzen. Die Forderung gilt auch
      Das hört sich zunächst einmal ambitioniert an. Der Haken: Ob die             als erfüllt, wenn das Dach darüber gedämmt ist oder die Mindest-
      Hauseigentümer sich an den Plan halten, ist ungewiss. Der Plan ist           anforderungen an die Dämmung erfüllt.
      unverbindlich, weil es keine gesetzliche Verankerung gibt. Man
      beschränkt sich auf Informationen und Anreize: Kampagnen wie                 Solche Vorgaben setzen sich zwar nicht von selbst ins Werk und
      »co2online-Klimaschutzkampagne« oder »Haus Sanieren – Profitie-              werden womöglich ignoriert. Aber die lokalen Behörden vor Ort
      ren«. 21Der Gebäudepass soll Vermieter und künftige Mieter für die           haben nun einen Hebel, um nachträgliche Klimaschutzmaßnahmen
      Energiekosten der Wohnung sensibilisieren. Die Kreditanstalt für             an Gebäuden einzufordern und die ehrgeizigen Klimaschutzkon-
      Wiederaufbau vergibt zinsgünstige Darlehen, gibt für besonders               zepte umzusetzen. Manchmal genügt vielleicht schon ein freund-
      weitgehende Sanierungsvorhaben einen Zuschuss, ebenso wie für                licher Brief mit dem Hinweis auf die neue Gesetzeslage.
      Energieberatungen. Geplant war auch ein Steuernachlass, der

                                                                              13
                                                                             Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 14

          Doch der Bund könnte deutlich mehr tun und beispielsweise dem               verrückten Idee, ist aber sehr plausibel, gerade in schrumpfenden
          Vorbild Baden-Württembergs folgen. Dort hat man quasi das EEG-              Städten. Essen zum Beispiel hatte 1970 noch knapp 700 000 Ein-
          Wärmegesetz des Bundes auf schon bestehende Häuser übertra-                 wohner, im Jahr 2000 595 000 und heute leben weniger als
          gen. Seit Januar 2010 müssen bei einem Heizanlagenaustausch in              570 000 Menschen in der Zentralstadt des Ruhrgebiets.24 Vielen
          bestehenden Wohngebäuden zehn Prozent der Wärme mit erneu-                  andern Städten im Osten und Westen erging es ähnlich. Mitunter
          erbaren Energien erzeugt werden. Möchte der Eigentümer bei einer            sind die Verluste moderater. Aber nur wenige Städte wachsen, wie
          Öl- oder Gasheizung bleiben, kann eine thermische Solaranlage das           die Ergebnisse des Zensus aus dem Jahr 2011 zeigen. Dutzende
          Heizsystem ergänzen. Die Verpflichtung gilt als erfüllt, wenn die           Städte, darunter auch Hamburg und Berlin, weigerten sich die
          Kollektorfläche in einem bestimmten Verhältnis zur Wohnfläche               Erhebung anzuerkennen.
          steht.23 Für ein Haus mit 150 Quadratmetern reichen also sechs
          Quadratmeter Sonnenkollektoren. Diese Kollektorgröße genügt                 Doch obwohl vielerorts die Zahl der registrierten Einwohner dra-
          unabhängig davon, ob damit tatsächlich zehn Prozent des Wärme-              matisch zurückgeht, entstehen dort Jahr für Jahr neue Siedlungen
          bedarfs gedeckt werden. Solche klaren Vorgabe sind wegweisend:              für Einfamilienhäuser und Gewerbe. Insgesamt steigt die beheizte
          Leicht verständlich und praktisch gut umsetzbar.                            Fläche in Wohn- und Nichtwohngebäuden jährlich weiterhin um
                                                                                      ca. 0,6 Prozent.25 Es ist der Versuch, die weitere Schrumpfung und
          Freilich ist nicht jede Dachfläche für die Erzeugung solarer Wärme          damit den Wegfall von Einnahmen durch die Einkommens- und
          geeignet. Daher gibt es noch andere Möglichkeiten die Verpflich-            Gewerbesteuer zu stoppen oder gar umzukehren.
          tung zu erfüllen, etwa mit Pelletkessel oder einer Scheitholzhei-
          zung. Weitere Alternativen sind erstens Wärmeschutzmaßnahmen,               Das hat Auswirkungen auf den Klimaschutz. Denn der beständige
          um den gesamten Wärmeverlust des Gebäudes zu reduzieren.                    Neubau hat jahrelang die Effekte der Gebäudesanierung und höhe-
          Zweitens: Die neue Heizung erzeugt zugleich Strom – diese Tech-             ren Standards kompensiert. Zwar ging der Energieverbrauch pro
          nik heißt »Kraft-Wärme-Kopplung«. Drittens genügt es dem Gesetz,            Quadratmeter zwischen 1995 und 2005 bundesweit um gut neun
          wenn das Haus an ein Wärmenetz angeschlossen ist, das mit Kraft-            Prozent zurück. Je Einwohner nahm der Raumwärmebedarf jedoch
          Wärme-Kopplung oder mit erneuerbaren Energien arbeitet. Und                 zu und ist erst seit zehn Jahren rückläufig. In der Gesamtbilanz
          falls viertens auf der Dachfläche bereits eine Photovoltaikanlage           könnten noch rund zehn Jahre verstreichen, bis wir das Ver-
          installiert ist, gilt die Zehn-Prozent-Anforderung auch als erfüllt.        brauchsniveau der 1980er erreicht haben.

          Inzwischen hat die Landesregierung den Pflichtanteil an erneuer-            Im Wesentlichen sind zwei Entwicklungen für den zunehmenden
          baren Energien von zehn auf 15 Prozent erhöht. Damit realisierte            Wohnflächenbedarf verantwortlich: erstens der Trend zu kleineren
          Baden-Württemberg letztlich einen Sanierungsfahrplan. Die Lobby             Haushalten; zweitens der wachsende Wohnflächenkonsum älterer
          der Hausbesitzer argumentiert, nun hätte erst recht keiner mehr             ein- und zwei-Personen-Haushalte, bedingt durch den Verbleib der
          Lust, die Heizung zu sanieren. Vermieter würden die Investition             Eltern in der großen Familienwohnung nach Auszug der erwachse-
          nun hinauszögern, bis die Heizung in ihre Einzelteile zerfällt. Das         nen Kinder.26 Käme es hingegen zu einer Stagnation der Wohnflä-
          stimmt möglicherweise. Doch bei 30 Jahren ist Schluss, per Gesetz           chenentwicklung, wären die möglichen Einspareffekte beträchtlich.
          (s.o.), und eine Kontrollfunktion erfüllen allein schon die regelmä-        Hier setzt der Vorschlag eines »Flächenmoratoriums« an.
          ßigen Schornsteinfegerbesuche. Vollends zerstreuen würden sich
          die Bedenken der Zauderer wohl, wenn die Landesregierung ankün-             Flächenmoratorium
          digte, die Vorgabe im Jahr 2020 auf 20 Prozent zu erhöhen.                  Das Flächenmoratorium ist eine planungs- und ordnungsrechtliche
                                                                                      Vorgabe des Bundesgesetzgebers, die den Zubau neuer Wohnflä-
                                                                                      chen begrenzt. Gegebenenfalls enthält es eine Öffnung für zusätz-
          Nichtbau                                                                    liche Wohnflächen in Kommunen mit Bevölkerungszuwachs. Bei
          Die größten Einsparpotenziale bleiben kommunalpolitisch weitge-             stagnierender Bevölkerung gibt das Moratorium bis auf Weiteres
          hend unbeachtet: den Neubau begrenzen. Das klingt nach einer                vor, dass die Wohn- und Gewerbefläche in Deutschland nicht

                                                                                 14
                                                                            Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 15

      zunimmt. Das würde Neubauten zwar nicht ausschließen, jedoch                  sonderten Studie zu untersuchen. Doch einige Vorüberlegungen
      nur bei gleichzeitigem Abriss an selber oder anderer Stelle gestat-           lassen sich auch ohne weitgehende Analyse anstellen.
      ten. Der Staat setzt also einen Ordnungsrahmen, mit dem inner-
      halb der Grenzen kreativ umgegangen werden kann. Der Flächen-                 Rechtliche Bewertung
      bedarf wird gedeckelt.                                                        Das Baugesetzbuch hat einen enormen Einfluss auf Gestalt, Struk-
                                                                                    tur und Entwicklung der Städte und Gemeinden. Hier wäre der
      Das ist zweifellos ein streitbares Postulat. Schlimmstenfalls wird            richtige Ort, um das Moratorium zu verankern. So behandelt der
      Wohneigentum so teuer, dass nur Wohlhabende die frei werdenden                § 30 beispielsweise die »Zulässigkeit von Vorhaben im Geltungsbe-
      Immobilien erwerben können. Doch wäre das tatsächlich so? Wel-                reich eines Bebauungsplans«, ein hier einzufügender vierter Absatz
      che wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen sich aus einem             könnte lauten: »Die Aufstellung von Bebauungsplänen ist aus-
      Flächenmoratorium ergeben würden, wäre im Rahmen einer ge-                    schließlich in Abänderung bereits vorhandener Pläne unter Fortbe-

        Raumwärmebedarf im Spannungsfeld von Wärmedämmung und Wohnflächennutzung
       RRaumwärmebedarf ist verstanden als Endenergieverbrauch für Raumheizung ohne Wasserbereitung

       Raumwärmebedarf                                                                    Raumwärmebedarf                W ohnfläche
                                                                                                                         Wohnfläche
       in kWh pro Kopf und Jahr                                                  pro qm Wohnfläche in kWh/a
                                                                                        Wohnfläche                       pro Kopf in qm

       8000                                                                                                        350       70

       7000                                Raumwärmebedarf                                                         300       60
                                           pro Kopf
       6000
                                                                                                                   250       50

       5000
                                                                              Wohnfläche
                                                                              pro Kopf                             200       40
       4000
                                                                                                                   150       30
       3000
                                                                            Raumwärme-
                                                                                 wärme-
                                                                                                                   100       20
                                                                                                                                                 Institut 2015

                                                                            bedarf pro qm
       2000                                                                 W ohnfläche
                                                                            Wohnfläche
                                                                                                                                                 Ins

       1000              „Ölschock“
                         „Ölsch
                              hock          Wieder-
                                              e r-
                                            Wie
                                              ede                                                                  50        10
                                                                                                                                     © Wuppertal
                                                                                                                                       Wuppertal

                            1973
                            19
                             973          vereinigung
                                          verein
                                               nigung                                  Prognose
                                                                                                                                        u

           0                                                                                                       0         0
                1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050

      Bis zum Jahr 2005 kompensierte der Zuwachs an Wohnfläche, die zusätzlich beheizt wird, die Effizienzgewinne der Gebäudedämmung.
      Die gestrichelten Linien zeigen den zu erwartenden Effekt bei einer Begrenzung der Wohnfläche.

                                                                               15
                                                                             Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 16

          stand von deren räumlicher Abgrenzung zulässig«. Damit wäre                 kleinere Wohnung umzieht und die größere verkauft. Denkbar wäre
          klargestellt, dass bestehende Bebauungspläne zwar geändert wer-             auch ein Bonus für ältere Paare, die ihr Häuschen zum Wohle grö-
          den dürfen, um den Lückenschluss in bebauten Gebieten sinnvoll              ßerer Familien verkaufen. Zugleich könnte es hilfreich sein, wenn
          zu planen, dass aber keine neuen Baugebiete hinzukommen.                    die Stadt attraktive Wohnformen fördert. Wenn zum Beispiel ältere
                                                                                      Menschen ihr Haus verlassen, suchen sie Wohnungen ohne Barrie-
          Siedlungslimit in der Schweiz                                               ren. Zugleich soll genug Platz für den Besuch der Kinder und Enkel
          Die Schweiz möchte die Zersiedelung der Landschaft und den ver-             sein. Beides scheint zunächst nicht kompatibel. Doch lässt sich die-
          schwenderischen Umgang mit Bodenfläche stoppen. Mit dem                     ser sehr verbreitete Anspruch recht einfach durch Gästezimmer
          beschlossenen Raumplanungsgesetz, dem die Bevölkerungsmehr-                 erfüllen. In Städten mit knappem Wohnraum gibt es schon heute
          heit zugestimmt hat, sollen Bauzonen verkleinert und verdichtetes,          vereinzelt solche Ansätze.
          effizienteres Bauen gefördert werden. Die Novelle hat der Schwei-
          zerische Bundesrat im Mai 2014 beschlossen. Sie beinhaltet ein                Berlin – Staatlich finanzierte Umzugsprämien sollen alte Men-
          Baustopp in schützenswerten Landschaftslagen, um den Erhalt von               schen dazu bewegen, Platz für junge Familien zu machen. Das
          Bodenfläche sowie von der Natur zu erreichen. Zukünftig soll nur              hat der Chef der Gewerkschaft IG Bau, Robert Feiger, vorge-
          noch in besiedelten Gebieten gebaut werden. Für die Kantone                   schlagen. Den Zuschuss von bis zu 5000 Euro sollen Senioren
          ergeben sich daraus zahlreiche Vorgaben, welche sie in ihren                  erhalten, wenn sie ihre große Wohnung aufgeben und in eine
          »Richtplänen« zu berücksichtigen haben. Sie müssen nachweisen,                kleinere ziehen. Solche Prämien werden derzeit bereits
          dass ihre Bauzonen dem voraussichtlichen Bedarf der nächsten                  erprobt.
          fünfzehn Jahre entsprechen.
                                                                                        Mit dem Anreizsystem helfe man nicht nur Wohnungssuchen-
          Die Kantone sind angehalten Bauzonen und Siedlungen möglichst                 den, sondern auch den alten Menschen selbst. »Zwingen wol-
          kompakt zu entwickeln. Dörfer und Städte sollen nach innen weiter             len und können wir natürlich niemanden. In der Realität sieht
          entwickelt werden, beispielsweise durch verdichtetes Bauen, das               es aber doch so aus, dass Senioren oftmals nicht mehr die
          Schließen von Baulücken oder die Umnutzung von Brachen.                       Wohnung verlassen, weil sie die Treppen nicht steigen können.
          Grundlage ist das Bestreben, den Verschleiß von Kulturland einzu-             Sie würden gern in ein Haus mit Fahrstuhl umziehen«, sagte
          dämmen und hohe Kosten für die Erschließung mit Straßen, Strom                Feiger. Eine kleinere Wohnung sei da kein Hindernis. Für den
          und Wasser zu vermeiden.27                                                    Staat rentiere es sich, wenn zum Beispiel ein Rentner in eine
                                                                                        altersgerechte Wohnung statt in eine Einrichtung für betreu-
          Das Raumplanungsgesetz der Schweiz geht in die Richtung eines                 tes Wohnen ziehe. Hier zahle der Staat deutlich mehr drauf,
          Flächenmoratoriums, da es aufgrund der erläuterten Ziele und                  erklärte der IG-Bau-Vorsitzende. Nach seinen Vorstellungen
          Ansätze einem Teilmoratorium gleicht. Deutlich wird, dass es bereits          soll die Umzugsprämie vor allem für bedürftige alte Menschen
          Ansätze gibt, die dem des Flächenmoratoriums nahe kommen. Mit                 sein. [...]
          diesem kann man dem Anstieg der Pro-Kopf- Wohnfläche entgegen
          wirken und bereits gebauten Wohnraum effizienter nutzen. Das                  Im vergangenen Jahr hatten die landeseigenen Wohnungsun-
          Raumplanungsgesetz in der Schweiz zeigt, das auch in Deutschland              ternehmen in Berlin und Brandenburg ein Prämienmodell ein-
          ein Ansatz dieser Art durchaus durchsetzbar wäre, um auch hier die            geführt. Damit der Umzug in eine kleinere Wohnung die
          Zersiedelung und den verschwenderischen Umgang mit Bodenflä-                  Mieter nicht finanziell überfordert, zahlen die jeweiligen
          che, wodurch immer mehr Wohnfläche gebaut wird, zu stoppen.                   Gesellschaften Umzugsprämien bis zu 2500 Euro. 2014 zähl-
                                                                                        ten sie bis September 105 Fälle, in denen Wohnungen
          Anreize: Umzugsprämien u. a.                                                  getauscht wurden.
          Jenseits solcher zentralen administrativen Ansätze, ist es möglich,
          Anreize zu schaffen. Beispielsweise wäre es möglich, die Steuer               Quelle: Mütze, Janina (2015): Platz für junge Familien,
          beim Erwerb eines Grundstücks zu erlassen, wenn jemand in eine                Süddeutsche Zeitung 6.2.2015, S. 21

                                                                                 16
                                                                            Kinder
Studie_Kommunale Suffizienzpolitik_RZ_neu bio 20.04.16 11:06 Seite 17

      Wogeno München                                                               15 m2/Kopf weniger als in heutigen Neubauten. Für die Wohnun-
      In München gibt es jetzt schon Anreize, mit Wohnraum verantwor-              gen gibt es eine Mindestbelegung.
      tungsvoll umzugehen. Die Wohnungsknappheit in der Region resul-
      tiert ja nicht nur aus dem anhalten Zuzug, sondern auch aus dem              Es gibt Familienwohnungen, kleinere Wohngemeinschaften und
      zunehmenden Platzbedarf des Einzelnen. Dem begegnet die Woh-                 Gemeinschaftsräume für die Aktivitäten Kochen, Büroarbeiten,
      nungsgenossenschaft Wogeno mit flexiblen Wohnungen. Diese sind               Waschen, Werken u. a. Schon etwas exotisch klingt es, wenn von
      an sich vergleichsweise klein, werden aber durch Gemeinschafts-              Cluster-Gruppierung und Großhaushalten die Rede ist. »Cluster«
      bereiche ergänzt. Im Keller gibt es ein Spielzimmer; Freunde, ausge-         bestehen aus autonomen Kleinwohnungen mit Gemeinschaftsraum.
      zogene Kinder oder Enkel können im hauseigenen Gästeappartement              In Großhaushalten verbinden sich mehrere Individualwohnungen, in
      übernachten und das Maleratelier lässt sich auch für Geburtstagsfei-         denen sich jeweils ca. 50 Bewohner gemeinsam die Infrastruktur,
      ern nutzen. Die Wogeno bietet zudem ein Tauschprogramm für                   also Küche, Ess- und Aufenthaltsraum und Ähnliches teilen. Die
      Wohnungen an, etwa für die verwitwete Seniorin, für die sich der             Bewohner verfügen über einen Raum für gemeinsame Feste, Turnie-
      Umzug in eine kleinere Wohnung nicht lohnt; diese wäre mit einem             re und Ähnliches. An den gemeinsamen Abendessen können zu
      neuen Mietvertrag oft ähnlich teuer wie die große alte.28                    einem günstigen Preis auch Gäste von Außerhalb teilnehmen.

      Arbeiten und Wohnen in der Gemeinschaft:                                     Nicht nur im Punkt Flächenbedarf ist die Kalkbreite vorbildlich.
      Die Kalkbreite Zürich                                                        Regenerative Energieversorgung, ressourcenschonende Bauweise
      Wer gerne in beliebten Städten wie München, Hamburg oder Göt-                und ein nachhaltiges Mobilitätskonzept machen das Projekt
      tingen und Heidelberg lebt, muss einen beträchtlichen Teil seines            zukunftsfähig. Die Bewohner erhalten Hilfe beim Energiesparen
      Gehalts für die Miete aufwenden. Es gibt viele Faktoren, die das             und besitzen vertragsgemäß kein eigenes Auto. Entsprechend lie-
      befördert haben. Einer davon sind die Stadtväter selbst: Attraktive          ßen sich Kosten für den Bau von Parkplätzen einsparen. Die gute
      Grundstücke verkaufen sie an den meistbietenden Investor. In                 Lage sorgt für eine optimale Anbindung an die öffentlichen Ver-
      populären Städten kann man beobachten wie Luxusimmobilien für                kehrsmittel. Selbstverständlich sind große Fahrradparkplätze und
      Superreiche entstehen. Die Preise sprengen die Vorstellungskraft             Velo-Verleihstationen vorhanden.
      eines Normalverdieners. Das ist übrigens mitnichten ein Phänomen
      allein in den urbanen Magnetpolen. In Städten wie Osnabrück oder             Solche Projekte im Kleinen oder Großen nachzuahmen, obliegt den
      Augsburg schlagen zwar nicht die Milliardäre aus China ihre Zelte            Städten und Gemeinden. Es wird und soll keine zentrale Verord-
      auf. Doch auch hier finden sich, entgegen allen städtebaulichen              nung für einen gemeinwohlorientierten Städtebau oder ähnliches
      Postulaten für mehr soziale Gerechtigkeit, Wegbereiter für die               geben. Die Hoffnung ist, dass unsere kommunalen Mandatsträger
      Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche. Es ist die vornehme            den blinden Wettbewerb um Einwohnerzahlen beenden und sich
      Pflicht der Stadtväter, bei der Vermarktung von Grundstücken auch            von stupiden und ästhetisch anspruchslosen Einfamilienhaussied-
      Menschen mit kleinem Portemonnaie Chancen zu bieten.                         lungen verabschieden. Eine absolute Begrenzung des Flächenver-
                                                                                   brauchs für Wohnen und Gewerbe würde den kommunalen Trans-
      Genossenschaftliche Wohnformen können das ermöglichen. Davon                 formationsprozess hin zur Nachhaltigkeit begünstigen.
      profitieren die Wohnungssuchenden beispielsweise in Wien und
      Zürich. In Zürich befindet sich jede fünfte Wohnung in Gemein-               Umnutzung: Wohnen im Parkhaus
      schaftsbesitz.29 So auch die Kalkbreite in Zürich. Auf einem mehr            Parkhäuser sind die unwirtlichsten Orte der Innenstadt. Von innen
      oder weniger brachliegenden Tramgelände an der Kalkbreitestraße              betrachtet strahlen sie eine unheilvolle Atmosphäre aus. Von
      entstand Raum für gemeinschaftliches Wohnen und Arbeiten                     außen erstickt die Kulisse jedweden Anflug urbanen Lebens.
      sowie verschiedene Lebensmodelle. Eines der Ziele war, den Flä-              Zugleich erinnern sie uns täglich an den Albtraum der autogerech-
      chenverbrauch pro Person auf das Notwendigste zu verringern. Im              ten Stadt. Mit dem eigenen Wagen bis ins Kaufhaus zu fahren, das
      Ergebnis beanspruchen die Bewohner jeweils maximal 35 Quadrat-               ist zwar praktisch, steht aber der Sehnsucht nach Ruhe, Vielfalt,
      meter, inklusive gemeinschaftlich genutzter Fläche. Das sind 10 bis          Flanieren und Ästhetik entgegen.

                                                                              17
                                                                             Kinder
Sie können auch lesen