Magie, Macht und Mammon: Brasilien - De Gruyter
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6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien Geld ist das Blut der Kirche.1 Die aus Studien in Lateinamerika entwickelten religiös-politischen Akteursformatio- nen funktionieren selbstverständlich auch in Brasilien. Die Unterscheidung in die For- mationen von Jenseitshoffnung, Management, Gesetz und Werte des Reiches Gottes erlaubt zum einen, das Feld des Protestantismus zu ordnen, und zum ande- ren, brasilianische Besonderheiten kenntlich zu machen. Brasilien hat zwar mit etwa 26 % ebenfalls einen hohen protestantischen Bevölke- rungsanteil, ein wichtiger Unterschied zu Guatemala ist jedoch die Stärke der Pfingst- bewegung. In Brasilien gehört ein weitaus größerer Teil der Protestanten und damit auch der Bevölkerung zur Pfingstbewegung als in Guatemala und vielen anderen latein- amerikanischen Ländern:2 Das heißt für die Formation Gesetz zweierlei. Ihr kommt als Ganzer eine geringere Rolle zu; und sie setzt sich zu einem guten Teil aus klassischen Pfingstkirchen zusammen, die derart routinisiert sind, dass sie nach der Logik dieser Formation funktionieren. Zudem hat sich die Pfingstbewegung in Brasilien schon sehr früh im 20. Jahrhundert und relativ unabhängig von den USA entwickelt. Möglicher- weise hängt es mit dieser längeren und stärker autochtonen Verankerung zusammen, dass Pfingstkirchen unmittelbar mit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er Jahre begannen, sich formell in der Politik zu engagieren und bei der Entstehung der Frente Parlamentar Evangélica (oder auch Bancada Evangélica) mitwirkten; einer frak- tionsähnlichen Vereinigung protestantischer Abgeordneter, die in dieser organisierten Form meines Wissens nur in Brasilien existiert. Anders als in Zentralamerika ist die Pfingst- bzw. Neopfingstbewegung über lange Zeit nicht in die obere Mittelschicht und Oberschicht vorgedrungen. Unmittelbaren Einfluss religiöser Experten auf Regierun- gen – wie in Guatemala – hat es deshalb bisher nicht gegeben, außer durch die Bancada Evangélica im Parlament. Ein direkter Einfluss bestimmter religiöser Experten auf die Regierung Bolsonaro lässt sich indes beobachten. Die Rolle von Einwandererkirchen, 1 E. Macedo 1984, 97. 2 Nach Barrett, Kurian und Johnson (2001) gehören 47 % der brasilianischen Protestanten der Pfingstbewegung an, aber nur 22 % der guatemaltekischen. Siehe auch Holland 2017; Holland und Holland 2017; Freston 1994; 2001; 2008; Bohn 2004; L.M.P. Ribeiro 2007. Siehe auch Semán 2021; Campos Machado 2021; und polemisch Fachin undSantos 2020.
386 Die Taufe des Leviathan insbesondere der Lutherischen Kirche (Igreja Evangélica de Confissão Luterana no Bra- sil, IECLB), ist in Brasilien ebenfalls deutlich größer als in den meisten anderen latein- amerikanischen Ländern. Zusammen mit anderen Historischen Kirchen und teilweise in Kooperation mit der in Brasilien ebenfalls starken Theologie der Befreiung bilden sie in der politischen Landschaft spätestens seit den 1950er Jahren eine ökumenische und sozialdemokratisch orientierte Alternative. Eine weitere Besonderheit Brasiliens ist die starke kulturelle und religiöse Diversi- tät. Neben den indigenen Religionen – die allerdings geografisch relativ isoliert sind – spielen in den Städten der Kardec’sche Spiritismus, der afroamerikanische Candomblé und dessen verbürgerlichte Form, die Umbanda, eine spürbare Rolle. Der Spiritismus hat von diesen Gruppen die beste Position in sozio-ökonomischer Hinsicht (vgl. Bohn 2004, 296ff.), ist aber sozial oder politisch nicht mobilisiert. Der Candomblé ist klar auf die schwarze Unter- und untere Mittelschicht beschränkt, während Umbanda ei- ne ethnisch offene Option für die Mittelschicht darstellt. Candomblé und Umbanda dienen zur identitätspolitischen Mobilisierung afrobrasilianischen Protests. Allerdings sind der Kardecismus mit nur 2 % und Candomblé und Umbanda mit nicht einmal einem halben Prozent der Bevölkerung im Vergleich zu Katholizismus und Protestan- tismus als Wählerpotenzial ganz gewiss irrelevant (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística 2010). Im Alltagsleben ist Toleranz gegenüber der religiösen Diversität ver- breitet bis dahin, dass Menschen die Praktiken verschiedener Religionen nebeneinan- der vollziehen, jeweils mit verschiedenen Zielen: Candomblé bei Krankheit, die katho- lische Messe zur Meditation, die Pfingstgemeinde zur sozialen Organisation. Etwa ein Viertel der Protestanten und fast die Hälfte der Katholiken lehnen die Aussage ab, dass nur die eigene Religion Recht habe (Schäfer 2009b, 501). Selbst wenn das Wachstum der Pfingstbewegung von der Katholischen Kirche sehr kritisch beurteilt wird, wie etwa auf der Bischofskonferenz in Aparecida (2007), und ein neopfingstlicher Pastor auf offener Bühne einer Figur der Jungfrau von Aparecida einen Tritt versetzt (chute na santa, 1995) scheint doch das religiöse Feld eine für das Auftreten religiöser Akteure weniger wich- tige Arena zu sein als die politische Öffentlichkeit. 6.1 Historische Perspektiven: Laicité nonchalante, Medien und Geld Wenngleich mit europäischen Einwanderern lutherische und reformierte Gläubi- ge schon vor dem 19. Jahrhundert nach Brasilien kamen, begann eine kirchliche Organisation in Form von protestantischen Kirchengründungen und Mission erst in dem Jahrhundert der Unabhängigkeit und der Kämpfe zwischen Liberalen und Konservativen. Allerdings war in Brasilien die geografische Trennung von Kolonie auf der einen und kolonialistischer Krone auf der anderen Seite nicht so gegeben wie in den spanischen Kolonien. Napoleons Überfall auf Portugal und der Flucht des Hofes ist es geschuldet, dass Brasilien ab 1808 eine Zeitlang Regierungssitz des portugiesischen Reiches unter Kaiser Pedro I. war und dieser höchstpersönlich 1822 die Unabhängigkeit Brasiliens erklärte. Ab 1840, unter seinem Sohn Pedro II., der mit Hilfe der liberalen Partei schon als Jugendlicher an die Macht kam, entwickelten sich zunehmende Spannungen zwischen der katholischen Staatskirche und dem
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 387 Monarchen. Dies nicht zuletzt, weil der Kaiser stark in die schlecht organisierte Kirche hineinregierte und unter anderem die Orden schwächte. Obgleich Katholik, war der Kaiser offen gegenüber dem Protestantismus, dem Liberalismus, dem Positivismus und den wissenschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, und den Freimaurern gegenüber war er immerhin fair. Kurz, die Regierung Pedros II. schaffte günstige Bedingungen für die Mission der ersten protestantischen Kirchen aus den USA. Wie sonst überall auf dem Kontinent waren dies Presbyterianer, Reformierte und Kongrega- tionalisten. Aus dem sich in den USA herausbildenden evangelikalen Spektrum kamen Baptisten und Methodisten. Die Sklavenbefreiung mit dem »Goldenen Gesetz« von 1888 –durchaus im Sinne der Liberalen, wenn auch die späteste auf dem Kontinent – wurde von den Missionskirchen sehr unterschiedlich bewertet. Gemäß den Positionen ihrer Heimatkirchen übertrugen sie die Spaltung zwischen den südlichen und den nördlichen Kirchen in den USA auf Brasilien (vgl. Prien 1978, 423ff., 543ff.). Auf das Ende der Sklaverei reagierten (konservative) Großgrundbesitzer mit Aufständen, die durch das (tendenziell liberale) Militär im Zusammenhang mit einem Militärputsch niedergeschlagen wurden. Die Monarchie war beendet. Mit der Ersten Republik ab 1890 wurde die Religionsfreiheit etabliert. Die Katholische Kirche durfte gleichwohl ihre Besitzungen behalten; doch die Zivilregister wurden säkularisiert und somit eine säkulare Zivilgesellschaft ermöglicht. Das führte allerdings bei weitem nicht zu Laizismus. 6.1.1 Laizität und Religionsfreiheit Im heutigen Brasilien ist zwar viel vom laizistischen Staat die Rede; die entsprechenden Regularien werden allerdings kaum durchgesetzt, bzw. sind bei genauerem Hinsehen kaum vorhanden. Ähnlich der US-amerikanischen Verfassung sieht die brasilianische keinen Schutz des Staates vor religiösem Zugriff vor. Zudem ist religiösen Führern die öffentliche Parteinahme für Politiker und Parteien zwar verboten, aber niemand hält sich daran. Die Laizität des Staates in Brasilien »tem jeito«, könnte man etwas informell sagen, das heißt, sie ist »so lala«.3 Mit anderen Worten: »Obwohl die Laizität (in Brasi- lien, HWS) offiziell als ein Regime der Regulierung des Religiösen betrachtet wird, hat sie nie einen juridisch-politischen Rahmen schaffen können, der das Handeln der Ka- tholischen Kirche im öffentlichen Raum einschränken könnte« (Montero 2006, zit. bei Camurça 2018, 295). Mit Stärkung des Protestantismus und seiner sozialen sowie po- litischen Präsenz führte diese Tatsache dazu, dass unter Verweis auf Religionsfreiheit protestantische Akteure sich ähnlich weite Aktionsräume erschließen konnten. Zwar wurde mit der ersten republikanischen Verfassung in Brasilien 1891 der Ka- tholizismus seiner Rolle als Staatsreligion entkleidet, und es wurde die Religionsfrei- heit eingeführt. Aber die Katholische Kirche gewann schon im Kampf zwischen den Liberalen und Konservativen im 19. Jahrhundert entscheidende Schlachten. Beispiels- weise gelang es ihr, in der verfassungsgebenden Versammlung von 1891 die Verstaatli- chung kirchlicher Güter zu verhindern, Bestand und freie Arbeit der Orden zu sichern und in einigen Fällen staatliche Subventionen zu erlangen. Wenngleich unter Getúlio 3 Zum Folgenden Camurça 2018.
388 Die Taufe des Leviathan Vargas die afroamerikanischen Religionen stärkere Berücksichtigung bekamen, wurde doch in der Verfassung von 1934 lediglich der Katholizismus als offizieller Kooperati- onspartner des Staates anerkannt und konnte somit seine Privilegien konsolidieren: ka- tholischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen sowie finanzielle Zuschüsse des Staates zu katholischen Schulen, Priesterseminaren und Krankenhäusern. Interessan- terweise wurde die enge Kooperation zwischen Kirche und Staat seitens der Militärre- gierung mit der Verfassung von 1967 stark eingeschränkt. Dies hatte vermutlich mit der Weitsicht der Militärs im eigenen Interesse zu tun. Camurça macht darauf aufmerk- sam, dass sich gerade in der Katholischen Kirche Brasiliens die Einflüsse des Zweiten Vaticanums und der aufkeimenden Theologie der Befreiung bemerkbar machten; dies nicht zuletzt dadurch, dass die katholische Hierarchie nun weniger an institutionellem Eigeninteresse orientiert war als vielmehr an den Menschenrechten. Diese Spannung trug dazu bei, dass sich unter der zunehmenden Präsenz von Protestanten, nicht zuletzt Pfingstlern, im öffentlichen Raum religiöser Pluralismus Bahn brach. Die Präsenz von Protestanten in der verfassungsgebenden Versammlung ab 1985 und die Formierung einer Bancada Evangélica taten das Ihrige. Die in der Verfassung von 1988 (Presidência da República 1988) festgelegte Religionsfreiheit4 gilt prinzipiell für alle Religionen; aber man beachtete im Nachgang diese Tatsache in der politischen Praxis nicht besonders. Das mit der verfassungsmäßigen Regelung berührte Verhältnis zwischen Kirche und Staat und somit die Frage der Laizität blieben weitgehend offen für Interpretationen unterschiedlichster Provenienz. Zunächst bleibt festzuhalten, dass in der Präambel der Verfassung einen Gottesbezug etabliert wird; dass religiöser Unterricht an öffentlichen Schulen etabliert wird; dass die kirchliche Trauung als staatliche anerkannt wird; und dass religiösen Wehrpflichtigen ein Ersatzdienst genehmigt wird. Von besonderem In- teresse ist der Artikel 19. Ähnlich wie der Erste Verfassungszusatz in den USA verbietet er dem Staat, religiöse Institutionen zu gründen oder zu fördern. Er geht allerdings dar- in weiter, dass staatliche Stellen mit »Kirchen und religiösen Gemeinschaften … sowie mit deren Repräsentanten keine Beziehungen von Abhängigkeit oder Allianz« unter- halten dürfen. Diese Bestimmung wird allerdings sofort wieder eingeschränkt: »außer, wenn diese in öffentlichem Interesse sind«. Das öffentliche Interesse ist selbstredend ein sehr dehnbarer Begriff, nicht zuletzt wenn kirchliche Funktionäre selbst Parlamen- tarier oder Gouverneure sind. Spätestens das Verhalten der religiösen Einpeitscher bei den letzten Wahlen hat diese Dehnbarkeit zu Genüge demonstriert. Die Regierung Lula da Silvas brachte zusätzliche Bewegung in die brasilianische Gesetzgebung in Sachen Religion. 2008 wurde eine konkordatsähnliche Vereinbarung zwischen Regierung und Vatikan unterzeichnet, mit der die Steuerfreiheit, der Schutz 4 Título II, Capítulo I, VI: »Die Freiheit des Gewissens und des Glauben ist unverletzlich und die freie Ausübung des religiösen Kultes und der Schutz der Kultstätten sind gesetzlich versichert und ga- rantiert.« Die entscheidenden Artikel der Verfassung von 1988 sind Art. 5, IV: Meinungsfreiheit; Art. 5, VI: Religionsfreiheit und Schutz durch Staat; Art. 5, VII: Militär und Krankenhaus-Seelsorge; Art. 5, VIII: Diskriminierungsverbot und Ersatzdienst für Militär aus religiösen oder philosophischen Gründen; Art. 210 § 1: Religionsunterricht an öffentlichen Schulen; Art. 226 §2: kirchliche Ehe gilt als Zivilehe; Art. 150: Verbot von Steuern auf b) Kirchengebäude, c) Schulen und Sozialarbeit, d) Bücher und Zeitschriften, e) Phono und Videos mit Musik.
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 389 der Kirchengebäude und des Grundbesitzes sowie die Zuweisung von Orten für öffent- liche Kundgebungen festgeschrieben wurden (Presidência da República 2010). Die pro- testantische Seite war angesichts dessen keineswegs damit zufrieden, dass Lula 2009 einen staatlich-offiziellen »Tag des Marsches für Jesus« etablierte. Vielmehr brachte die Bancada Evangélica einen Entwurf für ein »Generelles Gesetz über die Religionen«5 ein, im Interesse einer festgeschriebenen Gleichstellung mit der Katholischen Kirche. Es handelt sich im Großen und Ganzen um eine genauere Ausformulierung der in der Verfassung ohnehin verbrieften Rechte. Für Protestanten nicht unwichtig ist, dass im neuen Gesetz dem Staat verboten werden soll, religiösen Akteuren die Rechtsform der juristischen Person durch Einschreibung in das Register der religiösen Organisatio- nen zu verweigern (Art. 3, § 2). Kirchliche Einrichtungen genießen besonderen Schutz, und öffentliche Veranstaltungen, auch mit Musik, sind ausdrücklich erlaubt (Art. 6). Eingeladene ausländische Missionare genießen ein besonderes Recht auf ein Visum (Art. 16). Vor allem aber wird auf die Steuerbefreiung von religiösen Entitäten, ihrem Besitz, ihren Einkommen und Dienstleistungen zu religiösen Zwecken geachtet (Art. 4). Dazu gehören natürlich auch gemeinnützige Institutionen im Bereich Bildung und Gesundheit (Franco und Guimarães Altafin 2016). Allerdings ist der nun institutionali- sierte Graubereich von »religiösen Zwecken« offen für weite Auslegung, und religiöse Bildungsinstitutionen sollen sich im Rahmen der Bildungsgesetzgebung (Anerkennung der Titel etc.) »in Übereinstimmung mit den eigenen Zielen« entfalten (Art. 10) (Franco und Guimarães Altafin 2016). Alles in Allem trägt der Gesetzentwurf zu Befürchtungen von säkularistischen Akteuren bei, dass mit einer Art evangelikalem Konkordat die Lai- zität des Staates in Frage gestellt wird. Camurça resümiert: »Die Folge des gesamten parlamentarischen Streits war die Ausweitung der Anerkennung im Sinne öffentlicher Präsenz, die die Katholische Kirche historisch erworben hat, auf andere Akteure – das heißt Protestanten – und nicht das Unterbinden dieser Präsenz für jedwede Religion, wie es sich minoritäre Gruppen laizistischer Abgeordneter gewünscht hatten« (Camur- ça 2018, 299).6 Das Gesetz passierte 2016 die zuständige Senatskommission, wurde aber 2018 vom Parlament »archiviert«, das heißt, aus den weiteren Beratungen ausgeschlos- sen, so dass es nicht in Kraft trat (Senado Federal, Brasil 2018). Nach Ansicht brasiliani- scher Wissenschaftler7 verschwand das Gesetz im Archiv, da es der Bancada Evangélica im Endeffekt nicht vollends genehm war. Genauer: Im Gesetz wurden nicht nur der Protestantismus sondern auch nicht-christliche Religionen mit der Katholischen Kir- che gleichgestellt. Außerdem sei es für Protestanten wie auch für die Katholische Kirche wohl besser gewesen, nicht allzu viel festzuschreiben, sondern die Angelegenheit »lose« zu belassen. Wie gesagt, das Verhältnis zwischen Religion und brasilianischem Staat ist etwas nonchalant – tem jeito. 5 »Lei Geral das Religiões«, https://www.camara.leg.br/proposicoesWeb/prop_mostrarintegra?codte or=670872 (Zugegriffen 01.04.2019). 6 »La consecuencia de toda esta polémica parlamentaria fue la extensión del reconocimiento, en tér- minos de presencia pública, adquirida históricamente por la religión católica, a las demás – léase a los evangélicos – y no a la supresión de esta presencia para cualquier religión, como deseaban los minoritarios grupos de diputados laicos.« 7 Ich danke Rudolf von Sinner und David Mesquiati für ihre Einschätzungen.
390 Die Taufe des Leviathan Ähnlich verhält es sich mit dem Verbot der politischen Propaganda in Kirchen. Diese ist von der Obersten Wahlbehörde im Jahr 2000 explizit verboten worden, was 2014 offiziell bestätigt wurde.8 Die Debatte darum setzt sich allerdings unbeirrt fort, und befolgt wird die Anordnung von Akteuren der Formationen Management und Gesetz in der Regel ohnehin nicht. Im Blick auf die Steuerbefreiung gilt es zu berücksichtigen, dass die Hoheit über Steuerbefreiungen laut Verfassung nicht bei einer zentralen Instanz liegt, sondern auch regional und lokal (municipios) besteht (Verfassung 1988 Art. 145). Damit kann auch eine lokale Verwaltung Ausnahmen genehmigen. Das System ist somit sehr flexibel. Unter dem Strich wäre das Religionsgesetz in finanzieller Hinsicht ohnehin nur von geringer Bedeutung für die religiösen Akteure, da die in der Verfassung von 1988 festgeschriebe- nen Steuerbefreiungen auskömmlich sind (Art. 150), nämlich bezogen auf Kirchenge- bäude, Schulen und Sozialhilfeeinrichtungen sowie auf Phono- und Videoproduktion. Vor allem Letzteres hat in hohem Maße die Entwicklung einflussreicher Medien seitens religiöser Akteure (insbesondere der Formation Management) begünstigt.9 Religiö- se Organisationen haben also ausgezeichnete Bedingungen, um religiös-politische Öf- fentlichkeitsarbeit zur Beeinflussung politischer Prozesse in ihrem Sinne zu betreiben. Das Ergebnis ist ein starker medialer Einfluss religiöser Akteure auf die Jurisdiktion sowie auf politische Prozesse, bis hin zur Wahl von Präsidenten. Umgekehrt findet sich in der Verfassung nichts, was den Staat vor dem Zugriff religiöser Akteure auf die Politik schützen könnte. Von Laizität im französischen oder mexikanischen Sinne kann kaum die Rede sein. Die protestantischen Organisationen haben folglich gute Handlungsbedingungen in Brasilien. Wie setzen sich unter diesen Konditionen die religiösen Akteursformatio- nen zusammen? 6.1.2 Protestantische Einwanderer Von keiner der Historischen Kirchen wurde Brasilien so geprägt wie von der Lutheri- schen Kirche der deutschen Einwanderer (IECLB, 1824; 1949 in der jetzigen Form kon- stituiert). Weitere Einwandererkirchen, die während des Kaiserreichs und der Ersten Republik ihre Arbeit aufnehmen, sind die Igreja Episcopal Anglicana do Brasil (ab 1819), die aus Holland stammenden Igrejas Evangélicas Reformadas no Brasil (ab 1911) und die Friedenskirche Igreja Mennonita deutscher Einwanderer (ab 1931). Ab 1855 begann mit den Kongregationalisten (União das Igrejas Evangélicas Congregacionais do Brasil) die Mission aus den USA; 1859 folgen Presbyterianer (Igreja Presbiteriana do Brasil). 1859 kam der erste baptistische Missionar aus den USA (Convenção Batista Brasileira), und 8 Vgl. in der Folha de São Paulo: De Freitas 2000; und den Text des Dekrets: Toffoli 2014. 9 Im Einzelnen bedeutet das die Freiheit von Grundsteuer, Einkommensteuer, Sozialbeiträgen, Um- satzsteuer und Erbschafts- sowie Schenkungssteuer. Entsprechende Erklärungen müssen aller- dings abgegeben werden. Das heißt, es werden keine Steuern auf Mietobjekte, Immobilien und erbrachte Dienstleistungen gezahlt; etwa sind bei Renovierungsarbeiten an kirchlichen Gebäu- den keinerlei Steuern auf Materialen und Dienstleistungen fällig. Die Einnahmen durch Spenden können durch die weitgehende Befreiung für verschiedenste Ausgaben verwendet werden, etwa Renovierungen oder öffentliche Events. Siehe B. Ribeiro 2017.
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 391 1867 begannen die Methodisten (Igreja Metodista do Brasil). Die Historischen Kirchen orientierten ihre Arbeit auch in Brasilien an der Mittelschicht, wo sie ihren Schwer- punkt behalten sollten. 6.1.3 Evangelikale, Pfingstler und Bekehrung Ähnlich wie in den USA und Guatemala kam es im Laufe des 20. Jahrhunderts auch in Brasilien zu einem verstärkten evangelikalen Einfluss, und mit der dezidierten Bekeh- rungsmission orientierte sich die Missionsarbeit an der Unterschicht. Die Industria- lisierung mit der Konsequenz von massiver Migration in die Städte war dem Bekeh- rungserfolg der Evangelikalen und der Pfingstler sehr zuträglich. Zum einen reden wir hier von evangelikalen Missionen aus den USA wie der Heilsarmee (Exército de Sal- vação, ab 1922); den Heiligungskrichen Igreja de Deus (Anderson, ab 1923), Igreja do Nazareno no Brasil (1958) und Aliança Cristã e Missionária Brasileira (1962); der Igre- ja Missionária Unida do Brasil (United Missionary Church in Brazil, 1955) und vielen anderen. Zum anderen wird die Formation Gesetz verstärkt durch konservative Ab- spaltungen von Historischen Denominationen wie die Igreja Presbiteriana Fundamen- talista do Brasil (1956) oder die Igreja Evangélica Luterana do Brasil (Missouri Synod, 1904). Immer wieder trugen übrigens Auseinandersetzungen über die Freimaurerei – in Brasilien mit einem gewissen Einfluss, aber ohne Expansionsstrategie – zu Spaltun- gen bei. Zudem begann 1946 die fundamentalistische »Indianermission« mit der New Tribes Mission (heute modern Ethnos360). Aus diesen und ähnlichen Akteuren speist sich die Formation Gesetz in Brasilien. Allerdings bleiben die Evangelikalen als kon- fessionskundliche Gruppierung in Relation zum Historischen Protestantismus und zur Pfingstbewegung deutlich schwächer als dies in anderen lateinamerikanischen Ländern der Fall ist. Parallel zum Evangelikalismus entwickelte sich die Pfingstbewegung. Deren Stil üb- te – ähnlich wie in der protestantisch-charismatischen Bewegung in den USA – An- ziehungskraft auf historisch-protestantische Mittelschichtskirchen aus, so dass es ab den 1960er Jahren zu charismatischen Schismen kommt, wie z.B. der Igreja Batista da Lagoinha (1964), der Igreja Metodista Wesleyana (1967) und der Igreja Presbiteriana Renovada do Brasil (1975). Es lässt sich also auch in Brasilien eine Reorganisation des religiösen Feldes nach Stil bzw. Habitusformationen beobachten, die sehr ähnlichen Dynamiken folgt wie in den USA oder in Guatemala – allerdings mit anderer Gewich- tung. In Brasilien kommt der Pfingstbewegung ein besonders Gewicht zu wegen ihres Alters, ihrer relativen Unabhängigkeit und ihrer starken Verwurzelung in der populä- ren Frömmigkeit. 1910 begannen zwei heute noch wichtige Kirchen ihre Arbeit in Bra- silien. Die Congregação Cristã no Brasil wurde von einem italo-amerikanischen Laien aus Chicago in São Paulo gegründet, ist heute in ganz Brasilien verbreitet und prak- tiziert eine sehr strenge Jenseitsorientierung. Wichtig für das politische Engagement von Pfingstkirchen wurden im Laufe der Zeit die Assembleias de Deus (ab 1911). Die Organisation wurde 1910 von zwei schwedischen Missionaren aus einer baptistischen Gemeinde herausgelöst und 1911 offiziell als Pfingstkirche gegründet. Im Laufe der Jah- re entwickelten sich aufgrund einer semi-autonomen Organisationsstruktur mehrere »Konventionen«, die teilweise in derselben Region miteinander konkurrieren. Es kann
392 Die Taufe des Leviathan also auf gar keinen Fall von »den« Assembleias de Deus als einer homogenen Größe geredet werden. Die heute wichtigsten Vereinigungen dürften die folgenden sein: Con- venção Geral das Assembleias de Deus no Brasil (CGADB, 1930), Assembleia de Deus Vitória em Cristo (1959), Convenção Nacional das Assembleias de Deus no Brasil (die so genannte Madureira-Konvention, 1989) und die Convenção da Assembleia de Deus no Brasil (2017). Die Assembleia de Deus Vitória em Cristo unter ihrem Pastor-presidente Silas Malafaia macht deutlich, dass die Diversität in den brasilianischen Assembleias es einer Organisation durchaus erlaubt, Praktiken der Formation Management zu entwi- ckeln. Malafaia hat seine Organisation zum Prosperity Gospel geführt und sich extrem bereichert (ca. 150 Mio. USD, lt. Forbes; vgl. Antunes 2013; O Globo 2013). Neben die- sen beiden (mehr oder weniger) autochthonen brasilianischen Pfingstkirchen hatte als US-amerikanische Missionskirche nur die Igreja do Evangelho Quadrangular (ab 1951) durchschlagenden Erfolg auch im Feld der Politik. In den 1980er Jahren trennte sich de- ren brasilianischer Zweig von der US-Zentrale und folgte dem allgemeinen Trend zur parlamentarischen Politisierung in der Vorbereitung der neuen Verfassung am Ende des Militärregimes. 6.1.4 Politisierung Nicht beteiligt waren die Pfingstkirchen allerdings an der sozialethischen Politisierung eines Teils des Protestantismus in den 1950er und frühen 1960er Jahren, parallel zu den Reformen der Präsidenten Kubitschek und Goulart. Ausgehend von Impulsen aus dem Weltrat der Kirchen sowie mit presbyterianischen Aktivisten (u.a. der Missionar Ri- chard Shaull) und der Evangelischen Föderation von Brasilien (Confederação Evangélica do Brasil, CEB, mit dem Generalsekretär Waldo César) als Operationszentren verdich- teten sich sozialethische Aktivitäten und führten zur Gründung der Bewegung Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika (Igreja y Sociedade em América Latina, ISAL). Diese setzte auf eine Politisierung des protestantischen Kirchenvolks für den Kampf um so- ziale Gerechtigkeit. Mit dem Militärputsch gegen Goulart 1964 kam diese ökumenische Bewegung in Brasilien stark unter Druck und musste 1966 ihre Aktivitäten in Brasilien einstellen – während konservative Teile der Historischen Kirchen, sowie viele Evange- likale und Pfingstler den Militärputsch als Sieg gegen ›atheistische‹, ›kommunistische‹ und ›unmoralische‹ Reformpolitik begrüßten. Heute wird die sozial-ökumenische Tra- dition von verschiedenen Historischen Kirchen, dem Kirchenrat Conselho Nacional de Igrejas Cristãs (CONIC), der Ökumenischen Koordinationsstelle von Diensten (Coor- denadoria Ecumênica de Serviço, CESE), von pfingstkirchlichen Basisgruppen sowie von religiösen Intellektuellen fortgesetzt. In der Pfingstbewegung setzte mit den 60er Jahren eine Welle von Abspaltungen und Neugründungen durch brasilianische Pastoren der zweiten Generation ein, die der Nationalisierungswelle in anderen lateinamerikanischen Ländern ähnlich ist. Die ers- te dieser Gründungen ist die Igreja Evangélica Pentecostal O Brasil Para Cristo 1955 in São Paulo. Der Gründer, Manoel de Mello (1929-1990), machte die Kirche für einige Jah- re während der Diktatur zu einem Mitglied des Weltrates der Kirchen (WCC). Neben ISAL und der Lutherischen Kirche bezog er eine kritische Stellung zum Militärregime. Zudem war er der erste Kirchenführer, der bereits 1962 und 1966 Kandidaten der Kir-
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 393 che ins politische Rennen schickte. Von Brasil para Cristo spaltet spaltete der Schwager De Melos, David Miranda, 1962 etwa 70 Mitglieder ab und gründete in São Paulo die Organisation Deus é Amor. Diese ist bis heute konzentriert auf die Unterschicht und favorisiert – wie die Neopfingstler der Unterschicht in anderen Ländern sowie die Ig- reja Universal do Reino de Deus in Brasilien – Exorzismus sowie strenge moralische Regeln. In Brasilien hat sie heute circa 1 Million Mitglieder und ist in anderen Ländern Lateinamerikas aktiv, und zwar immer in marginalisierten Bevölkerungsschichten. Ei- ne zweite Abspaltung von Brasil para Cristo ist die Igreja Casa da Bênção (1964). Die Kirche hat ein stark neopentekostales Profil und wird heute vom Sohn des Gründers, Jair de Oliveira, als »Apostel« geleitet. Sie arbeitet in etwa 15 Ländern weltweit. Aus ehemaligen Presbyterianern rekrutierte sich 1968 die Igreja Cristã Maranata, die heute etwa 1,5 Millionen Mitglieder zählt, weltweit agiert und per Satellitenfernsehen zu den Missionsgemeinden Kontakt hält. Impulse der charismatischen Bewegung unter den Historischen Kirchen in den USA und in Europa sowie die starke Polarisierung in den brasilianischen Historischen Kir- chen unter dem Militärregime dürften in den 1960er Jahren zur Abspaltung charis- matischer Gruppierungen geführt haben. Aus methodistischem Hintergrund entstand 1967 die Igreja Metodista Wesleyana, aus baptistischem 1964 die Igreja Batista da La- goinha und aus presbyterianischem 1975 die Igreja Presbiteriana Renovada do Brasil. Diese Kirchen amalgamieren die Mittelschichtsorientierung des Historischen Protes- tantismus mit Elementen der Pfingstbewegung und nehmen damit in Brasilien jüngere neopfingstliche Praktiken vorweg. 6.1.5 Geld und Wohlstand Neopfingstlicher Einfluss mit klarer Orientierung an Prosperity und mehr oder weni- ger ausgeprägter Exorzismus- und Dominion-Doktrin macht sich in Brasilien ab den späten 1970er Jahren bemerkbar. Dabei spielt Einfluss aus den USA eine weitaus ge- ringere Rolle als in Zentralamerika. Die erste wichtige Gründung in dieser Richtung ist die Igreja Universal do Reino de Deus (IURD), 1977 in Rio de Janeiro, Copacaba- na, in einem ehemaligen Beerdigungsinstitut. Diese Organisation hat sich zu einem weltweiten Unternehmen entwickelt, nimmt starken Einfluss auf die Politik und ist zu- gleich zu einem Paradebeispiel dafür geworden, wie in der Formation Management die Kraft des Geldes Prosperity-Doktrin, Autoritarismus, Korruption und Manipulati- on hervorbringt.10 Bereits 1980 schied der Mitgründer Romildo Ribeiro Soares wegen eines Autoritätskonflikts aus und eröffnete die Igreja Internacional da Graça de De- us (Internationale Kirche der Gnade Gottes), die ebenfalls erfolgreich ein Prosperitäts- und Exorzismus-Programm verfolgt. Unmittelbar zum Ende der Militärdiktatur wurde 1986 in einem Viertel der oberen Mittelschicht in São Paulo die Igreja Apostólica Ren- ascer em Cristo (Apostolische Kirche Wiedergeborenwerden in Christus) von Estevam Hernandes und Sônia Hernandes gegründet. Renascer schaffte es, zur drittgrößten ne- opfingstlichen Organisation in Brasilien zu werden; vor allem jedoch brachte Renascer 10 Schon bald wurden erste Analysen über die Geschäftspraktiken der IURD publiziert, wie z.B. Sil- veira Campos 1996.
394 Die Taufe des Leviathan die Idee des autoritären Apostolats in Brasilien zur Geltung und gründete eine Föde- ration der Apostolischen Kirchen (Confederação das Igrejas Evangélicas Apostólicas do Brasil). Eine ähnliche Organisation ist die 1998 von Valdemiro Santiago gegründete Ig- reja Mundial do Poder de Deus (Weltkirche der Macht Gottes) – auch sie ist klar an Prosperity orientiert. Die Führer aller dieser Korporationen erscheinen auf der Forbes- Liste der reichsten Pastoren Brasiliens mit Vermögen zwischen 65 und 950 Millionen USD (Antunes 2013; O Globo 2013). Bei diesen Organisationen liegt es auf der Hand, dass sie ein gutes Geschäft für ihre Führer sind. Allerdings kann man daraus nicht immer auf die Klientel schließen. Während die Ausrichtung von Renascer an der aufsteigen- den, technokratischen Mittelschicht deutlich ist, sieht man bei der IURD in sehr vielen Versammlungen Klienten aus der Unter- und der unteren Mittelschicht, und zudem sind die Versammlungssäle häufig an wenig attraktiven großen Verkehrsadern gele- gen. Außerdem erlebt jede Organisation ihre Konjunkturen. Die IURD etwa sei in den letzten Jahren – so ein brasilianischer Insider – durch Umrüstung der Infrastruktur und partielle Veränderung des Angebots auf dem Weg zur oberen Mittelschicht. Zudem gibt es kleinere Neugründungen, die sich klar und kompromisslos an gut situierten, technokratischen und modernisierenden Aufsteigern orientieren. Dies trifft zum Beispiel auf die Igreja Mananciais (Wasserquellen, 2004) in Barra da Tijuca, einem feinen Strandvorort Rios, zu. Mit minimalistischem Chique und hochkarätigem Unter- haltungsangebot »bilden wir hier eine Familie, die die Liebe und die Gegenwart Gottes erfährt und eine wirkliche intime Beziehung mit Jesus hat«.11 6.1.6 Urban tribes Eine interessante Entwicklung bei den Neugründungen richtet sich weniger klassen- oder funktionsspezifisch aus, sondern segmentär am religiösen Bedarf von »urban tri- bes«. Brasilien erscheint hier ein Vorreiter in Lateinamerika zu sein. Eine sehr erfolgrei- che und weltweit an Surfstränden operierende Organisation ist Bola de Neve (Schnee- ball, 2000) des Surfers und »Apostels« Rinaldo Luis de Seixas Pereira. Die Gruppierung richtet ihr Angebot an Millennials und Jugend mit Sympathien zu Wassersport und Strand aus, spezifisch Surfer. Die Körperbetontheit des Sports kontrastiert stark mit einer rigiden Sexualmoral und mit entsprechenden Problemen: Als ich vor einigen Jah- ren die Organisation in Barra da Tijuca besuchte, waren keine Gespräche möglich, weil für die Gruppe der Fall eines sexuellen Übergriffes seitens eines Leiters Priorität vor allem anderen hatte. Neben Bola de Neve gibt es noch andere ähnliche Gruppierun- gen wie die Surfistas de Cristo oder Surfhouse Comunidade Cristã.12 Im Motorsport ist das nicht anders mit Clubs wie Águias de Cristo oder Esquadra de Cristo,13 die ihre Aufgabe darin sehen, die Botschaft Jesu Gleichgesinnten zu bringen. Das beabsichtigt 11 https://www.igrejamananciais.com.br/ (Zugegriffen 06.05.2019). Siehe auch N. Andrade 2018. 12 https://www.christiansurfers.net/brazil (Zugegriffen 19.12.2020); auch https://www.facebook.com/ surfhousebrasil/ (Zugegriffen 06.05.2019). 13 https://aguiasdecristobrasilia.wordpress.com/proposito/ (Zugegriffen 06.05.2019); www.esquadra odecristo.com.br/ (Zugegriffen 06.05.2019).
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 395 auch die Gruppe Comunidade Cristã Caverna de Adulão in Belo Horizonte,14 die sich zusammensetzt aus »Personen unterschiedlicher sozio-kultureller Standards, die die- se Unterschiede respektieren und sie als Beispiel für den Reichtum der kreativen Di- versität Gottes auffassen«. Die Gruppe ist bei aller Diversität dem evangelikalen Pakt von Lausanne verpflichtet und Mitglied in der Evangelischen Allianz. Ebenfalls Mitglied dort sind die Organisatoren der christlichen »Generation der Stämme«.15 Etwas anders gelagert, weil ethisch relevanter, sind die Kirchen von LGBT-Personen, die in Brasilien ebenfalls in den vergangenen Jahren an Bedeutung für die Communities gewonnen haben. Neben den acht Gruppen der US-amerikanischen Metropolitan Com- munity Churches (MCC)16 gibt es brasilianische Gründungen wie Igreja Cristã Contem- porânea17 oder MilC (Ministério Inclusivo Livres em Cristo),18 die seit 2011 als Kirche der LGBT-Community praktiziert. 6.1.7 Dachverbände Aus der Dynamik von interessenorientierter Selbstorganisation in Spannung zur kon- fessionellen Beharrung ist auch in Brasilien eine Reihe von Dachverbänden entstanden. Wie schon erwähnt, gehört dazu der Versuch, den so genannten Aposteln eine bessere Position in der Konkurrenz des religiösen Feldes und eine stärkere Repräsentation ge- genüber der Öffentlichkeit zu verschaffen durch die Gründung einer Confederação das Igrejas Evangélicas Apostólicas do Brasil, CIEAB (Föderation der Apostolischen Evan- gelischen Kirchen von Brasilien)19 , die auf einen Apostelrat hinausläuft. Ähnliche In- itiativen zur religiös-politischen Kooptation von Wählern der Formation Gesetz durch Aktivisten der Formation Management sind die 2011 gegründete Confederação dos Conselhos de Pastores do Brasil (Föderation der Pastorenräte von Brasilien, CONCE- PAB), die entschieden Bolsonaro unterstützt hat.20 Kurz nach der Gründung hat Silas Malafaia, ein Schwergewicht der Formationen Management und Gesetz, die Grün- dung des Vereins als prätentiösen Versuch der Konkurrenz im Feld gebrandmarkt. Ei- nige »höchst illustre Unbekannte« wollten im Namen des Teufels die Kirchen kontrollie- 14 www.cavernadeadulao.org/blog/: »Somos uma comunidade, formada por pessoas de padrões só- cio-culturais diferentes, onde as diferenças são respeitadas e servem para mostrar a riqueza da diversidade criativa de Deus, onde cada pessoa vai descobrindo sua verdadeira identidade, seus dons e suas características específicas dadas pelo Criador.« Siehe auch: https://www.facebook.com /Comunidade-Caverna-de-Adul %C3 %A3o-163313303698891/ (Zugegriffen 11.05.2019). 15 Tribal Generation: https://www.facebook.com/tribalgeneration/ (Zugegriffen 11.05.2019). Neue Website: https://jocum.org.br/novo-site-tribal-generation-confira/ (Zugegriffen 25.08.2020). 16 https://www.mccchurch.org/overview/ourchurches/find-a-church/latin-america-caribbean-church- listing/ (Zugegriffen 06.05.2019). 17 http://igrejacontemporanea.com.br/ (Zugegriffen 06.05.2019). 18 https://mininclusivolivresemcristo.wordpress.com/category/igreja-inclusiva/(Zugegriffen 06.05.2019). 19 www.cieab.com.br/quemsomos.html (Zugegriffen 06.05.2019), aktuell (19.12.2020) nicht mehr er- reichbar. Es existiert ein sehr gering frequentierter Twitter Account (https://twitter.com/cieabofici al). 20 https://www.facebook.com/concepab/; eine angeblich existierende Website ist außer Betrieb (ww w.concepab.com).
396 Die Taufe des Leviathan ren.21 CONCEPAB teilt sich den Geschäftsführer mit dem 2001 gegründeten, ebenfalls fadenscheinigen Fórum Evangélico Nacional de Ação Social e Política (Nationales Evan- gelisches Forum für soziale und politische Aktion, FENASP).22 Des Weiteren schließt eine Aliança Cristã Evangélica Brasileira (Christliche Evangelische Allianz Brasiliens)23 im Wesentlichen evangelikale Kirchen zusammen. Nachdem die Confederação Evan- gélica do Brasil (CEB) die Militärdiktatur nicht überlebt hat, wurde 2010 die Allianz als eine aus Sicht ihrer Mitglieder schon lange notwendige Dachorganisation evangelikaler Kirchen und Organisationen aus der Tradition Historischer, evangelikaler und pfingst- licher Kirchen gegründet. Die Allianz verfolgt eine deutlich liberalere Politik als ihre Schwesterorganisationen in Guatemala und anderen lateinamerikanischen Ländern. Mit einem gewissen Vorbehalt kann sie der Formation Werte des Reiches Gottes zugerechnet werden. Für Brasilien gilt es ohnehin hervorzuheben, dass ökumenisch orientierte Akteure deutlich stärker vertreten sind als in anderen Ländern. Die während des Militärregimes als Widerstandszentrum gegründete Coordenadoria Ecumênica de Serviço (Ökumenische Koordination der Dienste, CESE)24 schließt Historische Kirchen mit der Katholischen Kirche zusammen, ebenso wie der in sozialethischer Hinsicht sehr aktive Conselho Nacional de Igrejas Cristãs do Brasil (Nationaler Rat christlicher Kir- chen in Brasilien, CONIC).25 Die ökumenische Organisation Koinonia26 unterhält ne- ben interethnischen Hilfsprogrammen auch einen interreligiösen Schwerpunkt durch Arbeitsbeziehungen mit afroamerikanischen Religionen. Als Agent des Widerstandes gegen Kandidatur und Regierung Bolsonaros ist die Frente de Evangélicos pelo Estado de Direito (Front von Evangelischen für den Rechtsstaat)27 aktiv. Die 2016 anlässlich des parlamentarischen Staatstreichs gegen Dilma Rousseff gegründete Gruppierung aus Pastoren von Historischen, evangelikalen und Pfingstkirchen wird in der Öffent- lichkeit vor allem von Ariovaldo Ramos vertreten. Im Unterschied zu Guatemala ist die Evangelische Allianz in Brasilien von geringer politischer Bedeutung. Ähnliches gilt für Verbände, die der religiösen Rechten zuge- neigt sind, wie etwa CONCEPAB. Im rechten, autoritären Spektrum haben vielmehr vor allem millionenschwere und sozial hoch positionierte Einzelorganisationen (Man) politischen Einfluss, wie etwa die IURD, Renascer, Sara nossa Terra (Heile unser Land), Assembleias de Deus Vitória und viele andere. Im Spektrum der eher (sozial-)demokra- tisch orientierten Organisationen (Wer) spielen hingegen Verbände und Aktionsbünd- nisse eine wichtige Rolle für die religiös-politische Interessenvertretung der Margina- lisierten. 21 »…ilustríssimos desconhecidos«. Die Vereinigung »arbeite für den Teufel«, unter anderem im In- teresse eines »Abgeordneten«, der wohl Rodovalho sein dürfte (vgl. Martins 2013a). Siehe zum neopentekostalen pro-Bolsonaro Aktivisten Rodovalho 6.2.2.5. 22 www.fenasp.com.br/ (Zugegriffen 10.05.2019). 23 https://www.aliancaevangelica.org.br/ (Zugegriffen 06.05.2019). 24 https://www.cese.org.br/ (Zugegriffen 06.05.2019). 25 https://www.conic.org.br/portal/ (Zugegriffen 06.05.2019). 26 http://koinonia.org.br/quem-somos/historia (Zugegriffen 06.05.2019). 27 https://www.facebook.com/frentedeevangelicos/ (Zugegriffen 11.05.2019).
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 397 6.1.8 Soziodemografie Zur soziodemografischen Positionierung (vgl. Bohn 2004) der unterschiedlichen Ak- teursgruppen ist einer der auffälligsten Befunde, dass die Historischen Kirchen wie Lu- theraner, Presbyterianer und Methodisten (sofern nicht fundamentalistisch oder cha- rismatisch transformiert) eine stabile Basis in der gut ausgebildeten, eher traditionellen Mittelschicht haben – damit allerdings auch den Abstiegsszenarien ausgesetzt sind, die diese Schicht umtreiben. Damit sind in den Historischen Kirchen sowohl Politiken in sozialdemokratischer wie auch in konservativer bis autoritärer Richtung zu erwarten. Die klassischen Pfingstkirchen haben ihren Schwerpunkt deutlich in der Unterschicht und unteren Mittelschicht. Ihre Führer können sich politisch profilieren, indem sie die pure Masse ihrer Kirchenglieder als Wahlvolk ins Spiel bringen, wobei es allerdings nur in seltenen Fällen gelingt, so etwas wie eine kirchliche Fraktionsdisziplin zu er- zeugen. Die neo-pfingstlichen Kirchen tendieren zwar zur modernisierenden oberen Mittelschicht und – dem Anspruch nach – auch zur Oberschicht; dennoch ist ihre Kli- entel bei weitem nicht so gut in diesen Schichten verankert wie dies in Guatemala der Fall ist. Allerdings muss man sehen, dass die Führer von Kirchen, die Experten, aus der Formation Management aufgrund ihrer sehr hohen Finanzvermögen, ihrer wirt- schaftlichen Unternehmen, ihrer Medienmacht sowie ihrer politischen Verbindungen und Positionen potente Player in verschiedenen Feldern sind und Einfluss auf nationale Entwicklungen nehmen können. 6.1.9 Medien In Brasilien, wie in ganz Lateinamerika, spielt zunächst das katholische Radio für die religiöse Massenkommunikation eine zentrale Rolle.28 Im Unterschied zu Guatemala setzte die Katholische Kirche in Brasilien – Diözesen, Orden, Gemeinden – stärker auf das Radio und besitzt heute um die 220 Sender mit katholischem Programm. In noch stärkerem Ausmaß rekurrierten auch diverse Pfingstkirchen und Evangelikale seit spä- testens den 1960er Jahren auf das Radio. Dementsprechend senden heute um die 960 Sender der Kategorie »Gospel« pfingstliches und evangelikales Radioprogramm (über- wiegend Ges und Jen). Ähnlich sieht es auf dem Fernsehmarkt aus. Drei katholische Sender verbreiten ein frei zugängliches Programm in ganz Brasilien (neben wenigen Pay-TV und regionalen Sendern). Organisationen aus der Formation Management ha- ben diese Zahlen weit übertroffen. Allein die Igreja Universal do Reino de Deus betreibt zwei Sender mit landesweitem freiem Zugang: TV Universal und TV Record. Letzte- rer ist einer der größten Sender im Land mit Übertragungen weltweit, vor allem nach Afrika. Die IURD ist der Markführer im religiösen TV, nicht zuletzt durch das 1989 erworbene TV Record mit 108 Transmittern im Land und 9 Satellitenkanälen für inter- nationale Sendung sowie dem Halleluja-Netz (Rede Aleluia, Motto: »família, força e fé« – Familie, Kraft und Glaube) mit 64 Regionalsendern.29 Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf Unterhaltung mit erfolgreichen Telenovelas (z.B. »Die Sklavin Isaura«) und 28 Zum Folgenden vgl Oro und Tadvald 2019, 61ff.; Silveira Campos 2008, 44ff. 29 http://redealeluia.com.br/(Zugegriffen 30.11.2020).
398 Die Taufe des Leviathan Vertretung der Interessen der IURD. 2015 wurde mit »Die 10 Gebote« die erste »bibli- sche« Telenovela gesendet und ist zum Blockbuster geworden. Einen spezifischen Blick auf Politik und Gesellschaft liefert seit 2007 eine 24-stündige Nachrichtensendung, zu deren Einweihung der Staatspräsident Lula da Silva anwesend war. Das Imperium ist auch im Pressemarkt präsent durch die Zeitung Folha Universal (der berühmten Folha de São Paulo nachempfunden) mit etwa 2 Millionen Exemplaren Auflage. Neben die- sem Hegemon der religiösen Medienlandschaft – mit einer starken Position im Feld der Medien insgesamt – sind weitere Sender wie Rede Mundial der Igreja Mundial do Poder de Deus (Weltweite Kirche der Macht Gottes), Rede Génesis der Organisation Sara Nossa Terra sowie das Rede Gospel von Renascer en Cristo. Dazu kommt eine Rei- he regionaler TV-Sender, die ebenfalls mehrheitlich von Organisationen der Formation Management betrieben werden. Der Medienhegemonie der Management-Formation entspricht das Urteil Lopes’ (Galvão Lopes 2015), dass nur sehr wenig Sender erziehe- rische Programme senden oder soziale Probleme thematisieren; die meisten bestehen aus einer Mischung kommerzieller Unterhaltung und Werbung für die Interessen der Organisationen (was im Jargon »Evangelisierung« genannt wird). Besonders der IURD gelingt es durch ihre schiere Präsenz, durch eine autoritäre Führung der Medienunter- nehmen (z.B. Entlassungen missliebiger Journalisten) und durch (leicht verschleierte) Wahlwerbung, Einfluss auf die Politik zu gewinnen und die Bancada Evangélica zu be- völkern, um im Rücklauf wiederum Interessen der Organisation zu befördern, nicht zuletzt durch Medienlizenzen. Ein weiteres wichtiges Interesse ist, das Regime der Steuerbefreiung aufrecht zu halten oder, besser noch, auszudehnen. Dies macht es möglich, lukrative Medienun- ternehmen und Vieles mehr unter dem Dach religiöser Institutionen steuerfrei zu be- treiben und so einen erheblichen Wettbewerbsvorteil zu genießen (Galvão Lopes 2015). Dementsprechend wichtig ist es, dass »gottesfürchtige« Abgeordnete die Reihen der Bancada Evangélica stärken. 6.1.10 Die Gewählten Eine Beteiligung protestantischer Akteure am offiziellen politischen Geschehen wur- de erst mit dem Wahlgesetz von 1932 nach der Machtübernahme durch Getúlio Vargas möglich.30 In die verfassungsgebende Versammlung für die Verfassung von 1934 wurde damals ein Methodist gewählt. In den 1940er und 1950er Jahren waren Presbyterianer, Methodisten und Baptisten als Parlamentarier in den Teilstaaten aktiv. Bis in die 1960er Jahre hinein saßen vor allem Mitglieder Historischer Kirchen in den Parlamenten und vertraten tendenziell eher sozialdemokratische als konservative Positionen, was durch die Militärdiktatur empfindlich eingeschränkt wurde. Freston (2001, 19) macht darauf aufmerksam, dass in jener Zeit politisch weit differierende protestantische Abgeordne- te – von der nicht-marxistischen Linken bis zu Befürwortern des Militärregimes – in etwa gleicher Zahl (jeweils um die 11) im Kongress vertreten waren. Mit dem Ende der Militärdiktatur stieg die Zahl protestantischer Abgeordneter sprunghaft an (1987 auf 30 Da Silva 2017, 133; Freston 2001; Brasil Fonseca 2008; Galvão Lopes 2015. Zum aktuellen Wahlsys- tem siehe Konrad Adenauer Stiftung 2018.
6. Magie, Macht und Mammon: Brasilien 399 32). Dies liegt vor allem daran, dass vordem apolitische Pfingstkirchen 1985 durch eine Zusammenkunft ihrer Führer auf die Teilhabe an der nun wieder möglichen Gestal- tung von Politik unter dem Motto »Bruder stimmt für Bruder« eingeschworen wurden. Schon in der verfassungsgebenden Versammlung (für die Verfassung von 1988) verfolg- ten pfingstliche und evangelikale Abgeordnete Eigeninteressen ihrer Organisationen – das heißt: Interessen der »Verbreitung des Wortes Gottes« oder, kurz, »Gottes Inter- essen« und somit, ihrer Vorstellung nach, von höchster Stelle legitimierte Interessen. Die enge Verbindung von höchsten, öffentlichen und eigenen Interessen ist etwa an den vergebenen Medienkonzessionen im Verhältnis zur Tatsache zu erkennen, dass 14 von 36 protestantischen Abgeordneten im Mediengeschäft tätig waren (Galvão Lopes 2016, 904). Es liegt nahe, dass solche Verflechtungen der Tatsache geschuldet sind, dass aus pfingstlichen Kirchen wie den verschiedenen Assembleias oder Quadrangular Per- sonen mit einem besonderem Habitus in die Parlamente gelangten. Freston (2001, 20) beschreibt dies sehr plastisch. Auf der einen Seite stammten diese Personen aus ar- men Verhältnissen, gehörten zu Unterschichtskirchen und waren mit der Kultur der Unterschicht identifiziert. Somit hatten sie keinen naturwüchsigen Zugang zu dem bildungs-kleinbürgerlichen Milieu, das die Linke in den Historischen Kirchen präg- te. Andererseits waren sie aber Leitungsfiguren in ihren Kirchen, Pastor-Präsidenten oder Bischöfe; oder sie waren wirtschaftlich erfolgreiche und sozial aufgestiegene Mit- glieder. Mit der Zunahme von Abgeordneten dieser Couleur und mit solchen aus der IURD driftete die durchschnittliche politische Einstellung protestantischer Abgeord- neter nach rechts – unbeschadet der Beispiele mit Tendenz zur Sozialdemokratie wie Bendita da Silva, Mitglied der Assembleias, Abgeordnete des PT und die erste schwar- ze, weibliche Pfingstlerin, die es 1994 sogar in den Senat schaffte sowie 2003 unter Lula Sozialministerin wurde. Wie in Brasilien aufgrund des nur schwach strukturierten, sehr breiten und sich ständig wandelnden Parteienspektrums üblich, haben sich die Protestanten in Kon- gress und Senat zu einer adressierbaren Gruppierung zusammengeschlossen, einer Frente Parlamentar oder, alltagssprachlich, bancada.31 Dabei handelt es sich in gewis- sem Sinne um das, was das aus dem Algonquin abgeleitete Wort »Caucus« meint: eine Stammesversammlung von Gleichgesinnten, die über Parteigrenzen hinweg aktiv ist. Eine solche Bancada von besonders großem Einfluss ist die der Großgrundbesitzer (Ban- cada Ruralista). 1997 gab es 12 solcher Zusammenschlüsse, unter anderem Zigarettenin- dustrie, Raumfahrt, Verkehr, Privatkrankenhäuser… und eben die Bancada Evangélica. Diese konsolidierte sich während der Regierung des Sozialdemokraten Fernando Hen- rique Cardoso (1995-2002) bezeichnenderweise durch die verstärkte Präsenz der IURD in rechtsgerichteten, neoliberalen und tendenziell evangelikalen Parteien (PFL und PL sowie heute PRB). Ein Schlaglicht auf die Arbeit der Abgeordneten der Bancada Evangélica wirft die Analyse der Legislaturperiode von 2003-2007 von Guilherme Galvão Lopes auf dem 28. Nationalen Symposion für Geschichte (Galvão Lopes 2015; Pereira da Rosa 2020). Lopes 31 Die Frente Parlamentar (FP) ist die offizialisierte Gestalt der Bancada. Die FP der Protestanten wurde erst 2003 offizialisiert.
400 Die Taufe des Leviathan kommt nicht nur im Blick auf diese Legislaturperiode sondern auch auf seinen gesam- ten Untersuchungszeitraum zu dem Urteil, dass diese Abgeordneten mehrheitlich den Pflichten von Parlamentariern nicht genügen. »Meistens abwesend, von wenig relevanter gesetzgeberischer Produktion, untreu zu ihren Parteien, Gegenstand von Ermittlungen und Gerichtsverfahren verschiedener Art, finanziert von großen Konzernen, darunter dem Pharma- und dem Militärsektor, hat das Handeln der Bancada Evangélica im hier analysierten Zeitraum (1982-2006) eher zur Schwächung der Rolle des Staates in Bezug auf die sozialen Bedürfnisse der Wähler – den benachteiligten Bevölkerungsschichten Brasiliens – beigetragen. Sie [die Mitglieder der Bancada, HWS] positionieren sich gegen Programme zur Einkommens- verteilung und verurteilen den ›paternalistischen Staat‹; sie unterbreiten Gesetzesin- itiativen und stimmen entsprechend pro private Bildung und Gesundheitsvorsorge, pro Agrarwirtschaft, pro Überwachungsunternehmen, pro Arbeitgeberverbände, pro Kommunikationsunternehmen und pro Lobby der Pharma-, Kriegs-, Petrochemie- und Lebensmittelindustrie.« (Galvão Lopes 2015, 4). Lopes kritisiert, theologisch völlig zu Recht, dass das Gros der Abgeordneten mit ihrer Politik die protestantische Reformation lutherischer Prägung verrät, die für eine kla- re Unterscheidung von Kirche und Staat eingetreten ist. Die Bancada handle vielmehr in Richtung auf den »Aufbau eines theokratischen und fundamentalistischen Staates«, indem dafür einerseits die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden sollen und zum anderen auch illegal agiert wird, um kirchliche vor anderen Organisationen zu privile- gieren. Zudem wird kirchliches Sozialkapital instrumentalisiert, etwa zur… »Registrierung für Wahlen und Einschreibung bei Parteien; Nutzung von Kirchenge- bäuden für … Wahlausschüsse; laut Indizien Finanzierung von Kampagnen mit Spen- den von Gläubigen; und Nutzung der mit Kirchen verbundenen Medien zur Förderung von Kandidaturen und Parlamentsmandaten.« (Galvão Lopes 2015, 5) Lopes schließt mit der Feststellung, »…dass die Mehrheit der Bancada nicht die Interessen der von ihr Repräsentierten ver- trete, sondern die ganz anderer Gruppen, indem moralische und religiöse Fragen nur vor anderen Aktivitäten vorgeschoben werden.« (Galvão Lopes 2015, 5) Die ›gottesfürchtigen Männer und Frauen‹ und ›Diener des Herrn‹ hätten bisher so gut wie nichts verändert. Aus religionssoziologischer Perspektive darf man wohl hinzufü- gen, dass sie Vieles in der Politik dadurch verschlimmert haben, dass sie Politik nicht mehr gemäß der Regeln des politischen Feldes betreiben, sondern sie immer stärker religiösen Vorurteilen unterwerfen. Vor allem sind sie, nach Einschätzung des Spezia- listen für brasilianischen Protestantismus Paul Freston, im Durchschnitt korrupter als andere Abgeordnete (Forster und Freston 2016; vgl. auch Shah 2008, xiii). Die von Lo- pes genannten Praktiken jedenfalls sind verbreitet und vollziehen sich im Hintergrund fast aller parlamentarisch vermittelten politischen Vorgänge, die in diesem Kapitel zur Sprache kommen werden. Manche Autoren führen mit einem gewissen Recht das Wachstum der Bancada Evangélica darauf zurück, dass große Organisationen aus den Formationen Manage-
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