Lost Circles Im Bau Ana Andromeda

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Lost Circles Im Bau Ana Andromeda
Lost Circles
                           Im Bau
                           Ana Andromeda

                           Ein Musiktheaterprojekt von æquatuor
                           Musik | Michel Roth und Alfred Zimmerlin
                           Installation/Regie | Marie-Thérèse Jossen
                           und Georges Delnon

                           Anne-May Krüger | Mezzosopran
                           Matthias Arter | Oboe und Lupophon
                           Tobias Moster | Violoncello
                           Ingrid Karlen | Klavier
                           Stephan Widmer | Schauspieler
                           Ueli Würth | Klangregie

           Koproduktion: Lucerne Festival, Theater Basel,
1   Opera Butxaca i Nova Creació, Theater Chur, æquatuor
Lost Circles Im Bau Ana Andromeda
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Lost Circles

                         Michel Roth (*1976)
                         Im Bau
                         Fünfzehn Klangräume nach einem Fragment von Franz Kafka
                         Uraufführung

                         Alfred Zimmerlin (*1955)
                         Ana Andromeda
                         Sieben lyrische Bilder auf einen Text von Ingrid Fichtner
                         Uraufführung

                         Ensemble æquatuor:
                         Anne-May Krüger | Mezzosopran
                         Matthias Arter | Oboe, Lupophon
                         Tobias Moster | Violoncello, Maracas, Singende Säge
                         Ingrid Karlen, | Klavier, Orgel, Melodica

                         Stephan Widmer | Schauspieler

                         Tonzuspielungen | «Im Bau»: Sylvia Nopper
                         Tonzuspielungen | «Ana Andromeda»: Sylvia Nopper
                         (Ana Andromeda/Innere Stimme, Mutter, Flüsterchor)
                         und Andreas Müller-Crepon (Per)

                         Ueli Würth | Klangregie und Audiotechnik
                         Marie-Thérèse Jossen, Georges Delnon | Installation
                         Roland Edrich, Cornelius Hunziker | Licht
                         Ute Vollmar | Dramaturgie
                         Matthias Arter | Projektleitung und Koordination

                         Künstlerische Produktionsleitung | Ulrike Jühe
                         Regieassistenz | Barbara Schröder
                         Bühnenbildassistenz | Cornelia Schmidt, Katharina Scheicher
                         Regiehospitanz | Clara Stadler

Alle Fotos: © Priska Ketterer
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Die Ausstattung wurde in den Werkstätten des Theater Basel
    hergestellt:
    Technische Direktion | Joachim Scholz;
    Mitarbeiter | Claude Blatter; Techn. Assistent / Veranstaltungs-
    technik | Beat Weissenberger
    Leitung Bühnenbetrieb | Adi Vossen
    Leiter Beleuchtung | Roland Edrich
    Leitung Tonabteilung | Robert Hermann
    Leitung Möbel / Tapezierer | Rolf Burgunder
    Leitung Requisite / Pyrotechnik | Stefan Gisler
    Leitung Maske | Elisabeth Dillinger-Schwarz
    Leitung Hausdienste | Alexander Stumpp, Stellv. Paul Wakefield
    Werkstätten- / Produktionsleitung | René Matern, Gregor Janson
    Leitung Kostümabteilung | Karin Schmitz
    Bühnenbildatelier | Marion Menziger

    Koproduktion von LUCERNE FESTIVAL mit dem Theater Basel,
    dem Theater Chur, der Opera Butxaca i Nova Creació und
    Ensemble æquatuor.

    Unterstützt von | Präsidialdepartement der Stadt Zürich,
    Fachstelle Kultur Kanton Zürich, Pro Helvetia, Landis & Gyr
    ­Stiftung, Fondation Nicati-de Luze, Fondation Nestlé pour l’Art,
     Kanton Luzern, Migros Kulturprozent und Ernst Göhner Stiftung

    Dauer: ca. 2 Stunden (Pause nach «Im Bau»)

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Lost Circles Im Bau Ana Andromeda
Lost Circles

Aus der Tiefe ans Licht: So könnte das Motto       toren» des Instrumentalklangs, färben ihn also,
dieses Musiktheaterabends lauten. Ausgangs-        meist ohne ­direkt wahrgenommen zu werden.
punkt für Michel Roths Kammeroper Im Bau           Im Mittelteil durchbricht das Wesen die Gren-
auf Kafkas fragmentarischen Text ist das Höh-      ze der Moosdecke, tritt ins Freie, atmet frische
lensystem eines Fuchses oder Maulwurfs, der        Luft, die Elektronik verstummt. Doch hier fühlt
im Glauben, seinen Bau abschirmen zu müs-          es sich verloren, bedroht und kehrt in den Bau
sen, ruhelos durch die Gänge schweift und sei-     zurück. Nun stellt sich dort aber ein unfass-
ne Gefühle eifrig kommentiert. Die Sängerin        bares Geräusch ein. Der präzis formulierende
verkörpert in diesem Monodram das Tier, das        Kafka wird gezielt unscharf. Das irritierende
Ensemble vermittelt die Akustik der Räume.         Pfeifen erinnert an Erfahrungen mit Tinnitus,
Im Burgplatz, verkörpert durch das tonnen-         wie sie auch der Komponist machen musste:
schwere Klavier, begegnen wir Hall-Klängen;        «Seine Wahrnehmung ist ähnlich wie bei Kafka,
der Flügel hat etwas Bergendes, umhüllt als        extrem nah und doch entrückt. Es wirkt wie ein
Resonanzraum die Sängerin. Gleichzeitig ist        Filter. Autosuggestion hat mir geholfen, so wie
er aber auch Gegenspieler und kann die Stim-       dieses Wesen jeweils für kurze Zeit beruhigt
me verzerren oder gar (akustisch) verschlu-        einschläft, nachdem es eine vorläufige Erklä-
cken. Im Labyrinth der Gänge herrscht be-          rung des Phänomens gefunden hat. Ich suchte
drohliche Enge; hier dominiert ein Tappen in       nach einem ähnlichen Klangphänomen, diffus
gleitenden Celloklängen; die enge Röhre der        und bohrend zugleich, und kam darauf, dass
Oboe schliesslich steht für die Moosdecke, die     man mit meinem ungewöhnlichen Beschal-
Grenze zur Oberwelt.                               lungssystem im Innenraum der Instrumente
Raum und Klang werden durch Live-Elektronik        gezielte Rückkopplungen erzeugen konnte.
mitgestaltet. Der Beginn ist noch ­Raum-los, die   Dies sind ja auch Töne ohne Ort, schwer loka-
Sängerin unsichtbar. Die knackenden, kaum zu       lisierbar und scheinbar ohne Ursprung – das
ortenden Geräusche bilden den doppelten Bo-        System erzeugt sie von selbst. Doch verwende
den: Man spürt das Unheimliche, fühlt sich be-     ich nicht Rückkopplungen, wie man sie beim
engt, desorientiert wie das Wesen im Bau. Die      Soundcheck störend erlebt, sondern solche, die
Ensemble-Besetzung bringt unterschiedliche         äusserst subtil gestaltbar sind.»
Resonanzkörper mit sich, in welche einzelne        Nach der Rückkehr in den Bau kommen wieder
Klänge der Sängerin hinein projiziert werden:      die Klangprojektionen, nun jedoch stellen­weise
Im Innern der Oboe ist es ein rohrförmiger Laut-   live von der Sängerin in die Instrumente hinein
sprecher, wie er von Rapmusikern zur Manipu-       «gesungen». Das Wesen streift ­erneut durch
lation ihrer Stimme benutzt wird, bei Violoncel-   Moosdecke, Labyrinth und Burgplatz, doch das
lo und Klavier ein Kontaktlautsprecher, der den    Gefühl von Vertrautheit kann gar nicht mehr
Korpus in Schwingung versetzt und so zu einem      aufkommen, da sich immer jener Ton dazwi-
riesigen Lautsprecher umfunktioniert. Dabei        schen stellt, der nun von den ­Interpreten selbst
sind die projizierten ­Gesangspartien «Modula-     moduliert wird: Öffnet man ­beispielsweise die

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Oboen-Klappen, beeinflusst das die Rückkopp-        auf der Bühne zurückbleiben. Das Ensemble
lung, und wenn sich die Sängerin den Instru-        tritt in den Zuschauerraum: man ist als Publi-
menten nähert, steuert sie ihrerseits die Klänge.   kum nun in derselben Situation wie das Wesen,
Wie in neurotischem Zwang muss Kafkas Tier          umgeben von Klängen, deren Herkunft und Ort
seine Schritte begründen, ja geradezu vertei-       man nicht genau eruieren kann. Die Auswahl
digen. Auch Michel Roth gibt sich ständig Re-       der Variantinstrumente orientierte sich an ih-
chenschaft: «Ich benutzte in diesem Stück nicht     rem fremdartigen Klang, der allerdings durch
nur Materialvorordnungen, sondern auch eine         ähnliche Spieltechniken wie beim Hauptinstru-
Art Ethik, die mir bestimmte künstleri­sche         ment zustande kommt. Letztere bleiben also
Handlungsweisen aufzwingt und ungewöhn-             nicht nur verlassen auf der Bühne zurück, sie
liche Entscheidungsprozesse auslöst. Ich wollte     verlieren auch charakteristische Wesenszüge,
mich beim Komponieren selbst in die Enge            etwa wenn die Melodica das Klavier ersetzt und
meines eigenen Baus treiben und schränkte           dessen typische Anschlags- und Ausklangs-
meinen kreativen Spielraum bewusst so weit          charakteristik aufhebt. Dadurch soll die Uto-
wie möglich ein.» Kafkas Protagonist bemerkt        pie der Stille zum ‹Unort› werden, entfremdet,
einmal: «Freilich manche List ist so fein, dass     denaturiert, tot.»
sie sich selbst umbringt.» Auch der Komponist       Das Ende ist bewusst offen gehalten. Da-
muss sich vor der eigenen Raffinesse schüt-         rauf spielt auch der Titel an: Im Bau ist dop-
zen, um Freiheit zu bewahren. Oftmals sind es       peldeutig und bezeichnet den Aufenthalt im
vertrackte Umwege, die etwas ganz Einfaches         Gebäude und den prozesshaften Vorgang des
ermöglichen: «Ich bin mir bewusst, dass dies        Bauens, der in dieser Geschichte wohl nie zu
auch eine Art Selbstüberlistung ist, um in einen    einem Ende kommen wird. Die Erzählung ist
kreativen Prozess hinein zu kommen. Es kann         bezeichnenderweise ein Fragment, wobei man
aber durchaus geschehen, dass ich dann die          nicht weiss, ob Kafka einfach aufgehört hatte
ausgeklügelten Methoden im Stück gar nicht          oder der Schluss bloss verloren gegangen ist.
verwende oder zumindest nicht konsequent. Im        Der letzte Satz «Aber alles blieb unverändert,
Unterschied zu diesem Wesen glaube ich nicht        das …» steht an einem Seitenende, so dass es
an den perfekten Bau.»                              wahrscheinlich ist, dass zumindest dieser Satz
Dieser würde in Kafkas Erzählung einen Bau          auf einer unbekannten Folgeseite noch zu Ende
im Bau bedeuten, mit absoluter Stille. Doch         geschrieben wurde.
dies bleibt ein utopisches Ziel – im doppelten
Sinne. Das Wesen kann diesen Raum nicht bau-
en und es würde ihn auch nicht bewohnen wol-        Auch in Alfred Zimmerlins Ana Andromeda
len, sondern lieber im Zwischenraum die Stille      stand eine Raum-Vorstellung am Anfang: In
von dessen Innerem bewachen – diese Passa-          der Mitte die Szene, das Publikum ringshe-
ge zählt zu Roths prägendsten literarischen         rum, links und rechts zwei Schattenensem-
Erfahrungen, weshalb er einzig hier in Kafkas       bles. Auch hier kommt es zu zuvor nie gehörten
Dramaturgie eingegriffen hat und sie erst kurz      ­Klängen als Ausdruck eines in der Unwirklich-
vor Schluss des Stücks bringt. Nun wechselt          keit schwebenden Zeit-Raums: dem Zustand
das Instrumentarium allmählich zu Lupophon           zwischen Leben und Tod. Während Im Bau in
(Bassoboe), Singender Säge und Melodica:             15 Szenen das Wesen bei seiner Bautätigkeit
«Ich wollte, dass die Hauptinstrumente am            und seinen Reflektionen begleitet und Aktivi-
Ende wie tote Hüllen oder verlassene Räume           tät und Ruhe, Getriebensein und Schlaf dem
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­ ibretto eine eigene Zeitstruktur geben, die
L                                                  Von dort her erklingt auch der Chor – nicht all-
­einer ­vegetativen, instinktiven Dramaturgie      wissend wie in der griechischen Tragödie, son-
folgt, so bleibt die äussere Handlung in Andro-    dern als involviert Teilnehmender: ein Flüster-
meda stehen, um einer inneren Platz zu geben:      chor als Verbindung zum Hier und Jetzt, einmal
Im inneren Monolog gleitet sie in sieben Bildern   Gaffer, beim Auftauchen der Mutter als Geister-
rückwärts, wie in einer Psychoanalyse. Das Le-     chor und Klangraum. Anders als Michel Roth
ben zeigt sich als Abfolge von Beziehungen, die    verzichtet Zimmerlin auf Live-Elektronik und
auch die Erinnerung prägen: erfüllte Liebe, ein    arbeitet mit vorbereiteten Tonträger-Zuspie-
Unglücksfall, Jugend, erste Liebe, Kindheit und    lungen. Das Ensemble wird so zu mehreren
Geburt. Tod und Wiedergeburt in der Metamor-       Ensembles vervielfacht; gleichzeitig verschie-
phose zum Sternbild treffen sich.                  ben sie sich durch einen Vergrösserungskanon
Die zyklische Wiederkehr wird auch in der Be-      allmählich in der zeitlichen Achse und durch
setzung angedeutet. Der Flüsterchor des An-        ein langsames Glissando über mehrere Takte
fangs erscheint in den letzten Bildern wieder,     auch in ihrer Vertikalstruktur. Hier kommt es zu
ebenso ein spezielles Instrument, das wir be-      einem mikroskopischen Gleiten um einen Vier-
reits bei Roth kennen gelernt haben: das Lu-       tel-, Sechstel- resp. Achtelton; auch die Ober-
pophon, eine Bass-Oboe, die erst in den letzten    töne 7 bzw. 11 werden angesteuert. Akkorde
Jahren erfunden wurde. Zimmerlin schildert         laufen auseinander, Frequenzkonflikte ent-
es als introvertiert, lyrisch, verinnerlicht; im   stehen und Zimmerlin schafft eine Klangqua-
Klang zwischen Englischhorn und Sopransa-          lität des Ensembles, die man noch nicht kennt.
xophon, mit viel Wärme und einem ausserge-         Durch die Verschiebungen zwischen dem Live-
wöhnlichen hohen Register.                         Ensemble und den Zuspielungen resultieren
Erinnerung ist der bestimmende Gestus: lyri­       Resonanzen, Schwebungen und Interferenzen,
sche Momente, die festgehalten werden, psy-        gar Auslöschungen.
chische Situationen, innere Zustände wie Ver-      Mit Michel Roth hat es bewusst keine Abspra-
trauen, Auflehnung, Geborgenheit. Rein linear      chen gegeben, ausser: es galt zu reagieren auf
ist dies nie: Assoziationen führen zu Vorerin-     Kafka, sich abzuheben von einer «Literaturo-
nerungen, Rückblenden. Der entscheidende           per» die ins Tiefe hinein führt. Das Original-
­Moment des Unfalls, wo es aus Ana heraus-         libretto der Dichterin Ingrid Fichtner betonte
 bricht, wird etwa schon im Vorspiel vorweg ge-    bereits im Arbeitstitel Ins Licht die Gegenbe-
 nommen. Bevor Ana selbst auftritt, lässt der      wegung. Wenn Zimmerlin die neutrale Bezeich-
 Komponist ihre Stimme von einem Tonträger         nung 7 lyrische Bilder als Untertitel wählt,
 zugespielt aus einem Lautsprecher erklingen:      spielt er mit der Form der Nummernoper, bei
 Ana wird aufgespalten, verdoppelt sich in Büh-    der sich die Bilder attacca folgen. Jedes Bild
 nengestalt und Alter Ego. Ihre Sprache kreist     hat seinen eigenen Klang. Einmal stehen Stim-
 um zentrale Begriffe wie Liebe, Glauben, im       me und Klavier im Vordergrund, dann struktu-
 Duktus zögerlich, nachdenklich. Ihr zweites Ge-   rieren Einspielungen. «Letztlich muss es gutes
 genüber ist Per, der das männliche Element        Theater geben, es kann nicht um die Selbst-
 verkörpert, die Erinnerungen kommentiert          verwirklichung des Komponisten gehen, wie
 und gliedert. Anders als der mythische Per-       das vielleicht in einem abstrakten Instrumen-
 seus nimmt dessen Aktualisierung Per Anteil,      talstück der Fall sein könnte. Die Musik hat
 denkt mit. Er spricht eine nüchterne Sprache,     eine Funktion im Hinblick auf ein Ganzes, ein
 aus dem Off.                                      Amalgam von Text, Klang, Bild. Jetzt verlangt
                                                                                                 7
das Stück den grossen Raum, jetzt muss er          auf einen neuen Ausdruck hin transformiert
eng werden, zusammengezogen auf ein Duo.           werden.» Eine Metamorphose, wie in Andro-
Oder jetzt braucht es eine junge Stimme, ver-      medas letztem Bild – das ist eine Grundkon-
doppelt durch das Cello, senza Vibrato, um die     stante in Zimmerlins Komponieren: integrativ
Farbe der Singstimme zu ändern, etwas An-          mitnehmen, was schon da war und transportie-
drogynes im Mischklang zu erhalten und sozu-       ren in einen neuen Ausdrucksraum. Einen As-
sagen das Kind zu stützen. Das sind Theater-       pekt nehmen und ihn umformulieren. Auch dies
Entscheidungen. So lasse ich mich durchaus         hat viel mit Erinnerung zu tun. Und damit, dass
durch eine Auseinandersetzung mit Konven-          Erinnerungen durch das Erinnern selbst sich
tionen des Musiktheaters herausfordern. Da-        verändern. Erinnerung ist nie identisch mit dem
bei soll aber ein neuer, so noch nie erlebter      was war. Ana Andromeda ist die Reaktion auf
Ausdrucksraum entstehen. Wenn schon Um-            einen Mythos, der durch Erinnerung transfor-
gang mit Konvention, dann wagemutig, ja wag-       miert wird in eine Erinnerung von und für heute.
halsig; ich muss alles riskieren dabei, sonst
kann das Neue sich nicht ereignen. Wir befin-      Thomas Gartmann
den uns heute in einer ästhetischen Situation,     (Erstpublikation im Programmheft des Lucerne
wo so viel möglich ist, wo so viel Vergangenes     Festivals zur Uraufführung vom 14. 9. 2012)
auch Gegenwart ist. Barockoper ist Gegenwart
wie eine Beethoven-Sinfonie, Bergs Lyrische
Suite, wie John Lee Hooker, Harrison Birtwistle
oder John Coltrane. Einerseits ist das wunder-     Tief unter die Haut gingen die zwei von Georges
bar, wenn einem so unglaublich viel zur Ver-       Delnon inszenierten Musiktheaterwerke: Mit
fügung steht, andererseits auch unheimlich         ausgeklügeltem Einsatz elektronischer Mit-
schwierig; man hat heute nicht einfach irgend      tel und kaum verortbaren Klängen hat Michel
ein Kompositions-System zur Verfügung, son-        Roth 15 «Klangräume» für Kafkas Fragment
dern jeder muss selber seinen Weg finden. Das      «Im Bau» geschaffen, das den hoffnungslosen
ist eine zentrale Frage des heutigen Kompo-        Versuch schildert, in einer Art Superreduit Si-
nierens: wie kann ich selber kompositorische       cherheit und Frieden zu finden. Vom Revier
Verbindlichkeit schaffen, wo keine verbindliche    unheildräuender Paranoia wandelte sich die
Werte mehr gelten. Ich hoffe, dass Andromeda       in rötlichen Schummertönen gehaltene Büh-
eine persönliche Antwort darauf ist.»              ne dann mit wenigen Griffen zu einem Be-
Auseinandersetzung mit Konvention? In Ana          schwörungsort des Eros der Erinnerung: als
Andromeda stellte sich dem Komponisten die         Ort für Alfred Zimmerlins «Ana Andromeda»
alte Frage nach dem Affekt. Wie weit kann man      nach einem Text von Ingrid Fichtner. In bezwin-
hier an Grenzen gehen? Kann man heute noch         gener Klangsinnlichkeit wird hier das Leben
mit Affekt arbeiten? Wer Ja sagt zum Erzählen      einer Frau rückwärts erzählt – mit grösstem
einer Geschichte, wo die Sängerin ihre Texte       Engagement und Können vom Ensemble æqua-
singt, sagt auch Ja zum Affekt. Affekt ist etwas   tuor und der herausragenden Sängerin Anne-
Komplexes, spaltet sich in eine Vielfalt von Af-   May Krüger umgesetzt.»
fekten. «Es ist mir ganz zentral auch darum
gegangen, gleichsam das Belcanto neu zu er-        Tobias Rothfahl im «Tages Anzeiger» vom 17. 9. 2011 über die
                                                   Uraufführung von «Lost Circles» in Luzern (14. 9. 2012)
finden, aus dem Kontext des Stücks heraus,
unter Verwendung vertrauter Elemente, die
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Im Bau – zum Inhalt
Fünfzehn Klangräume nach einem Textfragment von Franz Kafka

1. Raum (Prolog)                                   5. Raum (Labyrinth)
Das Wesen, Fuchs oder Maulwurf, erzählt von        Auf dem Weg zum Ausgang legte das Tier an-
der Entstehung seines Baus, besonders von der      fänglich ein Labyrinth an, um seine Feinde
Tarnung des Zugangs, die nicht sicher genug        «zu ersticken – in Wirklichkeit aber eine viel
scheint. «Das weiss ich wohl und mein Leben        zu dünnwandige Spielerei darstellt, die einem
hat selbst jetzt auf seinem Höhepunkt kaum         ernsten Angriff oder einem verzweifelt um sein
eine völlig ruhige Stunde.»                        Leben kämpfenden Feind kaum widerstehen
                                                   wird.»
2. Raum (Im Bau)
Im innersten des Baus findet das Tier zwar         6. Raum (Unter der Moosdecke)
Ruhe und Sicherheit, doch ist es ständig mit der   Das Wesen fühlt sich schon in der Nähe des
Bedrohung von sich heran grabenden Räubern         Ausgangs schutzlos. Trotzdem kehrt es im-
konfrontiert. Der Bau gerät angesichts dieser      mer wieder dorthin zurück, durchbricht dies-
unterirdischen Jäger zur Falle: «Vor ihnen ret-    mal sogar die schützende Moosdecke und tritt
tet mich auch mein Bau nicht, wie er mich ja       ins Freie. In seinen Gedanken bleibt es aber
wahrscheinlich überhaupt nicht rettet, sondern     weiterhin in ihm gefangen, denn «zu viel be-
verdirbt, aber eine Hoffnung ist er.»              schäftigt mich der Bau.»

3. Raum (Schlaf)                                   7. Raum (Im Freien)
«Das schönste an meinem Bau ist seine Stille»,     Ausserhalb des Baus will das Tier die Sicher-
sagt das Wesen und sinkt in diesen Momenten        heit seines Baus überprüfen und beobachten,
beruhigt in einen tiefen Schlaf.                   ob allfällige Feinde überhaupt den versteckten
                                                   Eingang unter der Moosdecke wittern. «Es gibt
4. Raum (Burg-Platz)                               glückliche Zeiten, in denen ich mir fast sage,
Im Zentrum des Baus steht der Burg-Platz, der      dass die Gegnerschaft der Welt gegen mich
mit höchster physischer Anstrengung dem Bo-        vielleicht aufgehört oder sich beruhigt habe
den abgerungen wurde. Neben Träumen von            oder dass die Macht des Baues mich heraus-
einem perfekten Bau kommen immer wieder            hebe aus dem bisherigen Vernichtungskampf.»
Zweifel auf, «einigemale wollte ich in der Ver-
zweiflung körperlicher Ermüdung von allem          8. Raum (Der Vorposten)
ablassen, wälzte mich auf den Rücken und           Gedanken über ein Leben dauerhaft ausser-
fluchte dem Bau, schleppte mich hinaus und         halb des Baus gefolgt von Gefühlen der Ver-
liess den Bau offen daliegen, bis ich dann nach    lorenheit. «Vertrauen kann ich aber nur mir
Stunden oder Tagen reuig zurückkam und fast        und meinem Bau.» Vision eines siegreichen
einen Gesang erhoben hätte über die Unver-         Kampfes mit dem Verderber und einer end-
letztheit des Baus.»                               gültigen Rückkehr in den Bau.

                                                                                               9
9. Raum (Schwierige Rückkehr)                        14. Raum (Der Bau im Bau)
Trotz verschiedener Versuche kommt das We-           Vision eines Baus im Bau: «... den Burgplatz
sen von seinem Bau nicht los. «Den Eingang in        loszulösen von der ihn umgebenden Erde, bis
Kreisen zu umstreichen wird meine Lieblings-         auf ein kleines leider nicht loslösbares Funda-
beschäftigung, es ist schon fast so, als sei ich     ment einen Hohlraum zu schaffen. Hier hatte
der Feind und spioniere die passende Gelegen-        ich mir immer den schönsten Aufenthaltsort
heit aus um mit Erfolg einzubrechen.»                vorgestellt, den es für mich geben könnte. Auf
                                                     dieser Rundung hängen, hinauf sich ziehen, hi-
10. Raum (Schlaf)                                    nab zu gleiten, sich überschlagen und wieder
Endlich Rückkehr unter die Moosdecke. «Aus           Boden unter den Füssen haben und alle die-
der Oberwelt bin ich wieder in meinen Bau ge-        se Spiele förmlich auf dem Körper des Burg-
kommen und ich fühle die Wirkung dessen so-          platzes spielen und doch nicht in seinem ei-
fort. Es ist eine neue Welt, die neue Kräfte gibt.   gentlichen Raum, sondern ihn förmlich fest
Ich ziehe die Moosdecke über mir zu.»                zwischen den Krallen halten. Dann gäbe es
                                                     keine Geräusche in den Wänden, keine fre-
11. Raum (Ein Zischen oder Pfeifen)
                                                     chen Grabungen bis an den Platz heran, dann
Doch der Bau hat sich in der Zwischenzeit
                                                     wäre dort der Friede gewährleistet, das Rau-
verändert: «Ein kaum hörbares Zischen oder
                                                     schen der Stille, und ich wäre sein Wächter.»
­Pfeifen weckt mich.» Spekulationen über des-
 sen Ursache, «manchmal glaube ich, niemand          15. Raum (Epilog)
 ­ausser mir würde es hören.» Stundenlanges          Rastlos streift das Tier weiter durch seinen Bau
  Beobachten, Horchen, Umhergehen, Probegra-         und sucht erfolglos nach der Quelle des undefi-
  bungen, doch «unerschüttert zischt es dort weit    nierbaren Geräuschs. «Wenn das Tier mich ge-
  in der Ferne.                                      hört hätte, hätte doch auch ich etwas davon be-
                                                     merken müssen, es hätte doch wenigstens in
12. Raum (Unter der Moosdecke)
                                                     der Arbeit öfters innehalten müssen und hor-
Zunehmend panische Angst vor der unbe-
                                                     chen, aber alles blieb unverändert».
kannten Bedrohung. Zeitweilige Rückkehr un-
ter die Moosdecke. Dort herrscht «tiefe Stille.
Wie schön es hier ist, niemand kümmert sich
um meinen Bau, jeder hat seine Geschäfte, die
keine Beziehung zu mir haben, wie habe ich es
angestellt das zu erreichen.»

13. Raum (Verständigung)
Fragen einer möglichen Verständigung mit
dem unsichtbar zischenden Wesen. Doch
«selbst wenn es ein so sonderbares Tier wäre
dass sein Bau eine Nachbarschaft vertragen
würde, mein Bau verträgt sie nicht.»

10
Ana Andromeda – zum Inhalt
Sieben lyrische Bilder auf einen Text von Ingrid Fichtner

Die Personen                                                   Bild 3: Ana schwelgt zuerst im Zustand der lei-
Ana….............................................Mezzosopran   sen Glückseligkeit, leidet jedoch unter der
Per................................Sprechrolle, zugespielt     fehlen­den Liebe der Mutter, könnte sich von
Die Mutter...........................Sopran, zugespielt        Per geliebt und gestützt fühlen, zweifelt aber
[Flüsterchor]                                                  auch an sich selber, an ihrer Fähigkeit zu lie-
                                                               ben, an ihrer Fähigkeit zu glauben, an ihrer Fä-
Synopsis                                                       higkeit zu verstehen.
Ana Andromeda beschreibt in einem Bogen
vom schwebenden Moment des Todes zurück                        Bild 4: Ana erlebt einen tiefen Einschnitt in ihr
bis in die Kindheit das Leben Anas, sodass am                  Leben, überlebt einen Unfall, ein Unglück, das
Ende der Tod als in die Geburt mündend gese-                   sie über das Leben, den Sinn des Lebens, über
hen werden kann, beide sich bündeln, ineins                    Schuld und über den Tod nachdenken lässt
fallen. In sieben Bildern spiegelt sich die Erfah­             («Kann der Tod denn täuschen?»).
rung von Liebe, von Unheil, von Unglück, von
                                                               Bild 5: Ana befindet sich in einem Zustand des
Enttäuschung, von Geborgenheit, von Unge-
                                                               Übergangs, nun der Jugend, in einem Zustand
wissheit, von Zweifeln. Ist das Leben nur ein
                                                               der Ablehnung und Auflehnung, der Loslösung.
Zwischenspiel, kurze Unterbrechung des Nicht­
                                                               Sie möchte den Schrecken der beherrschen-
seins, so unbegreiflich wie der Tod – ein Au-
                                                               den, egoistischen Mutter hinter sich lassen, sie
genblick aufgehoben in der «Ewigkeit» wie die
                                                               möchte vergessen, sie muss sie verlassen.
Geschichte der Andromeda im Sternbild am
Himmel?                                                        Bild 6: Ana erlebt eine unbelastete, ihre erste
                                                               Liebe, die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit,
Die Bilder
                                                               vielleicht sogar Verrücktheit solch einer ersten
Bild 1: Ana liegt im Sterben, ihr Tod wird er-
                                                               Liebe. Dann aber sieht sie sich doch auch schon
wartet, gewünscht, befürchtet. Ihr Leben be-
                                                               einer inneren Leere ausgesetzt, die sich in der
ginnt sich aufzutun, rückt sie, rückt sich ins
                                                               missbrauchten, verwüsteten Natur spiegelt.
Licht. Ana «kehrt ins Leben ein» (nicht zurück),
vielleicht wie man ein fremdes Haus betritt –                  Bild 7: Ana ist in ihre Kindheit, und dadurch in
langsam, zögernd, vorsichtig, respektvoll.                     die Fröhlichkeit und Geborgenheit, die ihr der
                                                               Vater vermittelt hat, zurückversetzt – bis hin
Bild 2: Ana begegnet der Liebe, ist im grossen
                                                               zum Moment der Geburt, der bereits das Ge-
Zustand der tragenden, der gelingenden Lie-
                                                               heimnis der Versetzung in eine andere Welt
be, ganz von ihr erfasst – und zugleich voller
                                                               birgt und zugleich an den Anfang, zum ersten
Zweifel: der Andere, auch der geliebte Andere,
                                                               Bild, zum Moment des Todes zurückführt. Der
bleibt immer unfassbar.
                                                               Kreis hat sich geschlossen.

                                                                                                             11
12
Im Bau – Text
Fünfzehn Klangräume nach einem Textfragment von Franz Kafka
Libretto: Michel Roth
Anmerkung: Die originale Interpunktion wurde weitgehend belassen.

1. Raum (Prolog)                                            2. Raum (Im Bau)
Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint                Im innersten meines Baues lebe ich in Frieden.
wohlgelungen.                                                Doch inzwischen bohrt sich langsam und still
                                                            der Gegner von irgendwoher an mich heran,
Von aussen ist eigentlich nur ein grosses Loch              ich will nicht sagen, dass er bessern Spürsinn
sichtbar, dieses führt aber in Wirklichkeit nir-            hat als ich, vielleicht weiss er ebenso wenig von
gends hin, ich will mich nicht dessen rühmen                mir wie ich von ihm, aber es gibt leidenschaft-
diese List mit Absicht ausgeführt zu haben, es              liche Räuber, die blindlings die Erde durchwüh-
war vielmehr der Rest eines der vielen vergeb-              len und bei der ungeheueren Ausdehnung
lichen Bauversuche, aber schliesslich schien                meines Baues haben selbst sie Hoffnung ir-
es mir vorteilhaft.                                         gendwo auf einen meiner Wwege zu stossen,
                                                            freilich ich habe den Vorteil in meinem Haus zu
Freilich manche List ist so fein, dass sie sich
                                                            sein, alle Wege und Richtungen genau zu ken-
selbst umbringt, und es ist gewiss auch kühn,
                                                            nen, der Räuber kann sehr leicht mein Opfer
durch dieses Loch überhaupt auf die Möglich-
                                                            werden und ein süss schmeckendes, aber ich
keit aufmerksam zu machen, dass hier etwas
                                                            werde alt, es gibt viele die kräftiger sind als ich
Nachforschungswertes vorhanden ist.
                                                            und meiner Gegner gibt es unzählige, es könnte
Doch verkennt mich wer glaubt dass ich feige                geschehn, das ich vor einem Feind fliehe und
bin und etwa nur aus Feigheit meinen Bau an-                dem andern in die Fänge laufe, ach was könnte
lege. Wohl tausend Schritte von diesem Loch                 nicht alles geschehn, jedenfalls muss ich die
entfernt liegt von einer Moosschicht verdeckt               Zuversicht haben, dass irgendwo vielleicht ein
der eigentliche Zugang zum Bau. Gewiss, es                  leicht erreichbarer, völlig offener Ausgang ist,
kann jemand auf das Moos treten. Wer Lust hat               wo ich, um hinauszukommen, gar nicht mehr
kann eindringen und für immer alles zerstören.              zu arbeiten habe, so dass ich nicht etwa, wäh-
                                                            rend ich dort verzweifelt grabe, sei es auch in
In meinen Träumen schnuppert dort eine lü-                  leichter Aufschüttung, plötzlich – bewahre mich
sterne Schnauze unaufhörlich herum.                         der Himmel – die Zähne des Verfolgers in mei-
                                                            nen Schenkeln spüre.
Das weiss ich wohl und mein Leben hat selbst
jetzt auf seinem Höhepunkt kaum eine völlig                 Es gibt auch Feinde im Innern der Erde, ich
ruhige Stunde.                                              habe sie noch nie gesehn, aber ich glaube fest
                                                            an sie. Es sind Wesen der innern Erde, selbst
An jener Stelle im dunklen Moos bin ich sterb-
                                                            wer ihr Opfer geworden ist hat sie kaum ge-
lich.
                                                            sehn, sie kommen, man hört das Kratzen ihrer
                                                            Krallen knapp unter sich in der Erde, die ihr

                                                                                                            13
Element ist, und schon ist man verloren. Hier       Tränen der Freude und Erlösung glitzern noch
ist man in ihrem Haus.                              an meinen Barthaaren, wenn ich erwache.

Vor ihnen rettet mich auch mein Bau nicht, wie
                                                    5. Raum (Labyrinth)
er mich ja wahrscheinlich überhaupt nicht ret-
                                                    Wenn ich mich dem Ausgang nähere, hat es
tet, sondern verdirbt, aber eine Hoffnung ist er.
                                                    immer eine gewisse Feierlichkeit.
Ich kann ohne ihn nicht leben.
                                                    Ich weiche ihm aus, vermeide sogar den Gang,
                                                    der zu ihm führt in seinen letzten Ausläufern
3. Raum (Schlaf)
                                                    zu begehn, es ist auch gar nicht leicht dort he-
Das schönste an meinem Bau ist seine Stille.
                                                    rumzuwandern, denn ich habe dort ein kleines
Stundenlang kann ich durch meine Gänge              tolles Zickzackwerk von Gängen angelegt; dort
schleichen und höre nichts als manchmal das         fing mein Bau an, ich durfte damals noch nicht
Rascheln irgendeines Kleintiers, das ich gleich     hoffen ihn je so beenden zu können, wie er in
zwischen meinen Zähnen auch zur Ruhe                meinem Plane dastand, ich begann halb spie-
bringe.                                             lerisch an diesem Eckchen und so tobte sich
                                                    dort die erste Arbeitsfreude in einem Labyrin-
Von Zeit zu Zeit schrecke ich auf und lausche,
                                                    thbau aus, der mir damals die Krone aller Bau-
lausche in die Stille, die hier unverändert
                                                    ten schien, den ich aber heute wahrscheinlich
herrscht bei Tag und Nacht, lächle beruhigt und
                                                    richtiger als allzu kleinliche, des Gesamtbaues
sinke mit gelösten Gliedern in noch tiefern
                                                    nicht recht würdige Bastelei beurteile, die zwar
Schlaf.
                                                    theoretisch vielleicht köstlich ist – hier ist der
                                                    Eingang zu meinem Haus, sagte ich damals
4. Raum (Burg-Platz)
                                                    ironisch zu den unsichtbaren Feinden und sah
Mit der Stirn bin ich tausend und tausend Mal
                                                    sie sämtlich schon im Eingangslabyrinth ersti-
tage- und nächtelang gegen die Erde ange-
                                                    cken – in Wirklichkeit aber eine viel zu dünn-
rannt, war glücklich wenn ich sie mir blutig
                                                    wandige Spielerei darstellt, die einem ernsten
schlug, denn dies war ein Beweis der begin-
                                                    Angriff oder einem verzweifelt um sein Leben
nenden Festigung der Wand, und habe mir auf
                                                    kämpfenden Feind kaum widerstehen wird.
diese Weise, wie man mir vielleicht zugeste-
hen wird, meinen Burgplatz wohl verdient. Ei-       Einem wirklich grossen Angriff muss ich gleich
nigemale wollte ich in der Verzweiflung kör-        mit allen Mitteln des Gesamtbaues und mit al-
perlicher Ermüdung von allem ablassen,              len Kräften des Körpers und der Seele zu be-
wälzte mich auf den Rücken und fluchte dem          gegnen suchen.
Bau, schleppte mich hinaus und liess den Bau
offen daliegen, bis ich dann nach Stunden oder      6. Raum (Unter der Moosdecke)
Tagen reuig zurückkam und fast einen Gesang         Gehe ich nur in der Richtung zum Ausgang ist
erhoben hätte über die Unverletztheit des Baus.     mir manchmal als verdünne sich mein Fell, als
                                                    könnte ich bald mit blossem kahlen Fleisch da-
Manchmal träume ich, ich hätte ihn umgebaut,
                                                    stehn.
ganz und gar geändert, schnell, mit Riesenkräf-
ten, in einer Nacht, von niemandem bemerkt          Dann bin ich unter der Moosdecke. Nur noch
und nun sei er uneinnehmbar, der Schlaf in dem      ein Ruck des Kopfes ist nötig und ich bin in der
mir das geschieht ist der süsseste von allen,       Fremde.

14
Aber schon bin ich draussen und jage, so schnell    Hätte ich doch irgendjemanden, dem ich ver-
ich kann, weg von dem verräterischen Ort.           trauen könnte, den ich auf meinen Beobach-
                                                    tungsposten stellen könnte.
Im Freien bin ich nun eigentlich nicht, zwar drü-
cke ich mich nicht mehr durch die Gänge, son-       Vertrauen kann ich aber nur mir und meinem
dern jage im offenen Wald, fühle in meinem          Bau.
Körper neue Kräfte, für die im Baue gewisser-
massen kein Raum ist, das leugne ich nicht.         Nein, ich beobachte doch nicht wie ich glaubte
                                                    meinen Schlaf, vielmehr bin ich es der schläft,
Doch zu viel beschäftigt mich der Bau.              während der Verderber wacht. Wenn er doch
                                                    jetzt käme, wenn er doch daran zu arbeiten be-
7. Raum (Im Freien)                                 gänne, das Moos zu heben, wenn er doch sich
Ich belauere den Eingang meines Hauses. Es          flink hineinzwängte, damit ich endlich in einem
macht mir eine unsagbare Freude, mehr noch,         Rasen hinter ihm her, frei von alle Bedenken ihn
es beruhigt mich. Mir ist dann, als stehe ich       anspringen könnte, ihn zerbeissen, zerfleischen,
nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst,      zerreissen und austrinken und seinen Kadaver
während ich schlafe, und hätte das Glück            gleich zur andern Beute stopfen könnte, vor
gleichzeitig tief zu schlafen und dabei mich        allem aber, das wäre die Hauptsache, endlich
scharf bewachen zu können. Ich bin gewisser-        wieder in meinem Bau wäre, gern diesmal so-
massen ausgezeichnet, die Gespenster der            gar das Labyrinth bewundern wollte, zunächst
Nacht nicht nur in der Hilflosigkeit und Ver-       aber die Moosdecke über mich ziehen und ru-
trauensseligkeit des Schlafes zu sehen, son-        hen wollte, ich glaube, den ganzen noch üb-
dern ihnen gleichzeitig in Wirklichkeit bei vol-    rigen Rest meines Lebens.
ler Kraft des Wachseins zu begegnen.
                                                    Aber es kommt niemand und ich bleibe auf mich
Hier gibt es viele Feinde, aber sie bekämpfen
                                                    allein angewiesen.
sich auch gegenseitig und jagen in diesen Be-
schäftigungen am Bau vorbei. Es gibt glück-
                                                    9. Raum (Schwierige Rückkehr)
liche Zeiten, in denen ich mir fast sage, dass
                                                    Ich war nicht ganz fern von dem Entschluss in
die Gegnerschaft der Welt gegen mich vielleicht
                                                    die Ferne zu gehn, das alte trostlose Leben wie-
aufgehört oder sich beruhigt habe oder dass
                                                    der aufzunehmen, das keine Sicherheit hatte,
die Macht des Baues mich heraushebe aus dem
                                                    das eine einzige ununterscheidbare Fülle von
bisherigen Vernichtungskampf.
                                                    Gefahren war und die einzelne nicht so genau
Der Bau schützt vielleicht mehr, als ich im In-     sehen und fürchten liess, wie es mich der Ver-
nern des Baues zu denken wage.                      gleich zwischen meinem sicheren Bau und dem
                                                    sonstigen Leben immerfort lehrt.
8. Raum (Der Vorposten)
                                                    Den Eingang in Kreisen zu umstreichen wird
Manchmal bekomme ich den kindischen
                                                    meine Lieblingsbeschäftigung, es ist schon fast
Wunsch überhaupt nicht mehr in den Bau zu-
                                                    so, als sei ich der Feind und spioniere die pas-
rückzukehren, sondern hier in der Nähe des
                                                    sende Gelegenheit aus um mit Erfolg einzubre-
Eingang mich einzurichten, mein Leben in der
                                                    chen.
Beobachtung des Eingangs zu verbringen.
Aber haben denn meine Feinde überhaupt die
richtige Witterung, wenn ich nicht im Bau bin?
                                                                                                 15
10. Raum (Schlaf)                                  ein Weilchen lang glaubt man, das Pfeifen sei
Aus der Oberwelt bin ich wieder in meinen Bau      für immer zu Ende. Es ist als öffnete sich die
gekommen und ich fühle die Wirkung dessen          Quelle, aus welcher die Stille des Baus strömt.
sofort. Es ist eine neue Welt, die neue Kräfte
                                                   Man hütet sich diese Entdeckung gleich nach-
gibt. Ich ziehe die Moosdecke über mir zu.
                                                   zuprüfen, man sucht jemanden dem man sie
                                                   vorher unangezweifelt anvertrauen könnte,
11. Raum (Ein Zischen oder Pfeifen)
                                                   man galoppiert deshalb zum Burgplatz, man
Ein kaum hörbares Zischen oder Pfeifen weckt
                                                   erinnert sich, da man mit allem was man ist zu
mich. Ich habe es gar nicht gehört, als ich kam,
                                                   neuem Leben erwacht ist, dass man schon lan-
trotzdem es gewiss schon vorhanden war; ich
                                                   ge nichts gegessen hat, man reisst irgendet-
musste erst wieder völlig heimisch werden, um
                                                   was von den unter der Erde halb verschütteten
es zu hören. Vielleicht handelt es sich hier um
                                                   Vorräten hervor und schlingt daran noch, wäh-
ein Tier, das ich noch nicht kenne. Es müsste
                                                   rend man zu dem Ort der unglaublichen Ent-
eine grosse Herde sein, die plötzlich in mein
                                                   deckung zurückläuft, man will sich zuerst nur
Gebiet eingefallen wäre. Eine grosse Herde
                                                   nebenbei, nur flüchtig während des Essens von
kleiner Tiere?
                                                   der Sache nochmals überzeugen, man horcht:
Es ist ja nichts, manchmal glaube ich, niemand     unerschüttert zischt es dort weit in der Ferne.
ausser mir würde es hören.
                                                   12. Raum (Unter der Moosdecke)
Sonderbar, das gleiche Geräusch auch hier. Das     Ich will gar nicht behaupten, dass das Tier von
Gleichbleiben an allen Orten stört mich am mei-    mir weiss, mich einkreist, wohl einige Kreise
sten.                                              hat es schon um meinen Bau gezogen, seitdem
                                                   ich es beobachte. Und das Geräusch wird stär-
Was ist es denn? Ein leichtes Zischen, in lan-
                                                   ker, die Kreise enger.
gen Pausen nur hörbar, ein Nichts, an das man
                                                   Wie kam es nur dass so lange Zeit alles still
sich, ich will nicht sagen, gewöhnen könnte,
                                                   und glücklich verlief? Das Glück seines Be-
nein gewöhnen könnte man sich daran nicht,
                                                   sitzes hat mich verwöhnt, die Empfindlichkeit
das man aber, ohne vorläufig geradezu etwas
                                                   des Baues hat mich empfindlich gemacht, sei-
dagegen zu unternehmen, eine Zeitlang beo-
                                                   ne Verletzungen schmerzen mich als wären es
bachten könnte, beobachten, d.h. alle paar
                                                   die meinen.
Stunden gelegentlich hinhorchen und das Er-
gebnis geduldig registrieren, aber nicht wie ich   Ich irre soweit ab, dass ich bis zum Labyrinth
das Ohr die Wände entlangschleifen und fast        komme, es lockt mich an der Moosdecke zu
bei jedem Hörbarwerden des Geräuschs die           horchen. So ferne Dinge. Tiefe Stille. Wie schön
Erde aufreissen, nicht um eigentlich etwas zu      es hier ist, niemand kümmert sich um meinen
finden sondern um etwas der innern Unruhe          Bau, jeder hat seine Geschäfte, die keine Be-
entsprechendes zu tun.                             ziehung zu mir haben, wie habe ich es ange-
Das wird jetzt anders werden, hoffe ich.           stellt das zu erreichen.

Manchmal scheint es mir, als habe das Ge-          Hier an der Moosdecke horche ich stundenlang
räusch aufgehört, es macht ja lange Pausen,        vergebens. Es ist fast, als überliesse ich dem
manchmal überhört man ein Zischen, dann            Zischer schon das Haus.
schliessen sich zwei Pausen zusammen und
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13. Raum (Verständigung)                             Aufenthaltsort vorgestellt, den es für mich ge-
Aber in Wirklichkeit ertrage ich es hier oben        ben könnte. Auf dieser Rundung hängen, hinauf
doch nicht.                                          sich ziehen, hinab zu gleiten, sich überschla-
                                                     gen und wieder Boden unter den Füssen haben
Wie standen die Dinge zuletzt? Das Pfeifen war       und alle diese Spiele förmlich auf dem Körper
schwächer geworden? Nein es war stärker ge-          des Burgplatzes spielen und doch nicht in sei-
worden. Das Pfeifen ist gleich geblieben. Dort       nem eigentlichen Raum, sondern ihn förmlich
drüben gehen keine Veränderungen vor sich,           fest zwischen den Krallen halten.
dort ist man ruhig und über die Zeit erhaben,
hier aber rüttelt jeder Augenblick am Horcher.       Dann gäbe es keine Geräusche in den Wänden,
                                                     keine frechen Grabungen bis an den Platz he-
Ist das Tier auf Wanderschaft dann wäre viel-        ran, dann wäre dort der Friede gewährleistet,
leicht eine Verständigung mit ihm möglich.           das Rauschen der Stille, und ich wäre sein
                                                     Wächter.
Aber vielleicht gräbt es seinen eigenen Bau,
dann kann ich von einer Verständigung nicht
                                                     15. Raum (Epilog)
einmal träumen. Selbst wenn es ein so son-
                                                     Gehört hat mich das Tier wohl nicht. Solange
derbares Tier wäre dass sein Bau eine Nach-
                                                     ich nichts von ihm wusste, kann es mich über-
barschaft vertragen würde, mein Bau verträgt
                                                     haupt nicht gehört haben, denn da verhielt ich
sie nicht.
                                                     mich still, es gibt nichts Stilleres als das Wie-
                                                     dersehen mit dem Bau. Wenn es mich gehört
14. Raum (Der Bau im Bau)
                                                     hätte, hätte doch auch ich etwas davon bemer-
... den Burgplatz loszulösen von der ihn umge-
                                                     ken müssen, es hätte doch wenigstens in der
benden Erde, bis auf ein kleines leider nicht los-
                                                     Arbeit öfters innehalten müssen und horchen,
lösbares Fundament einen Hohlraum zu schaf-
                                                     aber alles blieb unverändert, das ...
fen. Hier hatte ich mir immer den ­schönsten

                                                                                                   17
Ana Andromeda – Text
7 lyrische Bilder auf einen Text von Ingrid Fichtner
Musik: Alfred Zimmerlin

Bild 1                                              Kalt war der Morgen
Flüsterchor [Zuspiel]:                              aber jetzt –
Jetzt … es wird Zeit, ja höchste Zeit ... ich hab   die Luft ist mild … am
genug, ich halt’ es nicht mehr aus, es hat ja       Ende … könnt’ es nicht
keinen Sinn … sie meint nicht, was sie sagt, sie    könnt’ es ein Aufgehen sein?
weiss nicht, was sie sagt, was sie sagt, bedeu-
                                                    Die Luft ist mild … das Licht
tet nichts, sie kriegt gar nichts mehr mit, sie
                                                    ein warmes Tuch
kriegt nichts mit … ich halt es nicht mehr aus,
ich kann es nicht mehr sehen, ich kann sie nicht
                                                    Bild 2
mehr sehen
                                                    Ana:
Per [Zuspiel]:                                      Sacht legt der Himmel
Hört auf! Seid endlich still! Schert euch doch      sich auf mich und hebt mich
weg! Ich will noch bei ihr sein, lasst mich mit     trägt mich
ihr allein! Wie sie da liegt! Sie ist: ein Bild!    trägt mich ein Schweben?
                                                    trägt mich ein Halten?
Ana [Innere Stimme, Zuspiel]:                       Holt mich was? Was
Wie still es plötzlich ist … sie möchten wohl,      holt mich … heim?
dass ich
sie wissen nicht                                    Per [Zuspiel]:
sie meinen ja, sie glauben                          Du zweifelst? Kannst du denn nicht glauben?
ich wäre schon gestorben                            Komm, glaube mir, die Liebe gibt es, wie den
ich wäre tot … bald schon im Grab                   Strauch, den Baum, den Berg. Komm: Ich lie-
                                                    be dich, ich möchte, dass du bist.
Wie hilflos sie doch sind, und starr,
man könnte meinen sie sind tot                      Ana:
was meinen sie … sie wissen nicht                   In einen … in einem Himmel
sie glauben …                                       liege ich
doch
                                                    Wie hell nun er …. wie hell nun
Ana:                                                dieser Mann doch vor mir steht –
noch ist es nicht soweit … und                      Und seine Hand ist warm
doch … es reicht es ist genug                       und greift nach meiner Hand:
bald … ist es dann … so … weit                      Die Welt dreht sich um uns ...
                                                    Was andres ist ein Kuss?!
                                                    Die Welt dreht sich ... um uns

                                                    Ich bin noch da ...
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Ana [Innere Stimme]:                         Ana:
Was sagen seine Augen?                       Lieb’ ich denn ... Vater Mutter?
Was sagen diese Augen?                       Lieb’ ich denn meine Mutter?
Was sahen diese Augen?
                                             Hat Mutter mich denn je geliebt?
Was sehen diese Augen?

                                             Per [Zuspiel]:
Ana:
                                             Wie sie da liegt! Als hätte ein Meister sie ge-
Was sagt sein «Komm»,
                                             dacht!
was sagen die drei Worte
                                             Doch sie ist wirklich, eine Frau aus Fleisch und
«Komm zu mir ...»
                                             Blut. Und ihre Augen sind voll Tränen. Wer
Was sehen diese Augen?
                                             straft sie so?! Was hat sie denn getan?!
Ana [Innere Stimme]:
                                             Ana:
Die Augen ... hell, ein Himmel,
                                             Wie je ...
und dann doch wieder dunkel
                                             Wie jäh ...
Ana:                                         Wie jäh doch Liebe sein ...
wie das Meer ... und still ... so still
                                             Kann ich noch glauben?
der Himmel ... leer ... die Luft ein
                                             Hab’ ich je geglaubt ...
Lauschen

                                             Ana [Innere Stimme]:
Ana [Innere Stimme]:
                                             Und hiesse lieben denn nicht immer glauben,
Was sehen diese Augen?
                                             heisst glauben denn nicht immer ... lieben?
Die Luft ein Lauschen
ein Schauen ein Lauschen ein Schauen         Ana:
                                             Ich bin noch da ... doch
Bild 3                                       kann ich mich noch bewegen?
Ana:
Ich bin noch da ...                          Und:
                                             Ob ich am Ende wissen werde, wie’s gemeint
Gerettet hat er mich                         war?
«Ich möchte, dass du bist.»
Sagt das nicht nur die Liebe?                Bild 4
Ich möchte es ich möcht’ es glauben können   Ana:
ich glaub’ ... ich möchte es, ich            Gemeint?
muss glauben es glauben
                                             Nein! N e i n, das darf’s nicht sein!
Ich weiss es nicht.                          Wo kann ich hin? Da ist das Haus, die Mauer
                                             dort die Strasse, all die Autos, nein –
Ana [Innere Stimme]:
Könnte das Liebe sein? Dies Nichtwissen      Die Welt ist fort ... ich bin noch da ... doch kann
                                             ich meine Augen öffnen, kann ich mich bewe-
Ob ich noch lieben kann?
                                             gen?
Kann ich noch lieben?
                                             Wie weit weg doch alles ist ...

                                                                                             19
die Berge ... die Häuser ... Berge ... Häuser ...     in Ruh ... Sonst schaff’ ich’s nicht! Ich muss ...
klein ... Spielzeug ...                               ich hab zu tun! Jetzt nicht! Du störst! Siehst du
                                                      denn nicht?
Der Tod ... hat mich ... getäuscht
                                                      Ana:
... bis in den Himmel ist es immer weit ...           Sie hat damit Erfolg ...
                                                      Belohnt denn diese unsere Zeit nur noch
Hätt’ mich die Strafe treffen sollen, die doch ihr
                                                      die Rücksichtslosen, ihre Gier nach Macht?
gebührte?

                                                      Per [Zuspiel]:
Warum ... wie ist es möglich, dass ein Kind,
                                                      Sie hat die Mutter sich nicht ausgesucht.
dass eine Tochter ... für die Mutter leiden
                                                      Sie ist ganz anders. Der Vater war ihr nah.
statt der Mutter ... büssen muss?

                                                      Ana:
Werd’ ich am Ende wissen, wie’s gemeint war?
                                                      Vergessen möchte ich ... und gehen

Bild 5                                                Verlassen ... hat die Liebe mich
Ana:
                                                      Nun will ... nun muss ... auch ich ...
Ist das Gerechtigkeit? Wille des Himmels?
Eines Gottes? Einer höheren Macht?
Ist es vorausbestimmt?                                Bild 6
                                                      Ana:
Flüsterchor [Zuspiel]:                                Könnte es sein, dass ich ... ich
Vergessen ... ist doch nichts, das leicht fällt ...   träume ... ich glaube ... ich werde

Grau ist die Stadt, laut sind die Strassen,           ich bin ... verliebt
voller Staub; leer ist die Landschaft
                                                      Ana [Innere Stimme]:
ich will hinaus, bei klarer Sicht sind da             Bin ich verrückt? Bin ich noch ich?
die Berge, Flüsse, Seen, das Meer                     Wie leicht es plötzlich ist ... mit ihm
                                                      zu ... gehen
Ana:                                                  scheint mir ein ... Tanzen ... alle Welt
Ich hab die Mutter mir nicht ausgesucht ... nicht     die Welt ... dreht sich, die Welt dreht sich ... um
                                                      mich, ich glaub’, ich bin verliebt
sie ... und immer Streit ... ... im grossen Zimmer
                                                      Ana:
nie will ich sein wie sie ...                         heisst lieben denn nicht immer glauben,
so machtbesessen ... alles, alle ... muss sie ganz    heisst glauben denn nicht immer lieben?
allein bestimmen
                                                      Ana [Innere Stimme]:
ja, beherrschen. Immer geht es nur um sie ...
                                                      Die Welt ist bunt, ist reine Freude, reiner
Weh’ dem, der nicht gleich tut, was sie
                                                      Übermut!
befiehlt, weh dem, der nicht so voller Ehrgeiz
                                                      Bin ich verrückt? Bin ich ... noch ich?
ist, ehrgeizig wie sie ...
                                                      Bin ich noch ich?
Mutter [Zuspiel], gleichzeitig:
Siehst du denn nicht?! – Jetzt nicht! Lass mich

20
Flüsterchor [Zuspiel]:                           Ich bin da ...
Grau ist die Stadt, laut sind die Strassen,
                                                 ich bin ...
voller Staub; leer ist die Landschaft ... ich
                                                 ich fühle, glaube ... es, ich
ich will hinaus, bei klarer Sicht sind da
                                                 glaube, dass ...
die Berge, Flüsse, Seen, das Meer und
doch                                             Ja!
                                                 Ist dieser Glanz ... ein Netz?
Per [Zuspiel]:
Und dann war keiner da. Allein war sie dem       er bannt ... es hält ... und ... ich
Schicksal überlassen. So weit trägt junge Lie-   welch’ ... Licht!
be nicht.
Und jetzt?                                       Bin ich dem Himmel denn ein Wunder wert?
Sie sieht noch nicht, weiss nicht, was ihr ge-
                                                 Ist dieser Glanz ... die Welt?
schieht. Ahnt sie bereits?
                                                 Er ... hebt mich hoch ... er ... holt
Ana:
                                                 mich ... hoch
die Erde bebt
das Meer, es brennt                              Ich glaub’ ... ich bin ...
ist leer
                                                 Flüsterchor [Zuspiel]:
Bild 7                                           Sacht ... jetzt ... ist sie da ... im Licht der Anfang
Ana:                                             das Ende der Anfang im Licht
Moos blüht auf den alten Stufen;                 es strahlen ... Sirrah ... Mirach ... Alamak
in den Ritzen glitzert’s ... auch
                                                 Per [Zuspiel]:
die Bäume tragen Lichter ...
                                                 Andromeda geht auf.
in jedem Baum ... ein Mond
in jedem Baum ... ein                            Flüsterchor [Zuspiel]:
Licht, die ganze Nacht hindurch                  ... jetzt ... ist sie da ...

in jedem Baum ein Mond,
die ganze Nacht hindurch und
dann, in jedem Baum, der Mond,
er hängt im Laub, er hängt
im Blau, im Morgen noch

Ich bin mit Vater ... sammle
Muschelschalen, flach geschliff’ne Steine,
Strandgut, Äste, die wie Monster aussehen ...
von Vater lern’ ich ... Drachen steigen
wie Gedanken fliegen
Flieder stehlen ... und dann, in der Nacht,
die Namen der Planeten ... Sterne
Sternbilder – nein, Himmelsnähe
macht mir keine Angst!

                                                                                                    21
22
Matthias Arter                       Georges Delnon                           Ingrid Fichtner
Projektleiter, Oboist                Installation / Regie                     Libretto «Ana Andromeda»
www.marterart.ch                                                              www.ingridfichtner.ch

Matthias Arter wurde 1964 in         1958 in Zürich geboren, stu-             1954 in Judenburg, ­Österreich
Zürich geboren und ­studierte        dierte Georges D ­ elnon Ge-             geboren, lebt nach ihrem Studi-
zunächst Oboe bei Peter Fuchs        schichte und Kunstgeschich-              um der englischen Sprache an
und Thomas I­ ndermühle              te so­-wie Komposition. 1985             der Universität Wien und sie-
­(Musikhochschule Zürich).           war er Mitbegründer des «Ate-            benjährigem Aufenthalt in den
 ­Weitere Studien und Meister-       lier 20», einer Gruppe für zeit-         USA seit 1985 in der Schweiz;
  kurse bei Heinz Holliger und       genössisches Theater und                 publiziert seit 1995 regelmäs-
  Maurice Burgue (Freiburg i.        Musik in Bern. Wichtige Insze-           sig in Literaturzeitschriften und
  Br.). Die Arbeit mit seinen En-    nierungen im Bereich zeitge-             Anthologien («Jahrbuch der Ly-
  sembles Octomania, Arion-          nössiches Musiktheater waren             rik 2011», «Von Jandl weg auf
  Quintett, æquatuor und pre-art     bisher «Das Lachen der Scha-             Jandl zu», «A–CH Nachbar-
  soloists begleitet und prägt ihn   fe» (Jacques Demierre) in Lu-            schaftliche Betrachtungen»),
  seit vielen Jahren, regelmäs-      zern, die Uraufführung «G» von           sowie in Einzelbänden ( «Lich-
  sige Rezitals mit verschiedenen    Gavin Bryars in Mainz, «22,13»           te Landschaft», «Luftblaumes-
  InstrumentalpartnerInnen (Kla-     von Marc André für die Bienna-           ser», «Das Wahnsinnige am
  vier, Harfe, Gitarre) zeigen ihn   le München, Mainz und das Fe-            Binden der Schuhe», «Farb-
  mit einem Repertoire, welches      stival d’Automne Paris/Opéra             treiben»), für die sie mehrfach
  von der Renaissance bis zur        National de Paris sowie die Ur-          ausgezeichnet wurde, haupt-
  neuesten Musik reicht.             aufführung von C  ­ arola Bauck-         sächlich Lyrik. Seit Jahren kon-
  Aufführungen seiner Komposi-       holts Hörtheater «Hellhörig»             tinuierliche Zusammenarbei-
  tionen an den Tagen für Neue       für die Biennale München 2008.           ten mit Musikern (u.a. Michel
  Musik Zürich, im Musikpodium       1996–1999 war Delnon Inten-              Seigner, Katharina Klement,
  der Stadt Zürich, sowie an an-     dant des Theaters der Stadt              Daniel Studer), besonders mit
  deren Festivals in der Schweiz,    ­Koblenz und Mitbegründer                Alfred Zimmerlin («Neidhart-
  Deutschland, Georgien, Arme-        der Festungsspiele Koblenz.             lieder: Winter, Sommer» 2001;
  nien, Ukraine, Kanada und Al-       1999–2006 leitete er als Inten-         «Albrecht – Ein Königsmord in
  banien. Solistische CD-Produk-      dant das Staatstheater Mainz.           Habsburg» 2008; «Wasser-Ves-
  tionen u.a. bei MGB, ECM, Arte      Seit der Spielzeit 2006/ 2007 ist       per» 2009).
  Nova pan classics, col legno,       Georges Delnon Direktor des
  und en avant. Bei «Neos» ist        Theater Basel und seit 2009
  ausserdem eine CD mit einigen       künstlerischer Leiter des Mu-
  seiner Solostücke erschienen.       siktheaters der Schwetzinger
  Matthias Arter ist ausser           Festspiele.
  dem als Dirigent tätig, unter-
  richtet Oboe, Kammermusik
  und Improvisation an der HKB       Dem Ensemble æquatuor ist, auch dank der vorzüglichen
  (Hochschule der Künste Bern)       ­Sängerin Anne-May Krüger, eine eindrückliche Wiedergabe
  und ist Solooboist des Kammer-      gelungen.
  orchesterbasel sowie des Col-      Sigfried Schibli in der BAZ vom 17.9.2012 über die Uraufführung
  legium Novum Zürich.               von «Lost Circles» in Luzern (14.9.2012)

                                                                                                            23
Marie-Thérèse Jossen                Ingrid Karlen                         Anne-May Krüger
Installation / Regie                Pianistin                             Mezzosopran
                                                                          www.annemaykrueger.de

Marie-Thérèse Jossen ist in der     Nach ihren Studien in Zürich,         Die Mezzosopranistin Anne-
Schweiz geboren und aufge-          Basel (Jürg Wyttenbach) und           May Krüger wurde in Berlin
wachsen, wo sie auch ausgebil-      Paris (Claude Helffer) konzen-        ­geboren und studierte in Leipzig
det wurde. Am Luzerner Thea-        trierte sich Ingrid Karlen auf die     und Karlsruhe; seit 2005 wird
ter entwarf sie eigene Arbeiten     Musik des späten 19., des 20.          sie von Rudolf Piernay betreut.
als Kostümbildnerin und über-       und 21. Jahrhunderts.                  ­Bereits als Studentin war sie
nahm die Leitung der Kostüm-        Konzerte als Solistin und Kam-          unter anderem an der Staats-
abteilung. Als freischaffen-        mermusikerin in ­Europa,                oper Stutt­gart (­ Forum Neues
de Kostümbildnerin für Oper,        den USA, der Ukraine, ­China,           ­Musiktheater und Junge Oper)
Ballett und Schauspiel war sie      ­Neuseeland, Australien und              tätig. Gastverträge verbinden
u.a. in Saarbrücken, Hanno-          Südafrika, unter anderem                sie mit dem ­Oldenburgischen
ver, Wuppertal, Düsseldorf,          am ­Lucerne Festival (­ Solistin        Staatstheater und dem Theater
Dortmund und Wien s­ owie den        in Beat Furrers «Face de la             Augsburg, seit 2006 ist sie re-
Schwetzinger Festspielen und         chaleur» für Klavier, F ­ löte,         gelmässig am Nationaltheater
den Händel-Festspielen ­Halle        ­Klarinette und Orchester),             Mannheim zu ­erleben. 2011 gab
engagiert. Am Staatstheater           am Festival «Wien modern»              sie ihr Debüt bei den Bad Hers-
Mainz entwarf sie die Kostüme         (6 Klaviersonaten von G ­ alina        felder Opernfestspielen in Sme-
für «Così fan tutte», «Die Toch-      Ustwolskaja) und am ­Festival          tanas «Die verkaufte Braut».
ter der Luft», «Die Schneekö-         de Musica de Canarias ­                Sie arbeitete mit Formationen
nigin», «Saul» und «Don Gio-          (Solistin im «Requiem» für             wie dem ensemble ­recherche,
vanni», bei den Schwetzinger          Klavier und Orchester von              Ensemble Ascolta und dem
Festspielen für «Il figlio ­delle     Hans Werner Henze).                    ­Ensemble Gelberklang. Zahl-
selve», «Zaubern» und «Proser-        Neben unzähligen Radioein-              reiche Werke u. a. von Hans
pina». Am Theater Basel war           spielungen, Ur- und Erstauffüh-         ­Tutschku, Kurt Schwertsik und
sie Kostümbildnerin für «Car-         rungen veröffentlichte sie eine          Mike Svoboda entstanden ei-
mina burana» und «Alexander-          Solo-CD «Variations» bei ECM             gens für sie. Regel­mässig ist sie
fest» im Römertheater Augu-           mit Werken von Webern, Boulez,           Gast auf ­renommierten Festi-
sta Raurica, für die Produktion       Ustwolskaja und Silvestrov.              vals insbesondere Neuer Musik
«Hellhörig» von Carola Bauck-         In China setzte sie sich während         wie ­«Mouvement – Musik im
holt, für Wolfgang Rihms Oper         eines einjährigen Aufenthaltes           21. Jahrhundert» des SR, «Wien
«Drei Frauen» sowie für die           intensiv mit der dortigen aktu-          Modern» und «Contempuls»
­Uraufführung «Maldoror» des          ellen Musikszene auseinander.            (Prag), sie tritt aber ebenso mit
 Komponisten Philipp Maintz,          Seit 1991 unterrichtet Ingrid            kirchenmusikalischen Werken
 eine Koproduktion mit der.           Karlen am Konservatorium und             und Liederabenden in Erschei-
 Biennale München und dem             Musikschule Zürich,                      nung. Anne-May Krüger erhielt
 Theater Aachen. Wiederholt           2002 erhielt sie für ihr künstle-        Stipendien des Forum Neues
 ­arbeitete Marie-Thérèse Jossen      risches Schaffen das Werkjahr            Musiktheater und des Richard-
  mit dem Choreographen Martin        des Kantons Zug.                         Wagner-Verbands sowie Pro-
  Schläpfer zusammen.                                                          jektstipendien der Akademie
                                                                               Schloss Solitude.

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