Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften: Pauline Viardot-Garcìas Rollenporträts als Orphée (Paris, Disdéri, 1859)

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Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften: Pauline Viardot-Garcìas Rollenporträts als Orphée (Paris, Disdéri, 1859)
JLT 2022; 16(1): 96–126

Christine Fischer
Mediale Inszenierung geteilter
Autor*innenschaften:
Pauline Viardot-Garcìas Rollenporträts
als Orphée (Paris, Disdéri, 1859)
https://doi.org/10.1515/jlt-2022-2018

Abstract: The methodology and subject matter of this essay venture into the dis-
ciplinary borderlands of musicology. Taking Disdéri’s carte-de-visite portraits of
the singer Pauline Viardot-Garcìa as a starting point, it attempts to broaden the
notion of of the author for a historical period that quintessentially stood for the
establishment of the concept of genius and thus for a definition and limitation of
authorship as individual and singular. The article combines an interdisciplinary
approach by considering image and media theory, theories of art and its prac-
tices, alongside historical musicological methods. Its theoretical perspective is
situated at the intersection of performativity and media theory via the concepts
of the ›messenger figure‹ (Botenfigur) and the ›reading of traces‹ (Spurenlesen)
both according to Krämer, thus opening up a historical resonance space for
contemporary music practices. As a consequence, the re-perspectivization goes
beyond the basic understanding that multiple authorships are at work in every
form of sounding music. Instead, it fixes diverse facets of the term authorship
on a concrete example and reframes them methodologically. Thus, as a basis for
a systematic generalization in music research, a model is proposed that makes
medial transitions in performatively negotiated authorships describable, catego-
rizable, and at the same time historicizable. With these interdisciplinary concerns
in mind, Viardot-Garcìa’s photographic portraits in her role as Orphée in Gluck’s
opera of the same name from 1859 appear to have been instrumentalized in a
multilayered representational way: as images standing for a performance, as a
photographic image reminiscent of a painting, as a depiction of classical Greek
costume that takes on meaning for the present, as the visual standing in for the
acoustic, as a depiction of a female singer embodying a man, and finally also of a
title role standing in for an opera as a whole. How exactly these relations of rep-
resentation are to be grasped – both in the French Gluck opera revival and in the
photographic images discussed – has not yet been explored in depth. To attempt

Kontaktperson: Christine Fischer: Universität Wien, Institut für Musikwissenschaft,
E-Mail: christine.fischer@univie.ac.at

   Open Access. © 2022 Christine Fischer, publiziert von De Gruyter.            Dieses Werk ist ­
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to entangle all these meanings is not motivated by trying to identify the ›actual‹
portions of the musical adaptations made by different persons to Gluck’s opera in
the course of its 1859 revivals. Rather, this new perspective on the carte-de-visite
photographs is intended to outline Viardot-Garcìa’s figure with the help of the
numerous functions the singer assumed in the production. The essay thus looks
at a blind spot that is still dominant in music research, namely the question of the
methodological framing of performative authorship in historical perspective. It
questions the critical concepts of ›messenger figure‹ and of the ›reading of traces‹
not only for their suitability to grasp the basic questions of the example dealt with
in the text, but also for their potential for generalization.

Schlagworte: Autor*innenschaft; Musikwissenschaft; Gender; Bildtheorie;
Kunsttheorie und -praxis

Der vorliegende Text, aus der Feder einer Musikwissenschaftlerin, ist von zwei
Charakteristika der Disziplin geprägt, die spezifische Eigenheiten der Debatte zu
Autor*innenschaften gerierten. Zum einen ist dies die späte Geburtsstunde von
Musikwissenschaft als akademischer Disziplin (vgl. Gerhard 2000): Ästhetik und
Methodik der Gründungszeit im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts haben nicht
nur auf das sogenannte klassische Musikleben, sondern auch auf das musikwis-
senschaftliche Forschen bis heute Auswirkungen, nicht zuletzt im Hinblick auf
Geschlechterrollen. Zum anderen ist Musikwissenschaft eine kleine Disziplin mit
einem umfangreichen Fachgebiet, deren fachimmanente Theoriebildung bzw.
deren Theoriedebatten zu einem Großteil von Nachbardisziplinen beeinflusst
waren bzw. sind und deren aktuelle Kartierung angesichts einer rasanten, nicht
zuletzt durch Digitalisierungen initiierten disziplinären Fortentwicklung nur
ansatzweise angegangen wurde (vgl. Bolz et al. 2016).
     Dass Neuerungen an den Rändern der Disziplin und ihrer Subdisziplinen
stattfinden, gehört mittlerweile zu den Binsenweisheiten des musikwissenschaft-
lichen Fachdiskurses. Wirklich angegangen können disziplinäre Neuerungen –
so auch in musikwissenschaftlichen Autor*innenschaftsdebatten –, wenn sich
die Wissenschaftspraxen des Faches, inhaltlich und strukturell, nicht mehr an
Grenzziehungen nach innen und außen orientieren – ein Weg, bei dem wir erst
am Anfang stehen.1

1 Eine wegweisende Debatte in diese Richtung wurde von Nicholas Cook (2008) ausgelöst; zu
deren Fortentwicklung vgl. https://blogs.city.ac.uk/music/2016/06/10/debate-on-are-we-all-
ethnomusicologists-now-reports-and-responses/ (12.09.2021).
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     Das bedeutet für den Gegenstand des vorliegenden Beitrags erstens, dass
methodische Gedanken zu pluralen Autor*innenschaften auf einem anderen
Begriffsfundament als in vielen Nachbardisziplinen stehen: Die Bezeichnungen,
die hier differenziert werden sollen, werden in der musikwissenschaftlichen Lite-
ratur zum Thema eher umgangssprachlich verwendet. Unterscheidungen zwi-
schen Autor*innen- und Verfasser*innenschaft, wie in der Literaturwissenschaft
(vgl. Hoffmann 2017), greifen angesichts einer performativen Kunst zu kurz2 und
auch die Diversifizierung von Kooperation, Kollaboration und Ko-Autor*innen-
schaft wurden bisher nicht systematisiert (vgl. z. B. die auf Einzelautor*innen-
schaften bzw. spezifische Epochen fokussierten Diskussionen bei Calella 2015;
Danuser 2017; Meyer 2001), möglicherweise auch, weil sie nicht in Analogie zu
den Nachbardisziplinen kategorisierbar sind. Zweitens ist ein anderes Theorie-
fundament und disziplinäres Selbstverständnis als in Nachbardisziplinen rele-
vant. Das Spektrum der angewandten Methoden, mit denen Autor*innenschafts-
fragen in der Musik nachgegangen wird, ist, entsprechend dem breiten Spektrum
von Musik und ihren vielfältigen wie spezifischen Entstehungs- und Rezeptions-
prozessen, sehr weit: Fußend auf den übermächtigen Debatten der Literatur-
theorie (vgl. Hinrichsen 2017; Nieberle 2013) stehen philologische Methoden,
besonders Studien zu Skizzen, neben Rezeptionsforschungen, die Autor*innen
im Ohr der Hörenden entstehen lassen, neben Fragen zu Performanz und Perfor-
mativität und neben historischen Ansätzen, die sehr oft einen Komponierenden
als Normalfall ansehen – den Genius des 19. Jahrhunderts. Andere Formen von
Autor*innenschaft, die sich vor allem in Forschung zu Musikformen des 20. und
21. Jahrhunderts anbieten, werden oft vor der normativen Folie der singulären
Autor*innenschaft des 19. Jahrhunderts als Abweichungen, modifizierte Derivate
oder hierarchisch untergeordnete Phänomene betrachtet.
     Besonders virulent wurde die Frage nach Autor*innenschaften in der Musik
darum im Bereich der Gender Studies (vgl. Knaus 2013) und der Popularmusik

2 Die Unterscheidung zwischen Verfasser*innenschaft, im Sinne von Verschriftlichung des
Erfundenen, und Autor*innenschaft, als Schaffensanteile jenseits des Niedergeschriebenen, hat
in der Musik, in der Aufführung unabdingbare Voraussetzung breiter Rezeption ist, eine andere
Bedeutung als beispielsweise in der Literaturwissenschaft (vgl. Hoffmann 2017, der für Texte zwi-
schen Schreiber, Verfasser und Autor als Rollen differenziert und Autorschaft als zugeschriebene
Rolle fasst). Urheber*innenschaft, aufgefasst als vor dem Gesetz Verantwortliche/r und Tantiemen
beziehende/r Autor*in, zumeist ein Individuum, ist in der Musik im Hinblick auf den Autor*innen-
schaftsbegriff kaum untersucht (vgl. Sprang 1993 zu Urheberrecht bzw. Verwertungsgesellschaften
und Opernpraxis des 19. Jahrhunderts in Paris). Da es im vorliegenden Text nicht in erster Linie um
die Verhandlung dieser Begriffe, sondern um den Einfluss neuer medialer Techniken auf die Wahr-
nehmbarkeit performativer auktorialer Prozesse geht, wird im Textverlauf Autor*innenschaft als
Terminus gebraucht, der schöpferische Prozesse durch und jenseits der Verschriftlichung umfasst.
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(vgl. Moy 2015; Navas 2015). Soziologische Ansätze nehmen in jüngerer For-
schung gemeinschaftsbildende musikalische Prozesse auch jenseits von indivi-
dueller Autor*innenschaft im Sinne von Komposition in den Blick (vgl. Celestini
2013; Clarke 2017; Kenny 2016) oder widmen sich Rezeptionsphänomenen von
Musik, die Rückschlüsse auf das Wahrnehmen von Autor*innenschaften, auch in
historischer Dimension, erlauben (vgl. Hiekel 2014; Tunbridge 2015). Im Hinblick
auf Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, besonders im Rahmen der künstlerischen
Forschung zu zeitgenössischen Kompositionen, wurden Überlegungen zentral,
die das Verhältnis von Interpret*in und Komponierenden untersuchen (vgl. z. B.
Boyle 2020). Diesen Ansatz systematisierend ins Historische hinein zu öffnen, ist
ein Desiderat, wie nicht zuletzt Untersuchungen zeigen, die sich dem Verhält-
nis von Sängerin und Komponist mit direktem Bezug zu Pauline Viardot-Garcìa
widmen, wie Cofers Band Pauline Viardot-Garcia: The Influence of the Performer
on Nineteenth-Century Opera (1988).
      Methodik und Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes wagen sich gezwun-
genermaßen in Grenzland: Er nimmt in einer Zeit, die für eine Etablierung des
Geniebegriffes und somit für eine Begrenzung von Autor*innenschaft auf ein
Individuum einsteht, die Möglichkeiten einer intendierten pluralen Konzeption
von Autor*innenschaften in den Blick. Aus der historischen Distanz zum Paris
der Mitte des 19. Jahrhunderts vermitteln heute direkt oder indirekt auf die Pro-
duktionsarbeiten an der Oper Bezug nehmende Quellen verschiedener Medien-
formate die Eigenheiten des Schaffens- und Rezeptionsprozess unumgänglich
nur stark lückenhaft. Diese Lücken ein Stück weit zu schließen und den Kon-
zeptionen von Autor*innenschaften ansatzweise nahezukommen, bedeutet bild-
und damit medientheoretische Überlegungen mit technischem ›Fortschritt‹ und
damaligen Auffassungen von ›Werk‹ und Autor*innenschaft in Kunsttheorie und
Kunstausübung überdisziplinär zusammen zu denken. Die hier vorgenommene
­Neubewertung der Rollenporträts von Pauline Viardot-Garcìa als Orphée, auf-
 genommen von André Adolphe-Eugène Disdéri (1859), bezieht bisher getrennt
 gehaltene Fachdiskurse aus dem direkten Umfeld Viardot-Garcìas, aus der Bilden-
 den Kunst und der Musik, wechselseitig aufeinander. In dieser Kontextualisierung
 öffnet der Text einen zeitgenössischen Möglichkeitsraum von Rezeptionsformen
 der Aufführungen über deren Memoriaverlängerung in der Fotografie hinaus. Er
 siedelt sich somit am Schnittpunkt zwischen Performativitäts- und Medientheo-
 rie an – zwei Bereiche, die Sybille Krämer in der Denkfigur der Selbstreferentia-
 lität des performativen Aktes wie der Aussagekraft des Mediums an sich bereits
 als überlappend geschildert hat (vgl. 2004). Jenseits von konkreter heutiger Auf-
 führung öffnet der Text somit einen historischen Resonanzraum für vergangene
 Musikpraxen in der Gegenwart, der es ermöglicht, Autor*innenschaftsfacetten
 im Musiktheater zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich nachzuspüren.
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     Das Beispiel der Rollenporträts Pauline Viardot-Garcìas als Orphée profiliert
sich in dieser Vorgehensweise einerseits als Sonderfall: Die Produktion von 1859
zeichnet sich durch eine gesuchte Verschmelzung von Autor*innenschaften aus,
die es nicht mehr in allen Fällen möglich macht, einzelne Autor*innenschafts-
Anteile an der musikalischen Klanglichkeit, die auf die Bühne kam, zwischen
Christoph Willibald Gluck, Hector Berlioz und Pauline Viardot-Garcìa eindeutig
abzugrenzen.3 Die Tatsache, dass, zumindest implizit, Autor*innenschaften in
den Aufführungen verhandelt wurden, zeigen nicht nur die nach der Aufführung
vorgenommenen Publikationen der Überarbeitungsfassung, sondern mit hoher
Wahrscheinlichkeit auch das Zerwürfnis zwischen Berlioz und Viardot-Garcìa,
das sich nach der triumphal erfolgreichen Aufführungsserie einstellte (vgl. Esse
2021, 147–151). Die vom Intendanten des Théâtre Lyrique, Carvalho, initiierte
Gluck-Aufführung war von Anfang an eine intendierte und auf die Aufführungs-
serie ausgerichtete Kollaboration von Berlioz und Viardot, der, wie umrissen,
auch eine bestimmte Dynamik innewohnte. Zur Sichtbarkeit der Autor*innen-
schaft Viardots trugen die medialen Neuerungen der Fotografie entscheidend bei,
zumal sie ihren Interpretationsstil, der schauspielerische Elemente integrierte,
deutlich charakterisierte. In dieser Zwischenstellung zwischen gesuchter Ver-
schmelzung von Autor*innenschaft im engen gemeinsamen Schaffensprozess
von Viardot-Garcìa und Berlioz (vgl. Fauquet 1992; Waddington 1973) und Mög-
lichkeiten der Beanspruchung verschiedener Autor*innenrollen über unter-
schiedliche mediale Formate, liegt das Verallgemeinerungspotentials dieses
›Falles‹ von gemeinschaftlicher Autor*innenschaft. Ausgeschöpft werden kann
es vor allem im Hinblick auf ein kontextualisierendes Verhandeln von Gender-
und Geschlechtskörpern im Aufführungsprozess und seiner Dokumentation.
     Krämers Definition des ›Boten‹ (vgl. 2008) bietet hier den methodischen
Bezugspunkt, um die offensichtliche Liminalität der Orpheus-Figur in der Beset-
zung Viardot-Garcìas mit dem kunsttheoretischen Diskurs der Zeit und seinem spe-
zifischen Konzept von Oberfläche und Substanz, Diesseitigkeit und Jenseitigkeit
und Amalgamierung von bipolaren Gegensatzpaaren zu fassen. Dieser philosophi-
sche Rückhalt perspektiviert die bisher im deutschsprachigen Raum dominante
kulturwissenschaftliche Sicht auf musikalische Genderrollen des 19. Jahrhunderts
über Konzepte des kulturellen Handelns und damit verknüpfte Vermittlungs- oder
Translationskonzepte hinaus. Zudem überholt er die grundlegende Erkenntnis,
dass in jeder Form von erklingender Musik multiple Autor*innenschaften am Werk
waren und sind (vgl. Bork 2017), indem er Perspektiven auf den schöpferischen Akt

3 Fauquet 1992 konstatiert anhand der erhaltenen Manuskripte zur Vorbereitung der Orphée-
Aufführungsserie unterschiedliche Intentionen von Berlioz und Viardot, die beide Änderungen
vornahmen.
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aus dem Bereich der künstlerischen Forschung ins Historische weiterdenkt, und
somit Grundlagen von avancierten Begriffsbildungen für Autor*innenschaftsfacet-
ten und deren Generalisierung liefert. Autor*innenschaft wird dabei grundlegend
nicht nur als Urheber*innen- bzw. Verfasser*innenrolle in literaturwissenschaft-
lichem Sinne, sondern, vor dem Hintergrund eines performativen Geschlechter-
rollenverständnisses, als iterativ über theatrale Prozesse vorgenommene künst-
lerische und soziale Selbstpositionierung bzw. Identitätsfindung gesehen.4

1 Z
   u den Rollenporträts von Pauline Viardot-
  Garcìa als Orphée
Disdéri fertigte die Aufnahmen von Pauline Viardot-Garcìa in der Rolle des Orphée
1859 in seinem Pariser Atelier an (Abb. 1–3).5 Sie zeigen die zu diesem Zeitpunkt
bereits weltberühmte Sängerin in ihrer Rolle als Orphée in den Pariser Wiederauf-
führungen von Christoph Willibald Glucks Oper Orphée et Euridice. Die Oper war
fast 100 Jahre zuvor, 1761, entstanden und hatte 13 Jahre nach ihrer Wiener Urauf-
führung einen triumphalen Erfolg in einer vom Komponisten überarbeiteten
Fassung in Paris gefeiert. Viardot-Garcìa verkörperte die männliche Titelrolle in
einer Überarbeitung von Hector Berlioz, der international bereits großes Ansehen
als Komponist besaß, an seinem langjährigen Wohnsitz Paris aber immer noch
und gerade im Bereich der Oper um Anerkennung kämpfte. Die Aufführung, auch
als Wiederauferstehung der Gluck-Oper gefeiert,6 war medial groß angekündigt
und wurde zu einem triumphalen Erfolg, in dessen Mittelpunkt die Interpretin
des Orpheus, Pauline Viardot-Garcìa, stand. Auf diese Ausrichtung der Wieder-
aufführungen auf die Interpretin des Oprheus verweist auch der verkürzte Titel,
Orphée. In den Porträts ist Viardot-Garcìa im Kostüm der Aufführungen zu sehen,
das Eugène Delacroix entworfen hatte und dessen Farbgestaltung in einem Brief
Viardot-Garcìas an Julius Rietz überliefert ist:

4 Zur Selbstpositionierung über Verfasser*innenschaft vgl. Mommsen 2001.
5 Wie viele Aufnahmen die Serie umfasste ist bisher ungeklärt. Müller-Höcker (2016, 279–283)
bildet 10 verschiedene Aufnahmen mit unterschiedlichen Posen Viardot-Garcìas ab, allerdings
ohne entsprechende Quellenangaben. Die Zahl lässt angesichts der technischen Eigenheiten der
Produktion der Carte de Visite vermuten, dass es ursprünglich 12 Fotografien waren. Fundierte
Archiv- und Bibliotheksrecherchen dazu stehen aus.
6 Es wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass die Pariser Orphée-Aufführungen
von 1859 nicht die ersten Gluck-Aufführungen in der französischen Hauptstadt des 19. Jahrhun-
derts waren (vgl. Fauquet 1992; Müller-Höcker 2016; Willson 2010). Auch ausserhalb von Paris
war es zuvor schon zu Aufführung von Orfeo ed Euridice im 19. Jahrhundert gekommen.
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Abb. 1: André Adolphe-Eugène Disdéri,            Abb. 2: André Adolphe-Eugène Disdéri,
Pauline Viardot-Garcìa in der Rolle des          Pauline Viardot-Garcìa in der Rolle des
Orphée, Carte de Visite, 6 × 10 cm, 1859,        Orphée, Carte de Visite, 6 × 10 cm, 1859,
© Bibliothèque nationale de France.              © OperaMania.

                             Abb. 3: André Adolphe-Eugène
                             Disdéri, Pauline Viardot-Garcìa
                             in der Rolle des Orphée, Carte de
                             Visite, 6 × 10 cm, 1859,
                             © Paul Frecker.
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    Mein Kostüm wurde sehr schön gefunden – weiße Tunika bis zu den Knien. Weißer Mantel,
    an den Schultern zurückgehalten wie bei Apoll. Langes lockiges Haar mit Lorbeerkranz.
    Eine goldene Kette, um das Schwert zu halten, dessen Scheide rot ist. Eine rote Kordel als
    Gürtel – rot geschnürte weiße Schaftstiefel. (Borchard/Wigbers 2021, 535)

Die Fotoserie der Rollenporträts von Viardot-Garcìa in verschiedenen Stellun-
gen ist im Format der Carte de Visite-Fotografie entstanden. Eine Erfindung von
Disdéri in der fulminante Popularität auslösenden Frühzeit des Mediums, hatte
sich dieses Format, ungefähr 6 × 10 cm, aus einer Rationalisierung des Herstel-
lungsprozesses ergeben (vgl. Figes 2019, 186–188; McCauley 1985). Mithilfe einer
speziellen Apparatur mit multiplen Linsen ließen sich 8 (später sogar 12) Auf-
nahmen auf eine Negativ-Glasplatte bringen und somit die Kosten der aufwendi-
gen Herstellung niedrig halten. Aufgrund der standardisierten Größe der Einzel-
bilder, die wiederum auf das gängige Format der Visitenkarten geklebt wurden,
konnten sie leicht und weit zirkulieren und auch bspw. im Portemonnaie mit-
genommen werden oder in größennormierten Sammelalben Einzug halten. Der
wirtschaftliche Schub der 1850er Jahre hatte in Frankreich zu einem Boom der
Fotoindustrie geführt und bescherte auch Disdéri, befeuert von seiner Erfindung
und Patentierung der Carte de Visite-Fotografien, auf denen sich Familienpor-
träts, ebenso wie berühmte Schauspieler oder Größen der Halbwelt finden
konnten (vgl. McCauley 1985, 85–112), erheblichen kommerziellen Erfolg. Der
Erfolg der Carte de Visite bedeutete auch verschieden zusammengestellte Alben
wichtiger Persönlichkeiten. Dass es Pauline Viardot-Garcìas Orphée-Porträt in
eine der von Disdéri angelegten seriellen Publikation, in die Galerie des contem-
porains, schaffte (vgl. Figes 2019, 187), trug vermutlich entscheidend dazu bei,
dass die Sängerin auch über die Dauer der triumphal erfolgreichen Aufführungs-
serie hinaus als Interpretin der Rolle nachhaltig gefeiert werden konnte.
     Da in der nur zwei Jahre nach Orphée vorgenommen Wiederbelebung der
Gluckoper Alceste Aufnahmen im Studio von Disdéri mit Rollenporträts sämtli-
cher Beteiligter offenbar als bewusste und ausgeweitete Marketingmaßnahme für
die gesamte Produktion eingesetzt wurden (vgl. McCauley 1985, 94; Everist 2021,
126–149), scheinen die Orphée-Porträts den von ihren Macher*innen intendierten
Zweck sehr gut erfüllt zu haben. Direkte Rezeptionsdokumente zu den Orphée-
Aufnahmen von Viardot-Garcìa aus ihrer Zeit sind jedoch meines Wissens keine
bekannt. Somit lässt sich auch nicht in letzter Konsequenz belegen, inwiefern
die Aufnahmen von einem Publikum rezipiert worden sind, das nicht zu den
Opernbesucher*innen zählte (wie es George Sand für die Karriere Viardots vor-
schwebte). Es ist jedoch davon auszugehen, dass der überwältigende Erfolg
der Aufführungen, der stark auf Pauline Viardot-Garcìas Darstellung der Titel-
rolle bezogen wurde (vgl. Everist 2021, 129), gerade mithilfe der Carte de Visite-
104         Christine Fischer

Bildnisse über reine Kennerkreise hinaus ausstrahlte.7 Auf die Vernetztheit der
Pariser Gluck-Rezeption ins Konzertleben der französischen Hauptstadt hinein,
hat Everist (vgl. 2021, Kapitel 1 und 2) bereits ausführlich verwiesen.

1.1 Fotografie und Darstellung der Künste

Orlando Figes hat beschrieben, dass sich spezifisch anhand der fotografischen
Orphée-Aufnahmen ein neues Verhältnis von Natur und Kunst bzw. eine sich
neu stellende Frage nach dem Repräsentationscharakter von Kunst ausmachen
lässt (vgl. 2019, 186–193). Die Begeisterung um das neue Medium der Fotografie
eröffnete in verschiedenen Sparten neue Märkte, darunter auch auf dem Sektor
der Bildenden Kunst.8 Es waren besonders fotografische Reproduktionen von
Gemälden und Skulpturen, die den Markt überfluteten und damit im Sinne einer
technischen Reproduzierbarkeit die direkte, nicht technisch vermittelte Begeg-
nung mit dem Gemälde, der Skulptur oder ihren Ausstellungsräumen ›ersetz-
ten‹ (vgl. Figes 2019). Diskussionen darüber, ob die Reproduktion von Kunst
›im Sinne‹ des Dargestellten retuschiert werden sollte, um spezifische Bedeu-
tungs- und Wirkungsfacetten der abgebildeten Kunstobjekte besonders heraus-
zuarbeiten, die in einem bloß mimetischen Abbildungsprozess nicht eingefangen
werden konnten, waren lebhaft. Sie führten unter anderem auch zu einer neuen
Diskussion der Bedeutung der konkreten Anschauung von Natur, jenseits eines
medial vermittelnden Erfassens, für Künstler*innen. Letztendlich verhandelte
man an der Frage des neuen Mediums die uralte Debatte um die mimetischen
Qualitäten der Bildenden Künste neu. Die Frage nach dem schöpferischen Akt
und seinen geistigen, materiellen und zeitlichen Dimensionen sowie damit ver-
knüpft die Frage nach Autor*innenschaft sind davon unmittelbar betroffen, denn

7 Everist 2021, 132–138, argumentiert anhand eines Vergleiches mit einer Carte de Visite eines
männlichen Darstellers der zwei Jahre später inszenierten Gluck’schen Alceste, die Orphée-
Daguerreotypien seien nicht als aussergewöhnlich rezipiert worden, da sie denen des durch
Raphaël-Auguste Grizy dargestellten Apollon stark glichen. Völlig ausser Acht gelassen wird
hierbei die Geschlechterkomponente, die Inszenierung eines Dazwischen, die die Orphée-Auf-
nahmen prägt und sie dadurch auch von sämtlichen anderen Rollenporträts von Alceste, inklu-
sive desjenigen von Pauline Viardot-Garcìa in der Titelrolle, unterschieden.
8 Walter Benjamin, der sich in seiner Dissertation und in späteren Balzac-Übersetzungen intensiv
mit der Pariser Kultur des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, ist mit seinem Aufsatz zum
Kunstwerk und seiner technischen Reproduzierbarkeit natürlich wie hinlänglich bekannt mass-
gebend für eine Neukonzeption der Vorstellung von Authentizität und Original (2007). Der vor-
liegende Aufsatz denkt seine Ansätze mit M. T. Mitchell in die bildwissenschaftliche Richtung
weiter (2005).
       Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften    105

die technischen Neuerungen wirkten sich auf künstlerische Schaffensprozesse
aus: So wurde damit experimentiert, einer Daguerreotypie gleich, Momentauf-
nahmen in kürzester Zeit nach der Natur mit Farbe und Pinsel auf der Leinwand
festzuhalten. Die aus diesen Malweisen resultierenden Techniken gelten mit als
eine Wurzel des Pointillismus (vgl. Figes 2019, 191–193).
     Ausgangspunkt meiner Überlegungen war somit ein grundlegender Paradig-
menwechsel in der künstlerischen Autor*innenschaft der Zeit, der sich mit einem
Kippen des Pariser Konzertlebens seit etwa 1830 in die zunehmende Bedeutung
historischer Repertoires auch in der Musik nachvollziehen lässt (vgl. Everist 2021).
Die Entwicklung neuer technischer Möglichkeiten in Inszenierung und Dokumen-
tation von Kunst verschiedener Sparten spielte dabei eine grundlegende Rolle
und spiegelte sich nicht zuletzt auch in der Gründung der ersten Verwertungs-
gesellschaften in dieser Zeit (vgl. Sprang 1993). Ebenfalls vielschichtig gestaltet
sind die die Fotografien umgebenden Zeitschichten: Die Aufnahmen tragen ihre
eigene mediale Vergangenheit und Zukunft wirkungsmächtig in sich, indem sie
einerseits auf die vergangenen Aufführungen verweisen und, wie später im vor-
liegenden Text beschrieben, die spezifische Interpretationsart Pauline Viardots,
in einer Art Verlaufsprozess, der zwischen den einzelnen Aufnahmen vorstellbar
ist, als Bewegtbild vermitteln.
     Vor diesem Hintergrund entpuppen sich die 1859 entstandenen Rollenporträts
Viardot-Garcìas als vielschichtig repräsentativ instrumentalisiert: als Bild, das für
eine Aufführung steht, als Fotografie, die an ein Gemälde gemahnt, als Abbildung
eines klassisch griechischen Kostüms, das für die Gegenwart Bedeutung erhält, als
Visuelles, das für Akustisches einsteht, als Darstellung einer Sängerin, die einen
Mann verkörpert und schließlich auch einer Rolle, die für eine Oper einsteht. Wie
genau diese Repräsentationsverhältnisse zu fassen sind – sowohl in den Wieder-
aufführungen der Gluck-Oper als auch in den besprochenen Fotografien –, wurde
bisher nicht eingehend untersucht – auch wenn Everist das Akteur*innen-Netz-
werk rund um die Gluck-Renaissance in Paris um die Jahrhundertmitte tiefgehend
rekonstruiert und bewertet hat (vgl. 2021). Dies nun in Angriff zu nehmen, ist nicht
dadurch motiviert, die tatsächlichen Anteile an den musikalischen Adaptionen,
die an Glucks Oper im Zuge der Wiederaufführungen von 1859 vorgenommen
wurden, zu fassen (wie dies beispielsweise Cofer 1988 und Müller-Höcker 2016
angeben). Es geht auch nicht darum, die bereits reichhaltige bestehende Literatur
konkret zu diesen Aufnahmen zu überschreiben (vgl. Borchard 2011; 2017; Esse
2021; Everist 2021; Fauquet 1992; Figes 2019; Gumplowicz 2001; Rutherford 2006;
Willson 2010). Die hier vorgeschlagene neue Perspektive auf die Aufnahmen soll
vielmehr die Figur Viardot-Garcìas in ihrem Fluchtpunkt mithilfe der zahlreichen
Funktionen, die die Sängerin in der Produktion übernahm, neu konturieren.
Dies, indem die Aufnahmen ins Verhältnis zu den an der Uraufführung betei-
106          Christine Fischer

ligten Künsten gesetzt werden, zu den offiziellen Autor*innenschaften an der
Oper und auch zum Bild der Sängerin des Orphée, das sich durch zahlreiche iko-
nische Bezüge immer neu in Beziehung setzt – zu sich selbst, zu den technischen
Neuerungen der Bildreproduktion der Zeit und zum zeitgenössischen Kanon der
Kunstwerke, den die bildtechnischen Neuerungen mitdefinierten. Mit diesem bild-
theoretischen Blick auf die dialektischen Eigenschaften der Aufnahmen wird ihre
Zwischenstellung zwischen Statik und Bewegung, zwischen der bewegten Auf-
führung, die sie repräsentieren und der bewegten Zukunft des eigenen Mediums,
dem Film, ebenso wie diejenige zwischen den Geschlechtern neu gefasst und auf
ihre klanglichen Dimensionen hin befragt. Letztendlich unternimmt der Aufsatz
demnach den Versuch, bildtheoretisch auf Opernaufführungen und ihre szenisch-
klanglichen Autor*innenschaften zu rekurrieren.

1.2 Die ›fehlende‹ Stimme

Bildliche Repräsentationen musikalischer Aufführungen bleiben selbstverständ-
lich defizitär, da sie die klangliche Dimension nicht direkt abbilden können. In
einem ersten Schritt soll darum dem Gesang Pauline Viardot-Garcìas aufgrund
zweier eng verwandter Quellen nachgespürt werden.

1.2.1 »J’ai perdu«: Zerstückelung der Teleologie

Orphée singt seine bekannteste Arie, nachdem er mithilfe seines Gesanges zwar
den Weg in die Unterwelt gefunden hat, um seine geliebte Euridice aus den
Fängen des Todes zu befreien – sie aber wieder verloren hat, weil er auf dem
Weg auf die Erde der Versuchung, sich nach ihr umzudrehen, nicht widerstehen
konnte. »J’ai perdu mon Euridice« ist vor und zwischen den drei Strophen, die
das musikalische Material nur leicht variieren, von Rezitativen durchbrochen.9
Wie sie in ihrer Gesangsschule und auch andernorts ausführt, nahm Viardot-
Garcìa diese Unterteilung zum Anlass, unterschiedliche Affektzustände Orphées
chronologisch als Grundlage ihres Gesangs heranzuziehen:

      Le récitatif doit donc exprimer d’abord la stupeur dont le frappe ce coup terrible et soudain ;
      il est dit d’une voix sourde, concentrée, qui prononce à peine. Dans le motif de l’air éclate la
      douleur d’Orphée. Ce motif doit être chanté d’un bout à l’autre mezzo forte, sans nuances.
      Mais lorsque après le cri déchirant »Entends ma voix qui t’appelle!« vient la reprise du motif,

9 Ich habe für diesen Aufsatz auf den anlässlich der Pariser Wiederaufführungen erschienenen
Klavierauszug von Thèodor Ritter zurückgegriffen (vgl. Gluck 1859).
        Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften             107

     cette première reprise, pour exprimer l’accablement de la douleur, doit se dire très bas,
     d’une voix brisée, avec de continuels sanglots. Puis, après l’autre appel à Eurydice, suivi
     des mots »Mortel silence! … quel torment déchire mon cœur !« Orphée, qui ètait agenouillé,
     se relève dans un transport de remords et de douleur, et la dernière reprise, plus animée de
     mouvement, plus forte de voix, plus énergique d’expression, n’est plus qu’un long cri de
     désespoir. (Bodemann 2021, 19–20)10

Diese sukzessive Einteilung der Musik in Affektzustände, in einzelne sauber
unterteilte Abschnitte, entspricht einerseits den visuellen Qualitäten der dama-
ligen Aufführungspraxis, die stark gestisch überformt war und einzelnen Affekt-
zuständen auch einzelne Körperposen zuordnete – hier z. B. das anfängliche
Knien, dann das Aufstehen. In den Disdéri-Aufnahmen ist diese gestische Ver-
fasstheit in den Posen Viardot-Garcìas zu erahnen. Gleichzeitig sammelt sich die
Stimme in der Arie, wie es in ihrer Gesangsschule beschrieben ist, von anfäng-
lich gebrochenem Flüstern der allmählichen Erkenntnis hin zu schreiendem Aus-
druck der Verzweiflung im letzten Abschnitt der Arie. Viardot-Garcìa greift mit
ihrer abgestuften Interpretationsanleitung nicht nur die formale Anlage der Arie
auf, sondern auch eine generelle Denkfigur ihrer Zeit, diejenige des Zerlegens
performativer Vorgänge in einzelne Abschnitte: Sie taucht in der spezifischen
Rezeption ihrer Rolle als Orphée ebenso auf, wie in der Geschichtsschreibung der
Zeit – in Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in Italien, das 1860 seine erste
Auflage erlebte, beispielsweise gleich zu Beginn in der Bemerkung, es sei »die
wesentlichste Schwierigkeit der Kulturgeschichte, daß sie ein großes geistiges
Kontinuum in einzelne scheinbar oft willkürliche Kategorien zerlegen muß, um
es nur irgendwie zur Darstellung zu bringen« (2009, 17).
     Dadurch dass die Rezitativteile auf ihr eigenes Medium, die Stimme rekur-
rieren, und damit Viardot-Garcìas Interpretation in ihren verschiedenen Sprech-
modi indirekt verhandelt wird, wird dem Strophengesang dazwischen diegeti-
sche Qualität verliehen, nicht zuletzt im Sinne einer aus der außergewöhnlichen
Affektsituation gerierten Spontaninspiration zum gesanglichen Ausdruck.

10 »Das Rezitativ soll also zuerst Bestürzung über diesen schrecklichen und plötzlichen Schlag
ausdrücken; es ist mit dumpfer, konzentrierter und flüsternder Stimme zu sprechen. Im Motiv
der Arie bricht der Schmerz von Orpheus aus. Dieses Motiv soll in einem Atemzug und ohne
Hervorhebungen gesungen werden. Nach dem herzzerreissenden Schrei ›Höre meine Stimme,
die dich ruft‹ wird das Motiv wiederholt; die erste Wiederholung soll sehr leise, bei gebrochener
Stimme, unter ständigem Schluchzen vorgetragen werden, um die Niedergeschlagenheit des
Schmerzes auszudrücken. Dann, nach dem weiteren Ruf an Eurydike, gefolgt von den Worten
›Tödliche Stille! … welche Qual zerreisst mein Herz!‹, erhebt sich der kniende Orpheus und
nimmt mit einer Aufwallung von Schuldgefühlen und mit Schmerz die letzte Wiederholung auf;
diese ist belebter, die Stimme ist stärker und der Ausdruck bestimmter, es ist ein langer Verzweif-
lungsschrei.« (Übers. Bodemann 2021, 20)
108         Christine Fischer

1.2.2 Die Stimme des Hermaphroditen

Abb. 4: Statue eines schlafenden Hermaphroditen, erste Hälfte des zweiten Jahrhunderts
v. Chr., Rom, 46,5 × 173,5 × 90,5 cm, Marmor, © Musée de Louvre, Paris.

Doch nicht nur das eigene Zeugnis Viardot-Garcìas zur Interpretation, sondern
auch eine andere Quelle aus dem Umfeld ihrer Orphée-Interpretation, vermag der
›fehlenden‹ Stimme der Aufnahmen, im Falle Viardots der Contralto-Stimme,11
noch in der historischen Distanz zu spezifischen Charakteristika verhelfen. In
seiner Gedichtsammlung Recueil: Emaux et Camées von 1852 veröffentlicht Théo-
phile Gautier sein Gedicht Contralto, in dem er dem Klang dieser Stimme ganz
spezifische Eigenschaften zuordnet.
    Es ist eine poetische Reflexion auf die Statue eines Hermaphroditen im
Louvre (Abb. 4).12 Wie bereits verschiedentlich beschrieben wurde, verfolgte

11 Die Bezeichnung des Stimmfachs bei Viardot-Garcìa variiert in den Quellen; zu Beginn der
Karriere wird sie als Mezzo-Sopran bezeichnet, später auch als Contralto; dass dies, wie ver-
schiedentlich vermutet, mit einer Veränderung des Stimmambitus zusammenhängt, ist physio-
logisch plausibel. Die Orphée-Bearbeitung für die Stimme Viardots – im Vergleich mit den Vor-
gängerfassungen der Gluck-Oper, legt ebenfalls eine Änderung des Stimmumfangs, sicher aber
eine Änderung der Stimmfärbung nahe (Fauquet 1992).
12 Borchard 2017, 178 verweist bereits auf das Gedicht Gautiers im Zusammenhang der herm-
aphroditischen Qualitäten, die der tiefen Frauenstimme im Paris der Zeit zugeschrieben wurden.
        Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften         109

Gautier mit seinen antiken Statuen gewidmeten Gedichten unter anderem eine
poetische Wiederbelebung steinerner Skulpturen (vgl. Karlinsky 2013). Er holt
die kühle ›klassische‹ Vergangenheit damit in eine geschichtsbeladene, geradezu
erhitzte ›romantische‹ Gegenwart und vermischt damit Zeitschichten ebenso wie
Medien künstlerischen Ausdrucks – auf ganz ähnliche Weise, wie der schlafende
Hermaphrodit Maskulinität und Feminität vereint, führt seine emotionale Wirk-
kraft beides, sein schlafendes marmornes Dasein und eine aktuelle Lebendigkeit,
zusammen. All diese Übergänge projiziert Gautier, wie es der Titel des Gedichts
bereits angekündigt hat, ab der 10. Strophe auf die Contralto-Stimme:

    Que tu me plais, ô timbre étrange!
    Son double, homme et femme à la fois,
    Contralto, bizarre mélange,
    Hermaphrodite de la voix! (Karlinsky 2013, 445)13

Dass er damit deutlich auf das zeitgenössische Opernleben rekurriert, ist an den
Opernrollen erkennbar, die im weiteren Verlauf des Gedichts benannt werden,
vor allem die Contralto-Partien in den Opern Rossinis, die in den 1810er und
1820er Jahren entstanden waren und von denen manche auch zum Repertoire
Viardot-Garcìas gehörten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gedichts
beherrschten sie die Pariser Bühnen bereits nicht mehr und gerade Viardot-
Garcìas Karriere hatte mit den Opern Meyerbeers und Halévys (die Gautier nicht
erwähnt) besonderen Aufschwung erhalten. Bemerkenswert bleibt aber die
Sonderstellung, die Mozart in Gautiers Auflistung eingeräumt wird: Als einzige
Oper, die nicht aus der Feder Rossinis stammt, wird Don Giovanni erwähnt. Diese
Nennung im Gedicht ist augenfällig – nicht nur im Hinblick auf Louis Viardots
kunsttheoretische Schrift Ut pictura musica, von der später noch die Rede sein
wird und in der Mozart ebenfalls eine Sonderstellung eingeräumt wird, sondern
auch auf den Kult, den Pauline Viardot-Garcìa um den Mozart-Autograph der Oper
in ihrem Besitz pflegte (vgl. Everist 2001). In der überhöhenden Sonderstellung,
der Mozart als musikgeschichtliche Amalgamfigur nationaler Stile eingeräumt
wird, überschneiden sich die Wirkungen, die der Hermaphroditen-Skulptur und
der statuenhaft anmutenden Viardot-Garcìa als Orphée zugeschrieben werden
können.14 Viardot-Garcìas Stimme in Orphée war eine Mischfassung der italie-
nischen Uraufführungsfassung für Wien, in der Gaetano Guadagni, ein Alt-Kas-

13 »Wie du mir gefällst, o seltsames Timbre! / Doppelter Klang, Mann und Frau zugleich, / Con-
tralto, bizarre Mischung, / Hermaphrodit der Stimme!« (Übers. der Autorin)
14 Auch im Vorwort zu Viardot-Garcìas Schubert-Edition und in ihrer Ecole classique du chant
liegen vergleichbare Konstruktionen musikhistorischer Verläufe vor.
110         Christine Fischer

trat, die Rolle sang, und der später für Paris überarbeiteten Fassung der Oper,
in der ein in der französischen Gesangstradition beheimateter haute contre, ein
hoher Tenor, die Partie übernahm.15

1.3 Viardot-Garcìa als Amalgamfigur

Im Verlaufe meiner Arbeit an diesen Aufnahmen wurde immer deutlicher, wie
prominent Viardot-Garcìas Stellung als Amalgamfigur aus ihnen hervorgeht; und
wie aus dieser Ambivalenz ein ganz eigener Zugriff auf musikalische Autor*innen-
schaft resultierte. Um dies genauer zu fassen, werde ich ausgehend von Krämers
Metaphysik der Medialität eine historische Kontextualisierung von Viardot-Garcìa
im Kunstdiskurs ihrer Zeit mit Bezug auf die Orphée-Wiederaufführung vorneh-
men, bevor in einem abschließenden Teil eine medientheoretische Einordnung
der Fotografien Thema ist, die sich an Krämers Definition einer Botenfigur ori-
entiert: Sie definiert den Boten als archaische Figur, die gleich einem Nullpunkt
im Koordinatensystem operiert, in das verschiedene Übertragungsvorgänge aus
unterschiedlichen disziplinären Feldern eingetragen werden können, und die
damit »die Kommunikation unter den Bedingungen raum-zeitlichen Entferntseins
der Kommunizierenden erlebbar« macht (2008, 103–121). Eine in diesem Sinne
verstandene Botenfigur deckt sich mit den amalgamierenden Eigenheiten, die
Viardot als Orphée zugeschrieben worden sind, in der Verschmelzung von Zeit-
und Raumschichten. Der erste, kontextualisierende Teil des vorliegenden Textes,
ist durch Krämers Definition des Spurenlesens als Inversion des Botenganges
(vgl. ebd., 276–297)16 mit dieser Allegorisierung der abständigen Kommunikation
methodisch eng verknüpft und führt nahtlos über in eine weitere theoretische
Einordnung der Figur Viardot-Garcìas als Orphée: Spurenlesen, nach Krämer eine
Kulturtechnik der Wissenserzeugung (vgl. ebd., 283),17 führt in die Situiertheit von
Wissenserzeugung über Aufführung und damit geradewegs in aktuelle Debatten
über künstlerische Forschung und historische Kontexte. Indem Botengang und

15 Johanna Wagners Auftritte in Konzerten als Orpheus in Glucks Oper sind bereits ab 1847
belegt, sodass die Besetzung der Rolle mit einer Frau durchaus einen historischen Vorlauf hatte,
als Viardot-Garcìa sich zur Interpretation der Rolle entschloss (vgl. Friedlaender 1896).
16 »Können wir Spuren (begriffen als Spur der Nichtpräsenz desjenigen, der sie hinterliess) als
›Boten der Vergangenheit‹ begreifen? Und hätten wir damit nicht den Schlüssel zur Rechtferti-
gung unserer vermuteten Engführung von Boten und Spuren in der Hand, indem wir annehmen,
dass das, was Boten für unser Verständnis der Übertragung im Raum bedeuten, Spuren eben für
die Übertragung in der Zeit leisten?« (Krämer 2008, 277).
17 Vgl. Krämer 2008, 283: »Mit der Spur betreten wir die Domäne der Kognition und des Erken-
nens«.
        Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften   111

Spurenlesen als gegenseitig inversiv aufeinander bezogene Verfahren nicht nur
mediale Übergänge, sondern auch deren Historisierung in sich tragen, verweisen
sie über die Anwendung im hier verhandelten konkreten Beispiel auf ihr generel-
les Potential zur Einschätzung und Neubewertung von Autor*innenschaften in
der Musik jenseits der vom Genie- und Werkkonzept geprägten Individualautor-
schaft. Der historische Blick auf die (Selbst-)Inszenierungen Viardot-Garcìas in
diesen Aufnahmen fällt auf einen letzten Triumph der Sängerin als musikalische
Autorin und damit verknüpft auch auf eine der späten Anerkennungen spezifisch
performativer Akte der Wissenserzeugung rund um die Gluck-Aufführungen.

2 K
   unst und Repräsentation – eine historische
  Kontextualisierung der Cartes de Visite

2.1 U
     t pictura musica

Der Gedanke eines künstlerischen Paradigmenwechsels im Paris der Jahrhundert-
mitte wird auch in Louis Viardots Schrift Ut pictura musica (Abb. 5, Viardot 1859)
aufgegriffen, wenn er am Ende seines Textes von einer ›untergehenden‹ Weltord-
nung spricht. Der Ehemann der Sängerin hat die Schrift 1859 veröffentlicht, also
just im Jahr der Wiederaufführung von Orphée. Zudem war er als Überarbeiter des
Librettos in die Wiederaufführung der Gluck-Oper eingebunden.
     Viardot geht in diesem Text, natürlich mit deutlichem Rückbezug auf Horaz,
davon aus, dass sich Musik und Bildende Kunst in analogen historischen Phasen
zielgerichtet fortentwickelt hätten. Er konstatiert in dieser Parallelität lediglich
eine Zeitverschiebung – die Musik hat als ›verspätete‹ Disziplin die Entwicklungen
in den Bildenden Künsten mit zeitlichem Abstand nachvollzogen. Der Renaissance
kommt eine zentrale Bedeutung insofern zu, als Viardot dieser Epoche in den
Bildenden Künsten eine Befreiung vom Formalismus christlicher früherer Kunst
zuschreibt. Die Form wird zugunsten des affektiven Ausdrucks erstmals überwun-
den, Kunst wird zu einem »Oeuvre de vie et de liberté« – einem Werk von Leben
und Freiheit (Viardot 1859, 23). Das liegt auch an einer Neuorientierung der abge-
bildeten Modelle in der Natur – und nicht mehr in ideellen, oft jenseitigen Kon-
strukten. In der Musik begegnet uns, so Viardot, in Monteverdis früher Oper diese
Befreiung zunächst zeitversetzt und nimmt nach Galileo dann chronologisch die
Führungsrolle unter den Künsten ein: Sie wirkt wegweisend bei einem weiteren
Paradigmenwechsel, demjenigen der Überwindung der Vokal- durch die Instru-
mentalmusik, die in der Kunst der Überwindung des Historiengemäldes durch
112       Christine Fischer

das Landschaftsgemälde gleichgesetzt wird. Dieses Denken in Oppositionen ist
prägend für die gesamte Schrift Viardots und trägt auch deutlich nationale Züge.
Zentral in diesen Oppositionsbildungen ist deren Lösung: Während die meisten der
von Viardot genannten Autoren einer dieser Seiten zuzuordnen sind, steht einer
als Heros über allen, weil er beide Seiten amalgamiert: Wolfgang Amadé Mozart.
Wahres Künstlertum resultiert also gerade aus einer Gegensätze vereinenden Zwi-
schenstellung und trägt darin – auch – göttliche Züge: Mozart als die Musik an sich
steht über nationalen, künstlerischen und geographischen Oppositionen, ähnlich
wie es bereits im Gedicht Gautiers über den Hermaphroditen aufschien.
    Flora Willson (2010) hat in Grundzügen bereits angesprochen, dass Orphée
1859 an einer historischen Schwelle aufgeführt wurde: an einem Übergang zur
Festlegung der geniehaften (männlichen) Individualautorschaft von Musik und
einer Phase der Historisierung und damit auch Musealisierung von Kanons
der klassischen Musik (vgl. Goehr 2007; zu nach der Aufklärung im deutschen
Idealismus idealisierten weiblichen künstlerischen Autorinnenschaft vgl. bspw.

                                                     Abb. 5: Die erste Seite von
                                                     Louis Viardots Schrift Ut pictura
                                                     musica, veröffentlicht 1859 in
                                                     der neu gegründeten Gazette
                                                     des beaux-arts (19-29, hier 19),
                                                     © Bibliothèque nationale de
                                                     France.
         Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften              113

Head 2013). Wie Ann Jefferson beschreibt, ist die geschlechtliche Festlegung des
künstlerischen Genies in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich auch bei
Balzac festzumachen, namentlich an Louis Lambert, einem Künstlerroman, der
die Vorstellung eines singulär schaffenden männlichen Genies prägte, das einer
Frau lediglich als Medium seiner Tätigkeit bedarf (vgl. 2015, 137–145).
    Viardot war an der musikalischen Gestaltung ihrer Rolle intensiv beteiligt.
Das belegt beispielsweise ihr Austausch mit Julius Rietz im Juni 1859, also direkt
vor dem Beginn der Zusammenarbeit mit Berlioz, die sie gemeinsam auf ihrem
Wohnsitz in Courtavenel im September desselben Jahres angingen:

     Faites moi le plaisir de prendre l’Orfeo Italien de Gluck, et répondez aux questions suivants :
     Est-ce que indentiquement la partition Italienne qui se chant à Berlin ?
     Dans quel ton est le 1er. Chœur ?
     Id. id id l’air d’Orfeo? celui en 3/8.
     Les recites sont ils les mêmes dans les partitions pour Contralto de celle pour Ténor ? Le rôle
     est il écrit constamment une 4te. plus bas pour ténor ? Est ce Euridice qui au 2e. acte chante
     l’air avec Chœur 6/8 […] En quel ton commence le 3me. Acte ?18

Waddington hat beschrieben, wie aus diversen Briefen Viardots hervorgeht, dass
Berlioz, der zum Zeitpunkt der Überarbeitung gesundheitlich stark angeschla-
gen war, auch moralische Unterstützung und Zuneigung von Viardot erbat (vgl.
1973, 390). Fauquet (1992) hat sich wie bereits erwähnt dem Quellenstudium der
Überarbeitungspartituren gewidmet und die unterschiedlichen Positionen von
Berlioz als grossem Gluck-Verehrer, der sich auf die Suche nach den »Intentio-
nen« des Komponisten begab, und Viardot als Sängerin, die im Hinblick auf die
Bedürfnisse eines zeitgenössischen Publikums im Sinne der Gesangstradition
ihrer Familie virtuose Kadenzen und Verzierungen in die schlichten Linienfüh-
rungen von Gluck einfügte, herausgearbeitet. Everist (2021) hat aufgezeigt, wie
stark diese Gluck-Überarbeitung auf der Theaterbühne in ein enges Netzwerk an
Pariser musikalischen Annäherungen an Gluck seit 1830, an denen auch Viardot-
Garcìa beteiligt war, eingebettet wurde. Auf der Bühne war die Adaptation der
Gluck-Partie, wohl in der Traditionslinie der die Kastratentradition fortführen-
den hoch singenden und crossgender besetzten Rossini-Titelhelden, an eine Frau
wohl dennoch ein Novum.

18 »Tun Sie mir den Gefallen, holen Sie den Orfeo von Gluck auf Italienisch und beantworten Sie
die folgenden Fragen: Wird in Berlin aus der gleichen italienischen Partitur gesungen? In wel-
cher Tonart steht der 1. Chor? In welcher die Arie des Orfeo, die im 3/8 Takt? Sind die Rezitative in
der Stimme des Contralto dieselben wie in der des Tenors? Ist die Rolle durchgehend eine Quarte
tiefer notiert für den Tenor? Singt Euridice im 2. Akt die Arie mit Chor im 6/8-Takt […]? In welcher
Tonart beginnt der dritte Akt?« (Zitat und Übers. Borchard/Wigbers 2021, 408)
114        Christine Fischer

     Sowohl die bereits von Fauquet herausgearbeiteten unterschiedlichen Stand-
punkte von Berlioz und Fauquet gegenüber der Bearbeitung als auch die Veröf-
fentlichung der Verzierungen Viardots in einem Klavierauszug werden von Esse
(2021) als Grund dafür herangezogen, dass es nach dem triumphalen Erfolg der
Orphée-Aufführungen, die sich auch auf Berlioz und den Impresario Carvalho
bezogen hatte, zum Zerwürfnis zwischen den beiden kam.19
     Denkbar ist, dass es gerade die fotografischen Aufnahmen waren, die die
spezifischen Eigenheiten von Viardots auch schauspielerisch sehr starken Inter-
pretationsweise unterstrichen, die den nachhaltigen, stark auf ihre Person bezoge-
nen Erfolg der Gluck-Wiederaufführungen prägte. Über die Nutzung eines neuen
Mediums gelang es ihr, die sich auf geniehafte männliche Individualautorschaft
zuspitzende zeitgenössische Entwicklung mit einer Selbstinszenierung als Autor*in
zu überholen. Sie macht sich demnach daran, den Werkbegriff zu relativieren in
einer Zeit, in der er sich, gerade in der Instrumentalmusik, massiv zu etablieren
begann – übrigens fällt auch die Gründung der ersten Verwertungsgesellschaft zur
Sicherung von Autorentantiemen genau in diese Zeit in Paris (vgl. Anonym 1950;
Sprang 1993). Das Zerwürfnis zwischen Berlioz und Viardot-Garcìa mag also genau
an einer solchen Konkurrenzsituation angesichts sich verhärtender Ansichten
darüber, was als Autor*innenschaft zu gelten hatte, festgemacht werden.
     Blickt man auf die gesamte Karriere Viardot-Garcìas, so scheint sie sich gerade
mit dieser Grenzgänger*innenfigur am erfolgreichsten als Komponistin (die sie in
traditionellem Sinne ja auch war, vgl. ihr umfangreiches Oeuvre bei Heitmann
2012) im öffentlichen Bewusstsein verankert zu haben. Ich vermute ein ähnliches
Bestreben hinter ihren – bei weitem weniger erfolgreichen – Auftritten als Sapho
(vgl. Esse 2021) und ihrer öffentlich propagierten Rolle als Komponistin der unten
näher beschriebenen Kantate La jeune Republique. Um dieses Ziel zu erreichen –
sich auch als Komponistin bzw. musikalische Verfasserin öffentlich zu etablie-
ren –, bedurfte es womöglich eines anderen Geschlechtskörpers, zumindest für
die Dauer der in den Cartes de Visite festgehaltenen Opernrolle. Denkt man dies
zu Ende, stehen wir vor der letztendlich ungeklärten Frage, warum Viardot-Garcìa
selbst nie Opern geschrieben hat. Die Verbindung mit einer archaischen Sängerfi-
gur, mit Orpheus, der als mythischer Sänger und Musikschöpfer als Bühnenrolle
Autor*innenschaftsfacetten zum Gegenstand machte, fungierte ein Stück weit als
Legitimisierungsakt der eigenen Stellung als Verfasserin jenseits von Schriftlich-
keit (auf und auch abseits der Opernbühne). Es scheint sich um eine letztendlich
erfolgreiche ›alternative‹ Strategie der Verankerung eigener musikalischer Ver-

19 Eine genaue Beschreibung der Interpretation Viardots nach zeitgenössischen Rezeptions-
quellen, darunter auch schriftliche Zeugnisse von Berlioz, findet sich bei Müller-Höcker 2016,
195–255.
         Mediale Inszenierung geteilter Autor*innenschaften            115

fasser*innenschaft, auch mithilfe neuer Medien zu handeln, die das Empfinden,
an einer Schwellenzeit zu operieren, stark in sich trägt.
    Wie sehr das Empfinden einer Übergangszeit vorherrschte, macht auch Louis
Viardot im letzten Satz seiner hier behandelten Schrift explizit:

    nous vivons parmi les convulsions d’un monde qui finit, d’un monde qui commence. Atten-
    dons dès lors, sinon avec patience, au moins avec résignation, qu’un nouvel idéal se lève sur
    ce monde rajeuni, pour y enfanter des arts nouveaux dont l’harmonieux parallèle pourra se
    dérouler encore dans les siècles à venir. (1859, 29)20

Der Grund für die in diesem Abschnitt anklingende Resignation Viardots ist in
seiner Schrift deutlich benannt: Die Kunst ist zu Industrie oder Kommerz gewor-
den, der tiefe öffentliche Geschmack zieht Stiche Gemälden vor, Statuetten (ich
nehme an, kleinformatige Repliken) Statuen und Romane Oratorien (vgl. Viardot
1859, 28). Die technische Reproduzierbarkeit und die damit einhergehende Kom-
merzialisierung der Kunst werden zum Ausdruck ihrer Oberflächlichkeit.

2.2 Kommerz und Kultur bei Orphée

Vor dem Hintergrund der Gluck-Wiederaufführung ist Viardots Absage an kom-
merzialisierte Reproduktionen von Kunst erstaunlich und erklärend zugleich:
Einerseits muss die Kommerzialisierung rund um die ›Wiederentdeckung‹ des
Gluck’schen Orpheus tatsächlich erstaunliche Blüten getrieben haben. Ein unbe-
kannter Korrespondent der Stuttgarter Neue Musik Zeitung schrieb 1859 über die
Begleitumstände der Wiederaufführung von Orphée:

    Gluck prangt hinter allen Schaufenstern und in allen möglichen Costumen. An Zurecht-
    machern fehlt es nicht; selbst Krüger hat die Scene des Elysiums überclaviert; Prudent den
    Auftritt im Tartarus (!), Theodor Ritter einen ganz neuen Clavier-Auszug gemacht, Benfield
    die C-Dur Arie des Orpheus: ›J’ai perdu mon Euridice (Che farò senza Euridice)‹ im Salon auf
    der Harfe geklimpert, Arban den Auftrag von der Direction der Concerte in der Rue Cadet
    erhalten, eine Polka über Themen aus dem Orpheus zu schreiben!! (B.P., Pariser Briefe, in:
    Neue Musik Zeitung, 24.12.1859, 412, zitiert nach Müller-Höcker 2016, 189)

Andererseits wird mit und über den Umweg der Bildenden Künste, also mit dem
Blick auf das, was nach Viardot durch die Fotografie seiner Zeit nur unzulänglich

20 »Wir leben inmitten der Erschütterungen einer Welt, die endet, und einer Welt, die beginnt.
Warten wir also, wenn nicht mit Geduld, so doch wenigstens mit Resignation, auf ein neues Ideal,
das sich auf dieser verjüngten Welt erhebt, um neue Künste zu gebären, deren harmonische Paral-
lelen sich vielleicht noch in den kommenden Jahrhunderten entfalten.« (Übers. der Autorin)
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