Military Power Revue der Schweizer Armee de l'Armée Suisse
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Nr. 1 / 2016 Herausgeber: Chef der Armee Beilage zur ASMZ 6 / 16 und RMS 3 / 16 Military Power Revue — der Schweizer Armee de l’Armée Suisse
Der Chef der Armee ist Herausgeber der Herstellung: Redaktionskommission: MILITARY POWER REVUE. Zentrum elektronische Medien ZEM, Divisionär Urs Gerber Stauffacherstrasse 65 / 14 Chefredaktor MILITARY POWER REVUE Die MILITARY POWER REVUE erscheint zweimal 3003 Bern jährlich (Ende Mai und Ende November). 031 325 55 90 Oberst i Gst Daniel Krauer Leiter Doktrinforschung & Entwicklung Die hier dargelegten Analysen, Meinungen, Druck: (Armeestab) Schlussfolgerungen und Empfehlungen sind galledia ag ausschliesslich die Ansichten der Autoren. Burgauerstrasse 50, Oberst i Gst Stephan Kuhnen Sie stellen nicht notwendigerweise den Stand- 9230 Flawil Chef Heeresdoktrin und Redaktor Bereich Heer punkt des Eidgenössischen Departementes Tel. 058 344 96 96 für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport Oberst i Gst Wolfgang Hoz (VBS) oder einer anderen Organisation dar. Chefredaktion Military Power Revue: Chef Doktrin, Luftwaffe und Redaktor Bereich Divisionär Urs Gerber Luftwaffe Die Artikel der MILITARY POWER REVUE EDA-Kuriersektion können unter Angabe der Quelle frei kopiert Panmunjom – Korea und wiedergegeben werden. Ausnahmen gelten 3003 Bern dort, wo explizit etwas anderes gesagt wird. Tel. +82 503 334 83 07 E-Mail: urs.gerber@vtg.admin.ch Die MILITARY POWER REVUE ist B eiheft der Allgemeinen Militärzeitschrift ASMZ und Chefredaktion ASMZ: der Revue Militaire Suisse (RMS). Divisionär Andreas Bölsterli Verlag: ASMZ, Brunnenstrasse 7, 8604 Volketswil. Verlag ASMZ Brunnenstr. 7 8604 Volketswil Vorwort3 André Blattmann Editorial4 Urs Gerber Führung und Werte 5 Franz Kernic, Hubert Annen Die Neutrale Überwachungskommission (NNSC) an der letzten 15 Konfrontationslinie des Kalten Krieges – Herausforderungen in einem komplexen Umfeld Urs Gerber The “New Spratly Islands”: China’s Word’s and Actions 27 in the South China Sea James E. Fanell Le retour de la défense conventionnelle 39 Alexandre Vautravers Les Missions militaires de liaison de Potsdam – Un point de vue français 44 Patrick Manificat Die Schlacht um Verdun 1916 – Anatomie einer Schlüsselschlacht 55 des 20. Jahrhunderts und ihrer Lehren für die Kampfführung Christian E. O. Millotat, Manuela R. Krueger Buchbesprechungen 70 Bildlegende: Flugoperationen auf dem amerikanischen Flugzeugträger USS J.C.STENNIS im chinesischen Meer (D. Faller, NNSC).
Vorwort 3 Vorwort — Geschätzte Leserinnen und Leser der Military Power Revue Als Herausgeber begrüsse ich Divisionär Urs Gerber herzlich Ausdehnung). Wenn Intensität und Ausdehnung einer Bedro- als neuen Chefredaktor der «Military Power Revue». Es freut hung in dem Umfang vorliegen, dass die territoriale Integrität, mich sehr, dass wir mit ihm einen profunden Kenner der in- die gesamte Bevölkerung oder die Ausübung der Staatsge- ternationalen und nationalen Sicherheitsarchitektur für die- walt bedroht wären, kann von einem Verteidigungsfall ge- ses Amt gewinnen konnten. sprochen werden, wobei der Urheber der Bedrohung nicht notwendigerweise ein Staat sein muss.» Es passt zur Schweiz, dass sie eine im internationalen Ver- gleich bescheidene Zeitschrift publiziert, in welcher ver- Diese Definition wird sinngemäss auch in den Sicherheits- schiedene sicherheitspolitische Autoren zur Sprache politischen Bericht 2016 übernommen. kommen können. In diesem Sinne wünsche ich dem Redak- toren-Team alles Gute und viel Erfolg! Darauf aufbauend können wir feststellen, dass wir mit der Weiterentwicklung der Armee (WEA) genau richtig aufge- Die vergangenen Monate haben uns einmal mehr gezeigt, stellt sind. Das Parlament hat am 18. März 2016 der WEA dass Sicherheit – und damit auch Verteidigung – an Bedeu- deutlich zugestimmt und gibt damit den Weg für die drin- tung weiter zunimmt. Ins Bewusstsein der Öffentlichkeit ist gend nötigen Verbesserungsschritte frei. Die Mobilmachung diese Tatsache zum ersten Mal nach den Ereignissen auf der wird wieder eingeführt, das Kader erhält mehr Führungs- Krim und der Ostukraine gerückt, obwohl die Anzeichen der erfahrung und unsere Verbände werden wieder vollständig zunehmenden Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt – im ausgerüstet. Dank dem vierjährigen (ersten) Zahlungsrahmen klassischen, wie auch im hybriden Bereich – schön länger von 20 Mrd. CHF werden zudem Investitionen und Betriebs- beobachtbar waren. aufwand besser planbar. Fakt ist aber, dass das Bedrohungsspektrum heute wesent- Die Grundlagen für die Zukunft sind also gelegt. Breite In- lich breiter ist als früher. Angriffe können mit umfassen- formationen zu Handen der Bevölkerung sind jetzt wichtig, den Informationsoperationen, Cyberattacken oder dem ver- um darzulegen, welche Leistungen «ihr» Sicherheitsinstru- deckten Einsatz von Sonderoperationskräften beginnen. Die ment Armee künftig erbringen kann. Zum Schutz von Land, Grenze von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren ist Bevölkerung und Infrastruktur. dabei fliessend. Ich danke Ihnen allen für Ihr Interesse und wünsche Ihnen Oft nicht wahrgenommen wird, dass die Schweiz bezüglich eine spannende Lektüre. Definition von «Verteidigung» bereits sehr modern ist. Im November 2015 hat der Bundesrat in einem Bericht von folgender Begriffsbestimmung Kenntnis genommen: «Ent- scheidend für die Frage, ob es sich um Verteidigung oder ei- Chef der Armee nen subsidiären Einsatz handelt, kann daher nicht nur sein, woher ein Angriff erfolgt, mit welchen Mitteln er durchgeführt wird und welche Objekte oder Bereiche bedroht sind, sondern insbesondere auch das Ausmass der Bedrohung (Intensität, KKdt André Blattmann MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
4 Editorial Editorial — Sehr geehrte Leserinnen und Leser der Military Power Revue Mit grosser Freude, aber auch mit dem nötigen Respekt vor dringende und klare Verbesserungen bringen wird, nicht noch einer anspruchsvollen Aufgabe, trete ich Ihnen hier erstmals durch ein aus meiner Sicht unglückliches und unnötiges Re- als neuer Chefredaktor der Military Power Review entgegen. ferendum zu Fall gebracht wird. Der Beitrag von Alexandre Ich danke an dieser Stelle dem Chef der Armee als Herausge- Vautravers ruft zurecht in Erinnerung, dass die konventionelle ber dieser Publikation für das Vertrauen und ganz besonders Kriegführung, welche sich auch auf schwere Mittel abstützen meinem Vorgänger und langjährigen, geschätzten Arbeitskol- können muss, auch innerhalb und an der europäischen Pe- legen Jürg Kürsener für seine grosse und mit viel Herzblut ripherie spätestens seit den Ereignissen in der Ukraine von und Engagement geleistete Arbeit. Jürg kommt das uneinge- 2014 wieder an Bedeutung gewonnen hat. schränkte Verdienst zu, dieses Organ des Chefs der Armee aufgebaut, weiterentwickelt und zu dem gemacht zu haben, Diese Ausgabe bietet einem gerade auch der in der Schweizer das es heute repräsentiert: Eine renommierte Publikation mit Armee relevanten Thematik der «Werte und Führung» den not- Weitblick, die das gesamte Spektrum sicherheitspolitischer wendigen Platz. In der Schweiz sehr oft als wenig relevant, um Herausforderungen abdeckt und dabei die Leistungen und nicht zu sagen «weichmacherisch», perzipiert, hat mir meine Beiträge der Streitkräfte zu deren Meisterung nicht aus dem nunmehr mehrjährige Erfahrung mit effektiven Einsatzarmeen Fokus verliert. Dieser Anspruch soll auch mich in meiner Ar- hier in Korea deutlich werden lassen, dass diese eher philoso- beit leiten. Gerne bin ich auch jederzeit bereit, konstruktive phischen Fragestellungen gerade dann, wenn es um das Ganze Anregungen zu Verbesserung und Weiterentwicklung aufzu- geht – sein Leben für das eigene Land und andere zu riskieren nehmen. – sehr zentral werden können. Wie Franz Kernic und Hubert Annen zurecht aufzeigen, lässt sich dabei die Milizarmee auch Ein paar Worte zu meiner Person: Als ausgebildeter Histo- nicht gegen eine Berufsarmee ausspielen. riker habe ich praktisch meine gesamte berufliche Karriere zuerst in der damaligen Gruppe für Generalstabsdienste und Die Geschichte wiederholt sich nicht. Wer aber aus der Ge- später in den Internationalen Beziehungen Verteidigung ge- schichte keine oder die falschen Lehren zieht, läuft aus his- leistet. Thematisch standen nachrichtendienstliche Analyse, torischer Erfahrung sehr oft Gefahr, dafür bestraft zu werden. militärstrategische Fragestellungen, sicherheitspolitische Be- Gerade die Militärgeschichte ist reich an treffenden Beispie- urteilungen sowie Kooperationsaspekte der Armee mit aus- len zu diesem Grundsatz. Nicht zu Unrecht wird gesagt, dass ländischen Partnern im Vordergrund. Militärisch habe ich die Generäle in der Regel den letzten Krieg vorbereiten. Mi- als Infanterist das Gros meiner Dienstleistungen als Trup- litärgeschichtliche Themen werden deshalb weiterhin zum penkommandant und Generalstabsoffizier in der damaligen Stammrepertoire der Military Power Review gehören. Der Auf- Felddivision 3 sowie im Stab des CA camp 1 absolviert. Seit satz von Christian Millotat und Manuela Krueger ruft uns anfangs 2012 leite ich die Schweizer Delegation in der Neu- einerseits die genau vor 100 Jahren tobende Schlacht um tralen Überwachungskommission in Korea. Verdun in Erinnerung und zeigt andererseits auch Bespiele richtiger und aber auch falscher Lehren aus dieser Jahrhun- Gerade auch letztere Erfahrung gedenke ich gezielt einzu- dertschlacht auf. Die Alliierten Militärmissionen im geteilten bringen, zumal der asiatische Raum aus sicherheitspoliti- Deutschland, welche bis 1994 aktiv gewesen sind, sind in scher und militärischer Sicht interessante Aspekte aufzuzei- der Schweiz – auch bei Historikern – weitgehend unbekannt gen vermag, deren Relevanz auch für Europa und die Schweiz geblieben. Wie der Beitrag von Patrick Manificat aus franzö- kaum zu bestreiten ist. Konventionelle Kriegführung wird sischer Sicht aufzeigt, war deren akribische und nicht unge- nicht nur systematisch und gross angelegt geübt, sondern fährliche Kleinarbeit gerade auch für die jeweiligen Nachrich- von einzelnen Akteuren weiterhin – wenn nicht zunehmend – tendienste von unschätzbarem Wert. als führbar und gewinnbar beurteilt. Vor diesem Hintergrund gibt der Beitrag von Jim Fanell Einblick in die zunehmend In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, geschätzte Leserinnen aggressiv umgesetzte Ausweitung der Einflusszone der Volks- und Leser, eine hoffentlich interessante Lektüre und freue republik China im Südchinesischen Meer. mich auf allfällige Rückäusserungen und Anregungen. Selbstverständlich sollen und werden auch die Themen zur Schweizer Armee, ihren Herausforderungen und Weiterent- Mit freundlichen Grüssen wicklungen weiterhin einen gebührenden Raum einnehmen. Der Chefredaktor der Military Power Review Die vorliegende Ausgabe vermag hier noch keine Akzente zu setzen. Dafür ist für die nächste Nummer ein Schwergewicht auf die WEA und deren Umsetzung geplant. Dies selbstver- ständlich in der Überzeugung, dass das nun auch vom Par- lament mit klaren Mehrheiten unterstützte Projekt, welches Divisionär Urs Gerber MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
Führung und Werte 5 Führung und Werte — Über Werte wird gegenwärtig vielerorts gesprochen. Dabei nimmt der Begriff je nach Absicht des Sprechers und nach Verwendungskontext ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte an. Der Gebrauch des Begriffs im Zusammenhang mit der Führungspraxis im Militär birgt Chancen wie Risiken. Die Chancen bestehen in der Möglichkeit einer umfassend angelegten Analyse der Fundamente und Wertbezüge unserer heutigen Führungspraxis in Gesellschaft und Armee. Die Risiken bestehen in Missverständnissen und der Geburt neuer Ideologien und Führungsansprüche im Zusammenhang mit der Auswahl und Verabsolutierung eines oder mehrerer Werte. Die modernen Streitkräfte sind in die aktuelle gesellschaftliche Wertedebatte eingebunden. Sie können sich dieser Debatte nicht entziehen, ja sie werden sogar dazu gezwungen, sich neu zu positionieren – nach innen wie gegenüber der Gesell- schaft. Eine explizite humanistisch-sozietäre Führungsphilosophie der Schweizer Armee vermag im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des Verhältnisses von Gesellschaft und Militär bei dieser Positionierung hilfreich zu sein. Franz Kernic sellschaftsanalyse und einer kritischen Betrachtung des aktu- Dr. habil., Dozent für Führung und Kommunikation, Militärakademie an der ETH Zürich. ellen Verhältnisses von Gesellschaft und Militär neue Einsich- E-Mail: franz.kernic@vtg.admin.ch ten gewinnen, die sich letztlich für unser tägliches Denken, Sprechen und Handeln bzw. für den militärischen Führungs- alltag nutzbringend bzw. «wertvoll» erweisen? – Der vorlie- Hubert Annen gende Aufsatz versucht darauf einige Antworten zu geben. Die Analyse erfolgt jedoch nicht in der Form eines wissen- Dr. phil.,Dozent für Militärpsychologie und -pädagogik, Militärakademie an der ETH Zürich. schaftlichen Aufsatzes im strengeren Sinne. Der Beitrag ist E-Mail: hubert.annen@vtg.admin.ch vielmehr ein Essay, der Versuch des Nachdenkens über be- stimmte (gesellschaftlich) vorherrschende bzw. möglicher- weise neu zu erschliessende Denkweisen und Handlungs- Im unserem modernen Gesellschafts- und Wirtschaftsleben praktiken mit Blick auf unseren heutigen Führungsalltag in findet der Begriff der Werte in unterschiedlichsten Kontexten Gesellschaft und Militär. Verwendung. Dabei variieren die Begriffsinhalte erheblich. Im politischen Kontext der europäischen Staatenwelt verweist Ausgangspunkt der Betrachtung ist eine nähere Bestimmung er in der Regel auf einen implizit oder explizit dargelegten der Begriffe Führung und Werte. Damit soll Klarheit geschaf- Katalog von Grundwerten freiheitlich-demokratischer Ord- fen werden, worüber überhaupt gesprochen wird. Erste Fra- nung. Im ökonomischen Kontext wird er bei Kosten-/Nutzen- gen drängen sich auf: Was sind nun eigentlich Werte? In wel- kalkulationen zur Preisbestimmung in Anspruch genommen. chem Verhältnis stehen Führung und Werte zueinander? Wie Im Kontext von Führung bzw. Leadership in Organisationen verbinden sie sich im militärischen Kontext? Gibt es so et- und Unternehmen verknüpft er sich häufig mit dem Anliegen was wie grundlegende Werte («Core Values»), die in den mo- der Schaffung bzw. Bewahrung eines (zumeist sittlich-mora- dernen Streitkräften zur Anwendung gelangen bzw. gelangen lischen) Orientierungsrahmens für das alltägliche Tun und sollten? Wenn ja, welche Bedeutung haben sie für das täg- Handeln von Führungskräften und Geführten. liche Führungshandeln und wie lässt sich ihr Verhältnis zu- einander bestimmen? Welche Bedeutung haben Wertungen, Wie lässt sich der Begriff der Werte im Rahmen von militäri- Wertschätzung und Werturteile im menschlichen Alltagsle- schen Führungsstrukturen und -prozessen näher bestimmen? ben? In welcher Weise bestimmen sie unseren Führungsalltag Gibt es eine Möglichkeit, ihn für die Praxis der Streitkräfte bzw. unsere Vorstellungen von guter/schlechter Führung und nutzbar zu machen, ohne dass er für rein rhetorische, pro- wie lassen sich Werte «vermitteln»? – Die Suche nach Ant- pagandistische oder ideologische Zwecke missbraucht wird? worten auf diese Fragen macht a) eine Konzeptualisierung Lassen sich mit Hilfe des Wertebegriffs im Wege einer Ge- mit Blick auf menschliche Wertordnungen (Wertsysteme) so- MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
6 Führung und Werte wie b) eine Zeitdiagnose bzw. Gesellschaftskritik hinsicht- als andere, wir haben Empfindungen positiver und negativer lich unserer im Führungsalltag zum Ausdruck kommenden Art (Freude/Schmerz) und wir gewöhnen uns an bestimmte Denk- und Handlungsmuster erforderlich. Die Analyse mün- «Umstände», die wir jeweils mit ganz spezifischen Assozia- det schlussendlich in ein Plädoyer für eine explizite Ausfor- tionen und Empfindungen verknüpfen. Und wir machen da- mulierung einer humanistisch-sozietären Führungsphilosophie bei noch eine weitere interessante Erfahrung, nämlich dass von Streitkräften im Rahmen der modernen, pluralistisch-de- sich diese Assoziationen und Empfindungen verändern kön- mokratischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts. nen, dass etwas Wertvolles plötzlich wertlos werden kann und umgekehrt, kurzum dass unsere eigenen Wertordnungen Führung nicht statisch, sondern dynamisch veränderbar sind. Später Führung kann allgemein als ein Prozess der Beeinflussung des tritt noch die Erkenntnis hinzu, dass das, was für einen selbst Denkens, Fühlens und Handelns bei einer Anzahl von Men- wertvoll ist, nicht auch für andere wertvoll sein muss. Schluss- schen durch eine bestimmte Person oder Gruppe von Men- endlich fragen wir spätestens im Erwachsenenalter auch da- schen im Hinblick auf die Erreichung bestimmter Ziele ver- nach, was eigentlich den «Wert unseres Lebens» (Daseins) standen werden. Unbeschadet der Vielzahl unterschiedlichster ausmacht. Die Erkenntnis über die Möglichkeit einer Umori- Definitionsversuche [1] wird Führung allgemein als eine sozi- entierung in Wertfragen konstituiert zugleich einen wesentli- ale Interaktion zwischen mindestens zwei Personen angese- chen Zusammenhang zwischen Führungs- und Wertetheorie. hen, der eine bestimmte Dynamik (Veränderbarkeit) innewohnt. Diese Dynamik umfassend zu erklären (und damit im Idealfall Angesichts dieser alltäglichen menschlichen Erfahrung ver- auch vorhersagen zu können), bereitet den Wissenschaften bis wundert es, dass die Begriffe Wert und Werte in der abendlän- heute Kopfzerbrechen. Daraus erklärt sich auch die Vielzahl dischen Philosophie von den Griechen bis ins 19. Jahrhundert von Führungs- und Leadership-Theorien, die sich im Verlauf keine zentrale Rolle spielten. Die Entwicklung einer systema- des letzten Jahrhunderts in den modernen Wissenschaften tischen Wertphilosophie (Axiologie) ist neueren Datums. Wert etabliert haben. Kennzeichnend für die meisten Bemühungen und Werte finden zunächst in der modernen Ökonomie Anwen- einer Theoriebildung ist, dass sie den einzelnen Referenzgrös dung und gelangen dann von dort aus – ab dem späten 19. sen des Beeinflussungsprozesses unterschiedliche Gewichtung Jahrhundert – in die modernen Sozialwissenschaften und die bzw. Bedeutung zusprechen, in der Regel aber nicht die zen- Philosophie. Dies erklärt zugleich, warum die beiden Begriffe tralen Referenzgrössen von Führung selbst in Frage stellen: bis heute in vielen Sprachen sowohl auf die Sphäre des Öko- die Führungsperson(en) («Leader»); die Gruppe der Geführten nomischen wie jene des Ethischen verweisen [2]. («Follower»); die Führungssituation und schlussendlich den ge- sellschaftlich-kulturellen Führungskontext. … interessante Erfahrung, nämlich Führung kann allgemein als ein Pro- dass sich diese Assoziationen und zess der Beeinflussung des Denkens, Empfindungen verändern können, Fühlens und Handelns bei einer dass etwas Wertvolles plötzlich wert- Anzahl von Menschen durch eine los werden kann und umgekehrt. bestimmte Person oder Gruppe von Noch ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang be- Menschen im Hinblick auf die deutsam: Der deutsche Philosoph Max Scheler hat bereits 1916 darauf verwiesen, dass Werte (als Gegebenheiten) Erreichung bestimmter Ziele ver «ohne jedes Streben gegeben und vorgezogen werden» [3], standen werden. denn Menschen «vermögen Werte (auch sittliche, z. B. im sittlichen Verstehen anderer) zu fühlen, ohne dass sie er- Neben den wissenschaftlichen Leadership-Theorien und sys- strebt oder einem Streben immanent sind». Scheler spricht tematischen Erklärungsbemühungen von Führungsprozessen auch davon, dass dem gesamten Wertreiche eine «eigentüm- in Gesellschaft, Wirtschaft und Militär kommt in unserer Ana- liche Ordnung» innewohnt, der zufolge Werte im Verhältnis lyse vor allem jenem (alltäglichen) Verständnis von Führung zueinander eine «Rangordnung» besitzen (höher/niedriger) [4]. besondere Bedeutung zu, das heute innerhalb der Streitkräfte vorherrscht. Hier fällt zunächst auf, dass sich dieses Ver- Seit Anfang des 20. Jahrhunderts nimmt die «Wertfrage» ständnis erheblich auf ein instrumentelles, soziotechnisches zweifellos einen besonderen Platz in den Wissenschaften Denken abstützt, welches Führung vorrangig als «Verfahren» ein. Auf die in diesem Zusammenhang erörterten und hef- begreift, bei dem bestimmte Methoden und Instrumente zur tig diskutierten philosophischen Fragestellungen sei an die- Anwendung gelangen, um Menschen derart zu beeinflussen, ser Stelle nur verwiesen (z. B. «Sind Wertungen, Wertschät- dass sie bestimmte Denkweisen annehmen und Handlungen zungen wahrheitsfähig? Gründen Wertschätzungen in Werten setzen, die sich für die zuvor festgelegte Zielerreichung dien- oder sind Werte nur Produkte von Wertschätzungen, wie las- lich erweisen. Dieses Grundverständnis von Führung wird im sen sich Werte begründen?»). [5] Auch in den modernen Sozi- Folgenden noch näher zu untersuchen sein. alwissenschaften, vor allem der Soziologie, gewinnt die Wer- tediskussion an Einfluss und Gewichtung [6]. Wert und «Werte» Eine erste Annäherung an das Thema Werte lässt sich im Aus- Werte und Wertordnungen gang menschlicher Alltagserfahrung vornehmen: Von Geburt Aus soziologischer Sicht können Werte allgemein als (ge- an vollziehen wir Wertungen. Wir schätzen manche Dinge mehr genständliche oder abstrakte) Referenzgrössen bzw. Bezugs- MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
Führung und Werte 7 [1] [2] [3] [4] punkte verstanden werden, denen eine (abstrakte) Gutheit Werthaltungen und Wertorientierungen. Zweitens ermöglicht zuerkannt wird. Als solche dienen sie zugleich als Massstäbe sie eine Unterscheidung zwischen Werten und Tugenden. Tu- (Beurteilungskriterien) für menschliches Handeln – im indivi- genden sind bestimmbar als individuelle «innere Haltungen» duellen wie im kollektiven (sozial-gemeinschaftlichen) Sinn wie etwa die klassischen «Kardinaltugenden» Tapferkeit, Be- – im sozialen Kontext bzw. in der gesellschaftlichen Wirklich- sonnenheit, Mässigung, Klugheit, Gerechtigkeitsliebe; aber keit. Der Begriff Werthaltung bezeichnet dann die konkrete ebenso einer Reihe sogenannter «moderner Tugenden» wie positive (=bejahende) Orientierung eines bzw. mehrerer Men- Sparsamkeit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit oder Höflichkeit. schen an diesen Bezugspunkten. Die Gesamtheit dieser Wer- tungen und Werthaltungen – mit ihren Gewichtungen – kann Drittens befördert sie die Idee von Wertekatalogen, die dann als Wertordnung bezeichnet werden. vor allem im Hinblick auf das Gemeinschaftshandeln von Menschen ihren impliziten wie expliziten (sprachlichen) Aus- druck in Grundrechten sowie politischen Ordnungen finden Tugenden sind bestimmbar als indivi- können (z. B. Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Brüder- duelle «innere Haltungen» wie etwa lichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit, etc.). Dies trifft ebenso auf das Führen in Organisationen und Gruppen zu. die klassischen «Kardinaltugenden» Tapferkeit, Besonnenheit, Mässigung, Klugheit, Gerechtigkeitsliebe; aber ebenso einer Reihe sogenannter [1] Vorbild-Sein als wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Wertever- «moderner Tugenden» wie Sparsam- mittlung (VBS/DDPS). [2] Führungskräfte sollen Freiraum zur eigenen Gestaltung von soldati- keit, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit schen Wertorientierungen haben (VBS/DDPS). [3] Streitkräfte dürfen ruhig den Mut aufbringen, ihre Wertorientierung oder Höflichkeit. offenzulegen (VBS/DDPS). [4] Führung als Prozess der Beeinflussung des Denkens, Fühlens und Han- delns anderer Personen (VBS/DDPS). Diese Bestimmung bzw. Konzeptualisierung von Wert und [1] Vgl. beispielsweise Blessin & Wick 2014, Northouse 2007, Yukl 2012. Werten hat mehrere Konsequenzen, die für die Analyse im [2] Lübbe 2012. Zusammenhang mit dem Thema der Menschenführung von [3] Scheler 1979: 5. [4] Scheler 1979: 5. Bedeutung sind: Erstens erlaubt sie eine Unterscheidung zwi- [5] vgl. Spaemann 2012: 43. schen individuellen (Einzelperson) und kollektiven (Gruppe) [6] Beispielsweise zum Werturteilsstreit vgl. Hügli 2004. MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
8 Führung und Werte Zur aktuellen Wertediskussion Seven Core Army Values der US Army (loyalty, duty, respect, In unseren heutigen westlichen Demokratien wird beson- selfless service, honor, integrity, and personal courage) [9] ders intensiv über Werte nachgedacht und diskutiert. Da- offenkundig ist, das US Marine Corps nennt hingegen nur bei zeigt sich, dass Wertediskussionen im Gesellschaftsleben drei (honor, courage, commitment) [10] und die Armee von eine starke emotionale Wirkung entfalten können. Mit jeder Singapur wiederum definiert ihre Grundwerte folgendermas Wertediskussion werden nicht nur einzelne Werte radikal in sen: Loyalität gegenüber dem Land, Leadership, Disziplin, Frage gestellt, sondern diese rüttelt stets zugleich an unse- Professionalität, Kampfgeist, Ethik, die Sorge für die Sol- ren sprachlichen und gesellschaftlichen Konventionen. Die daten sowie Sicherheit. [11] Eine Vergleichsanalyse derartiger empirische Erkenntnis, dass Menschen höchst unterschied- Grundwertekataloge von Streitkräften zeigt eine hohe Varianz liche Wertvorstellungen haben und sich diese Wertvorstel- und teils völlig unterschiedliche Begriffsverständnisse auf [12]. lungen bzw. Werthierarchien bei einer Einzelperson auch im Verlauf eines Menschenlebens radikal verändern können, Die Schweizer Armee besitzt bis heute über keinen explizit ebenso wie die Tatsache, dass es in unserer Welt eine Viel- ausformulierten Wertekatalog oder einen sogenannten militä- zahl von Werthaltungen bzw. Wertordnungen gibt (man denke rischen Wertekanon im Sinne von Core Values ähnlich wie in nur an die unterschiedlichen Religionen, Kulturen etc.), ma- den oben dargelegten Beispielen aus anderen Armeen. Nach chen die Annahme einer «von Gott oder der Natur vorgege- Dieter Baumann bedeutet dies jedoch keineswegs, dass für benen Wertordnung» schwierig. Aber gleichzeitig muss ein- die Schweizer Armee keine verbindliche Wertebasis vorhan- gestanden werden, dass allein aus der empirischen Tatsache den wäre. Eine solche erblickt er in der Wertebasis der Bun- der Existenz einer Vielzahl unterschiedlicher Wertordnungen desverfassung sowie im Dienstreglement und argumentiert von Menschen nicht geschlossen werden kann, dass es für sogar dahingehend, dass die nicht explizite Ausformulierung das gesellschaftliche Zusammenleben keine allgemein ver- zugleich den militärischen Führungskräften einen grösseren bindlichen, universellen Werte gebe. Diese Frage beschäf- Freiraum zur eigenen Gestaltung und Steuerung von soldati- tigt nicht nur Philosophen und Religionsführer, sondern im schen Wertorientierungen eröffne [13]. Grunde jede Führungskraft (auf allen Ebenen), wenn sie in Wertediskussionen Stellung bezieht. Die aktuelle Wertediskussion in der Schweizer Armee wie in anderen Streitkräften europäischer Staaten steht zudem Werte im Militär noch im Schatten politischer und wirtschaftlicher Bestre- Die Wertefrage spielt im militärischen Kontext seit jeher eine bungen zur Etablierung einer an Werten verankerten neuen wichtige Rolle. Dies ist zum Teil mit der zuvor dargelegten politischen Kultur bzw. Unternehmenskultur. Selbst Unter- Problematik verknüpft, da sich für die modernen Streitkräfte nehmen erscheinen nun als eine Art «Wertegemeinschaft». die Frage erhebt, ob es nicht nur für die Menschheit und Solcherart wird (Unternehmens-)Führung mit einer konkreten Gesellschaft allgemeinverbindliche, universelle und zeitlose Vermittlungs- und Steuerungsaufgabe verknüpft, nämlich die Werte (Grundwerte) gibt, sondern ebenso für den Soldaten- Grundwerte des Unternehmens darzulegen, zu vermitteln und beruf und das Militär als Organisation. Die Idee eines aus- zu leben. Diese Führungs- und Steuerungsaufgabe ist eng formulierten Wertekanons bzw. Wertekatalogs für Soldaten mit dem Anliegen von «Identitätsbildung» (Wir-Gefühl) und findet in zahlreichen Armeen ihre Anhänger. Ihnen geht es sozialer Kohäsion verknüpft. dabei um die Formulierung und Sichtbarmachung von «solda- tischen Grundwerten» («Core Values»), durch die eine starke normative Kraft zur Entfaltung gelangen soll, d.h. diese (sol- Die Schweizer Armee besitzt bis heute datischen) Grundwerte sollen Geltung erlangen und solcher- über keinen explizit ausformulierten art den gesamten militärischen Führungsalltag und damit die Führungskultur prägen. Wertekatalog oder einen sogenannten militärischen Wertekanon im Sinne … geht es dabei um die Formulierung von Core Values … und Sichtbarmachung von «soldatischen Zweifellos ist dieser Punkt für jede militärische Organisation Grundwerten» («Core Values»), von zentraler praktischer Bedeutung. Genau deshalb wird ei- durch die eine starke normative Kraft ner klaren Werteorientierung im Militär allgemein ein enorm hoher Stellenwert zugesprochen. Der wichtigste Grund da- zur Entfaltung gelangen soll … für liegt darin, dass Werte zur Sinn- und Vertrauensbildung, Identitätsstiftung und Erlangung eines hohen Grades an so- Die Idee militärischer Core Values spielt im Alltag zahlreicher zialer Kohäsion – im Zusammenspiel mit Konformität und Streitkräfte eine zentrale Rolle, obwohl sie aus sozialwissen- Homogenität – beitragen können. Dieser Aspekt ist für das schaftlicher Sicht bis dato keine überzeugende Konzeptuali- Militär viel wichtiger als für Betriebe und Unternehmen im sierung und Fundierung erfahren hat [7]. In den Core Values Wirtschaftsleben. Während letztere die Wertefrage zumeist Katalogen der US Army und Navy sowie der British Army nur vorsichtig an Ideen gelebter Unternehmenskulturen bzw. findet sich im Grunde lediglich eine Auflistung von Tugen- «wertorientierter Unternehmenssteuerung» anbinden, zeigt den bzw. Eigenschaften, über die ein Soldat verfügen sollte, sich im Militär ein viel radikaleres Denken im Sinne einer na- um seine Tätigkeiten erfolgreich ausführen zu können. Die hezu absolut gesetzten Verpflichtung zu sogenannten solda- British Army listet beispielsweise sechs derartige «Core Va- tischen Werten und Tugenden. Der besonders hohe Konfor- lues» auf (courage, discipline, respect, integrity, loyalty, and mitätsdruck im Militär («systemkonformes Verhalten») macht selfless commitment) [8], wobei die inhaltliche Nähe zu den die Möglichkeit einer Differenz zwischen individuellen und MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
Führung und Werte 9 kollektiven Werthaltungen zu einer (pädagogischen) Füh- rungsaufgabe: Die Uniformierung des Menschen zielt letztlich auf eine «Einheit»; d.h. mit dem Prozess des Soldat-Werdens sollen die kollektiv im Militär bereits etablierten Werthaltun- gen schrittweise durch das Individuum übernommen («verin- nerlicht») werden. Führung wird damit im militärischen Kon- text an die Aufgabe einer Wertevermittlung geknüpft, es geht also gewissermassen um das «Soldat-Machen». Aber wie las- sen sich Werte bzw. Werthaltungen überhaupt vermitteln? Führung und pädagogische «Wertevermittlung» im Militär Im Dienstreglement wird die Aufgabe der Wertevermittlung der (militärischen) Erziehung zugeordnet. In Abgrenzung zur militärischen Ausbildung, die auf das Erreichen von Fähig- [5] keiten und Fertigkeiten und damit auf das «Können» abzielt, gilt es mittels Erziehung Einfluss auf das Verhalten und auf Werthaltung und somit auf das «Wollen» zu nehmen. Die Diskussion, welche Inhalte dabei auf welche Weise transpor- Damit Werte nicht nur Worthülsen bleiben, sondern im Alltag tiert werden sollen, wird innerhalb der Disziplin der Militär- eingeübt werden können, gilt es einen verbindlichen Rahmen pädagogik geführt, die im Jahre 1911 durch Ulrich Wille in zu setzen. Dazu gehört, dass erwünschtes Verhalten belohnt den Lehrplan der Militärwissenschaften an der ETH Zürich wird und das Anwenden der angestrebten Werte in einen aufgenommen wurde [14]. Dass man der Militärpädagogik in spürbaren Erfolg mündet. Das bedeutet, wenn beispielsweise der Schweizer Armee nach wie vor Bedeutung beimisst, zeigt Kameradschaft als relevanter Wert propagiert wird, müssen sich in entsprechenden Publikationen [15]. Darin werden die einerseits Möglichkeiten geschaffen werden, die Kamerad- zentralen Problemfelder der militärischen Erziehung wie bei- schaft zu leben und den Wert der Kameradschaft zu erleben, spielsweise die Notwendigkeit bzw. Legitimation der militä- und andererseits sollte kameradschaftliches Verhalten ent- rischen Erziehung sowie deren Ziele, Inhalte und Methoden sprechend honoriert werden. Das kann, sollte aber nicht in diskutiert. Hinsichtlich möglicher Inhalte verweist man un- erster Linie eine materielle Belohnung sein, vielmehr geht es ter anderen auf Werte wie Menschenwürde, Vertrauen und um das Wahrnehmen, Wertschätzen und Fördern der betref- Eigenverantwortung, die bereits in relevanten Reglementen fenden Werthaltung. Im militärischen Alltag heisst das, auf und Weisungen enthalten sind. Entsprechend steht dies im Situationen und Aufgaben zu achten oder nötigenfalls sol- Einklang mit dem weiter vorne erläuterten Grundsatz, dass che zu schaffen, in denen die angestrebten Werte eine be- zwar eine gewisse Wertebasis existiert, die Konkretisierung deutende Rolle spielen, sowie den Bezug zum erwünschten und Ausgestaltung jedoch den militärischen Führungskräften Verhalten herzustellen und zu benennen. überlassen werden soll. … wenn beispielsweise Kameradschaft In Abgrenzung zur militärischen als relevanter Wert propagiert wird, Ausbildung, die auf das Erreichen von müssen einerseits Möglichkeiten Fähigkeiten und Fertigkeiten und geschaffen werden, die Kameradschaft damit auf das «Können» abzielt, gilt zu leben und den Wert der Kamerad- es mittels Erziehung Einfluss auf das schaft zu erleben, und andererseits Verhalten und auf Werthaltung und sollte kameradschaftliches Verhalten somit auf das «Wollen» zu nehmen. entsprechend honoriert werden. Was die Methoden der militärischen Erziehung, also die Mög- Damit sind auch gleich konkrete Handlungen seitens des mi- lichkeiten der Einflussnahme betrifft, werden das Vorbild- litärischen Führers bzw. Erziehers angesprochen. So muss er Sein, das Vorleben der Werte, sowie das Schaffen von Ge- legenheiten, Verantwortung zu übernehmen, oder einfacher gesagt: die Auftragstaktik, aufgeführt. Beide Methoden ge- [5] Werte schaffen Ordnung (VBS/DDPS). hören zweifelsohne zu den wichtigsten Aufgaben eines mili- tärischen Führers. Allerdings dürfte es gerade für junge Füh- [7] Fürst & Kümmel 2011. [8] http://www.army.mod.uk/join/38093.aspx (10.03.2016). rungskräfte schwierig sein, diesen hohen Ansprüchen auf [9] http://www.army.mil/values. Anhieb gerecht zu werden sowie dahingehende Handlungs- [10] http://www.hqmc.marines.mil/hrom/NewEmployees/AbouttheMarine- optionen im Alltag zu erkennen und wahrzunehmen. Folg- Corps/Values.aspx (10.03.2016). [11] http://www.mindef.gov.sg/imindef/mindef_websites/atozlistings/saftimi/ lich empfiehlt sich unter Berücksichtigung erziehungswissen- units/cld/keyideas/corevalues.html (10.03.2016). schaftlicher, aber auch sozialpsychologischer Literatur eine [12] Fürst & Kümmel 2011. weitere Aufgliederung, wobei sich die Möglichkeiten zur Ein- [13] Baumann 2013: 370. [14] Vgl. Annen 2003. flussnahme in die drei Bereiche Struktur/Rahmenbedingun- [15] Beispielsweise Steiger & Zwygart 1994; Annen, Steiger & Zwygart gen – Soziales Verhalten – Person aufteilen lassen. 2004. MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
10 Führung und Werte seinen Unterstellten innerhalb des verbindlichen Rahmens unzählige, die Menschenwürde verletzende Taten geschehen Freiräume gewähren, damit diese die betreffenden Werte auf und mit Bezug auf die reine Pflichterfüllung bleiben Initiative individuelle Weise erfahren können. Idealerweise wird da- und Eigenverantwortung auf der Strecke. Somit wird deutlich, bei dem Zu-Erziehenden regelmässig mehr zugemutet, als dass die Wertevermittlung ein dynamisches Geschehen ist man auf Grund der unmittelbaren Einschätzung annehmen und bleiben muss, wobei sowohl Inhalte als auch Methoden kann. Auf diese Weise wird eine echte Weiterentwicklung wiederholt kritisch zu hinterfragen sind. Das führt mitunter möglich. Es versteht sich von selbst, dass dies nur funk- dazu, dass Werte vor dem aktuellen Hintergrund eine neue tioniert, wenn man seine Unterstellten gut kennt, da man Gewichtung erfahren; das kritische Hinterfragen eines Werts sonst Gefahr läuft, sie über Gebühr zu unter- oder überfor- kann aber auch zur Folge haben, dass man ihn mit noch dern und dadurch zu demotivieren. Des Weiteren muss die grösserer Überzeugung lebt. verantwortliche Führungskraft stets in der Lage sein, den Sinn des Auftrags, der Übung oder der Ausbildungssequenz zu vermitteln. Das gelingt, wenn hierbei Werte, Normen und Unter dem Deckmantel der Loyalität Ziele im Einklang stehen. Verfolgt man beispielsweise in ei- mit der Organisation oder dem Staat ner Kaderschule das Erziehungsziel der Verantwortungs- übernahme, müssen bestimmte Normen, d.h. Sollens-Vor- sind schon unzählige, die Menschen- schriften wie «Du sollst dich regelmässig für anspruchsvolle würde verletzende Taten geschehen Aufgaben melden» oder «Du sollst dich nicht hinter Deinen Kameraden verstecken» gesetzt werden. Gleichzeitig ist mit und mit Bezug auf die reine Pflicht gezieltem Feedback und allfälligen Belohnungen der Wert erfüllung bleiben Initiative und der Eigenverantwortung wiederholt ins Bewusstsein der Be- teiligten zu rücken. Eigenverantwortung auf der Strecke. Wertewandel, Wertekonflikte und Fragmentierung Des Weiteren muss die verantwortliche von Werten Führungskraft stets in der Lage sein, Neben der pädagogischen Führungsaufgabe einer Wertever- mittlung ist der militärische Führungsalltag heute durch zwei den Sinn des Auftrags, der Übung weitere soziale Phänomene geprägt, die eng mit der Werte- oder der Ausbildungssequenz zu frage verknüpft sind: Zum einen zeigt sich bei vielen militä- rischen Führern unbeschadet ihres Festhaltens am Glauben vermitteln. an die Existenz eines allgemeinen und zeitstabilen Kanons soldatischer Werte und Tugenden eine Erschütterung darü- Solche Bemühungen sind allerdings nur dann von Erfolg ge- ber, dass sich in der Gesellschaft so etwas wie ein allgemei- krönt, wenn die Beteiligten bereit und willig sind, diese auch ner Wertewandel vollzieht, der sie in mehrfacher Hinsicht in anzunehmen bzw. sich auf die betreffenden Prozesse einzu- ihrem alltäglichen Führungshandeln vor völlig neue Heraus- lassen. Voraussetzung dafür ist eine echte Beziehung zwi- forderungen stellt. Zum anderen erleben militärische Führer schen Erzieher und Zu-Erziehenden. Diesbezüglich sind die zunehmend Wertekonflikte (bei sich selbst wie im Umgang gerade im militärischen Kontext sehr häufig genannten Merk- mit anderen) und eine Fragmentierung von Werten. male wie Fachkompetenz und beispielhaftes Verhalten durch- aus wichtig, aber keineswegs hinreichend. Die Diskussion über das Ausmass des Wertewandels in den modernen Gesellschaften verläuft seit den 1970er-Jahren Erziehung gründet auf Beziehung. Um den betreffenden Rah- ziemlich kontrovers. Handelt es sich beim Wertewandel um men vorzugeben und dessen Sinn glaubwürdig zu vermitteln, eine schleichende, kaum wahrnehmbare gesellschaftliche entsprechendes Verhalten wahrzunehmen und zu honorieren, Veränderung im Sinne der «Silent Revolution» von Ronald braucht es persönliche Stärke, das heisst Präsenz, Engage- F. Inglehart von «materialistischen Werten» (wie wirtschaft- ment, Überzeugungskraft, Bereitschaft zur individuellen Wei- liche Stabilität und Sicherheit) hin zu «idealistischen Wer- terentwicklung und die dafür unabdingbare kritische Selbst- ten» (wie Selbstverwirklichung, Lebensqualität, etc.) oder reflexion. Folglich hat die Organisation sicher zu stellen, dass aber vielmehr um eine radikale «Umwertung» traditioneller in der Ausbildung von militärischen Führern und Erziehern der Werte [16]? Die Soziologie hat versucht, darauf Antworten zu Persönlichkeitsbildung ausreichend Rechnung getragen wird. liefern und durch systematische internationale (zum Teil kul- turvergleichende) empirische Studien zu untermauern. [17] Die genannten Methoden und Elemente der Wertvermittlung Gleichzeitig wurde die Diskussion immer breiter und umfas- sind Instrumente, die grundsätzlich auf jeden Wert ange- sender, was letztlich zu einer ungemeinen Ausweitung des wendet werden können. Richtet man nun den Fokus auf die Wertbegriffs in unserer Alltagssprache und damit zu einer Inhalte, so ist zu beachten, dass diese zwar als «abstrakte neuen Unübersichtlichkeit im Hinblick auf das Verhältnis von Gutheit» bezeichnet und in der Regel auch mit einem posi- Führung und Werten führte. tiv besetzten Begriff wie Vertrauen, Loyalität oder Pflichter- füllung umschrieben werden, diese aber auch eine negative Diese Unübersichtlichkeit hat mehrere praktische Auswirkun- bzw. übersteigerte Ausprägung annehmen und je nachdem gen: Erstens verunsichert sie Führungskräfte insofern, als mit anderen Werten in Konflikt geraten können. sie sich scheuen, ihre eigenen Werthaltungen allzu stark ins Rampenlicht zu stellen, um nicht als Dogmatiker oder au- Vertrauen kann missbraucht werden. Unter dem Deckmantel toritärer («wertkonservativer») Führer gebrandmarkt zu wer- der Loyalität mit der Organisation oder dem Staat sind schon den bzw. als jemand, der viel lieber die «Werte von Gestern» MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
Führung und Werte 11 hochhält, anstelle sich für die «Werte der Zukunft» zu öffnen. Zweitens erscheint der andere dem Führer immer als jemand, der mit hoher Wahrscheinlichkeit über andere Wertorientie- rungen verfügt als er selbst, und die es gemäss dem Postu- lat des aktuellen gesellschaftlichen Wertepluralismus nicht zu stören gelte. Dies führt zur Wahrnehmung neuer Klüfte und Gräben (zwischen alter und neuer Generation; zwischen In- und Ausländern; zwischen West und Ost etc.). Drittens fördert sie Ängste vor einem «Werteverfall» in Gesellschaft wie Militär und Gegenreaktionen darauf bis hin zum Ruf nach verpflichtenden Wertekursen oder neuen starken Führungs- persönlichkeiten! Wertekonflikte können auf der individuellen Ebene, der kol- [6] lektive Ebene sowie zwischen diesen beiden Ebenen zutage treten. Für das Militär zeigen sie sich heute insbesondere zwi- schen dem zivilen und militärischen Bereich sowie im Hin- blick auf die Rangordnung zwischen den Werten der Frei- heit und Sicherheit. Die Fragmentierung von Werten ist eine schaftsbereichen prägt. Die Welt globalisierter Kommunika- Folge unserer Verunsicherung sowie der zuvor angesproche- tion spiegelt sich ebenfalls in den Führungsverfahren moder- nen Unübersichtlichkeit. Die Sehnsucht nach Überschau- ner Streitkräfte. barkeit mündet solcherart in ein neu erwachendes Bedürf- nis nach «Ordnung» – und nach einer Art Sicherstellung der Geltung bestimmter Werte. Ein zentrales Dilemma der Füh- Betriebsamkeit (daily business) wird rungskräfte von heute liegt darin, dass zwar einerseits der zum Ziel der Führungsverfahren und generelle Anspruch auf Freiheit und individuelle Selbstver- wirklichung enorm angewachsen ist, andererseits aber genau zweckrationale Kommunikation diese Entwicklung zugleich die Anforderungen an das Indivi- verdrängt systematisch eine auf die duum dahingehend steigert, nun in der Tat selbst Entschei- dungen vorzunehmen («Eigenverantwortung der Geführten»). soziale Interaktion zwischen Menschen Bis ins Extrem gedacht bedeutet dies die völlige Emanzipa- bezogene wertschätzende und werte- tion des Geführten im Führungsalltag von der Führungsper- son, ohne dass der Geführte vom Führer klar vorstrukturierte bildende Führungstätigkeit und Handlungs- und Denkoptionen vorgegeben bekommt. Das Kommunikation. aktuell zunehmende Unbehagen mit unserer Führungskultur ist in seinem Kern nicht bloss ein Vertrauensverlust in die Dabei zeigt sich vor allem der Trend einer zunehmenden Führungseliten (im Sinne von Entscheidungs-, Macht- und Ökonomisierung unserer Wertordnungen sowie unseres Füh- Verantwortungseliten), sondern ebenso eine Angst vor einem rungsverständnisses insgesamt. Ein ökonomisch-zweckrati- möglichen Scheitern sozialer Interaktion aufgrund überzoge- onales Denken scheint vorhandene Unsicherheiten beseiti- ner individueller Selbstbestimmungsambitionen. gen zu können und neue Gewissheiten zu vermitteln. Darauf lässt sich auch eine neue Sichtweise von Führung konzipie- Ökonomische Imperative unserer Führungskultur ren, die gegenwärtig im militärischen Alltag immer mehr um Das Militär ist in der gleichen Weise wie Unternehmen im- sich greift: Führung orientiert sich dabei an einem rein instru- mer Teil einer Gesellschaft. Aus diesem Grund bedarf die mentellen Denken, in dem der Mensch zum «Personal» oder vorgelegte Analyse zu Führung und Werten im militärischen (anonymen) Mitarbeiter verkommt, zu einem Mittel zur Errei- Kontext noch einer ergänzenden Betrachtung aus gesamt- chung bestimmter (Organisations-)Ziele. Kosten-/Nutzenkal- gesellschaftlicher/kultureller Perspektive. Durch eine solche küle werden zur zentralen Grundlage sozialer Interaktion und wird erst sichtbar, dass bestimmte gesellschaftliche Eigen- Entscheidungsfindung. Die Bereiche «Leben» und «Arbeit» heiten und Dynamiken sozialen Wandels nicht bloss im Füh- fallen auseinander, die Arbeitsstelle wird zur Produktions- rungsalltag der Streitkräfte zu beobachten sind, sondern sich stelle. Unser Verständnis von Führung orientiert sich sodann ebenso – in gleicher oder ähnlicher Weise – in anderen Ge- primär nur mehr an einem (wirklichen oder vermeintlichen) sellschaftsbereichen zeigen. Produktionsprozess, den es zu beschleunigen und zu steigern gilt. Wertvoll erscheint im Führungsprozess nur mehr das, was zu einer Beschleunigung dieser Prozesse beiträgt und Die Welt globalisierter Kommunikati- zu einer Steigerung echten oder vermeintlichen «Outputs» on spiegelt sich ebenfalls in den Füh- rungsverfahren moderner Streitkräfte. [6] Werte sind die Quelle für Gefolgschaft und Gehorsam im Führungs- Der Prozess der Modernisierung geht zweifellos mit wach- alltag. (VBS/DDPS). senden wechselseitigen Abhängigkeiten Hand in Hand, die [16] Inglehart: 1977. das moderne Militär intern wie extern in seinen komplexen [17] Beispielsweise der World Values Survey, http://www.worldvaluessurvey. Beziehungen und sozialen Interaktionen mit anderen Gesell- org/wvs.jsp (10.03.2016). MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
12 Führung und Werte beiträgt. Betriebsamkeit (daily business) wird zum Ziel der Führungsverfahren und zweckrationale Kommunikation ver- drängt systematisch eine auf die soziale Interaktion zwischen Menschen bezogene wertschätzende und wertebildende Füh- rungstätigkeit und Kommunikation. Welche Folgen hat eine solche Ökonomisierung des Führungs- denkens für die Menschen, ihre Handlungen und ihre Be- dürfnisse? Vermag eine derartige primäre Ausrichtung von Führung auf Prozesse der Systemsteuerung uns tatsächlich zu einem besseren gesellschaftlichen Zusammenleben und zu einem letztlich «geglückten Leben» zu verhelfen? Lässt sich überhaupt gute Führung ausschliesslich auf einer öko- nomisch-zweckrationalen Grundlage und Haltung begründen? [7] – Skepsis erscheint angebracht gegenüber Konzeptionen und Leitbildern einer rein technokratischen Führung, geht es doch im gesellschaftlichen Leben letztlich um die Menschen im Plural, um das Gemeinwohl. Die bisherigen Beobachtungen In diesem Sinne plädiert dieser Essay unmissverständlich für und die zuletzt gestellten Fragen verweisen auf die Notwen- eine Neubelebung einer humanistischen Tradition menschen- digkeit eines Innehaltens im Sinne eines Moments der Refle- orientierter Führung in den modernen Streitkräften. Führung xion und Neubesinnung. kann solcherart als praktizierte (gelebte) Verantwortung für die Welt, den anderen und einen selbst bestimmt werden. Plädoyer für eine humanistisch-sozietäre Führungs Die ethische Verantwortung hat dabei bereits bei der Auswahl philosophie und Setzung von Organisationszielen sowie dem Entwurf von In den europäischen Gesellschaften macht sich heute eine Visionen und Strategien zum Tragen zu kommen. Damit sind allgemeine Unzufriedenheit mit der vorherrschenden Orien- hohe Anforderungen an die Führungskräfte der Zukunft ge- tierung der Führungskräfte in Politik und Wirtschaft sowie stellt, nämlich insbesondere die Entwicklung einer Fähigkeit ihren praktischen Handlungen breit. In ihrem Kern ist dies zur Beeinflussung von Menschen auf der Grundlage eines eine Kritik an einem zu dominant gewordenen Eigeninter- gemeinsamen Sinns für Verantwortung gegenüber der Ge- esse anstelle eines Handelns zugunsten des Gemeinwohls. meinschaft, der Sozietät, der Menschheit. Eine solche explizit Die Wertediskussion vermag hier wichtige Dienste zu leisten. ausformulierte humanistisch-sozietäre Führungsphilosophie Zum einen erinnert sie uns an die von Aristoteles bereits ent- vermag in einer unübersichtlich gewordenen Führungswelt wickelten Konzeptionen von Ethik und Politik und verstärkt mit zahlreichen fraglos reproduzierten Praktiken und Stan- damit zugleich den Ruf nach einem neuen Führungsethos dards durchwegs eine neue Orientierung zu geben. und einer Wahrnehmung von Führungsverantwortung. Zum anderen zeigt sie uns die Möglichkeit, in Form von Werteex- plikation, Wertekommunikation und Wertediskussion neue Keine Führungskraft kann Wertschät- Orientierungsmassstäbe für gemeinsames Handeln zu setzen zung von anderen erwarten, ohne und anzuerkennen. Dies ist auch für die Streitkräfte extern wie intern wichtig. Menschen wollen nämlich wissen, wofür durch eigenes Handeln und Sprechen eine Organisation bzw. ein Unternehmen steht, welcher tat- je deutlich gemacht zu haben, welche sächlichen Wertelandschaft man sich verpflichtet fühlt und was als wertvoll erachtet wird. Möchte die Armee in der Tat Werte denn nun konkret geschätzt eine Art «Wertegemeinschaft» sein, dann tut sie gut daran, werden … ihre grundlegenden Referenzpunkte zu benennen. Diese sind schlussendlich auch die Quelle für Gefolgschaft und Gehor- Keine Führungskraft kann Wertschätzung von anderen erwar- sam im Führungsalltag. ten, ohne durch eigenes Handeln und Sprechen je deutlich gemacht zu haben, welche Werte denn nun konkret geschätzt In den modernen pluralistischen und demokratisch verfass- werden bzw. als wertvoll anerkannt werden sollen. Führung ten Gesellschaften ist es für die Streitkräfte notwendig, sich besteht gerade darin, eigene Überzeugungen und Wertorien- in der Wertedebatte zu positionieren. Diese Positionierung tierungen offenzulegen und für andere sichtbar zu machen, hat praktische Relevanz, indem sie eine bestimmte Rich- um überhaupt erst «überzeugen» zu können. Führen heisst in tung anzeigt und den Rahmen für militärische Führung ab- diesem Kontext Orientierungsmöglichkeiten anzubieten und steckt. Dabei ist es völlig unnötig, diese Positionierung stän- zu überzeugen, d.h. Zeuge zu werden und eigene Wahrneh- dig überarbeiten und kontinuierlich «verbessern» zu wollen. mungen öffentlich zu bekunden. Streitkräfte dürfen ruhig den Mut aufbringen, ihre Wertori- entierung offenzulegen. Diese muss jedoch auf einem soli- Fazit und Ausblick den ethischen Fundament basieren und an den grundlegen- Aus obigem Abschnitt lässt sich auch gleich eine erste prak- den ethisch-sittlichen Einsichten der Menschheit festhalten tische Konsequenz ableiten: Wertevermittlung lässt sich – von der Annahme der Würde des Menschen, der Achtung nicht delegieren. Es ist die Führungskraft als Mensch, die sittlicher Gebote bis hin zur Orientierung am Gemeinwohl. für Werte einsteht und dadurch ihr Umfeld prägt. Insbeson- Andernfalls würde möglicherweise neuen politischen Ideolo- dere in kritischen Situationen schauen die Unterstellten zur gien und totalitären Bestrebungen Vorschub geleistet werden. Führungsperson hin und bilden sich anhand deren Handlun- MILITARY POWER REVUE der Schweizer Armee – Nr. 1/ 2016
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