Ludwig Ross und Rhodos - Kodeks
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Ludwig Ross und Rhodos Sebastian Kempgen Ludwig Ross Der bedeutende, aber nur in Fachkreisen bekannte Archäologe Ludwig Ross (1806–1859) besuchte auf seinen „Inselreisen“ auch Rhodos, be- reiste (konkret: beritt) die Insel mehrfach, führte Ausgrabungen durch, sammelte und edierte alle ihm erreichbaren Inschriften, und durfte z.B. – nach eigener Überzeugung – als erster europäischer Forschungsrei- sender die Akropolis von Lindos besteigen, die damals noch unter türki- scher Herrschaft stand, lokalisierte dort als erster Tempel, die er ver- messen ließ etc. Seinem Leben und Wirken wurde vor einigen Jahren ein gewichtiger Sammelband (Goette & Palagia 2005) gewidmet, und seine zahlreichen Reiseberichte sind gut digitalisiert im Internet auf ver- schiedenen Repositorien zu finden.1 Er war einer der letzten “Early Explorers” der griechischen Antike (vgl. Badoud 2019) – aber man sollte ihn im Hinblick auf seine Leistungen, darauf, was er jeweils „als erster“ durchführen konnte, vielleicht besser einen der wichtigen Vorläufer und Wegbereiter der modernen Archäologie nennen. “It is difficult to underestimate Ludwig Ross’s contribution to the field of Greek archaeology, epigraphy and the study of the classical past” – so leitet Chr. Constantakopoulou (2008) ihre kurze Rezension des ge- nannten Sammelbandes ein, der eine ganze Reihe von Teilaspekten von Ross’ Tätigkeit thematisiert. Mit dieser Bedeutung von Ross, dessen Berichte sich im übrigen auch heute noch gut lesen lassen, korrespondiert aber z.B. seine Berücksichti- gung in einschlägigen Wikipedia-Artikeln nicht ganz. An dieser Stelle wollen wir einige kleinere Facetten von Ludwig Ross Erforschung spezi- ell von Rhodos aufgreifen, die die bisherige Literatur ergänzen können. Unsere kleine Studie richtet sich dabei nicht so sehr an ein archäologi- 1 Die besten Digitalisate stellt die Universität Heidelberg zur Verfügung. Ross „Inselrei- sen“ finden sich unter diesem Link: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ross1840ga. – Zu einer Einordnung der Person und seines Wirkens vgl. auch Ludwig Ross, Inselreisender (https://theo48.wordpress.com/4-hellas-reisen-1800-1965/ludwig-ross-inselreisender/).
Sebastian Kempgen sches Fachpublikum, sondern an eine breitere, aber interessierte Leser- schaft im Bereich der Kulturgeschichte Griechenlands, seiner Geo- graphie und der einschlägigen Reiseliteratur, verbunden mit Aspekten des modernen Tourismus und natürlich der Archäologie. Alle Fotos, soweit nicht anders angegeben, stammen vom Verfasser 2021. Ludwig Ross: Reisen auf den griechischen Inseln des ägäischen Meeres. Dritter Band. Enthaltend Melos, Kimolos, Thera, Kasos, Karpathos, Rhodos, Chalke, Syme, Kos, Kalymnos, Ios. Mit Lithographien, zwei Karten und mehreren Holzschnitten. Stuttgart und Tübingen 1845. Ludwig Ross: Reisen nach Kos, Halikarnassos, Rhodos und der Insel Cypern. Auch als vierter Band der Reisen auf den griechischen Inseln. Halle 1852. 1. Ludwig Ross und Kameiros Zu den Örtlichkeiten, die Ross gerne gefunden bzw. aufgesucht hätte, gehörte auch die antike Stadt Kameiros (Κάµειρος) (heute auch Κάµιρος Kamiros geschrieben, s. Schild auf Abb. 1), die neben Ialyssos (Vorläufer der heutigen Stadt Rhodos, aber nicht an der gleichen Stelle gelegen), und dem berühmten Lindos zu den drei rhodischen Städten der Antike gehörte. Abb. 1: Hinweisschild auf die Ausgrabungsstätte Kámeiros (in neugriech. Schreibung) 2
Ludwig Ross und Rhodos Zweimal, 1843 und 1844, bereiste Ross Rhodos und dabei u.a. auch seine Westküste, um sich auf Rhodos zu orientieren und Forschungen zu betreiben. Kameiros fand er jedoch nicht. In der Tat kann der Ortsname Kameiros verwirren: wer heute Rhodos besucht, der findet neben der gut ausgeschilderten antiken Ausgra- bungsstätte Kameiros (bei Kalavarda) ca. 11 km südlich an der Küste noch ein Kameiros Skala, das keinen echten historischen Bezug zu der antiken Stadt hat (s.u.); es ist heute eine Häusergruppe um eine mo- derne Hafenmole und Tavernen. Von Kameiros Skala fahren traditionell die Boote zur Insel Chalki ab. Historisch wie modern ist die Bezeich- nung (Kap) Kopriá. Der antike Ortsname Kameiros hat hingegen keine moderne Fortset- zung im Namen eines Ortes, nur für die Strandtavernen gibt es die Lagebezeichnung Kameiros Beach. Tatsächlich gibt es noch einen vierten Ort, dessen Name als Camiro(s) überliefert ist. Ihn erwähnt der Forschungsreisende William Hamilton (1842, 57f.) im Bericht über seine Reise von 1837 und positioniert ihn an der Ostküste, beim heutigen Charaki am Fuß der Ritterburg von Fera- klos. Dazu genauer vgl. auch Appendix 2. Allerdings kritisiert in diesem Falle schon Ross selbst die Notiz von Hamilton und attestiert ihm unzureichende Sprachkenntnisse, obwohl dessen Mitteilung durchaus eine gewisse Basis hat, wie wir unten zeigen werden. Wir brauchen aber im Zusammenhang mit Ross’ eigenen Erkundungen im Folgenden tatsächlich nur drei Lokalisierungen, und zwar sämtlich an der Westküste, zu berücksichtigen. William J. Hamilton: Researches in Asia Minor, Pontus, and Armenia; with some Account of their Antiquities and Geology. In Two Volumes. Vol. II. London: John Murray 1842. 3
Sebastian Kempgen Abb. 2: Der untere Rand von Kameiros. Am Ufer ein Auto auf der Straße: dort ist Ross auf seiner ersten Reise vorbeigeritten Das antike Kameiros wurde um 1.000 v. Chr. im Zuge der dorischen Einwanderung gegründet; besiedelt war die Gegend (und nicht nur diese) aber schon in minoischer Zeit, wie Funde, vor allem zahlreiche Gräber an mehreren Stellen der Insel, auch beim Nachbarort Kalavarda, der praktisch die moderne Siedlungsfortsetzung von Kameiros ist, be- weisen. Die antike Stadt liegt in einer Mulde zwischen zwei Ausläufern eines Hügels und erstreckt sich deren langen Hang hinauf bis zur Akro- polis auf dem Gipfel. Vom unteren Rand der Stadt hat man an einer Stelle durch eine flache Mulde direkte Sicht auf das Ufer (s. Foto)2, und eine Aussichtsfläche rechterhand der Akropolis bietet durch das süd- liche Nachbartal einen weiteren Blick auf das Ufer. Hier sind die Abhän- ge jedoch deutlich steiler. Diverse Nekropolen der Stadt und umgeben- der Gehöfte und Siedlungen lagen auf den Abhängen der benachbarten 2 Durch diese Mulde fließt, wie man auf Google Earth erkennen kann, ein kleines Bächlein von der Stadt hinunter zur Küste. Das Bächlein, im Sommer trocken, scheint seinen Anfang bei den Bädern der antiken Stadt zu nehmen bzw. die Fortsetzung des Wasserka- nals der Stadt zu sein. Der Antike Hafen von Kameiros war offenbar bei dem kleinen Kap. Wo der antike Weg von der Küste zur Stadt verlaufen ist, dazu ist in der hier rezipierten Literatur kein Hinweis gegeben. – Gleich unterhalb des Ausgrabungsareals übrigens ein deutscher Soldatenfriedhof, auf Satellitenbildern an seiner Umfassungsmauer erkennbar. 4
Ludwig Ross und Rhodos Hügel.3 Im Jahre 227/6 v. Chr. sowie nochmals 142 n. Chr. (oder, nach anderen Angaben, 139 n. Chr.) wurde die Stadt durch ein Erdbeben zerstört. Kameiros war im Gegensatz zu den anderen antiken Städten der Insel ein Zentrum landwirtschaftlicher Produktion, vor allem von Feigen, Öl und Wein, aber auch seine Töpfer waren wohl berühmt. Es war nicht befestigt. Kameiros wird bei Homer – für Ross ein unverrückbarer Gewährs- mann, wie wir unten sehen werden – und in der geographischen Be- schreibung Strabos erwähnt, und die angebliche Lage der Stadt hatte Ross auf einer Karte von Thomas Spratt von 1856 gefunden, die er auch selbst einem seiner Werke beifügt (siehe Ross 1845, nach S. 192).4 Ross suchte auf seinen beiden Rhodos-Reisen 1843 und 1844 am angegebe- nen Ort jedoch vergeblich – dazu genauer s. unten. Ironischerweise wur- de Kameiros schon wenige Jahre nach Ross tatsächlich erstmals iden- tifiziert und (teilweise) ausgegraben – nämlich ab 1859 bis 1868 durch Alfred Biliotti und Auguste Salzmann.5 Allerdings wurden zunächst im wesentlichen die Akropolis und Nekropolen, die eine ungeheure Viel- zahl an Funden ergaben, ausgegraben, so daß Zweifel an der Richtigkeit der Lokalisierung der Stadt Kameiros noch 1913 geäußert wurden (so Patsiada 2019, 160). Kurze Ausgrabungsberichte wurden von Salzmann ab 1861 publiziert6 – zu diesem Zeitpunkt lebte Ross bereits nicht mehr. 1928 wurden die 3 Vgl. dazu insbesondere Salmon (2019b, Figs. 21–30 im Anhang seiner Arbeit, Seiten ungezählt). 4 Die Karte ist nicht in allen Digitalisaten vorhanden oder wurde beim Einscannen nicht ausgeklappt – ein typischer Mangel der Google-Books-Digitalisate. In dem Digitalisat der Univ. Heidelberg ist sie enthalten; ihm wurde sie auch für unsere Zwecke entnommen. 5 Die genauen Jahreszahlen variieren in verschiedenen Quellen. Wir haben unsere Daten der Webseite https://wsimag.com/art/12323-rhodes (geschrieben anläßlich einer Rhodos- Ausstellung 2014–2015 im Louvre) entnommen. Danach wurde die Lage 1859 durch Salzmann und Biliotti identifiziert, die zunächst auf eigene Rechnung ausgruben, vor allem die Nekropolen, dann im Auftrage des Britischen Museum 1863–64 sowie für einen Sponsor namens Auguste Parent in den Jahren 1867–68. Salmon (2019c) beschäftigt sich ausführlich mit der Phase der britischen Ausgrabungen, ihrem Zustandekommen und Resultaten, inkl. sehr ausführlicher Bibliographie. 6 Vgl. Salmon (2019a; 2019c, 321). Die Aufzeichnungen der beiden Ausgräber liegen auch heute noch im Archiv bzw. sind gar nicht erhalten. Mit der ganz unzureichenden Doku- mentation der Ausgrabungen beschäftigt sich ausführlich Salmon (2019b). Vor allem seine Karten im Anhang sind sehr anschaulich, was die weiteren Fundstätten, insbesondere die Friedhöfe, auf den Hügeln um Kameiros herum, betrifft. 5
Sebastian Kempgen Ausgrabungen der Stadt unter den italienischen Besatzern der Insel erneut aufgegriffen. Badoud (2019, 37) erwähnt in seinem historischen Überblick den Kaufmann und Reisenden Cyriacus von Ankona, der 1429 Rhodos be- reiste und offenbar Notizen auch über die Ruinen von Kamiros anfer- tigte. Da aber erst die italienischen Ausgrabungen endgültige Klarheit schufen, dürfen wir annehmen, daß dieser Cyriacus Antikes am Fuße des Hügels gesehen hat – also Reste des Hafens, nicht der Stadt. Abb. 3: Die Routen von Ross 1843 (rot) und 1844 (braun) an der Westküste von Rhodos (Karte bearb. von S.K.) Auf der vorstehenden Karte von Spratt, herausgegeben von Ross (aus Ross 1845, nach 192) haben wir die Orte markiert, die Ross erwähnt 6
Ludwig Ross und Rhodos bzw. die auf seinen beiden Reiserouten liegen.7 Die Routen selbst, wie sie sich aus seinem Bericht ergeben, sind ebenfalls eingezeichnet: 1843 in rot, 1844 in braun. Schließlich sind die drei Orte, die Kameiros sind bzw. sein sollen bzw. im Namen tragen, mit einem Rechteckt markiert, wobei diese mit von uns hinzugefügter Erklärung beschriftet sind: von Nord nach Süd sind dies Antikes Kameiros, Kameiros Skala und falsches Kameiros. 1. Ross bricht bei seiner Reise von 1843 von Rhodos-Stadt auf und reitet an der Westküste südwärts, nach Theologos, dann über Soroni nach Phanaes und Kala Varda (heute zusammengeschrieben Kalavarda). Er fährt in seinem „Zweiunddreißigsten Brief“ fort: «Wieder nach drei Viertelstunden von K a l a V a r d a erreichte ich das kleine Vorgebirge des h. M i n a s (Μηνᾶς); auf demselben und unter demselben an der Küste, an der Mündung eines Baches, liegen einige Ruinen aus dem Alterthum und aus dem Mittelalter. Diesen Punkt, der noch im Gebiet von Ialysos liegt, haben einige Neuere irrig für Kameiros gehalten, welches noch einen Tagesmarsch südlich entfernt ist. Von hier an hört der flache Vorstrand ganz auf…» (1845, 102). Bemerkenswert ist seine feste Überzeugung, genau zu wissen, wo Ka- meiros sich befinden soll; er gibt sie als Faktum wieder – tatsächlich aber ist sie falsch, wie wir sehen werden. Er hat nur insofern recht, als die antiken Spuren am Ufer tatsächlich nicht zur Stadt Kameiros selbst gehören, da sie sich weiter oben auf dem Hügel befindet (aber vermut- lich zu seinem ehemaligen Hafen). – Ross reitet weiter südlich und fin- det am Ufer von Ankón (Αγκώνι), wie die Ortsbezeichnung der flachen Bucht vor Kámeiros (Kamiros) Skala auf der englischen Karte lautete, einige antike Spuren: «In dem südwestlichen Winkel der Ebene sind längs dem Strande Trümmer- haufen von einer Ortschaft des Mittelalters. An der Felswand, welche hier an 7 Ross schreibt die Karte Lieutenant Spratt zu, der die Daten tatsächlich aufgenommen und auch weitere Karten und Reiseberichte publizhiert hat. Badoud (2019, 47) spricht von der gleichen Karte als derjenigen von Thomas Grave, dem Kommandeur der HMS Beacon. Wir bleiben bei Ross Bezeichnung. 7
Sebastian Kempgen der Küste ausläuft, ist die Hinterwand eines Tempels oder Heroons von an- sehnlichen Dimensionen in den Felsen gehauen; ohne Zweifel lehnte sich ein tempelähnliches Gebäude daran, von dessen Unterbau sich einige Reste erhalten haben. […] Diese geringen Reste bei Ankón sollen von einigen Reisenden für Kameiros gehalten worden seyn; aber Kameiros liegt noch weit entfernt, südwestlich vom Atabyros, an dem Vorgebirge Monolithos, auf dessen weiße Wände das homerische Beiwort ἀργινόεις Κάµειρος deutet.» (1845, 103) Das Heroon und die Gräber an einer Felswand werden heute vor Ort als ‘Lykisches Grab’ (Λυκιακός Τάφος) ausgeschildert. Es handelt sich um die Felswand in der Kurve des Fahrweges auf den Anleger hinaus, hinter einer Taverne bzw. dem Parkplatz oberhalb davon. Wie der Screenshot zeigt, handelt es sich nicht um ein vollständig ausgeführtes Felsengrab, sondern vielmehr um eine angedeutete Fassade mit kammerartigen Vertiefungen an beiden Seiten. Die Bezeichnung ‘lykisches’ Grab ist na- türlich im übertragenen Sinne zu verstehen, vgl. auch die Anmerkung von Ross zu einem ähnlichen Grab in Lindos (s.u.). Abb. 4: ‘Lykisches Grab’ in Kameiros Skala (Q.: Google Street View) 8
Ludwig Ross und Rhodos Die irrige Identifikation von Kameiros Skala mit dem Antiken Kamiros geht offenbar schon auf das Mittelalter zurück, denn sie findet sich auf einer Karte der Insel von Thomaso Porcacchi von 1576 – s. genauer dazu in Anhang 3. Damit wäre jedenfalls eine Quelle identifiziert, auf die Ross mit der allgemeinen Bezeichnung ‘andere Reisende’ verweist. Auf diese Traditionen jedenfalls geht offenkundig der moderne Name Kameiros Skala (‘Treppe’) zurück, der sich übrigens auf der Karte von Spratt nicht findet. Mit der Geologie von Rhodos mit seinen prominenten Kalkstein- schichten sowie anderen Gesteinen beschäftigt sich sehr ausführlich Bu- kowski in zwei Studien (1889 und 1898, vgl. auch Appendix 1). Er er- wähnt in seinen umfangreichen Ausführungen sogar auch (das echte) Kameiros und die vielen Muschelfunde auf der Akropolis (neben einer „dünnen Thon- und Humuslage“) (1899, 259), in denen er aber mensch- liches Wirken erkennt. Zwar ist nach diesem Autor die Gegend um Monolithos durchaus durch Kalksteinschichten gekennzeichnet, und insofern hatte Ross Recht, aber im Hinblick auf das Fehlen von Kalkstein die Gegend um (das echte) Kameiros als nicht einschlägig beiseite zu wischen, war voreilig, wie überhaupt die höchsten Gebirgszüge auf Rhodos, der Ataviros und der Profitis Ilias, Kalksteinmassive sind – nur das nördlichste Drittel der Insel weist offenbar keine Kalksteine auf. 2. Ross zweite Reise im Folgejahr, d.h. 1844, sollte die erste ergänzen und die Suche nach Kameiros fortsetzen. Er schreibt: «Da ich das Atabyron und seine Umgegend bereits auf der vorjährigen Reise besucht hatte, wollte ich durch das Innere der Insel nach Kameiros und seinem Gebiete gehen. Wir brachen … von Theologos auf, und ritten über Soroni, Phanäs und Kalawarda. Nirgend waren Ruinen zu erfragen, aber es wurde mir wieder bestätigt, daß bei dem H. Minas ziemlich bedeutende Trümmer sein sollen. Dann ging es westlich und südwestlich um den Fuß der Bergkette des Propheten Elias …» (1852, 59). Tatsächlich waren die Hinweise auf antike Spuren bei dem Hl. Minas genau richtig. Ross hätte lieber den Hinweisen auf existierende Ruinen folgen, ihnen Glauben schenken und in der Gegend weiter suchen 9
Sebastian Kempgen sollen, als sich auf die falsche Eintragung auf der Karte von Spratt zu verlassen. Er schlägt also einen Weg ins Inselinnere ein, an Salakkos und dem Kitala (einem Hügel) vorbei zum Kirchlein von Artamitis, von dort zur Kirche des Hl. Isidoros und nach Siana (s. Karte, braun markierte Strecke). Von Siana reitet er aber nicht gleich weiter nach Monolithos, sondern wendet sich nach Norden, um den Akramytis herum: «Nach drei Viertelstunden hatten wir das Ostende des Gebirges umgangen und kamen zu den Sommerhütten und Dreschtennen von Siana. Oberhalb derselben sind mehrere von polygonischen Mauern gestützte Terrassen; auch liegt dort ein von der Höhe herabgerollter Felsblock mit zwei ausgehauenen Nischen und einer vollständigen Grabkammer mit drei Todtenbetten. Eine Viertelstunde weiter westlich ist wieder ein verlassenes Dörfchen, und gleich hinter demselben fanden wir, auf dem Rücken des Vorgebirges des H. Phokas, eine Menge Ruinen von ansehnlichen Grabmälern aus großen Kalk- steinquadern. Diese Reste, gemischt mit den Trümmern mittelalterlicher Gebäude, ziehen sich von hier eine Viertelstunde weit durch dichtes Ge- büsch, welches die Uebersicht erschwert, bis auf den höchsten Gipfel des Vorgebirges, wo ich das Fundament eines kleinen viereckigen hellenischen Turmes bemerkte. Der Ort heißt jetzt bei den Bauern das Kastron des H. Phokas.» (1852, 61) Ob der bei Ross abgebildete Felsblock noch an Ort und Stelle existiert, ist uns gegenwärtig nicht bekannt. Die hier erwähnten Orte lassen sich jedenfalls auf Google Earth problemlos identifizieren: 10
Ludwig Ross und Rhodos Abb. 5: Gegend um Kymisala Von den Dreschtennen sind in der Satellitenansicht mindestens 20 gut erkennbar. Der Ort mit den Terrassen und Felsgräbern ist ebenfalls ge- kennzeichnet, der verlassene Ort weiter westlich heißt Marmarounia. Mit dem Kastron beim Hl. Phokas hatte Ross unwissentlich Spuren der antiken Siedlung von Kymisala (Κυµισάλα) gesehen, das offenbar nicht explizit auf seiner ‘Such-Liste’ stand; so gibt er ihm auch keinen antiken Namen bei. Kymissala (auch mit Doppel-s geschrieben) war von der minoischen Zeit an (Gräber) besiedelt. Die eigentliche Siedlungs- phase dauerte vom 7. Jh. v. Chr. bis zum 4./6. Jh. n. Chr. (nach anderen Angaben 550 v. Chr. bis 300 n. Chr.). Eine ganze Reihe von Inschriften, die man auf Rhodos gefunden hat, nennt den Ortsnamen bzw. davon abgeleitete Personennamen.8 Eine ganz wesentliche ökonomische Basis für die Siedlung war offensichtlich die große, auch in der Satellitenan- sicht auffallende Hochebene, von der man auch lesen kann, sie habe „die Form eines Tennisschlägers“. 2005–2013 wurden die Reste der Akropolis und der Siedlung regelmäßig ausgegraben und untersucht.9 8 Zu den Inschriften vgl. https://epigraphy.packhum.org/search?patt=Κυµισα. Mehr Infor- mationen zu Kymis(s)ala vgl. auch https://en.wikipedia.org/wiki/Ancient_Kymissala. Der griechische Wikipedia-Artikel enthält eine umfangreiche Bibliographie. 9 Einen ausführlichen, gut illustrierten Bericht findet man bei Stefanakis (2017). Die Webseite http://www.eulimene.eu/kymissala.php enthält auch eine nützliche Über- sichtskarte. 11
Sebastian Kempgen Rechts und links des ‘Griffes’ des Tennisschlägers wurden die Nekropo- len der Siedlung gefunden. «Von dort stiegen wir in einer halben Stunde über bewaldete Hügel hin- unter nach B a s i l i k o n . Hier liegen unter Bäumen auf einem Felsrücken, noch beträchtlich hoch über dem Meere, andere hellenische Ruinen aus gro- ßen Quadern. Ich konnte darin ebenfalls nur eine Anhäufung hellenischer Gräber erkennen, auf denen sich im Mittelalter ein Dorf niedergelassen zu haben scheint. Ein Bauer aus Siana hatte hier vor einigen Jahren in einem Grabe zwei sehr große Vasen gefunden, aber er hatte sie nach seiner eigenen Angabe sogleich zerschlagen um mit den fingersdicken Scherben seinen Backofen auszuwölben.» (1852, 61f.). Auf Spratts Karte ist der Ort als Vasiliká verzeichnet. Die Siedlung liegt direkt nördlich einer weiteren Hochebene westlich von Kymisala, zu dessen Herrschaftsbereich der Ort auch gehörte. Diese Hochebene ist auf Satellitenaufnahmen ebenfalls sehr einfach zu erkennen, beim Heranzoomen auch Mauerreste: Abb. 6: Lage von Vasiliko Weiter schreibt Ross: «Wir gingen dann [von Vasilikon] in einer Stunde wieder über bewaldete Höhen nach dem vermeinten K a m e i r o s der englischen Karte, ganz unten 12
Ludwig Ross und Rhodos am Strande, noch auf der Nordseite der Halbinsel des Akramytes. Hier ist eine kleine Bucht mit schroffen unzugänglichen Felsen, wo nur die leichten Barken von Chalke zu landen pflegen wenn sie Holz holen; an derselben steht ein Wachtthurm aus dem Mittelalter und einige Kalköfen, und höher oben im Dickicht finden sich mittelalterliche Ruinen mit einigen helleni- schen Blöcken, aber nichts deutet hier auf das ehemalige Dasein einer hel- lenischen Stadt, für die sich die Örtlichkeit gar nicht eignet. Überhaupt kann Kameiros schwerlich irgendwo an dieser schroffen, hafenlosen und wasser- armen Nordseite des Akramytes gelegen haben, obgleich es auffallend ist, daß sich hier an drei oder vier Puncten so viele und so bedeutende Gräber finden.» (1852, 62) Die Bucht des vermeintlichen Kameiros, zu der zwischen der Straße von Embonas nach Monolithos ein Fahrweg abzweigt, zeigt nach unserer Identifikation der nachfolgende Kartenausschnitt. Abb. 7: Bucht ‘Kameiros’ bei Spratt; „falsches Kameiros“.Wachtturm markiert Koordinaten: 36°10'09.57" N, 27°44'01.41 O Der von Ross erwähnte Wachtturm existiert durchaus noch – siehe Mar- kierung. Es ist die einzige Bucht, bei der ein Wachtturm zu sehen ist, zu der auch zugleich ein Fahrweg hinführt (der nach einiger Zeit auf eine 13
Sebastian Kempgen Nebenstraße mündet, die dann nach Monolithos führt), und die dabei auch noch der Karte entspricht. In der Literatur und im Web findet man den Turm unter der Bezeichnung Kymisala Tower oder Kymisala Turm. Er wurde 1476 von den Rittern erbaut.10 In mehreren Quellen ist die Bucht auch schlicht mit der Bezeichnung Pyrgos verzeichnet (Pyrgos = ‘Turm’). Einerseits erkennt Ross also, daß Spratts Lokalisierung und Karte in diesem Punkte unmöglich richtig sein können, aber da er auf das home- rische Epitheton des „weißen Kameiros“ vertraut, vermutet er die Stadt hartnäckig im Süden von Monolithos Richtung Küste und zieht aus der Beschaffenheit der Gegend eben einen völlig falschen Schluß: «Und doch bestehen nur hier auf der Südseite die untern Abfälle gegen das Meer hin aus blenden weißem Thon und Sandstein, so daß das homerische Beiwort des „w e i ß e n K a m e i r o s “ nur hierher paßt. Es stellt sich also als Ergebniß heraus daß Kameiros, obgleich eine der ältesten Dreistädte von Rhodos, keinen geschlossenen Ort bildete, sondern daß seine Bürger in die- ser zerklüfteten und waldigen Gebirgsgegend in Flecken und Dörfern (κω- µηδόν) zerstreut wohnten.» (1852, 63f.) Ironischerweise ist ja Kameiros gerade umgekehrt die größte, städtisch- ste, antike Siedlung von Rhodos, wie man sich heute leicht überzeugen kann, zumal von beiden anderen antiken Städten, Ialysos und Lindos, vornehmlich die Akropolen erhalten sind, aber nicht die eigentlichen Städte. – In einer Fußnote fügt Ross (1852, 63) immerhin der Korrekt- heit halber hinzu: «Allerdings könnte es nach Strabon 14, 655 scheinen, als habe Kameiron zwischen dem Atabyron und Jalysos gelegen (vgl. Bd. III, S. 103 f.); allein dies kann nicht richtig sein. Vgl. Ptolem. 5, 2, 34).» Strabo hatte in der Tat Recht. 10 Vgl. z.B. https://www.kastra.eu/castleen.php?kastro=kymisala. 14
Ludwig Ross und Rhodos 2. Ludwig Ross und Lindos Ein besonderes Ziel von Ross war auf Rhodos natürlich auch Lindos. Er besuchte es auf seinen beiden Reisen, 1843 und 1844. Interessant ist schon seine Ankunft in Lindos und seine ersten Eindrücke des Ortes „mit dreitausendjährigem unverändertem Namen auf den Trümmern der alten Stadt“ (1845, 72): «Leider aber, obgleich wir mit einem Gesundheitspasse von Karpathos den vorherigen Quarantänewächter versehen waren, ging seine [des Ortsvor- stehers] Vollmacht doch nicht so weit, daß er uns freie Pratica hätte geben dürfen, und nur mit Mühe erlangte ich durch Aufbietung meiner ganzen Be- redsamkeit, daß er einwilligte, in eigner Person mich zu den noch erhal- tenen Resten des Alterthums zu führen. Wir gingen also mit aller Vorsicht, um mit keinem Menschen in Berührung zu kommen, durch das Dorf, wel- ches freundlich und fast städtisch gebaut ist. Es hat meistens stattliche Häu- ser aus behauenen Sandsteinquadern, noch aus den Zeiten des Ordens; go- thische Schnörkel und Laubwerk verzieren die Fensteröffnungen und Thü- ren, Wölbungen im Spitzbogen verbinden hin und wieder die Häuser über die Gasse mit einander, an vielen Stellen prangen noch die Wappen der frän- kischen Edeln, die sich vor mehr als dreihundert Jahren diese Landsitze bau- ten, in denen jetzt etwa hundert christliche und zwanzig türkische Bauern- familien wohnen. Es ist derselbe Baustyl, den ich, nur größer und schöner entwickelt, hier in der Stadt wieder finde.» (1845, 72f.) Abb. 8: Haus in der Altstadt von Lindos 15
Sebastian Kempgen Ross dürfte prächtige Häuser wie das vorstehend abgebildete vor Augen gehabt haben, als er seine Beschreibung verfaßte. Die Wendung „hier in der Stadt“ bezieht sich natürlich auf Rhodos-Stadt, wo Ross seinen Bericht verfaßt. „In die Stadt“ zu reisen bedeutete lokal auf Rhodos immer, nach Rhodos-Stadt zu reisen. Daß man Lindos als Miniatur- Ausgabe der Altstadt von Rhodos betrachtet, ist durchaus nicht abwegig, interessanterweise aber wird dieser Vergleich heute in der touristischen Werbung für den Ort nicht mehr herangezogen, sondern vielmehr die dörfliche Eigenständigkeit dieses Highlights der Insel herausgestrichen: die Touristen sollen ja beide Orte besuchen. Zu Ross Zeiten war Lindos übrigens ausgesprochen arm, weil es ringsum keine Möglichkeiten zur Landwirtschaft gab und die sandige Bucht zwar hübsch anzuschauen war, aber keinen ökonomischen Nutzen darstellte: «Der Tadel der Alten über die Unfruchtbarkeit der Gegend von Lindos ist vollkommen der Wahrheit gemäß. Ueber eine Stunde weit ist das Städtchen ringsum mit nackten sterilen Marmorgebirgen umgeben, zwischen denen sich kaum hier und dort ein Fleckchen urbaren Landes findet. Diesem schreiben auch die Einwohner die Armuth ihres Ortes zu, dessen Erzeugnisse kaum für den Lebensunterhalt ausreichen.» (1845, 76) «… von dem sandigen Strande zieht sich gegen das höher gelegene Dorf eine sanft geneigte Fläche empor, die mit Fruchtbäumen und Gärten hübsch angebaut ist.» (1845, 75) Einigen Baumbestand hat die Bucht ja in der Tat heute noch. 2.1. Ludwig Ross und das Felsengrab von Lindos Zu den weniger beachteten archäologischen Denkmälern von Lindos gehören die Felsengräber oberhalb des – von der Akropolis aus gesehen – jenseitigen Dorfrandes, d.h. am Hang des Krana-Hügels, auch Kampa- na genannt. Ross berichtet über sein erstes Studienziel nach seiner Ankunft: «Der Protogeros führte mich gleich westlich über dem Dorfe an einer Felswand zu einem schönen großen F e l s e n g r a b e n [sic]: einer dorischen 16
Ludwig Ross und Rhodos Front mit Halbsäulen in den weichen porösen Sandstein gehauen, deren Mitte aber, wo noch Reste von vier freistehenden Säulen gewesen seyn sollen, vor zwei Jahren eingestürzt ist und jetzt einen wüsten Trümmer- haufen bildet. Es waren in Allem zwölf Säulen, gegen fünfzehn Fuß hoch, mit einem vollständigen, aber gedrückten dorischen Gebälk aus makedo- nisch-römischer Zeit; über der Hängeplatte setzt noch eine mächtige, gegen drei Fuß hohe Hohlkehle als Attika auf, und auf dieser standen, auf großen Quaderstufen aus einem harten bläulich schwarzen Marmor, der in den nächsten Bergen bricht, vier schwere runde Grabaltäre mit Bukranien und Kranzgewinden, aus derselben Marmorart, welchen eben durch ihr Gewicht veranlaßt haben, daß die Mitte der Front eingebrochen ist. So geht ein Denkmal nach dem anderen zu Grunde. Die noch erhaltenen Halbsäulen haben zehn Cannelierungen; die Grabkammer selbst hat sehr geringe Tiefe. Nur auf Einem Stücke der herabgestürzten Stufen fand ich noch einen Rest einer Inschrift. Die ganze Anlage erinnert durchaus an die Felsgräber der gegenüber liegenden lykischen Küste. An derselben Felswand sind noch einige andere, aber weit kleinere und sehr verfallene Grabkammern.» (1845, 73f.) Abb. 9: Blick von der Akropolis über die Ortsmitte zum Felsengrab am Krana-Hügel Tatsächlich enthält Ross’ dritter Band seiner Inselreisen nicht nur diese Beschreibung, sondern auch eine sehr gute Kupfertafel des Felsengrabes 17
Sebastian Kempgen im Anhang seines Buches, und auf sie lohnt es, an dieser Stelle nochmals aufmerksam zu machen. „Nach einer Skizze von Spratt gez. von E. Laurent“ (1845, 193) steht auf dem Blatt selbst vermerkt, im Text lautet die Fußnote: „Die angelegte Zeichnung, von Lieutenant Spratt, zeigt dies Grabmal vor seinem Einsturz“, also vor 1841 (1845, 73, Fn. 2). Das aktuelle Photo zeigt die beiden großen Steinblöcke, die herunter- gefallen sind, nicht mehr aber einen „wüsten Trümmerhaufen“. Abb. 10: Felskammergrab des Archokrates, Zustand vor 1841 (Ross 1845, nach 192) Abb. 11: Felskammergrab oberhalb von Lindos, heutiger Zustand 18
Ludwig Ross und Rhodos Spärliche Informationen zu diesem Felsgrab findet man im Netz unter dem Stichwort Archokrateion (oder Archocrateion) oder Kampana. In der Europeana.eu-Bibliothek findet man einige wenige Detailaufnahmen dieses „Grabmals des Archokrates“.11 Die wissenschaftliche Literatur scheint ebenfalls spärlich, soweit im OpenAccess verfügbar: es gibt es einen Aufsatz von 2011 von Lucia Nováková12, in dem sie u.a. eine Ab- bildung der Fassade zeigt, die von Fedak (1990, Abb. 107) übernommen ist.13 Abb. 12: Luigi Mayer, “A Grotto Cut in the Rock near Lindo, in Rhodes.” (1803)14 11 URL: https://www.europeana.eu/en/search?page=1&view=grid&query=Archokrateion. 12 https://www.researchgate.net/publication/259745692_Funeral_Rites_and_Cultural_Di- versity_in_Hellenistic_Caria_Based_on_Epigraphic_and_Archaeological_Evidence. 13 Fedak hat diese Zeichnung allerdings seinerseits von Kähler (1971) übernommen. Fedak bietet neben der Rekonstruktionszeichnung der Fassade auch eine Photographie (Abb. 106, S. 332) des damaligen Zustandes. 14 Quelle: https://eng.travelogues.gr/item.php?view=49966. 19
Sebastian Kempgen Einen kolorierten Stich von Luigi Mayer von 1803, offenbar die erste Ab- bildung des Grabes überhaupt, gibt Badoud in seinem kenntnisreichen und detaillierten Aufsatz wieder (2019, 42f.). Eine zweite Quelle bietet übrigens eine noch bessere Qualität des gleichen Bildes (Abb. 9). Merkwürdigerweise wird dieses Bild, das links unten eindeutig mit dem Namenszug des Urhebers versehen ist, im Online-Auftritt des Har- vard Museums dem Kupferstecher Thomas Milton zugeschrieben und in das Jahr 1801 datiert, obwohl auch das Jahr der Veröffentlichung auf dem Bild notiert.15 Milton war auch für seine Reproduktionen bekannt, und seine Beteiligung dürfte eher dieser Art gewesen sein. 2.2 Ross und der Peribolos Nach dem Felsengrab begibt sich Ross mit seinem Führer zu einem zweiten Ziel im Dorfe. Hier seine Beschreibung: «Von hier aus [d.h. dem Felsengrab] begleitete mich der gutwillige Dorf- schulze in den untern Theil des Dorfes, an dessen südlichem Rande noch ein großer h e l l e n i s c h e r U n t e r b a u aus meistens rechtwink- lichten Quadern, doch von sehr ungleicher Größe, aus einem harten blauen Kalkstein sich erhalten hat. Die eine Seite dieses ansehnlichen Peribolos hat noch etwa vierzig, die andere, so viel noch davon zu sehen ist, etwa zwanzig Meter Länge, und die südliche Ecke ist noch gegen drei Meter hoch. Die beiden anderen Seiten verlieren sich in der sanft an- steigenden Anhöhe. Im Innern dieses Raumes steht noch eine kleine Ca- pelle, und scheint früher eine ansehnliche Kirche gestanden zu haben, wie sich aus den Ueberresten von großen, aus Sandsteinquadern gemau- erten Gräbern aus der Zeit der Ritter vermuthen läßt, die den Rest des Raumes ausfüllen. Auf dem Rande des Unterbaus liegt eine große blaue Marmorquader, auf deren Rücken an beiden Enden Reste von In- schriften zu lesen sind. Leider ist keine derselben vollständig, weil sie sich, als das Monument noch ganz war, auf die angrenzenden Quadern hinüber zogen; doch erwähnt das eine Fragment einen Opferer der Athene (ἀρχιεροθύτας τᾶς Ἀθάνας), wahrscheinlich der Athene Polias, weil gleich daneben ein Polieus, ohne Zweifel Zeus Polieus, erwähnt wird, und diese stadtbeschützenden Götter auch anderer Orten sich so zusam- mengestellt finden, z.B. in Athen und auf Ios. Gleich unterhalb des Peri- 15 https://www.watercolourworld.org/painting/grotto-cut-rock-near-lindo-rhodes-grotte- taillée-dans-le-roc-prés-de-linde-dans-lile-de-rhodes-tww016e53. 20
Ludwig Ross und Rhodos bolos liegt eine andere große Quader mit der Aufschrift eines Priesters des Apollon Pythaeus, des Apollon Ulios oder Olias ΟΛΙΟΣ und der Ar- temis ἐν Κεκοίᾳ. Da haben Sie genug der Götter in der gottesfürchtigen Lindos! Die große Zahl derselben macht mich wieder zweifeln, ob dieser Unterbau, wie mein erster Gedanke war, dem berühmten Heiligthume der Athene Lindia angehört; wahrscheinlicher ist es, daß dieses auf der Höhe der Burg stand, die ich aber nicht besteigen durfte.» (1845, 74f.) Abb. 13: Peribolos und Theater in Lindos Der Peribolos von Ross heißt heute in der Literatur Tetrastoon, die Funktion des Areals wird als „hellenistisches Dionysos-Heiligtum“ be- zeichnet (Brodersen 1999, 358); die Infotafel vor Ort erwähnt alternativ ein „Apollo Smintheus“-Heiligtum. Die Höhe der Mauerreste erreicht übrigens – jedenfalls vom heutigen Straßenniveau ausgehend – keine drei Meter mehr, ist nicht einmal mannshoch. Als längste Ausdehnung der sichtbaren Mauerreste erhält man mit dem Meßwerkzeug von Google Earth etwa 30 m. 21
Sebastian Kempgen Abb 14: Peribolos mit Kapelle (Anf. 20. Jh.?) Vor Ort informiert heute über Tetrastoon und Theater eine gemeinsame Infotafel, auf der sich auch die oben wiedergegebene alte Aufnahme befindet. Die kleine Kapelle, die in der linken hinteren Ecke des Areals stand, ist nicht mehr vorhanden – sie wurde (laut Infotafel) 1924 abge- tragen. Abb. 15: Mauer des Peribolos unterhalb der Akropolis 22
Ludwig Ross und Rhodos 1904 wurden bei der Untersuchung des Geländes zwei der wichtigsten Inschriften von Lindos gefunden wurden, die sog. Tempelchronik von Lindos (oder Lindische Chronik) und die Liste der Priester der Athena Lin- dia: sie waren in den Fußboden „dicht neben der jetzigen kirche des hei- ligen Stephanos“ eingelassen, „die schriftfläche nach oben“, wie der Ausgräber Christian Blinkenberg berichtet (1915, 3)16. Durchaus eine verpaßte Chance also für Ludwig Ross, der das Areal ja durchaus inspi- ziert hat, die verschiedenen Fragmente der Stele mit dieser Inschrift aber nicht entdeckte. Er mußte sich 1843 mit der gemachten „Ausbeute begnügen“, so seine Worte (1845, 75), als er die Suche nach weiteren In- schriften in Lindos beendete. Die Fundstelle nach Blinkenberg/Kinch (1941, 64): Abb. 16: Die Lage der Stelen-Teile zwischen Kirche (A) und Haus (C) 16 Beide Inschriften werden ausführlich dargestellt und behandelt in Blinkenberg/Kinch (1941, 62–200), Korrekturen, wo nötig, finden sich bei Higbie (2003). Digital ist die Arbeit der Ausgräber verfügbar unter https://digi.ub.uni- heidelberg.de/diglit/blinkenberg1941bd2_1/0013. Da die Ausgrabungen durch Dänen erfolgten, befinden sich die Inschriften heute im Dänischen Nationalmuseum in Kopen- hagen. 23
Sebastian Kempgen Das gleich benachbarte Theater erwähnt Ross übrigens bei der Schilde- rung dieses ersten Aufenhaltes nicht, aber er besucht es auf einem Spaziergang im Folgejahr nach einem erfolgreichen ersten Tag auf der Akropolis (1852, 70). 2.3. Ludwig Ross und die Akropolis von Lindos Ross hat auf seinen Reisen keine Mühen gescheut, um Inschriften auf- zuspüren, auch wenn dies teils stundenlange vergebliche Ritte bedeu- tete, beispielsweise als ihm ein Bauer von einer solchen erzählte, die sich dann aber nur als Stein mit Verwitterungsspuren entpuppte. Als Ross zum ersten Male die Akropolis von Lindos betrat – und als erster europäischer Forschungsreisender überhaupt17 –, war dies freilich ganz anders: sofort fand man überall Inschriften. Bis es soweit war, galt es aber auf der Reise von 1843, sich noch in Geduld zu üben: «Ebenso fruchtlos blieb mein Wunsch, das Schloß zu sehen: der Türke, hieß es, der den Schlüssel dazu habe, sey heute in die Stadt [d.h. nach Rhodos- Stadt] gegangen, und hätte ich auch die Nacht hier im Hafen bleiben wollen, so würde es mir doch nichts genutzt haben. Im Schlosse soll eine merkwür- dige alte Capelle des h. Johannes seyn.» (1845, 75) 18 Exakt das gleiche Schicksal war übrigens William John Hamilton auf seiner Reise wenige Jahre zuvor, 1837, beschieden: «January 29. – This morning we prepared to visit the citadel, where we were led to expect some inscriptions; but, after ascending some way, we found the gates locked, and learnt that the officer who kept the keys was at Rhodes.» (1942, 57) Andernfalls wäre er wohl der erste Forschungsreisende gewesen, der die Akropolis von Lindos inspiziert hätte (mit der gleichen Einschränkung 17 Badoud (2019, 42) erwähnt in seinem Überblick über die frühen Forschungsreisenden auf Rhodos den Engländer Edward Daniel Clarke, der Anfang des 19. Jh.s Rhodos-Stadt besuchte und Inschriften wiedergab, die von Angehörigen der britischen Flotte auf der Akropolis von Lindos angefertigt worden waren. Zur Ehrenrettung von Ross könnte man einschränken, daß die Betreffenden keine Forschungsreisenden waren. 18 Der Grund, warum eine Übernachtung nichts genutzt hätte, ist ein ganz pragmatischer: «Die Entfernung von der Stadt Rhodos, oder wie man hier spricht, dem Kastron, beträgt über Land zehn Stunden, einen starken Tagemarsch.» (1845, 75) 24
Ludwig Ross und Rhodos wie bei Ross, s.o.). Als Ross im Folgejahr, 1844, Lindos wieder erreichte, hatte er jedoch den gewünschten Erfolg: «Diese Mal war ich mit der nöthigen schriftlichen Erlaubnis des Paschah zum Besuche der verlassenen Akropolis versehen, und der Inhaber des Schlüssels, der Türke Husseïn, war auch anwesend. Mit ihm mit dem griechischen Proestós (προεστώς) des Ortes und dem jovialen Priester Papa- Georgis erstiegen wir daher sogleich das auf einem steilen Tafelfelsen sehr malerisch gelegene, vortrefflich gebaute und wohlerhaltene Schloß, das bis vor wenigen Jahren, wie alle türkischen Festungen, strenge bewacht wurde und von keinem Fremden betreten werden durfte; erst seit Kurzem ist es entwaffnet worden, und so war ich der Erste, dem es zu durchforschen ver- gönnt war. Der Eingang der Burg mit den breiten Treppen, die an der Nord- seite hinaufführen und mit den verzierten Fenstern in der äußeren Mauer ist wahrhaft prächtig zu nennen. Aubussons ruhmvolles Wappen schmückt auch hier das Thor. […] …ich ließ mir aber keine Zeit mich bei diesen Anti- quitäten des Ritterthums aufzuhalten, da der sehr aufgeweckte und gefällige türkische Schloßwächter mir sagte, daß die Burg voll hellenischer In- schriften sei. […] Der Türke hatte nicht zu viel versprochen; bei jedem Schrit- te in den mit Trümmern bedeckten Burgräumen stießen wir auf halb ver- grabene Inschriften, und Husseïn wie die beiden griechischen Gastfreunde wetteiferten sie mir auszugraben.» (1852, 68ff.) Abb 17: Der Eingang zur Akropolis mit Ritterburg, alter Treppe und Wappen 25
Sebastian Kempgen Ross identifiziert und vermißt als erster den Athene-Tempel auf der Spitze der Akropolis (1852, 72f.) und einen für Zeus „in der Mitte der Burg“ (1852, 72), der heute allerdings nicht mehr gezeigt wird; wohl aber wird von einem entsprechenden Kult gesprochen. Ross beschreibt den vermeintlichen Tempel ausführlich in einem späteren Aufsatz (1861, 395), den er mit verschiedenen Detailabbildungen (in separat ge- bundenen Tafeln) bereichert. Es könnte sich dabei um Teile der dori- schen Stoa gehandelt haben. Über die gefundenen Inschriften berichtet Ross in einer weiteren se- paraten Publikation (1846): «Gleich unter dem Portale fand ich die Inschrift Nr. 1, die den Rittern als Stufe zum Besteigen ihrer Pferde gedient zu haben scheint (wie noch heute zahlreiche Grabaltäre an Thüren der Türken in Rhodos)» (1846, 162). Ludwig Ross: Die Tempel auf der Akropolis von Lindos. In: ders., Archäologische Aufsätze. Zweite Sammlung. Leipzig: B.G. Teubner 1861, 393–396. Ludwig Ross: Inschriften auf Lindos. In: Rheinisches Museum für Philologie, N.F. IV, 1846, 161–199. [Inschrift Nr. 1, S. 166] Die erste Inschrift, die Ross in seiner Publikation wiedergibt, ist auch die erste, die er gefunden hatte. Sie befindet sich heute immer noch (etwa) an der gleichen Stelle (genauer: hinter dem Durchgang in einer Mauernische rechterhand) und kann deshalb leicht identifiziert werden. An dieser Stelle soll deshalb eine aktuelle Photographie einem Abdruck der Wiedergabe bei Ross an die Seite gestellt werden. Mit der Inschrift ehren die Lindier einen Mann namens Moiragénēs, der «mit öffentlichem Lobe, einem goldenen Kranze, einem ehernen Standbild, dem Vorsitz in den Festspielen und öffentlicher Speisung im Opferhause (ἱεροθυτεῖον) beschenkt wird.» (Ross 1846, 166f.) Die beiden untersten Zeilen nennen Vater und Sohn namens Epícharmos, die das Bildnis angefertigt haben (dazu vgl. Ross 1846, 168). 26
Ludwig Ross und Rhodos Abb 18: Inschrift Nr. 1 aus der Akropolis von Lindos (Ross 1846, 166) 27
Sebastian Kempgen Abb. 19: Inschrift Nr. 1 auf der Akropolis von Lindos heute 28
Ludwig Ross und Rhodos 3. Ludwig Ross und Rhodos-Stadt Ross vermittelt sehr interessante historische Informationen, was die Neustadt von Rhodos-Stadt (im Gegensatz zu dem Altstadt-Kern inner- halb der Stadtmauer) betrifft. Das älteste Viertel dieser Neustadt heißt auch heute noch einfach Niohori, was einfach die Übersetzung dieses Wortes ist, während die gesamte Neustadt als Bezirk Mandraki heißt (wie der Hafen). Abb. 20: Ausschnitt aus der Karte von Spratt (Ross 1845, nach 192) Ross beschreibt seine Ankunft so: «Nachdem wir freie Pratica erhalten, ging ich um 2 Uhr Nachmittags an Land in das Christenviertel (Νεόµαρας oder Neudorf), welches auf der schmalen und flachen Landzugen nördlich unter der Festung und unter der Anhöhe liegt, an welche diese angelehnt ist. Denn nach einer alten Satzung dürfen keine Christen, von welcher Nation auch immer, innerhalb der Fes- tung wohnen, wo nur Türken und Juden hausen; die christlichen Kaufleute und Handwerker haben freilich ihre Gewölbe dort, aber erst nach Sonnen- aufgang wird ihnen das Thor geöffnet und vor Sonnenuntergang wird es wieder hinten ihnen geschlossen. Auch am Freitag müssen sie, während der Stunden des türkischen Gottesdienstes, die Festung verlassen. Diese christ- liche Vorstadt, wo auch die Consuln wohnen, besteht aus drei ziemlich ge- rade laufenden parallelen Straßen, die von anderen kleineren durchschnitten sind, und erstreckt sich bis an den jenseitigen Strand. Nördlich von dersel- 29
Sebastian Kempgen ben läuft die Insel in eine ganz flache, sandige, von aller Vegetation entblößte Landspitze aus, welche K u m b u r n u (das Sandkap) heißt und mit Windmühlen besetzt ist. Ich ging mit dem griechischen Consul sogleich zu einem alten Bekannten, dem schwedischen Naturforscher Professor Hedenborg, der sich seit fünf Jahren hier niedergelassen hat und ein artiges Haus unter dem nördlichen Abhange des Stadthügels bewohnt, dessen Zimmer er mit mannigfaltigen Sammlungen ausschmückt. Bei ihm fand ich einige Inschriften und sah eine Anzahl von Grablampen und schlechten einfachen Thonvsen, die er nach und nach in seinem Garten ausgegraben. Auch erhielt ich von seiner Güte mancherlei Auskunft über das Innere der Insel, die er vor einigen Jahren als Geolog bereist hat.» (1845, 80) Abb. 21: Die Dilberaki-Straße in der Neustadt von Rhodos 30
Ludwig Ross und Rhodos Das obenstehende Bild zeigt die Grenze zwischen dem alten Christen- viertel in der ‘Neustadt’ von Rhodos (links ein solches altes Kaufmanns- haus) und der modernen Bebauung dieses Areals (rechts). Auf der nachstehenden Karte haben wir das historische Christenviertel der Neustadt markiert; es ist bei genauer Betrachtung immer noch an den viel kleineren Grundstücken und Häusern zu erkennen – von einzelnen Hotelneubauten natürlich abgesehen. Heute sind von den kleineren Querstraßen etliche Fußgängerzone, so wie das obige Bild der Dilberaki Str. zeigt. Abb. 22: Das alte Christenviertel in der Neustadt von Rhodos (OpenStreetMap-Karte, bearb. S.K.) Der von Ross überlieferte türkische Name der Landspitze, das Kap Kumburnù (auch Koubournou geschrieben), ist heute auch noch bekannt, 31
Sebastian Kempgen häufiger aber findet sich die Bezeichnung Ákra Mýlōn ‘Kap der Mühlen’ – die freilich an dieser Stelle nicht mehr existieren. Sie sind aber auf einer historischen Aufnahme (s.u.) zu sehen. Abb. 23: Das ‘Kap der Mühlen’ an der Nordspitze von Rhodos (hist. Aufnahme, Datum unbekannt: Q: Web) Badoud würdigt Ross übrigens nur mit einem einzigen Satz (2019, 48), hingegen umso ausführlicher Johan Hedenborg: «Finally, Hedenborg had an important influence on where other travellers to Rhodes in the middle of the 19th century conducted their researches. The most important were, in chronological order, Ludwig Ross (who published the first description of the acropolis of Lindos, by then abandoned by its Turkish garrison), Victor Guérin and Charles Newton.» Bei Ross liest sich dies etwas anders, allerdings muß man wissen, daß Hedenborgs Geschichte der Insel Rhodos (1854) bis heute Manuskript geblieben ist. Badoud (2017) hat sich speziell mit einigen Aspekten der Forschungen Hedenborgs befaßt. 32
Ludwig Ross und Rhodos 4. Fazit Im vorliegenden Beitrag wurde primär der Bericht von Ludwig Ross über seinen Erkundungen auf Rhodos anhand dreier Bei- spiele und ausgewählter Details untersucht: Kameiros, Lindos und Rhodos-Stadt, jeweils begleitet und illustriert mit Bildmaterial des Verf. Bei Kameiros wurden die Umstände, die dazu führten, daß Ross die antike Stätte nicht gefunden hat, ausführlich beleuchtet, wobei erstmals die Bucht, die Ross auf der Grundlage der Karte von Spratt aufgesucht hat, identifiziert werden konnte. Bei Lindos wurde die Zeichnung des Felsengrabes, die Ross seinem Buch beifügt, ins Gedächtnis gerufen, denn sie scheint ein wenig in Ver- gessenheit geraten, und kleinere Unkorrektheiten in der Attribu- tion eines Bildes von Luigi Mayer des gleichen Felsengrabes ver- merkt. Bei dem Peribolos/Tetrastoon neben dem Theater konnte gezeigt werden, wie „nahe dran“ Ross offenkundig war, die be- rühmteste Inschrift von Lindos zu entdecken: sie hat ihm – wort- wörtlich – zu Füßen gelegen. Von der Akropolis wurde die erste von Ross gefundene Inschrift reproduziert und mit einer Photo- graphie korreliert. Dabei wurde auch deutlich, daß Ross’ Glaube, der erste neuzeitliche westliche Forscher auf der Akropolis von Lindos gewesen zu sein, einer Einschränkung bedarf. Bei Rhodos- Stadt wurden die interessanten historischen Informationen von Ross über das ‘Christenviertel’ in der Neustadt durch eine Karte und Fotos visualisiert. Zugleich wurde deutlich, daß Bedeutung und Verhältnis von Hedenborg und Ross zueinander von Ross etwas anders dargestellt wird als von der Sekundärliteratur wie z.B. von Badoud, der sehr viel stärker die Leistungen von Hedenborg herausstreicht. Im Anhang wurde Ross’ Kritik an seinem Vorgänger Hamilton an einem Beispiel (Camiros) etwas relativiert, zugleich aber konnten Hamilton weitere Ungenauigkeiten nachgewiesen werden, aber auch ein Vorschlag für die Identifikation der von ihm be- schriebenen Bucht mit den Felsgräbern formuliert werden. An der grundsätzlichen Bedeutung von Ludwig Ross ändern diese kleineren Korrekturen oder Anmerkungen zu seiner Reisebe- schreibung natürlich nichts – es gilt weiterhin das eingangs Zi- tierte. 33
Sebastian Kempgen Appendix 1: „Weißes Kamiros“ Oben wurde deutlich, wie sehr Ross auf das Epitheton von Homer vertraute und nach passenden Gegenden suchte, die dieser Charak- terisierung entsprachen. Vor Ort drängt sich einem dieser Eindruck eigentlich nicht überall auf, jedenfalls nicht so prominent, wie man den- ken sollte, u.a. weil die Insel ja gut bewachsen ist. In Kameiros selbst waren es wohl Akropolis und Häuser, die den Beinamen rechtfertigten, ansonsten können es Felswände, Klippen, Steilküsten etc. sein, wenn sie aus Kalkstein und nicht bewachsen sind. Illustrativ ist vielleicht das Bild unten, das einen hell leuchtenden frischen Sandstein im unteren Teil, im oberen jedoch einen schon länger der Verwitterung ausgesetzten zeigt. Kalkstein ist in der Tat für Rhodos charakteristisch, aber nicht überall und nicht überall gleichmäßig. Vgl. dazu Bukowski (1889, 211f.): «Die Mehrzahl der Kalkstöcke, darunter die sowohl an Höhe als auch an Ausdehnung bedeutendsten finden sich im mittleren Theile der Insel; das nördlichste Gebiet weist minder zahlreiche Vorkommnisse auf, und diese stehen auch, as ihre Grösse anlangt, hinter den meisten aus der Mittelregion zurück. Im südlichen Drittel fehlen sie gänzlich. Die Linie der grössten Breite der Insel zwischen Cap Monolithos und Cap Kina (Cape Lindos or Lardos der englischen Seekarte) bezeichnet ungefähr die südliche Grenze ihrer Verbreitung.» Der die südliche Hälfte der Insel dominierende Bergstock des Ataviros ist „der mächtigste aller Kalkstöcke“ (ebd., 212), und auch der Berg- rücken des Profitis Ilias besteht aus dem gleichen Material (ebd., 214). Auch der Felsen der Ritterburg von Feraklos (s. dazu auch unten in Appendix 2) ist ein Kalkfelsen. Daneben gibt es aber immer wieder auch Bereiche mit mehr oder weniger großen Sandsteinschichten, denen die Insel ihre Strände zu verdanken hat. Eine zweite Arbeit enthält auch eine farbige Karte zur Geologie von Rhodos (Bukowski 1898). 34
Ludwig Ross und Rhodos Abb. 24: Agia Agathi-Kapelle 35
Sebastian Kempgen Appendix 2: „Camiro“ bei Hamilton Wie eingangs erwähnt, berichtet Hamilton (1842, 57f.) von einem Orts- namen Camiro(s) an der Ostküste der Insel. Auf der Karte, die seinem Bericht am Ende von Band 2 beigefügt ist, ist der Ort etwa in Höhe des heutigen Ortes Charaki (unterhalb der Ritterburg Feraklos) eingezeich- net, vgl. die nachstehende Abbildung. Abb. 25: Rhodos bei Hamilton mit Ortsangabe Camiro (bearb. S.K.) Der Ortsname wird ihm zuerst von seinem griechischen Gastgeber in Lindos mitgeteilt: «He added, that the flat table-land which we had seen north near the sea-side was called Camiro, from a convent called Camirili, situated in the hills above.» (1842, 57) Hamilton biegt auf seiner Rückreise von Lindos nach Rhodos-Stadt in Richtung des Tafelfelsens mit der Ritterburg von Feraklos ab: 36
Ludwig Ross und Rhodos «The natives call the district in which it is placed Zografi. Before reaching the foot of the hill, we passed through the ruins of an old town, either Greek, Byzantine, chivalrous, or Turkish. Amongst the ruins were many spoils of classic origin, viz. marbles, Corinthian capitals, columns, and inscription, built into the more modern walls.» (1842, 57) Diese Auskünfte sind heute allerdings z.T. etwas rätselhaft, denn von den Resten einer ‘Stadt’ ist heute vor Ort nichts zu sehen. Möglicher- weise hat Hamilton die Überreste einer Zuckerproduktionsstätte des 15. Jh. (nach Losse 2017, 16), also aus der Zeit der Ritter, gesehen (heute Fundamente). Sie liegen unterhalb des Festungsfelsens in Richtung Charaki. Das Toponym Zografi lebt interessanterweise im Namen einer Taverne weiter (Zografos), die an durchaus passender Stelle (etwas au- ßerhalb Charaki an der Straße in den Ort) mit Blick auf die Festung Fe- raklos liegt. Hamilton hatte seine Gewährsmänner also richtig verstan- den. Der Forschungsreisende besteigt jedenfalls den Fels, identifiziert die Festungsreste richtig als eindeutig und ausschließlich der Zeit der Ritter zugehörig (“all the remains being decidedly of the time of the knights”, 1852, 57), wiederholt dann nochmals seine Einschätzung und ergänzt: «The walls below leave no doubt that it was the site of an ancient city; and considering the name given to it by the Greeks of the neighbourhood, who call it Camiros and Acamiro, although they give a fanciful cause for the derivation of that name, it is evident that we have here the ruins and site of Camirus, one of the three ancient cities of the island of Rhodes, Lindus, Camirus, and Ialysus, according to Homer, who applies the term of white or chalky to the cliffs of Camirus. This agrees with the actual appearance of the place, for that part of the promontory where we found the Cyclopian walls consisted of the purest and whitest scaglia limestone I had ever seen.» (1842, 58) Weil er also diese Lokalität für das antike Kameiros hielt, wollte er Stra- bos Beschreibung nicht glauben: «… Strabo, who says that Lindus is the first place met with by those who sail from the city of Rhodes, having the island on the right hand. This is certainly an error: for, whether these ruins represent Camirus or not, they occur before Lindus.» (1842, 58) 37
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