Medizinisch unerklärte Symptome und somatoforme Störungen in der Primärmedizin
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Medizinisch unerklärte Symptome Homepage: und somatoforme Störungen in der www.kup.at/ Primärmedizin JNeurolNeurochirPsychiatr Körber S, Hiller W Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2012; 13 (1), 21-28 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin Medizinisch unerklärte Symptome und somatoforme Störungen in der Primärmedizin S. Körber, W. Hiller Kurzfassung: Somatoforme Symptome (häufig keit), aber auch biologische Korrelate (beispiels- care practice can be judged as medically unex- auch als „medizinisch unerklärte Symptome“ be- weise Fehlregulation der Stressachsen oder er- plained. On a diagnosis level, the prevalence of zeichnet), Syndrome und Störungen werden defi- höhtes Cortisol). Die genannten Zusammenhän- somatoform disorders in the primary care setting niert durch Körperbeschwerden, denen keine ge und vor allem ihre Ursachenrichtung sind je- lies within a wide range between 5 % and 58 %. (ausreichende) organische Pathologie zugrunde doch häufig unklar. Eine besondere Schwierig- Patients with somatoform complaints show sev- liegt. DSM-IV und ICD-10 beschreiben verschie- keit stellt die Diagnostik somatoformer Be- eral characteristics. They seem to be more often dene Subgruppen somatoformer Störungen, schwerden dar. Wie die stark divergierenden female, > 40 years of age, less educated, and außerdem werden sie im klinischen Sprachge- Prävalenzschätzungen zeigen, können die aktuel- single. Moreover, many patients – between 30 % brauch häufig als so genannte „funktionelle Stö- len Diagnosesysteme DSM-IV und ICD-10 dieses and 70 % – suffer from a comorbid depressive or rungen“ beschrieben. Aufgrund ihrer oft diffusen Phänomen nicht adäquat abbilden. Aus diesem anxiety disorder. Apart from manifest comorbid Erscheinungsform treten diese Beschwerden Grund ist eine rege Diskussion um ihre Neu- disorders, patients with somatoform complaints sehr häufig im hausärztlichen Setting auf. Etwa konzeptionalisierung im Gange und neue Kriteri- can be characterized by certain psychological 75 % aller dem Hausarzt berichteten Symptome en, welche mit DSM-V eingeführt werden sollen, features. These include behavioral features (eg, können als medizinisch nicht vollständig erklärt wurden bereits vorgeschlagen. health care utilization, avoidance), perceptual beurteilt werden. Auf der Störungs- bzw. Diag- and cognitive (eg, somatosensory amplification, noseebene kann die Prävalenz somatoformer Schlüsselwörter: medizinisch unerklärte catastrophizing interpretation of bodily symp- Störungen im Hausarztsetting in einem breiten Symptome, somatoforme Störungen, funktionel- toms), emotional features (eg, health anxiety), Range zwischen ca. 5 % und 58 % eingeordnet le Störungen, Epidemiologie, Diagnostik but also biological correlates (eg, dysregulation werden. Patienten mit somatoformen Beschwer- of stress axes, increased cortisol levels). How- den weisen verschiedene Charakteristika auf. ever, these associations, and particularly their Sie scheinen tendenziell häufiger weiblich, > 40 direction, are often unclear. The diagnosis of Jahre alt, weniger gebildet und allein lebend zu Abstract: Medically Unexplained Symp- somatoform complaints represents an especially sein. Darüber hinaus leiden viele von ihnen, zwi- toms and Somatoform Disorders in Primary difficult field. As the diverging prevalence rates schen 30 % und 70 %, unter komorbiden depres- Care. Somatoform symptoms (also referred to as suggest, the current diagnostic systems DSM-IV siven oder Angststörungen. Neben manifesten “medically unexplained symptoms”), syndromes, and ICD-10 cannot adequately describe this phe- komorbiden Störungen sind bei Patienten mit and disorders are defined as bodily complaints nomenon. A vivid discussion has emerged somatoformen Beschwerden häufig bestimmte that lack an adequate organic pathology. In around their reconceptualization, and new diag- psychologische Merkmale zu finden. Hierzu zäh- DSM-IV and ICD-10, several subdiagnoses are nosis criteria that are planned to be introduced len behaviorale Merkmale (beispielsweise Inan- described within the class of somatoform disor- with DSM-V have been proposed. J Neurol spruchnahme ärztlicher Leistungen, Schonung), ders. Moreover, they are often classified as so- Neurochir Psychiatr 2012; 13 (1): 21–8. perzeptive und kognitive Besonderheiten (z. B. called “functional disorders”. Because of their somatosensorische Verstärkung, katastrophisie- often diffuse physical nature these complaints Key words: medically unexplained symptoms, rende Interpretation von Körpersymptomen), frequently occur in the primary care setting. somatoform disorders, functional disorders, epi- emotionale Merkmale (z. B. Krankheitsängstlich- About 75 % of the symptoms reported in primary demiology, diagnostics Definition („cluster“), jedoch ohne klare Vorgaben bezüglich Onset, Dauer oder anderer Kriterien. Im Folgenden werden die für Körperliche und psychische Phänomene können auf 3 ver- die vorliegende Arbeit relevanten Begriffe anhand dieser Un- schiedenen Ebenen beschrieben werden: auf der Symptom-, terscheidung definiert. der Syndrom- sowie der Diagnoseebene. Symptome können als isolierte Phänomene von schwankender Intensität, Lokali- Kroenke et al. [1] definieren ein körperliches Symptom als sation und Dauer betrachtet werden. Wenn verschiedene „any physical symptom reported by a patient, including both Symptome schließlich festgelegte Kriterien erfüllen, wie symptoms that have an adequate physical explanation as well beispielsweise einen bestimmten Onset, eine Mindestanzahl as those that are unexplained (i. e., somatoform)“. Ein soma- oder -dauer von Symptomen oder einen bestimmten Grad an toformes Symptom definieren sie als „a physical symptom Beeinträchtigung, können sie zu einer Diagnose zusammen- that lacks an adequate physical explanation“. Die Begriffe gefasst werden. Die Syndromebene schließlich ist weniger „medizinisch unerklärtes Symptom“ (MUS) oder „medizi- klar definiert und kann zwischen der Symptom- und der nisch unerklärtes physisches Symptom“ (MUPS) werden in Diagnoseebene angesiedelt werden. Syndrome repräsentie- diesem Zusammenhang ebenfalls häufig gebraucht und in ren mehrere Symptome, die häufig miteinander auftreten dieser Arbeit synonym verwendet. Ein weiterer, häufig anzu- treffender Begriff ist jener der Somatisierung, welcher mehr mit dem Entstehungsprozess somatoformer Symptome in Eingelangt am 17. Juni 2010; angenommen nach Revision am 16. August 2010; Verbindung gebracht wird. Somatisierung kann hierbei als Pre-Publishing Online am 3. November 2010 Tendenz verstanden werden, MUS als Reaktion auf psycho- Aus der Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Abteilung, Universitäts- sozialen Stress zu erleben und zu kommunizieren [2]. klinikum Erlangen, Deutschland Korrespondenzadresse: Dipl.-Psych. Stephanie Körber, Psychosomatische und Psychotherapeutische Abteilung, Universitätsklinikum Erlangen, D-91054 Auf der Diagnoseebene hat sich der Begriff der somatofor- Erlangen, Schwabachanlage 6; E-Mail: stephanie.koerber@uk-erlangen.de men Störungen (SFS) seit der Einführung der Diagnosesyste- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1) 21 For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin Tabelle 1: Somatoforme Störungen in DSM-IV and ICD-10 DSM-IV ICD-10 Name Code Name Code Somatisierungsstörung 300.81 Somatisierungsstörung F45.0 Undifferenzierte somatoforme Störung 300.82 Undifferenzierte Somatisierungsstörung F45.1 Konversionsstörung 300.11 Dissoziative (Konversions-) Störungen F44.x Schmerzstörung 307.xx Anhaltende somatoforme Schmerzstörung F45.4 Hypochondrie 300.7 Hypochondrische Störung F45.2 Körperdysmorphe Störung 300.7 Dysmorphophobie (Subkategorie der hypochondrischen Störung) F45.2 – Somatoforme autonome Funktionsstörung F45.3x – Neurasthenie F48.0 Somatoforme Störung NNB 300.82 Somatoforme Störung NNB F45.9 Sonstige somatoforme Störungen F45.8 NNB: nicht näher bezeichnet me DSM-III im Jahr 1980 [3] und ICD-10 im Jahr 1992 [4, 5] MUS einerseits häufig nicht isoliert, sondern in Form von in weiten Teilen der psychologischen, psychiatrischen und Symptomgruppen auftreten [12, 13], die einzelnen Diagnosen psychosomatischen Forschung und Praxis etabliert. Laut De- der SFS jedoch oft als inadäquat bewertet werden (siehe finition des DSM-IV-TR [6, 7] haben die unter dieser Diagno- „Ausblick“), wurden verschiedene alternative Operationali- se zusammengefassten Subdiagnosen die Gemeinsamkeit, sierungen vorgeschlagen. Zwei Beispiele sind der „Somatic dass sie als Ursache der berichteten Beschwerden einen medi- Symptom Index“ (SSI 4/6) von Escobar et al. [14] sowie die zinischen Krankheitsfaktor nahe legen, dieser jedoch nicht „Bodily Distress Disorder“, welche von Fink et al. vorge- ausreichend nachgewiesen werden kann. Das Kapitel V schlagen wurde [15]. („Psychische und Verhaltensstörungen“) der ICD-10 [4, 5, 8, 9] verwendet eine ähnliche Formulierung: „Das Charakteris- Abschließend kann zusammengefasst werden, dass der ge- tikum […] ist die wiederholte Darbietung körperlicher Symp- meinsame Nenner der hier vorgestellten Operationalisierun- tome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach me- gen das Fehlen einer (ausreichenden) organischen Erklärung dizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Er- der Beschwerden ist. Dies impliziert, dass ein Symptom die gebnisse und Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht Form eines körperlich verursachten Phänomens annehmen körperlich begründbar sind.“ Wenn somatische Störungen kann („somato-form“), aber dass es hierfür, bzw. für das Aus- vorhanden sind, „erklären sie nicht die Art und das Ausmaß maß der Beschwerden, keine adäquate organische Erklärung der Symptome oder das Leiden und die innerliche Beteiligung gibt. Dieses Kriterium als grundlegende Voraussetzung von des Patienten“ [9]. Die letzte Formulierung, welche ähnlich MUS und SFS wird bis heute kritisiert – eine Diskussion, auf auch im DSM-IV zu finden ist, ist insofern von Bedeutung, da die unter dem Punkt „Ausblick“ kurz eingegangen wird. das Vorhandensein eines medizinischen Krankheitsfaktors an sich kein Ausschlusskriterium für eine SFS ist, dass jedoch Prävalenz das Ausmaß der Beschwerden das Ausmaß des Befunds über- steigen muss. Die verschiedenen Subdiagnosen, welche Dem vorangegangenen Kapitel entsprechend werden die innerhalb der Kategorie der SFS in der ICD-10 und dem Prävalenzraten separat für die Symptom-, die Diagnose- und DSM-IV zusammengefasst sind, sind in Tabelle 1 dargestellt. die Syndromebene angegeben. Neben der Gruppe der SFS in DSM-IV und ICD-10 werden Kroenke et al. berichten, dass bei 84 % der von > 500 Haus- körperliche Beschwerden ohne klare organische Ursache arztpatienten berichteten Symptome keine klare organische auch unter dem Begriff der funktionellen Störungen gefun- Ursache festgestellt werden konnte [16]. In einer späteren den. Diese werden jedoch nicht den psychischen Störungen Arbeit der gleichen Arbeitsgruppe werden zwischen 16 und zugeordnet, sondern als somatomedizinische Diagnosen in 33 % der von Hausarztpatienten berichteten Symptome als der jeweiligen ICD-10-Sektion klassifiziert. Als Beispiele somatoform beurteilt, was jedoch als konservative Schätzung sind das Reizdarmsyndrom zu nennen, welches innerhalb des angesehen wird, da nur solche Symptome berücksichtigt wur- Kapitels „Krankheiten des Verdauungssystems“ eingeordnet den, die die Patienten sehr stark während des vergangenen wird, sowie das chronische Erschöpfungssyndrom, welches Monats beeinträchtigten [17]. Aiarzaguena et al. fanden in unter dem Kapitel „Krankheiten des Nervensystems“ klassifi- einer Hausarztstudie, dass Patienten durchschnittlich 3 medi- ziert wird. Hier wird eines der zahlreichen diagnostischen zinisch erklärte und 12 unerklärte Symptome berichten, was Probleme deutlich, da es keine klare Abgrenzung und eine somit bezogen auf die Gesamtsymptomzahl einer Rate von deutliche Überlappung zwischen den verschiedenen diagnos- 80 % entspricht [18]. Ein ähnliches Ergebnis erzielten wir in tischen Herangehensweisen gibt [10, 11]. einer eigenen Studie, in welcher 76 % der berichteten Symp- tome von den Hausärzten als nicht vollständig medizinisch er- Wie eingangs erwähnt ist auch bei somatoformen Beschwer- klärt eingeschätzt wurden [19]. Die hierbei am häufigsten be- den die Syndromebene am wenigsten scharf definiert. Da richteten Symptome sind Rücken-, Glieder-, Brust- und Kopf- 22 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1)
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin schmerzen, Schlafprobleme und Erschöpfung sowie Magen- sierung der multisomatoformen Störung von Kroenke et al. und Verdauungsbeschwerden [16, 20, 21]. Ein Blick auf die angewendet [32], so ergibt sich eine Prävalenzrate von etwa Allgemeinbevölkerung zeigt, dass etwa 80 % der Befragten 8 %. In der Allgemeinbevölkerung berichten Creed und mindestens ein leicht und etwa 20 % mindestens ein stark be- Barsky eine Prävalenz des SSI 4/6 von 4,4–19 % [28]. einträchtigendes somatoformes Symptom berichten [22]. Zusammenhänge mit relevanten Variablen Bei der Interpretation dieser eindrücklichen Symptompräva- lenzen muss jedoch eines beachtet werden: Körperliche Sym- MUS und besonders SFS sind keine isolierten Phänomene. ptome – unabhängig davon, ob sie medizinisch erklärt sind Wie viele andere körperliche oder psychische Störungen ge- oder nicht – sind ein häufiges und normales Phänomen. Vor- hen sie mit bestimmten soziodemographischen Faktoren, an- übergehende Alltagsbeschwerden und körperliche Miss- deren Störungen sowie mit bestimmten Verhaltens-, kogniti- empfindungen führen in der Regel nicht zum Aufsuchen eines ven, emotionalen und biologischen Charakteristika einher. Arztes [22, 23]. Dies zeigt sich auch in der Vermutung von Zahlreiche Studien, die zum Teil in umfangreichen Reviews Kroenke et al., wonach eine höhere Prävalenz somatoformer (z. B. [33]) zusammengetragen wurden, haben sich der Erfor- Symptome zu erwarten wäre, wenn alle Symptome betrachtet schung dieser Zusammenhänge gewidmet. werden würden – nicht nur die beeinträchtigenden [17]. Soziodemographische Variablen Im Gegensatz zu den hohen Prävalenzen bei MUS treten Laut Escobar et al. wird die Anzahl von MUS signifikant von somatoforme Störungen weniger häufig auf. Dies liegt zum den Variablen Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft be- einen an der Besonderheit des Diagnosekonzepts, das in der einflusst [14]. Frauen, Personen > 40 und solche mit mexika- Regel aus mehreren Symptomen und weiteren Kriterien be- nisch-amerikanischem Hintergrund zeigten in ihrer Studie steht, zum anderen an den z. T. strengen Operationalisierun- eine erhöhte Somatisierungstendenz. Diese Zusammenhänge gen. So berichten beispielsweise de Waal et al. eine Prävalenz sind jedoch keine simplen Ursache-Wirkungs-Beziehungen, somatoformer Störungen (nach DSM-IV) unter Hausarztpati- sondern interagieren auf komplexe Art und Weise miteinan- enten von 16 % [24]. Fink et al. berichten eine z. T. deutlich der. Der überproportionale Anteil von Frauen sowie älteren höhere Rate von Hausarztpatienten, die an einer somatofor- Personen wurde auch von anderen Forschergruppen bestätigt men Störung leiden. Nach ihrer Analyse erfüllen 22 % der [20, 34, 35]. Dies gilt ebenso für das vermehrte Vorkommen Patienten die Kriterien einer SFS nach ICD-10 (ohne Berück- von MUS bei Menschen mit hispanischer oder afroamerikani- sichtigung der Diagnose „Somatoforme Störung, nicht näher scher Herkunft [36], was auf kulturelle oder eventuell auch bezeichnet“), und 58 % nach DSM-IV [25]. Smith et al. sozioökonomische Unterschiede hinweist. Darüber hinaus wiederum berichten eine deutlich niedrigere Prävalenz von scheinen Menschen mit somatoformen Beschwerden ein ten- 4,4 % [26]. Diese Unterschiede von z. T. > 50 % zwischen denziell niedrigeres Bildungsniveau aufzuweisen [28, 34– den Studien, aber auch innerhalb ein und derselben Studie, 36]. Dieser Effekt könnte jedoch, ähnlich der Schizophrenie, deuten auf einen weiteren Schwachpunkt der aktuellen Diag- auch im Rahmen einer „Social-drift“-Hypothese erklärt wer- nosekriterien hin. Im Rahmen der hier dargestellten Prä- den, da Barkmann et al. bei Kindern und Jugendlichen keinen valenzraten tritt die undifferenzierte somatoforme Störung solchen Zusammenhang finden konnten [37]. Personen mit (Tab. 1) aufgrund ihrer am wenigsten strengen Kriterien am somatoformen Beschwerden scheinen darüber hinaus häufi- häufigsten auf. Im Gegenzug wird die Somatisierungsstö- ger allein lebend und hierbei besonders häufig verwitwet zu rung, welche die strengsten Diagnosekriterien enthält, am sel- sein [20, 34]. tensten berichtet. Die Prävalenzraten bewegen sich hier zwi- schen 0,06 % [27] und 5,7 % [25] in Abhängigkeit vom ange- Wie so oft in der psychologischen und medizinischen For- wendeten Diagnosesystem (DSM-III-R, DSM-IV, ICD-10). schung sind die hier berichteten Ergebnisse jedoch nicht kon- Blickt man schließlich auf die geringe Anzahl an Studien, die sistent. So fanden Barsky et al. ein Überwiegen vorwiegend sich mit der Allgemeinbevölkerung und nicht mit klinischen junger Patienten [36] und Feder et al. konnten keine ethni- Stichproben befassen, werden die Raten noch geringer. In schen Unterschiede feststellen [20]. Creed und Barsky wiede- einem Review konnten Creed und Barsky die Rate an Perso- rum konnten in ihrem Review von 47 Studien zu Somatisie- nen mit Somatisierungsstörung zwischen 0,03 % und 0,84 % rungsstörung und Hypochondrie keine Geschlechtsunter- verorten [28]. schiede bestätigen [28]. Ähnliche Ergebnisse erzielte eine niederländische Forschergruppe um Olde Hartmann, die nur Prävalenzraten, die sich auf verschiedene Syndrome bezie- schwache Belege für viele der vermuteten prognostischen hen, sind schwer zu vergleichen, da sie – wie bereits erwähnt Faktoren finden konnte [38]. Jedoch betonen die Autoren, – unterschiedliche Operationalisierungen verwenden bzw. dass die Zusammenhänge bei eng umgrenzten Störungsbil- analysieren. Ein häufig untersuchtes somatoformes Syndrom dern (wie beispielsweise Reizdarm- oder chronischem Er- ist der SSI 4/6 von Escobar et al. [14], der 4 Symptome für schöpfungssyndrom) sehr viel stärker sind. Männer und 6 für Frauen verlangt. Hier liegt die Prävalenz- rate im Hausarztsetting zwischen 7,3 % und 35 % [26–30]. Komorbidität mit anderen Störungen Becker et al. berichten, dass 19 % der von ihnen befragten Grundsätzlich scheint eine hohe Komorbidität zwischen Hausarztpatienten klinisch bedeutsame Raten an Somatisie- somatoformen Beschwerden und anderen psychischen Stö- rung aufwiesen [31], und Feder et al. fanden nach Einschät- rungen bzw. dem Risiko für weitere psychische Störungen zung der behandelnden Hausärzte bei 24 % der Patienten eine zu bestehen [14, 20, 25, 34]. Die Komorbiditätsrate wird hier Krankheitsgeschichte mit MUS [20]. Wird die Operationali- bei mindestens 50 % angesiedelt. Studien, die sich mit der J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1) 23
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin Komorbidität psychischer Störungen befassen, beziehen sich Sinne von medizinisch erklärten, Komorbiditäten aufweisen. hier meist auf komorbid auftretende depressive und Angststö- Auch wenn die Forschungslage hier wesentlich spärlicher ist, rungen. Zahlreiche Studien [17, 39, 40] sowie systematische so scheint es doch eine Tendenz zu geben, dass somatoforme Reviews [28] konnten eine hohe Komorbidität zwischen die- Beschwerden und organische Erkrankungen häufig miteinan- sen Störungen und somatoformen Beschwerden nachweisen. der einhergehen. Beispielsweise konnten Leiknes et al. zei- Meist geschieht dies in einer Art Dosis-Wirkungs-Beziehung, gen, dass bei schwer ausgeprägten SFS die Komorbidität mit wobei das Risiko für eine Angst- oder depressive Störung mit muskuloskelettalen Störungen bei etwa 43 % liegt [39]. Auch der Anzahl körperlicher Symptome anzusteigen scheint [17, Harris et al. berichten eine substanzielle Überlappung zwi- 28]. Der Anteil an Patienten mit somatoformen Beschwerden, schen Somatisierung und organischer Erkrankung [44]. Jedoch die auch an einer Depression oder Angststörung leiden, liegt unterschied sich die Rate von 39 % von Patienten, die neben grob zwischen 30 und 70 %. einer SFS auch unter einer körperlichen Erkrankung leiden, nicht signifikant von der bei Patienten ohne SFS (30 %). Während der rein deskriptive Zusammenhang zwischen somatoformen, depressiven und Angststörungen unumstritten Krankheitsverhalten ist, sind Art und Richtung dieser Beziehung kaum untersucht Bei Berichten über die Bedeutung von Patienten mit somato- [41] und Stoff kontroverser Diskussionen. So konnten formen Beschwerden werden häufig Kosten-Nutzen-Aspekte Leiknes et al. in einer Studie zum Krankheitsverhalten zeigen, herangezogen. Betroffene werden häufig als Patienten be- dass das Vorhandensein einer komorbiden psychiatrischen schrieben, die in einem unverhältnismäßigen Ausmaß die Störung bedeutsamer war als das einer reinen SFS, was sie zu Angebote des Gesundheitssystems nutzen. So scheinen sie der Schlussfolgerung gelangen lässt, dass eine SFS ohne wei- ihren Hausarzt häufiger aufzusuchen als Patienten ohne psy- tere psychiatrische Diagnose nicht als eigenständige psychi- chische Störung [35, 45] und generell mehr nicht-psychiatri- sche Störung betrachtet werden sollte [39]. Ähnlich argumen- sche Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen als Patienten tieren Smith et al., die in einer Untersuchung an Hausarzt- ohne SFS [25]. Darüber hinaus suchen sie häufiger fachärztli- patienten zeigen konnten, dass Patienten mit MUS besser che Versorgung auf [36, 45], was möglicherweise eine Suche durch die Variablen Depressivität und Ängstlichkeit charakte- nach Rückversicherung sowie Schwierigkeiten in der Interak- risiert wurden als durch die Diagnose einer SFS [26]. Jedoch tion mit dem Hausarzt, der sich verunsichert fühlt und die ziehen sie, im Gegensatz zu Leiknes et al. [39], nicht den Patienten weiter verweist, widerspiegelt. Auch Notfall- und Schluss, dass die Kategorie der SFS abgeschafft werden soll- stationäre Aufnahmen scheinen bei Patienten mit SFS häufig te, sondern fordern eine Revision unter Berücksichtigung aufzutreten [36, 45]. Diese Verhaltensweisen scheinen nicht auch milderer Formen somatoformer Beschwerden [26]. direkt mit der Anzahl an Symptomen assoziiert zu sein, son- Auch Hanel et al. berichten, dass Patienten mit komorbidem dern eher vermittelt über Faktoren wie eine individuelle Vorliegen somatoformer, depressiver und Angststörungen, Inanspruchnahmeschwelle [46] oder die subjektive Beein- aber auch solche mit einer reinen Depression, signifikant trächtigung [47]. Neben häufigeren Arztbesuchen erhalten mehr beeinträchtigt sind als Patienten mit der alleinigen Diag- Patienten mit somatoformen Beschwerden meist umfangrei- nose einer SFS [35]. Entsprechend propagieren van der Feltz- che und aufwendige diagnostische Untersuchungen, auch Cornelis und van Balkom die Verschiebung somatoformer nachdem die wichtigsten und möglicherweise gravierendsten Beschwerden in Subkategorien der affektiven und Angst- Ursachen (wie z. B. eine koronare Herzerkrankung oder ein störungen [42]. Magengeschwür) ausgeschlossen wurden. All dies führt zu erhöhten Kosten, die auch dann konstant bleiben, wenn für Während die bisher genannten Ergebnisse die Bedeutung der Komorbidität, insbesondere hinsichtlich depressiver, Angst- SFS als eigenständige Störungskategorie infrage stellen, gibt oder organischer Erkrankungen, kontrolliert wird [45]. Im es eine große Zahl an Belegen, die ihren Wert – unabhängig Gegenzug können adäquate Interventionen die Kosten redu- von depressiven und Angststörungen – stärken. In verschiede- zieren [48]. nen Studien konnte gezeigt werden, dass somatoforme Be- schwerden einen zusätzlichen, d. h. inkrementellen Wert über Diese Ergebnisse zeigen sich konsistent über viele Studien, das reine Vorhandensein einer Angst- oder depressiven Stö- jedoch gibt es auch hier konkurrierende Daten. So fanden rung hinaus, haben [29, 41, 43]. So konnten Harris et al. in z. B. Peveler et al., dass Patienten mit höheren Symptomzah- einer Hausarztstudie belegen, dass Somatisierung zu einer er- len im Vergleich zu krankheitsängstlichen, depressiven, aber höhten Beeinträchtigung führt, unabhängig von medizini- auch anderen Patienten Gesundheitsdienste nicht signifikant scher oder psychiatrischer Komorbidität [44]. Dies ließ die häufiger in Anspruch nahmen [21]. Autoren schlussfolgern, dass Somatisierung eine sich von Depression unterscheidende Entität darstellt. Darüber hinaus Die Inanspruchnahme von Diensten des Gesundheitssystems können hier auch die bereits oben genannten Komorbiditäts- stellt eines der behavioralen Merkmale somatoformer Be- raten als Argument herangezogen werden: Wenn Patienten schwerden dar. Körperliche und somatoforme Symptome mit somatoformen Beschwerden zu 30–70 % auch an einer können sich jedoch auch in Form von Rückversicherungssu- Depression oder Angststörung leiden, dann bleibt immer noch che oder Vermeidungsverhalten manifestieren. Der Wunsch ein Patientenanteil von ebenfalls 30–70 % übrig, der somato- nach ärztlicher Rückversicherung bei Auftreten neuer unbe- forme Beschwerden ohne zusätzliche Komorbidität berichtet. kannter Körpersymptome ist normal und verständlich, und Rückversicherung zu geben ist eine der wichtigsten Strategi- Abschließend stellt sich die Frage, ob Patienten mit MUS und en für Ärzte. Wenn MUS chronifizieren, kann diese Strategie SFS nicht nur psychiatrische, sondern auch organische, im jedoch an Wirksamkeit verlieren und langfristig sogar zur 24 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1)
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin Aufrechterhaltung der Beschwerden beitragen [49]. In ähnli- Biologische Korrelate cher Art und Weise kann der durch langfristiges Vermeidungs- Patienten mit MUS und SFD werden oft mit dem Vorurteil und Schonverhalten entstehende Rückgang körperlicher Fit- konfrontiert, dass ihre Beschwerden nur ein Problem „im ness zur Aufrechterhaltung von MUS und SFS beitragen [50], Kopf“ wären. Dies ist sicherlich nicht korrekt. Natürlich ist wobei dieser Zusammenhang noch nicht gut erforscht und die Grundannahme somatoformer Beschwerden, dass es kei- deswegen unklar ist [33]. ne ausreichende organische Erklärung für die Beschwerden gibt. Jedoch bedeutet dies nicht, dass es – wie auch bei ande- Kognition, Perzeption und Emotion ren psychischen Störungen – keine physiologischen Korrelate Eine große Anzahl an Studien hat sich mit der Frage beschäf- gibt, die mit den Symptomen einhergehen. Verschiedene tigt, wie Personen mit somatoformen Beschwerden ihre Symp- Parameter werden hierbei als relevant angesehen. Innerhalb tome wahrnehmen, über sie denken und mit welchen Gefüh- des endokrinen Systems wird der Hypothalamus-Hypophy- len sie assoziiert sind. Einer der ersten Forscher, der sich in sen-Nebennierenrinden-Achse eine wichtige Rolle zuge- diesem Feld mit Wahrnehmung und Kognition befasste, war schrieben, da sie durch Stress aktiviert wird und gleichzeitig Arthur J. Barsky. Er entwickelte das Konzept der somatosen- die Schmerzwahrnehmung beeinflusst. Das Hormon Cortisol sorischen Verstärkung („somatosensory amplification“), das wurde hierbei am häufigsten untersucht, wobei manche Stu- – ähnlich der Panikstörung – einen Teufelskreis aus Symp- dien eine erhöhte Cortisol-Konzentration bei Patienten mit tomwahrnehmung, Attribution, Beschwerden, Aufmerksam- somatoformen Beschwerden fanden, manche wiederum keine keitsfokussierung und erhöhter Symptomintensität beschreibt Auffälligkeiten beobachteten [69, 70]. Auch Neurotransmit- [51]. ter scheinen bei Personen mit somatoformen Beschwerden, und hier besonders bei Patienten mit Schmerzsymptomen, Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Patienten mit eine Rolle zu spielen. Ähnlich wie bei depressiven Störungen somatoformen Beschwerden zu einer katastrophisierenden konnte eine reduzierte Serotonin-Konzentration im synapti- Interpretation ihrer Symptome neigen [52, 53]. Darüber hin- schen Spalt nachgewiesen werden [70]. Weitere Hinweise auf aus scheinen Faktoren, wie Einstellungen gegenüber Krank- biologische Prozesse ergeben sich aus dem Studium verschie- heit und Gesundheit, kognitive Repräsentationen von Krank- dener Hirnareale, das unter anderem eine Korrelation zwi- heit, Aufmerksamkeitslenkung, Erwartungen und Gesund- schen katastrophisierender Symptomwahrnehmung und ver- heitssorgen, bei Patienten mit MUS oder SFD relevant zu schiedenen kortikalen Regionen (z. B. des dorsolateralen prä- sein, wobei sie in einem komplexen Zusammenspiel zur Ent- frontalen oder des parietalen Kortex) ergab [71]. Jedoch muss stehung und Aufrechterhaltung von Beschwerden beitragen erneut betont werden, dass die gefundenen Interaktionen [54–58]. Wie bereits erwähnt, sind diese Zusammenhänge nicht konsistent sind, und dass v. a. die Richtung der genann- jedoch äußerst komplex, was in der Konsequenz zu häufig ten Zusammenhänge noch unklar ist und weiterer Forschung divergierenden Forschungsergebnissen führt. So ist z. B. un- bedarf [72, 73]. klar, ob die berichteten Variablen spezifisch für somatisie- rende Patienten oder ein allgemeines Phänomen bei Patienten Zusammenfassung und primärärztliche mit psychischen oder organischen Störungen sind [59–61]. Interventionsmöglichkeiten Darüber hinaus sind viele Zusammenhänge nicht ausreichend In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargelegt, dass erforscht, wie beispielsweise die Bedeutung von Aufmerk- soziodemographische Variablen, andere psychische und kör- samkeitslenkung, die bisher hauptsächlich bei Patienten mit perliche Erkrankungen, behaviorale, kognitive, perzeptive Hypochondrie untersucht wurde [33]. Ein weiteres Beispiel und emotionale sowie biologische Faktoren mehr oder weni- für die Divergenz von Forschungsergebnissen ist die Rolle ger klar mit MUS und SFS zusammenhängen. Ein Modell, von Kausalattributionen. Auf der einen Seite scheint es eine das diese Zusammenhänge zum Teil wiedergibt, ist in Abbil- weit verbreitete Annahme zu sein, dass somatisierende Pati- dung 1 dargestellt. Die Komplexität dieser Zusammenhänge enten zu einer klassisch-medizinischen Kausalattribution nei- wurde an mehreren Punkten aufgezeigt, und in den meisten gen, was auch durch verschiedene Studien belegt wurde [62, Fällen ist es schwer zu sagen, was Henne ist und was Ei. Zu- 63] und sogar ein diagnostisches Kriterium der Somatisie- sätzlich zu der grundlegenden Frage von Ursache und Wir- rungsstörung nach ICD-10 [8] ist („Hartnäckige Weigerung, kung stehen die einzelnen Faktoren in komplexen wechselsei- die medizinische Feststellung zu akzeptieren, dass keine aus- tigen Interrelationen, was anhand des Beispiels von Kausal- reichende körperliche Ursache für die körperlichen Sympto- attributionen demonstriert wurde (siehe Abschnitt „Kogni- me vorliegt“). Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch viele tion, Perzeption und Emotion“). Grundsätzlich, wie bei allen Belege, die auf ein sehr ausgefeiltes, differenziertes und häu- psychischen Störungen und zunehmend auch bei körperli- fig biopsychosoziales Krankheitsmodell bei Patienten mit chen Erkrankungen, sollte eine Integration von körperlichen somatoformen Störungen hinweisen [64, 65]. Es wird vermu- Symptomen, soziodemographischen Charakteristika sowie tet, dass hier die Komorbidität mit depressiven oder Angst- psychologischen und biologischen Faktoren im Rahmen ei- störungen als Mediator wirkt [65], was wiederum die Kom- nes biopsychosozialen Modells angestrebt werden, wie dies plexität der Zusammenhänge demonstriert. auch von vielen Autoren gefordert wird [23, 75]. Bezüglich emotionaler Aspekte wird angenommen, dass ein Aufbauend auf den hier genannten Erkenntnissen wurden negativer Affekt im Allgemeinen sowie Krankheitsängste im verschiedene Interventionsmöglichkeiten entwickelt. Es gibt Besonderen eine wichtige Bedeutung bei Patienten mit MUS ausführliche spezialisierte Behandlungsprogramme [74, 76] oder SFS haben [66, 67]. Auch Temperamentszüge scheinen ebenso wie Interventionsansätze, welche sich spezifisch hier eine Rolle zu spielen [68]. auf die hausärztliche Versorgung beziehen. So entwickelten J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1) 25
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin Abbildung 1: Störungsmodell somatoformer Störungen. Mod. nach [74]. beispielsweise Rief et al. ein effektives 1-tägiges Training für 44, 85]. Drittens wird kritisiert, dass SFS-Diagnosen, v. a. die Hausärzte, in welchem Informationen zum Beschwerdebild der Somatisierungsstörung, auf der Erfassung von Lifetime- somatoformer, depressiver und Angststörungen, entsprechen- Symptomen basieren, was aufgrund von Erinnerungseffekten de Screeninginstrumente sowie Behandlungsleitlinien vorge- als problematisch angesehen wird [28, 86, 87]. Jedoch schei- stellt werden [77]. Auch Larisch et al. konnten zeigen, dass nen Syndrome deutlich stabiler zu sein als einzelne Symp- ein speziell für Hausärzte angebotenes, 12-stündiges Training tome [28, 87]. Ein vierter und scharfer Kritikpunkt an der zum Umgang mit somatisierenden Patienten zu deutlichen momentanen SFS-Klassifikation bezieht sich auf das Kern- Kosteneinsparungen führt [48]. Die in diesen Trainings ver- konzept, nämlich den Ausschluss organischer Pathologie und mittelten Interventionsmethoden beziehen sich v. a. auf allge- somit die Unterscheidung in somatoform vs. somatisch. Hier meine Techniken der Gesprächsführung, die Durchführung gibt es eine breite Anzahl an Befunden und Meinungen [34, zeitkontingenter (statt symptomkontingenter) Arzttermine, 44, 60, 75, 88] und der momentane Trend – blickt man auf den den Abbau von Vermeidungs- und den Aufbau von Coping- aktuellen Vorschlag für DSM-V (siehe unten) – scheint eher verhalten, Reattributionstraining sowie die Vermittlung der die Abschaffung dieser Dichotomie zu favorisieren [89, 90]. Erkenntnis, dass nicht eine Heilung der Symptome, sondern In diesem Zusammenhang ist auch der fünfte Kritikpunkt zu eine Bewältigung im Vordergrund stehen sollte [77]. sehen, nämlich das Fehlen positiver psychologischer Krite- rien (also einer Definition von Merkmalen, durch die SFS Ausblick: Somatoforme Störungen in charakterisiert sind) im Gegensatz zum bisherigen Vorgehen, welches auf einer bloßen Ausschlussdiagnose (also einer ICD-11 und DSM-V Definition dessen, was SFS nicht sind) basiert [91–95]. Auch Der Prozess der Neukonzeptionalisierung der Diagnose- hier scheint der momentane Trend diese Kritik zu berücksich- systeme ist momentan in vollem Gange, die neuen Versionen tigen [89, 90]. Der letzte, hier genannte Kritikpunkt bezieht DSM-V und ICD-11 sollen voraussichtlich 2013 bzw. 2014 sich auf den Begriff „somatoform“, dessen Angemessenheit veröffentlicht werden [78–80]. Es gab und gibt eine breite und Akzeptanz infrage gestellt wird. Andere Vorschläge wur- Diskussion darüber, inwiefern die Kategorie der SES ver- den gemacht [60, 91], nicht zuletzt der aktuelle DSM-V-Vor- bessert werden kann. Neben einer Darstellung des aktuellen schlag, in dem die Störung als „Somatic Symptom Disorder“ Vorschlags der „American Psychiatric Association“ sollen bezeichnet wird. Abschließend soll dieser Vorschlag, der hier die wichtigsten Punkte dieser äußerst facettenreichen auf der Homepage der „American Psychiatric Association“ Diskussion ohne Anspruch auf Vollständigkeit aufgeführt (http://www.dsm5.org) nachzulesen ist [89, 90], kurz darge- werden. stellt werden. Ein erster Kritikpunkt sind die z. T. zu strengen (Somatisie- Die erstmals im Juni 2009 vorgestellte [96] und ständig aktu- rungsstörung) und z. T. zu weiten Diagnosekriterien (undif- alisierte Neukonzeption der SFS trägt, wie bereits erwähnt, ferenzierte SFS) [81, 82]. Hier wird vorgeschlagen, eine eher den Namen „Somatic Symptom Disorder“ (eine angemessene dimensionale Sichtweise einzuführen, die verschiedene deutschen Übersetzung existiert nach dem Wissen der Auto- Schweregrade der Störung berücksichtigt [26, 35, 83, 84]. Ein ren noch nicht) und verzichtet explizit auf die Dichotomisie- zweiter Kritikpunkt ist die im Abschnitt „Komorbidität mit rung in somatische und somatoforme Symptome [89]. Die anderen Störungen“ beschriebene enge Verbindung zwischen wichtigste Subdiagnose in dieser Störungsgruppe ist die SFS und depressiven und Angststörungen. Manche Autoren „Complex Somatic Symptom Disorder“, die die früheren favorisieren hier eine Abschaffung der SFS und eine Anord- Diagnosen Somatisierungsstörung, undifferenzierte SFS, nung in Subkategorien der depressiven und Angststörungen Hypochondrie und Schmerzstörung umfasst. Sie wird durch [42], während andere den Eigenwert der SFS betonen [28, 43, folgende Kriterien charakterisiert [90]: 26 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1)
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin A Somatische Symptome: Multiple somatische Symptome Interessenkonflikt oder ein schweres Symptom, welche Leid verursachen B Fehlattributionen, übermäßige Sorgen oder Beschäftigt- Die Autoren verneinen einen Interessenkonflikt. sein mit Symptomen und Krankheit: Mindestens 2 der nachstehend angeführten Symptome: – Hohes Maß an Krankheitsängstlichkeit – Normale Körpersymptome werden als bedrohlich oder Literatur: 19. Körber S, Frieser D, Steinbrecher N, et al. Validity and classification characteristics of schädlich bewertet 1. Kroenke K, Spitzer RL, deGruy FV III, et al. the PHQ-15 for screening somatoform disor- – Tendenz, für die eigene Gesundheit das Schlimmste zu A symptom checklist to screen for somato- ders in a primary care setting. J Psychosom form disorders in primary care. Psychosomat- Res 2011; 71: 142–7. erwarten (Katastrophisierung) ics 1998; 39: 263–72. 20. 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J Psychosom Res 1997; 42: 245–52. nicht kontinuierlich präsent sein muss – dauert mindestens classification of mental and behavioural dis- 22. Hiller W, Rief W, Brähler E. Somatization orders. Clinical description and diagnostic in the population. Soc Psychiatry Psychiatr 6 Monate an guidelines. WHO, Geneva, 1992. Epidemiol 2006; 41: 704–12. 5. World Health Organization. The ICD-10 23. Williams N, Wilkinson C, Stott N, et al. Die Beschwerden können hinsichtlich des im Vordergrund ste- classification of mental and behavioural dis- Functional illness in primary care: Dysfunc- orders. Diagnostic criteria for research. WHO, tion versus disease. BMC Fam Pract 2008; 9: henden klinischen Bildes optional weiter spezifiziert werden: Geneva, 1993. 30. – Multiple körperliche Beschwerden (früher: Somatisie- 6. American Psychiatric Association. Diag- 24. De Waal MWM, Arnold IA, Eekhof JAH, rungsstörung) nostic and statistical manual of mental disor- et al. 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Internationale Klassifikation psychi- patients with medically unexplained symp- Nachdem dieser Vorschlag, der viele der o. g. Kritikpunkte zu scher Störungen. Diagnostische Kriterien für toms. Psychosom Med 2005; 67: 123–9. berücksichtigen versucht, gemacht ist, steht nun als nächster Forschung und Praxis. 4. Aufl. Huber, Bern, 27. Escobar JI, Gara M, Silver RC, et al. So- 2006. matisation disorder in primary care. Br J Psy- Schritt an, in Studien seine Validität, Reliabilität und Prakti- 9. Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (Hrsg). chiatry 1998; 173: 262–6. kabilität zu überprüfen. Es bleibt zu hoffen, dass diese neue Internationale Klassifikation psychischer Stö- 28. Creed F, Barsky A. A systematic review of Operationalisierung den von MUS und SFS betroffenen Men- rungen. Klinisch-diagnostische Leitlinien. the epidemiology of somatisation disorder 5. Aufl. Huber, Bern, 2005. and hypochondriasis. J Psychosom Res 2004; schen besser gerecht wird, und dass sie die z. T. noch beste- 10. 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Hier besteht eine rege Diskussion und neue Diag- patients with medically unexplained symp- Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Z toms in general practice. Psychol Med 2008; Psychiatr Psychol Psychother 2007; 55: 49– nosekriterien wurden bereits vorgeschlagen. 37: 283–94. 58. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2012; 13 (1) 27
Somatoforme Beschwerden in der Primärmedizin 38. Olde Hartman TC, Borghuis MS, Lucassen 54. Lorenz J, Hauck M, Paur RC, et al. Corti- matoform, conversive, and dissociative disor- 85. Kroenke K. Somatization in primary care: PLBJ, et al. Medically unexplained symp- cal correlates of false expectations during ders. Curr Opin Psychiatry 2009; 22: 224–31. It’s time for parity. Gen Hosp Psychiatry 2000; toms, somatisation disorder and hypochon- pain intensity judgments – a possible mani- 72. Nater UM, Gaab J, Rief W, et al. Recent 22: 141–3. driasis: Course and prognosis. A systematic festation of placebo/nocebo cognitions. Brain trends in behavioral medicine. Curr Opin Psy- 86. Leiknes KA, Finset A, Moum T, et al. Meth- review. J Psychosom Res 2009; 66: 363–77. Behav Immun 2005; 19: 283–95. chiatry 2006; 19: 180–3. odological issues concerning lifetime medi- 39. Leiknes KA, Finset A, Moum T, et al. Cur- 55. Jackson JL, Passamonti M. The outcomes 73. Rief W, Auer C. 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