Mitteilungsorgan Solidaritätsnetz Ostschweiz Ausgabe 51, Juni 2021
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Mitteilungsorgan Solidaritätsnetz Ostschweiz Ausgabe 51, Juni 2021 www.solidaritaetsnetz.ch
Impressum Der «Newsletter» ist das Mitteilungsorgan des Solidaritätsnetzes Ostschweiz. Solidaritätsnetz Ostschweiz Tschudistrasse 21 9000 St. Gallen +41 71 220 17 45 www.solidaritaetsnetz.ch info@solidaritaetsnetz.ch Postkonto: 85-355701-5 IBAN CH52 0900 0000 8535 5701 5 Redaktion: Ralph Klee und Maya Leu Titelseitenfoto: Sommerferienprogramm der Integraschule Typografie: Jürgen Wössner, j.wssnr.ch Schriften: «Tara» von Tania Alvarez Zaldivar und «DIN Next Pro» von Akira Kobayashi Druck: Niedermann Druck AG Auflage: 1400 Exemplare #51 — 2
Editorial Ralph Klee Liebe Leserin, lieber Leser Wir möchten Ihnen in dieser Ausgabe Heute sind beide, Serge und sein Stief- des Newsletters auch das Tandem Angebot schmack- vater eng miteinander verbunden und der haft machen. Wenn Sie hier wohnen und Stiefvater sorgt sich um «seinen Sohn», Sie halten die neuste Ausgabe in den ein Herz für Migranten haben, dürfte vermisst ihn, wenn er nicht zu Hause ist Händen. Auch dieses Mal sind viele inte- das genau das richtige für Sie sein. Bei und begegnet ihm in Liebe. Ist Gott nicht ressante, ansprechende, berührende Ge- Tandem können Sie Neuankömmlingen wunderbar? schichten darin enthalten. Als Redaktor helfen, sich schneller in unserer Kultur Und dann ist da noch der lesenswerte habe ich das Vorrecht, alle Artikel schon zurechtzufinden. Helfen Sie bei der In- Artikel zu den Härtefallgesuchen, die vor der Veröffentlichung lesen zu dürfen. tegration von Flüchtlingen tatkräftig immer wieder Anlass zu Diskussionen Deshalb möchte ich Ihnen einige Artikel mit. Informationen entnehmen Sie bitte geben. Manchmal schäme ich mich ein- ganz besonders ans Herz legen. dem entsprechenden Artikel in diesem fach nur noch, wenn ich höre und lese, Ist es nicht schön, immer mal wieder Newsletter. wie mit Migranten umgegangen wird. Erfreuliches von der Integrations-Front Ausserdem drucken wir das Interview Haben Sie das Datum des 18. Septem- zu lesen? Wenn junge Migranten erfolg- mit Marianne Stuber ab, das anlässlich bers schon reserviert? Dann wird nämlich reich ihren Weg hier bei uns machen, ihres Abschieds von der Integraschule mit die Hauptversammlung des Solinetzes wenn sie eine Ausbildung abschliessen, ihr geführt wurde. Es zeigt in einer schö- stattfinden. wenn sie zur Zufriedenheit aller arbeiten nen Art auf, wie vielfältig die Arbeit mit Was mich zurzeit umtreibt und be- und beweisen, dass sie willens sind, in Migranten sein kann, sodass es eben nicht schäftigt, ist ein Vers aus dem Matthäus ihrem neuen Heimatland Fuss zu fassen? mehr Arbeit, sondern Bereicherung ist. Evangelium: Du sollst den Herrn, deinen Lesen Sie dazu den Fluchtpunkt, der In diesem Newsletter finden Sie auch Gott, lieben von ganzem Herzen, mit genau das thematisiert. eine ergreifende Geschichte von einem ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Wir stellen Ihnen das Buch: «Mutter, Migranten, ein Zeugnis, wie er in die Verstand! Dies ist das größte und wich- mach dir keine Sorgen, das ist eine ganz Schweiz kam und hier Jesus kennenlernte. tigste Gebot. Ein zweites ist ebenso wich- andere Welt» vor. Ein Buch, das die Le- Solche Geschichten machen Mut und tig: Liebe deine Mitmenschen wie dich bensgeschichten von 11 unbegleiteten, zeigen, dass Liebe auch Hoffnung geben selbst! Das heisst also, ich kann meine minderjährigen Asylsuchenden (UMA) kann. Mitmenschen nur lieben, wenn ich mich erzählt und wie sie in der Schweiz ge- Dazu möchte ich Ihnen eine kleine selbst annehme. Kann ich das? Bin ich strandet sind. Jedes einzelne Schicksal ist Geschichte wiedergeben, die mir letzthin zufrieden mit mir und meinem Körper? schon für sich alleine aufwühlend. Lesen ein Kollege von sich erzählte. Nennen Ich wünsche uns allen, dass wir da mehr Sie das ganze Buch und Ihnen wird es wie wir ihn Serge. Als Serge noch ganz klein Liebe aufbringen, denn Gott hat uns per- mir ergehen: ich fühlte, wie die Ohnmacht war, trennte sich seine Mutter von seinem fekt erschaffen. in mir hochkroch und ich am liebsten Vater. Etwas später heiratete sie einen gleich losgefahren wäre, diesen Jugendli- anderen Mann. Doch der Stiefvater von chen in irgendeiner Weise zu helfen. Und Serge begegnete ihm nicht nur in Liebe, dann die vielen Jugendlichen, die noch nein, er schlug ihn sehr oft, manchmal anstehen und an unsere Türen klopfen? auch brutal, zusammen. Als kleiner Junge Wie kann man da noch von Begrenzung konnte Serge damit kaum umgehen. Als reden? er älter wurde, lernte er Jesus und seine Haben Sie gewusst, dass wir diesen Botschaft kennen. Jahre später konnte Newsletter bereits 50 Mal herausgegeben Serge seinem Stiefvater vergeben und haben? Lesen Sie die Geschichte und trotz seiner Schläge begann Serge, ihn Hintergründe dazu. sogar zu lieben. Er änderte sein Verhalten, auch wenn es ihn viel kostete. Serge stieg nicht mehr auf die Provokationen seines Stiefvaters ein, sondern begann sogar für ihn zu beten! Was für eine Stärke. Nach langer Zeit begann auch der Stiefvater auf wunderbare Weise sein Verhalten zu ändern, Gott hatte sein Herz verändert. #51 — 3
Aktuell Aktuell Verstärkung gesucht Kleines Jubiläum Koordinationsteam Marianne Stuber Sie halten den 51. Newsletter in Berichte über Unterschriftensamm- Händen! 50 Ausgaben liegen also hinter lungen, Demos, Herbergssuche, uns – darauf sind wir stolz. Der erste Weihnachtsfeiern, Ferienwoche mit Newsletter erschien 2005. Flüchtlingsfamilien erschienen in den In diesem ersten Newsletter zitiert Newslettern. Marina Widmer den Artikel 12 der Bun- Aus der ursprünglich basisdemo- desverfassung: «Wer in Not gerät und kratischen Gruppierung entstanden nicht in der Lage ist, für sich selbst zu schliesslich in St. Gallen die drei Vereine sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Be- Solidaritätshaus, Integra und Solidaritäts- treuung und auf die Mittel, die für ein netz Ostschweiz, sowie zahlreiche ähn- menschenwürdiges Dasein unerlässlich liche Vereine in den Regionen. Nach zwei Jahren TANDEM suchen wir sind». Dass dem noch immer nicht so ist, Leider mussten wir verschiedentlich Verstärkung im Koordinationsteam: wissen wir. auch Abschied nehmen von Verstorbe- Wir sind drei Frauen und ein Mann, Und beim Stöbern in den früheren nen. Die Erinnerungen an sie sind leben- welche freiwillige Begleitpersonen für Newslettern stelle ich fest, dass wir leider dig und wir sind sehr dankbar, dass sie auf Migranten und Migrantinnen rekrutieren, oft über traurige Themen berichten ganz verschiedene Art mitwirkten. diese in ihrer Aufgabe unterstützen, Aus- mussten: mehrmals über Verschärfun- Beim Lesen in den früheren Newslet- tausch und Weiterbildung organisieren gen des Asylrechtes, über schwierige tern fand ich viele Namen von Leuten, und als Ansprechpersonen für die Tan- Situationen der Geflüchteten, über Aus- die auch jetzt noch aktiv sind auf die eine dems zur Verfügung stehen. schaffungen, über die Unmöglichkeit, oder andere Weise. Das ist sehr erfreulich! Erfahrung im sozialen oder pädagogi- mit Fr. 8.– Nothilfe zu überleben, welche Wir danken allen, die mithalfen und schen Bereich von Vorteil. sogenannt abgewiesene Leute pro Tag er- mithelfen, dass die Newsletter erscheinen Interessierte können sich unter halten, über die abgelegenen Unterkünfte – von den Schreibenden bis zu denjeni- begleitung@solidaritaetsnetz.ch melden. dieser Menschen mit Negativentscheid, gen, die die Newsletter in die Couverts Wir freuen uns darauf. über die Situation auf dem Mittelmeer, in stecken! den Camps in Griechenland … Ein herzliches Dankeschön auch an Gleichwohl gibt es viel Positives in Sie alle, die die Texte lesen. Ebenso dank- den bisherigen Newsletters. bar sind wir allen, die mit Ausnahme der Die seinerzeitige Adventszeit «hinter Geschäftsführerin und des jeweiligen den sieben Gleisen» in einer Abbruch- Zivildienstleistenden freiwillig und un- liegenschaft in St. Gallen, den ersten Mit- entgeltlich ihr Wissen und ihre Zeit mit tagstisch im CaBi, später im Bierhof, über Herzblut für die Geflüchteten einsetzen! die Gründung und den Erfolg der Integra Stöbern Sie doch einmal in früheren Ex- Schule und deren späteren Umzug ins emplaren. Sie finden diese auf unserer Tschudiwiesschulhaus, über das Finden Website: www.solidaritaetsnetz.ch und den Umbau bis zur Eröffnung des Solihauses und all seinen Aktivitäten, die Entwicklung des Solidaritätsnetzes mit vielfältigen Beratungen und der Ver- netzung mit den engagierten Leuten in den Regionen, sowie die Gründung der Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht. #51 — 4
Lektüretipp Was UMA erzählen Gabriele Barbey Unerhört für unsere Schweizer Ohren Unverzichtbar ist das Glossar, wo den ist oft, was UMA, unbegleitete minder- Lesenden, die nicht im Asylbereich jährige Asylsuchende, erzählen – wenn tätig sind, die grundlegenden Be- sie denn erzählen wollen und können. griffe der Schweizer Asylpolitik erklärt Im vorliegenden Buch gibt man ihnen werden, zum Beispiel die verschiedenen Gelegenheit dazu. Aufenthaltskategorien. Zwar sind die meisten Schweizerin- Das Buch ist prallvoll mit cleveren nen weit gereist, bereits kleine Touristen- Aussagen, hier nur eine von Mohammad, Kinder ziehen ihre Rollköfferchen durch der wie die meisten der Porträtierten 2015 die Flughäfen (vor Corona …). Trotzdem in die Schweiz eingereist ist, und vom wissen Europäer kaum, wie es 13- oder Interviewer so zitiert wird: 15-Jährige schaffen, ohne Familienange- «Die (Schweizer Gleichaltrigen) leiden hörige aus Krisengebieten zu flüchten. unentwegt, obwohl es ihnen doch Wie und warum es sie in die Schweiz materiell gut geht.» verschlagen hat, von der etliche noch nie gehört hatten, erfahren wir, manchmal Schon nur der Buchtitel fährt ein: Die bruchstückweise, in elf Interviews und Mutter (sie kommt in fast jedem Inter- einführenden Texten dazu – mit Sorgfalt view vor) soll sich keine Sorgen machen! geschrieben von Betreuungspersonen. Denn wer so prekäre Reisen gemeistert hat, die und der wird weiterkämpfen, das «Mutter, mach dir keine Sorgen, das Zu Wort kommen Menschen aus wird allen Lesenden klar. ist eine ganz andere Welt.» Unbeglei- Afghanistan, Syrien, Mali und Somalia Es ist ein Handbuch und ein Hoff- tete minderjährige Asylsuchende in Zu Wort kommen sieben Menschen nungsbuch: ein nützliches, nötiges – und der Schweiz erzählen. Elf Porträts und aus Afghanistan, einer aus Syrien, einer ja, auch ein unterhaltendes. Erarbeitet in Gespräche. aus Mali, ein Mann und eine Frau, die der Ostschweiz. Herausgegeben von der Beobach- einzige, aus Somalia. Diese Jugend- tungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht lichen gehör(t)en laut Staatssekretariat Ostschweiz und vom Solidaritätsnetz für Migration SEM zu den sogenannten Ostschweiz. vulnerablen Personen, die altersgerecht Mit Beiträgen von Annette Bossart, untergebracht und betreut werden sollen. Bernhard Brack, Stefanie Ehrbar, Heiner Jetzt, beim Erscheinen des Buches, sind Gantenbein, Luca Ghiselli, Silvia Maag, die Interviewten volljährig. Alle haben Sükran Magro, Peter Oberholzer, Ana sich in einer ganzseitigen Aufnahme von Paredes, Donat Rade, Karsten Redmann, Fotograf Ahmad Motalaei porträtieren Klausfranz Rüst, Angelica Schmid, Kaspar lassen. Anders als die jungen Männer, Surber und Barbara Weibel. Mit Foto- zeigt sich die somalische Frau zwar von grafien von Ahmad Motalaei. 255 Seiten. Kopf bis Fuss, aber in einem Rückenpor- Limmat Verlag 2021 trät. Nach der Lektüre ihres Interviews wirkt sie auch so noch stark – und doch verletzlich. #51 — 5
Fluchtpunkt Kein Fachkräftemangel Ursula Surber Vor mir liegt die Fotografie eines Ka- Da fuhr am frühen Morgen ein Arbeiter chelofens, bei dem aus einer Öffnung allein an – ein junger Mann aus Afgha- oben ein dunkler Kopf mit dunkeln nistan. Er arbeitete nur mit einer kurzen Augen vergnügt herausschaut, den Pause für das mitgebrachte Mittagessen Ofen wie einen Mantel unter sich. bis in den Nachmittag hinein unermüd- Das kam so: In besagtem Kachel- lich und sehr exakt. Auch er war genauso ofen bröckelten im Feuerloch einige zuvorkommend und führte seine Arbeit Schamottsteine, so wurde ein Ofen- offensichtlich mit Freude aus. Er war 2017 bauer zur Reparatur gerufen. Dabei als Flüchtling in die Schweiz gekommen stellte sich heraus, dass der Warmluft- und verkehrt, wie viele seiner Kollegen einsatz aus Metall einen Riss aufwies, aus Afghanistan auch, gelegentlich im deshalb ausgebaut und extern repariert Solihaus. werden musste. Der Ausbau gestaltete Die beiden erfreulichen Erlebnisse Doch zurück zum Erfreulichen: So wie sich wegen zäher Schrauben als äusserst zeigen, dass sich im Asylbereich einiges seinerzeit aus dem Kreis der italienischen schwierig, der etwas beleibte Ofenbauer bewegt hat. Gastarbeiter viele Baufirmen entstanden war ziemlich ratlos. Doch sein Lehrling, Viele haben in der Zwischenzeit eine und bis heute präsent sind, so werden ein junger Eritreer, konnte mit seiner Schul- oder Berufsausbildung hinter sich die Fachleute aus Afghanistan und Eri- schlanken Beweglichkeit abhelfen. So oder sind unterwegs, einen wichtigen trea in den nächsten Jahren wohl in die konnte der Metall-Einsatz schliesslich Schritt zu vermehrter Selbstän- ausgebaut werden, das Foto zeigt den digkeit zu tun, auch finanziell. Lehrling danach im Innern des Ofens bei Ich würde allerdings nicht Doch sein Lehrling, ein junger der Arbeit. Der Metalleinsatz konnte ge- so weit gehen, dies als Grund Eritreer, konnte mit seiner schweisst und wieder eingebaut werden, für die folgende Beobachtung zu schlanken Beweglichkeit abhelfen. der grosse Einsatz der beiden war von sehen. Die Gemeinde Witten- Erfolg gekrönt, und der Ofen heizt in alter bach hat im Jahre 2020 im Asyl- Zuverlässigkeit. bereich kräftig «zugelegt», will heissen: Fusstapfen der Corazza oder Cellere Mich hat natürlich gefreut, dass ein Sie weist statt eines budgetierten Mehr- treten. Und wir sind gewiss, dass wir für Flüchtling aus Eritrea bei dem Ofenbauer aufwands von ca. einer halben Million eine Renovation des Solihauses auch mit aus Appenzell eine Berufslehre machen einen Mehrertrag von ca. 300’000 Fran- den Firmen Ftamlak und Hassani die kann und diese offensichtlich gerne und ken aus, also eine Besserstellung von ca. richtigen Handwerker an der Hand haben mit Engagement absolviert. Er ist sehr 800’000 Franken. Der Mehrertrag fliesst – und vielleicht auch für den Bau weiterer aufmerksam, zuvorkommend, lustig und einfach in den allgemeinen Haushalt. Als «Solihäuser». freundlich im Umgang – so, wie wir viele ein Grund wird eine grössere Nachzah- junge Männer aus Eritrea auch vom Soli- lung des Kantons angeführt, der seiner- haus her kennen. seits Gelder vom Bund erhält – Geld, das Kurze Zeit nach der Arbeit am Ka- für die Unterstützung und Integration von chelofen waren Heisswasserleitungen neu Flüchtlingen bestimmt ist, dort aber nicht zu isolieren. ankommt. Dabei erleben wir im Solihaus täglich, in welch prekären Verhältnissen viele Flüchtlinge leben – durchaus auch jene, welche eine Lohnarbeit haben. Mich würde interessieren, ob es in andern Ge- meinden und über den ganzen Kanton ähnlich wie in Wittenbach aussieht – er- kundigt ihr euch? #51 — 6
Aktuell Aktion «Beim Namen nennen» Dolores Waser Balmer und Chika Uzor Mitten in der Nacht, ich sitze in der Laurenzenkirche und schreibe Namen auf Stoffbänder. Ich schreibe 19 Mal, dass jemand aus der Subsahara an der Küste von Malta ertrunken war. An- schliessend schreibe ich 35 Mal, dass jemand aus Afrika an der Küste in Lam- pedusa an den Strand gespült wurde, ein Kind starb, als es über Bord des kenternden Bootes fiel, ein 14-jähriger Junge wurde unterkühlt in einem LKW gefunden … Gleichzeitig werden gleiche und ähn- liche Schicksale verlesen, 24 Stunden lang, 44’000 Namen mit den dazugehöri- gen Beschreibungen. Dieser Tag macht etwas mit mir, er zeigt einmal mehr, wie privilegiert ich bin und eine grosse Dankbarkeit durchströmt mich. Er zeigt aber auch eine immense Mit einem eindrücklichen Gottesdienst Beim Schreiben von 200 Namen wurde Betroffenheit und gleichzeitig eine grosse wird die Aktion abgerundet. Mit Worten, mir bewusst, wie wenig Wert ein Men- Solidarität und vor allem eine riesige Texten und musikalischen Interpretatio- schenleben hat. Ich habe 200 Mal Ohnmacht. Die Frage Warum nimmt ganz nen wird die Ohnmacht durchbrochen N.N. geschrieben, weil der Name der viel Platz ein. und in Kraft und Hoffnung überführt. Person nicht bekannt war. – SB Während 24 Stunden wird der Men- Constanze Broelemann erzählt von ihrem Ein 11-jähriger Junge sagte zu seinem schen gedacht, welche auf der Flucht nach Einsatz mit dem Seenotrettungsschiff Sea Vater, nach dem er viele Namen ge- Europa gestorben sind – 44’000 schrieben hat: «Daddy, ich glaube, ich Stoffstreifen müssten geschrieben habe keine Angst vor dem Tod, aber werden, damit jede Person ein An- Die Frage «Warum» nimmt Angst vor dem Sterben.» – KU denken, ein kurzes Aufleuchten ganz viel Platz ein. Eine Religionslehrerin meinte, nachdem bekommt. sie mit allen Klassen eine Stunde lang Ganz haben wir es nicht ge- Namen geschrieben hatte: «Ich habe schafft, im nächsten Jahr soll die Aktion Watch 4. Im gemeinsamen Gebet sind wir einfach nur gestaunt, dass in allen wiederum durchgeführt werden, dann verbunden und es wird mir von Neuem Klassen in absoluter Ruhe geschrie- werden wir es schaffen – und dann werden bewusst: Wir sind aufgerufen zu handeln. ben wurde.» – SH es zusätzlich weitere Namen sein. Ein grosser Dank an alle, die sich be- Ich weiss gar nicht was ich bin – traurig Viele Menschen jeden Alters halfen teiligten und berühren liessen! oder wütend? Ich weiss einfach, das mit, die Namen zu schreiben, die Ge- Weitere Infos und Hintergründe zur darf nicht sein. – Firmandin schichten zu verlesen, die Stoffstreifen sich wiederholenden und in vielen Städ- Krass, einfach krass. – Konfirmand, wäh- aufzuhängen und sehr viele Menschen ten stattfindenden Aktion: rend seine ganze Gruppe still am Tisch liessen sich berühren. Eine bewegende www.beimnamennennen.ch/st.gallen schreibt Atmosphäre, eine mitfühlende Stille Und wir diskutieren ob Kirche politisch herrschte die ganze Zeit in der Kirche. sein darf – als Christ bin ich dazu Und gleichzeitig wächst die Streifenwand verpflichtet politisch zu sein! – DK rund um die Kirche und dank dem Wind Die Menschen sind plötzlich nicht mehr verbreiten die Streifen Leben. fremd und das macht die ganze Situa- tion noch viel unerträglicher. – AL #51 — 7
Region Leben in der Langzeit-Nothilfe Interview von Maya Leu mit Yohanes Bahlibi, Bühler AR Ich kenne Yohanes seit einigen Jahren. Bis letztes Jahr war er meistens aufge- stellt, zuversichtlich und immer guter Laune. Er hat motiviert Deutsch gelernt und die A2-Prüfung bestanden. Er ist ausserordentlich hilfsbereit und packt überall an, wo er darf. Aber genau da liegt das Problem: er darf das fast nirgends. Abgewiesene Asyl- suchende haben nicht nur ein Arbeitsver- bot, sondern dürfen offiziell nicht einmal Freiwilligenarbeit leisten. Das schlägt aufs Gemüt. Yohanes Bahlibi: Wir dürfen nichts! Wir dürfen nichts! Es gibt keine Humanität für uns! Wir werden nicht als Menschen wahrgenommen, die eine Aufgabe und Beziehungen brauchen. Wir werden wie Tiere behandelt: «Da, nimm deine 8 Franken» und fertig. Es war der Gemeinde auch egal, dass fast alle Bewohner unse- rer WG krank wurden wegen dem alten Wohnzimmerteppich. Wenn wir nach Hause kamen, mussten wir die Fenster aufreissen, weil wir kaum atmen konnten. Wir dürfen nichts! Es gibt keine Humanität für uns! Der Hausarzt gab uns Cortison-Sprays und schrieb der Gemeinde einen Brief. Aber es dauerte noch mehr als ein Jahr, bis dieser schreckliche Teppich endlich entfernt wurde und wir einen Laminatbo- den verlegen durften. Maya Leu: Genügen dir Fr. 8.– im Tag zum Leben? Yohanes Bahlibi: Ich muss hier keinen Hunger haben (zum Glück gibt es die Verteilbar, wo wir jeden Montag Lebensmittel bekommen), aber das Geld reicht nicht für Kleider, Schuhe, Bahn- tickets oder ein neues Handy. (Yohanes zeigt mir sein Handy mit zersprungenem #51 — 8 Display). Ich versuche, wenn möglich
einmal im Monat mit meiner Familie zu Sind denn alle Türen zu? Warum ist das keine Option für dich? sprechen, aber nach 15 Minuten sind 10 Ich habe in St. Gallen einen potentiel- Ich bin nicht nach Europa gekommen, Franken weg. len Arbeitgeber gefunden. Er würde mir weil ich arm gewesen wäre. Wir waren gerne den vom Migrationsamt verlangten eine normale, mittelständische Familie. Hast du hier auch Freunde? Arbeitsvertrag für das Härtefallgesuch Aber ich musste im Militär als Gefängnis- Ja, ich lebe in einer WG mit anderen machen. Aber er möchte, dass ich eine wärter in einem Gefängnis arbeiten, wo Eritreern. Wir haben es gut. Wir helfen Woche auf Probe arbeite und das er- Schwerverbrecher festgehalten wurden. uns gegenseitig. Mein bester Freund ist laubt das Amt nicht. Ich weiss nicht, was Immer wieder musste ich gefährliche Ge- T. Er hat bis letztes Jahr auch in unserer ich machen soll. Ich möchte diesen Chef fangenentransporte begleiten, bei denen WG gewohnt. Seit er eine Aufenthalts- nicht in Schwierigkeiten bringen. Bei wir zu sechst 200 Gefangene hätten be- bewilligung hat, lebt er in einer Wohnung einer Kontrolle würde er gebüsst. wachen sollen. Das war unmöglich. In im Nachbardorf. Ich besuche ihn, so oft einsamen Gegenden meuterten sie und wir Zeit finden. Manchmal gehe ich auch Gibt es etwas, das dir hilft, in dieser aus- bedrohten uns. Da bin ich abgehauen. zu einer eritreischen Familie in St. Gallen. sichtslosen Lage nicht aufzugeben? Ich kann nicht zurück nach Eritrea. Das Das tut mir gut. Wenn ich in die Kirche gehe und dort Migrationsamt hat keine Ahnung, was biblische Geschichten höre Hast du auch Kontakte mit von Menschen, die mit Einheimischen? Schwierigkeiten lebten, Wenn ich in die Kirche gehe und Ja, in der katholischen und der evan- tröstet mich das. Gott hat dort biblische Geschichten höre von gelischen Kirchgemeinde. Da habe ich ihnen geholfen. Er kann Menschen, die mit Schwierigkeiten gute Beziehungen und da werde ich auch auch mir helfen. Auch die lebten, tröstet mich das. Gott hat ihnen ernst genommen. Manchmal darf ich Kontakte mit Leuten im geholfen. Er kann auch mir helfen. etwas helfen und in der Kirche oder im Dorf helfen mir. Da sind Unterricht aus meinem Leben erzählen. viele nette Leute. Ich rede Letztes Jahr habe ich auch im Gartenpro- mit ihnen und sie geben mir ein bisschen ich auf der Flucht alles erlebt habe. Tage- jekt mitgearbeitet. das Gefühl von Zu-Hause-Sein. und nächtelang war ich zu Fuss oder in kleinen Pickups in der Wüste unterwegs, Ich habe gehört, dass du den Deutsch- Wie erlebst du den Kontakt mit den litt an Hunger und Durst, war monate- unterricht nicht mehr besuchst. Behörden? lang in Lagern in Libyen, wo Christen Ja, eigentlich sollte ich in den B1-Kurs Sehr unterschiedlich! Die Leute vom (Yohanes ist Katholike) ermordet und gehen, aber ich bin nicht mehr motiviert. Sozialamt sind ok. Sie hören mich wenigs- Frauen vergewaltigt und viele Geflüchtete tens an. Leider können sie mir oft nicht als Sklaven verkauft wurden. Ich konnte Was hat sich denn geändert? helfen, weil ihnen die Hände gebunden kaum noch gehen, so geschwächt war Bis letztes Jahr war ich voller Hoff- sind. Ganz andere Erfahrungen machte ich. Und dann die schlimme Fahrt übers nung, dass es mit der Bewilligung doch ich auf dem Migrationsamt. Ich erlebte Meer in einem total überfüllten, kaput- noch klappen könnte. Ich lernte für die nur Ablehnung. Als ich beim zweiten Ne- ten Schlauchboot – als Nichtschwimmer A2-Prüfung und habe sie auch bestanden. gativentscheid eine Wegweisung aus der und ohne Schwimmweste! Es ist ein Ich suchte nach einer Arbeitsstelle und Schweiz bekam, bin ich nach Deutschland Wunder, dass wir heil in Italien angekom- hoffte, mit einem Härtefallgesuch die gereist in der Hoffnung, dort Asyl zu be- men sind! Und da wird mir gesagt: Wir Aufenthaltsbewilligung zu erlangen. Aber kommen. Aber nach vier Monaten bin haben keinen Platz für dich. Geh zurück! dann habe ich miterlebt, wie ein WG- ich wieder hier gelandet. Die Dame vom Unmöglich! Kollege alle Bedingungen für ein Härte- Migrationsamt schimpfte mit mir, weil fallgesuch erfüllte und dieses trotzdem ich nach Deutschland, statt nach Eritrea abgelehnt wurde. Seither habe ich keine gegangen war. Ich fragte sie, warum sie Hoffnung mehr. Das ist mein grösstes mich zurückholten, wenn sie mich doch Problem: ich habe keine Zukunft, keine gar nicht haben wollen. Sie sagte, ich solle Perspektive, kein Ziel. Ich möchte lernen, jetzt nach Eritrea zurückkehren. Als ob aber ich weiss nicht, wofür. Ich habe keine ich das könnte! Motivation mehr. #51 — 9
Härtefallpraxis in der Schweiz mit Schwerpunkt Ostschweiz Maya Leu, Vorstandsmitglied Solidaritätsnetz Ostschweiz, Delegierte Solinetze Schweiz Als im Januar 2008 für abgewiesene Abgewiesene Asylsuchende Asylsuchende die Nothilfe eingerichtet haben im Härtefallverfahren Abgewiesene Asylsuchende wurde, war die Rede von einer Not- auf kantonaler Ebene grund- haben im Härtefallverfahren auf lösung, die einige Wochen, eventuell sätzlich keine Parteistellung. kantonaler Ebene grundsätzlich einige Monate dauern sollte. Unterdes- Es ist ihnen also nicht möglich, keine Parteistellung. sen gibt es Leute, die seit 10 und mehr abschlägige Entscheide der Jahren in der Nothilfe in prekären Ver- kantonalen Migrationsbehör- hältnissen ausharren müssen. den anzufechten. Erst wenn ihr Zur Erinnerung: Nothilfe heisst: Härtefallgesuch im Zustimmungsverfah- Erfreulich ist die Entwicklung in den Kan- Unterkunft, medizinische Versorgung ren vom SEM abgelehnt wird, besteht die tonen St. Gallen und Thurgau: in Notfällen und Fr. 8.– pro Tag (Partner Möglichkeit, eine Beschwerde ans Bun- Während von 2014 bis 2018 im oder Partnerin Fr. 4.–, Kinder Fr. 2–3.–) desverwaltungsgericht zu richten (Art. Kanton St. Gallen insgesamt nur acht für den gesamten Lebensunterhalt. 14 Abs. 4 AsylG). Das Bundesgericht hat Gesuche akzeptiert und weitergeleitet Ein Weg aus diesem traurigen Dasein die fehlende Beschwerdemöglichkeit von wurden, waren es 2019 elf und 2020 sogar ist das Stellen eines Härtefallgesuchs an (abgewiesenen) Asylsuchenden auf kan- 25 Gesuche. Im Thurgau wurden 2014– den Kanton. tonaler Ebene zwar als verfassungswidrig 2018 insgesamt nur vier Gesuche, 2019 taxiert, da diese nicht mit der Rechts- acht und 2020 fünfzehn Gesuche weiter- Das Gesetz lautet: weggarantie vereinbar ist (BGE 137 I 128), geleitet. Von allen diesen Gesuchen wurde 2 — Der Kanton kann mit Zustimmung trotzdem muss das Bundesgesetz in der nur ein einziges vom SEM abgelehnt. des SEM einer ihm nach diesem Gesetz Schweizer Rechtsprechung angewendet Im Kanton St. Gallen geschah die grosse zugewiesenen Person eine Aufenthalts- werden. Veränderung durch Regierungsrat Fredy bewilligung erteilen, wenn: Diese Praxis führt dazu, dass die Kan- Fässler, der im Oktober 2018 dem kanto- a. die betroffene Person sich seit Einrei- tone grossen Spielraum haben, was die nalen Migrationsamt den Auftrag erteilte, chung des Asylgesuches mindestens Annahme der Härtefallgesuche fünf Jahre in der Schweiz aufhält; von abgewiesenen Asylsuchen- b. der Aufenthaltsort der betroffenen den und ihre Weiterleitung ans Erfreulich ist die Entwicklung Person den Behörden immer bekannt SEM betrifft. Je nach Kanton in den Kantonen St. Gallen und war; wird der Spielraum zu Gunsten Thurgau. Im Kanton St. Gallen c. wegen der fortgeschrittenen Integ- oder zu Ungunsten der Asyl- geschah die grosse Veränderung ration ein schwerwiegender persön- suchenden genutzt. In einigen durch Regierungsrat Fredy Fässler. licher Härtefall vorliegt; und Kantonen werden Härtefall- d. keine Widerrufsgründe nach Artikel gesuche nach fünf bis sechs 62 Absatz 1 des Ausländer- und Inte- Jahren geprüft, andere sagen, man könne eine «Humanitäre Aktion» zu starten. grationsgesetzes vom 16. Dezember nach zehn(!) Jahren darüber reden. Einige Bei dieser wurden etwa 50 abgewiesene 2005 (AIG) vorliegen. Kantone leiten die Mehrheit der Gesuche Asylsuchende angeschrieben, die sich seit 3 — Will der Kanton von dieser Möglich- ans SEM weiter, wo sie meistens bewilligt rund 10 Jahren in der Schweiz aufhielten, keit Gebrauch machen, so meldet er dies werden, andere lehnen (fast) alle ab und straflos geblieben waren und sich sprach- dem SEM unverzüglich. leiten sie darum auch nicht weiter. lich und sozial gut integriert hatten. Im 4 — Die betroffene Person hat nur Rahmen dieser Aktion bekamen bisher beim Zustimmungsverfahren des SEM 27 Leute eine Aufenthaltsbewilligung, Parteistellung. unter ihnen auch drei Tibeter. Für letztere hat sich Fredy Fässler in intensiven Ge- sprächen mit dem SEM und Vertretern der tibetischen Gemeinschaft persönlich eingesetzt. #51 — 10
Weniger rühmlich ist die Situation im Sehr geehrte … Die Antworten der Angeschriebenen Kanton Appenzell Ausserrhoden: Als Netzwerk von Organisationen, fielen enttäuschend aus. Mehrfach wurde Von 2008 bis 2014 wurde kein ein- deren Mitglieder regelmässigen Kontakt darauf hingewiesen, dass es sich ja um ziges Härtefallgesuch weitergeleitet. mit Nothilfebetroffenen pflegen, machen Leute handelt, die gar nicht mehr hier Im Jahr 2015 wurden 4 Personen durch uns ihre Lebensbedingungen grosse Sorgen! sein dürften und dass man darum keine Härtefallgesuche legalisiert. Darauf folg- Ja, wir beobachten sogar eine generelle Ver- Anreize zum weiteren Verbleib in der ten wieder vier Jahre ohne eine einzige schlechterung der körperlichen und psychi- Schweiz bieten solle, z.B. in Form von Bil- Akzeptierung eines Gesuchs. Im vergan- schen Gesundheit vieler Betroffener. … dungs- oder Beschäftigungsprogrammen. genen Jahr wurden zwei Gesuche weiter- Mit folgenden konkreten Forderungen Eine schweizweite Humanitäre Aktion für geleitet und vom SEM gutgeheissen. gelangen wir an Sie (dass diese in einigen gutintegrierte Langzeit-Nothilfebezüger Im Januar 2021 wurde wieder ein Kantonen teilweise schon erfüllt sind, lässt (wie im Kanton St. Gallen) wird von nie- Gesuch abgelehnt und nicht weiterge- uns hoffen, andere Kantone könnten diese mandem begrüsst. leitet, obwohl die Bedingungen erfüllt auch übernehmen): Das sind schlechte Nachrichten für waren. Das hat eine demoralisierende 1. Den Nothilfe beziehenden Personen die Betroffenen. Wirkung auf die anderen abgewiesenen sollte eine Ausweis-Karte ausgestellt Solinetze Schweiz will aber nicht klein Asylsuchenden, die hofften, dank eines werden, damit diese bei Personenkon- beigeben, sondern durch persönliche Ge- Härtefallgesuchs bald eine Aufenthalts- trollen durch Ordnungskräfte nicht als spräche möglichst viele Parlamentarier bewilligung zu bekommen. (Siehe Inter- illegal Anwesende gebüsst werden. dazu bewegen, für diese Menschen aufzu- view mit Yohanes Bahlibi). 2. Langzeit-Nothilfe beziehenden Perso- stehen, um ihnen ein menschenwürdiges Appenzell Innerrhoden hat von 2008 nen sollte der Zugang zu Ausbildung Leben zu ermöglichen. bis 2020 insgesamt drei Härtefallgesuche und Beschäftigung nicht verweigert weitergeleitet, Graubünden acht. werden. Solinetze Schweiz, der Zusammen- 3. Während der Härtefallverfahren, Be- schluss aller Solinetze und einiger anderer rufsausbildungen und Ermöglichung Organisationen mit gleicher Zielsetzung des Abschlusses von Ausbildungen in der Schweiz, hat im Herbst 2020 die sollte ein Abschiebungsstopp garan- Polizei- und Sozialdirektoren aller Kan- tiert sein. tone angeschrieben: 4. Die Unterbringung in Zentren mit je- derzeit möglichen Polizeieinsätzen und Abholungen sollte insbesondere für Familien möglichst vermieden werden. 5. Personen, die sich vor und nach einem negativen Entscheid schon mehrere Jahre in der Schweiz aufhalten und gut «integriert» sind, sollen in einem Här- tefallverfahren eine Aufenthaltsbewilli- gung erlangen. 6. Als effiziente Lösung schlagen wir eine «Humanitäre Aktion» vor, bei der allen Langzeitnothilfebeziehenden mit einem vereinfachten Härtefallverfahren eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wird. #51 — 11
Integra Mariannne Stuber verlässt die Integra St. Gallen Erinnerungen im Interview mit Stephanie Sierra Stephanie Sierra: Die Integra – Bildung für Alle feierte im Februar letzten Jahres ihr 10-jähriges Jubiläum. Du, liebe Marianne, warst schon sehr früh als Lehrkraft dabei. Ich möchte dir einige Fragen stellen, damit unsere Newsletter Leserinnen und Leser deinen grossen Einsatz für die Integra erahnen können. Wie kam es, dass du dich für das Projekt «Bildung für Alle» interessiertest? Mariannne Stuber: Mein erstes, bewusst erinnertes, politisches Datum ist 1956: ich war damals acht Jahre alt, als die Ungarnflüchtlinge in die Schweiz kamen. Von da an interessierte ich mich für die Situation in fremden Ländern und die Gründe, weshalb Leute flüchten. Etwa vier Monate nach meiner Pensionierung traf ich Gertrud Wirth, die mir von der Integra erzählte (wo sie noch immer Lehrperson ist). Sofort wusste ich, dass ich das auch gerne machen würde. Ich Woher kamen die ersten Schülerinnen Du hast nicht nur unterrichtet, sondern konnte dann einer Doppellektion bei und Schüler? Welche Erfahrungen hast schon bald andere Aufgaben übernom- Claudia Ebneter beiwohnen – noch nicht du mit ihnen gemacht? men … ahnend, dass wir später oft zusammen- Anfänglich waren es 8 Männer aus Sri Der früheren Hauptverantwortlichen arbeiten würden. Kurze Zeit später durfte Lanka, 4 Eritreerinnen, 3 Tibeter, 1 Syrer, Myrta Strub half ich beim Einschreiben ich eine eigene Klasse übernehmen. 1 Afghane, 1 Nigerianer und 1 Türke. Aber und Einteilen der neuen Schülerinnen es kamen mehr Lernende dazu; einmal und Schüler, teilweise mit einem kleinen Was waren für dich die ersten hatte ich total 28 Lernende in der Klasse! Eintrittstest. Ebenso pflegten wir den Herausforderungen? Oft fehlten einige der Leute und konnten Kontakt und Austausch zu Schulen in an- All die fremden Namen, die ich sofort mangels Sprachkenntnis nicht erklären, deren Regionen. Oft übernahm ich auch lernen wollte, um die Lernenden mit weshalb sie dem Unterricht fernblieben. Stellvertretungen in anderen Anfänger- ihrem Namen ansprechen zu können. Aufgaben machten nicht Dann auch die Heterogenität betreffend alle – teilweise hatten sie den Herkunft und Vorwissen der Lernenden. Auftrag nicht verstanden Einmal presste ein Kurde frische Einfaches, klares und korrektes Deutsch oder keinen ruhigen Platz in Orangen und servierte den Saft in den zu sprechen, da ich eine Klasse mit lauter ihrer Unterkunft. Die Lands- Orangenhälften. Anfängerinnen und Anfängern unter- leute unterstützten sich richtete, war nicht so schwierig für mich. gegenseitig, was hilfreich Dies war ich gewohnt von der Arbeit mit war. Als ältere Frau behandelten mich klassen oder erklärte neuen Lehrperso- verwirrten oder dementen Patientinnen die Lernenden stets zuvorkommend und nen unsere Schule. Im Solihaus, damals und Patienten in der Geriatrie. Hingegen achtungsvoll. Den längsten Tag am 21.6.12 ja gleich neben «unserem» Schulhaus, gab war es nicht immer einfach, den Leuten feierten wir mit einem Picknick und Spie- es immer wieder Besuche: Fladenschüler, Pünktlichkeit beizubringen, da dies in ge- len im Stadtpark, da kamen spontan auch Studierende der Fachhochschule und wissen Herkunftsländern weniger wichtig Einige aus anderen Klassen mit. einmal Bischof Markus. All diesen Leuten ist als bei uns. stellte ich die Integra vor und organisierte den Besuch bei unseren Schulklassen. Einmal gab es eine Reportage über die #51 — 12 Integra von tvo; gefilmt wurde in meiner
Klasse. Ein anderes Mal kam Corinne Wir geniessen es, dass wir mehr Schul- Dass wir immer auf gute Begleitpersonen Riedener vom Kulturmagazin Saiten. räume haben, die alle gross genug sind und Kursanbieterinnen zählen konnten, Daraus entstanden Texte von Lernenden. und einen Wasseranschluss haben. war wichtig für uns. Bei den Tagesaus- Sie schrieben über ihre Herkunft und Zudem ist das kleine Lehrpersonenzim- flügen teilten die Leute spontan ihr mit- ihre Ziele hier – allesamt wollen sie mög- mer sehr gut, da jetzt der Kopierer nicht gebrachtes Essen und einmal presste ein lichst bald arbeiten und unabhängig sein mehr in einem der Klassenzimmer ist Kurde frische Orangen und servierte den (Saiten Nr. 251, Dez. 2015). und wir auch einmal in Ruhe Gespräche Saft in den Orangenhälften! Dann waren führen und Kaffee trinken können. Dass da auch die erstaunten, aber erfreuten Anfänglich war die Schule basis- wir auch wieder einen schönen Grün- Gesichter der Aufsichtspersonen, als demokratisch, doch mit steigenden und einen Hartplatz gleich neben dem ihnen noch im alten Naturmuseum zum Schülerzahlen und den grösseren Her- Schulhaus mitbenutzen dürfen, ist wun- Abschied alle Teilnehmenden die Hand ausforderungen brauchte es eine klare derbar und wohltuend auch für die Seele! reichten und sich bedankten. Die ausge- Struktur. 2013 wurdest du Mitglied der Das Solihaus, wo weiterhin (abhängig von stellten Objekte im Landwirtschaftsmu- Schulleitung und übernahmst verschie- der Corona-Situation) der Mittagstisch seum erinnerten manche an die Sachen, dene Aufgaben. und viele andere Aktivitäten stattfinden, die sie von ihren Ländern kannten. Auch Das sind nebst den Sitzungen kleinere ist leider nicht mehr so nahe. Viele Ler- das Radiomuseum mit den bis zu 17 kg und grössere, organisatorische Sachen, nende kennen und nutzen diese Möglich- schweren Apparaten und deren Innen- angefangen vom Einkauf von Kreide bis keiten jedoch. leben brachte alle zum Staunen. Und es zur Vorbereitung und Durchführung von war speziell, dass es beim Besuch bei der Lehrpersonenessen. Das meiste diskutie- Die allermeisten Schülerinnen und Feuerwehr gerade Alarm gab und die ren, entscheiden und setzen wir gemein- Schüler kennen dich durch die sehr Männer die Stange herunterrutschten (es sam um, wie z.B. den Entscheid, einen beliebten Sommerferienprogramme, war nicht so schlimm, dass sie mit heu- eigenen Verein zu gründen. welche du mit Claudia Ebneter organi- lender Sirene wegfahren mussten). Mehr- siertest und die nun zum zweiten Mal mals erlebten wir unerwartete spontane Der Umzug vom Schulhaus Sankt Fiden wegen Corona ausfallen müssen. Welche Tanzeinlagen mit Gesang von den kurdi- beim Solihaus ins Tschudiwies brachte Ereignisse sind dir besonders in Erinne- schen Lernenden. Immer bedankten sich für uns alle Veränderungen. Wie wür- rung geblieben? die Leute auch bei uns. dest du diese beschreiben? #51 — 13
Ausserdem hast du die jährlichen Leh- Nun hast du die Integra verlassen. Was reranlässe organisiert: festlich, kulina- nimmst du von dieser Zeit für dich mit? risch, unterhaltsam und exquisit dank In den nunmehr 9 Jahren, die ich der aktiven Teilnahme unserer Lernen- dabei war, lernte ich sehr viele Leute den! Welches Fest möchtest du besonders kennen und erlebte ganz unterschied- hervorheben? liche, erfüllende Begegnungen. Zudem Jeden dieser Anlässe habe ich in guter habe ich unendlich viel gelernt und viel Erinnerung, das Zusammensein, sich Freude erlebt. Einmal erhielt ich sogar austauschen und das von den Geflüch- eine Glückwunschkarte zum Frauen- teten stets mit Liebe gekochte Essen aus tag von einem marokkanischen Schüler! ihren Ländern. Besonders freute es mich Mein herzlichster Dank gilt allen, die sich jedoch, dass wir letztes Jahr, gerade noch für die Integra einsetzen, den Lernen- rechtzeitig vor Corona, mit vielen Gästen den und allen anderen, mit denen ich in 10 Jahre Integra feiern durften! irgendeiner Art und Weise zu tun hatte! Die Integrazeit hat mich geprägt und ich werde stets gerne daran zurückdenken! Danke, liebe Marianne, für dein enor- mes Engagement für die Integra. Ge- meinsame Erlebnisse werden vielen von uns in bester Erinnerung bleiben. Für die frei gewordene Zeit wünschen wir dir viele bereichernde Erlebnisse und Gesundheit! Merci, grazie, gracias im Namen der Integra – Bildung für Alle #51 — 14
Aktuell Aufruf Portrait des neuen Redaktors Mitglied werden Ralph Klee Vielleicht haben Sie es ja schon im Ein weiterer Lebensgrundsatz von mir ist Wenn Sie Mitglied werden möchten, Impressum gelesen: Da gibt es einen im 1. Petrusbrief, 4,10 geschrieben: Und können Sie den Talon auf der Homepage neuen Redaktor. Weil Sie mich noch dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, ausfüllen oder bei der Geschäftsstelle an- nicht kennen, möchte ich Sie auf eine die er empfangen hat, als die guten Haus- fordern. Es genügt aber auch, bei der Ein- kleine Entdeckungstour mitnehmen. halter der mancherlei Gnade Gottes. zahlung den Hinweis «Mitgliederbeitrag» Name: Ralph Klee; AHV-Num- Eine meiner Gaben, die ich vom zu erwähnen. Zudem sollte ihre Adresse mer: 756.1467.xxxx.xx; Kontonummer: Heiligen Geist bekommen habe, ist es, auf der Einzahlung ersichtlich sein. 5351xxxxxxxx5802; Autonummer: andere zu unterstützen, weshalb ich oft Der Beitrag beträgt Fr. 50.– im Jahr. 301586; Grösse: 1,72 m; Gewicht: 77 kg; mit Migranten unterwegs bin. Ich liebe Alter: 67; Zivilstand: verheiratet, 1 Kind, den Umgang mit fremden Leuten und 3-jährig; ausserdem 2 erwachsene Kinder Kulturen. und 2 Enkelkinder; ehemaliger Beruf: In meiner neuen Herausforderung als Lehrer auf verschiedenen Stufen; Hobby: Redaktor kommen mir aber auch welt- Harleyfahrer, Fotografieren, Wandern, liche Gaben, wie der leichte und flüssige Lesen Umgang mit dem geschriebenen Wort, zugute. Kennen Sie mich jetzt? Nicht? OK, dann Abrunden möchte ich meine Vor- gebe ich Ihnen nun die wirklich wichtigen stellung wie ich begonnen habe, nämlich Informationen. ebenfalls mit einem Bild aus der Bergpre- Als erstes möchte ich ein Licht an- digt: Ich bin ein glückseliges Kind Gottes, zünden, um es dann, gut sichtbar, an weil ich Friedfertigkeit anstrebe. (Matth. einem erhöhten Ort zu platzieren. Ganz 5,9) so, wie es in der Bibel im Evangelium des Matthäus, Kapitel 5, Vers 15 steht: Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter den Scheffel, sondern auf den Leuch- ter; so leuchtet es allen, die im Haus sind. Genauso hoffe ich, dass ich ein Licht für andere sein kann. Ich möchte ein Vorbild sein, jemand, der andere nur schon durch mein Verhalten, dazu animiert, es mir gleich zu tun. Dabei soll mein Handeln immer von Gott geleitet sein. Ich möchte, wie im 2. Korintherbrief, Kapitel 2, Vers 15 beschrieben, ein Wohlgeruch für Gott sein. #51 — 15
Veranstaltungshinweise Herzlichen Dank 6. Juni bis 4. Juli 2021 Samstag, 4. September 2021 Das Solidaritätsnetz Ostschweiz Frieden in Bewegung. Friedenswanderung Jubiläumskonferenz – 60 Jahre Amnesty bedankt sich ganz herzlich bei … für Abrüstung und Frieden der International der Ev. ref. Kirchgemeinde Ebnat-Kappel Naturfreunde, über Engen, Singen, Anmeldung online bis 31. Juli 2021 für die Spende von Fr. 1000.- Friedrichshafen, Lindau, Bregenz, http://bit.ly/jub-60-ai Kreuzlingen, Konstanz der Kath. Kirchgemeinde Wittenbach für www.frieden-in-bewegung.de die Spende von Fr. 1000.- Samstag, 11. September Kundgebung in St. Gallen für Frieden und den Kirchgemeinden für die vielen 17. bis 27. Juni 2021 Gerechtigkeit zum UNO-Weltfriedenstag weiteren Kollekten und Beiträge Solidarisch Luzern www.frieden-ostschweiz.ch für die vielen weiteren Spenden «Solidarität kennt keine Grenzen» 14–16 Uhr www.solidarisch-luzern.ch Samstag, 18. September 2021 Mittwoch, 30. Juni 2021 Hauptversammlung Solidaritätsnetz Bistum St. Gallen: Ökumenische Kath. Pfarreiheim in Heerbrugg Kommission für Asyl-und 14.30 Uhr Flüchtlingsfragen: «Ressource Religion» Ev. Kirchgemeindehaus Wil 13.30–17.00 Uhr Montag, 9. August Gedenkfeier zum Atombombenabwurf von Nagasaki bei der Friedensglocke beim Weben Sie mit Henry Dunant Museum Heiden www.dunant-museum.ch Samstag, 4. September Solihausfest. am Solidaritätsnetz Ihre Spende ermöglicht Nähere Infos gibt es auf www.solidaritaetshaus.ch unsere Arbeit Postkonto 85-355701-5 IBAN CH52 0900 0000 8535 5701 5 Solidaritätsnetz Ostschweiz, 9000 St. Gallen Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung.
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