Mozarts "Exsultate, Jubilate" - Fred Casagranda
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Fred Casagranda Mozarts ”Exsultate, Jubilate” Weltlich? Geistlich? Marianisch? — Eine Textdeutung C’est le matin levé après la longue nuit de Veille, c’est le jour retrouvé après l’épaisseur des ténèbres. (Sylvie Germain, L’Enfant Méduse, Deuxième enluminure) Am 16. Januar 1773 schreibt Leopold Mozart aus Mailand einen Brief an seine Frau in Salzburg, dem sein Sohn Wolfgang eine Nachschrift an die Schwester Nannerl in seiner besonderen Art beifügt: „Ich vor habe den primo eine homo motteten machen welche müssen morgen bey Theatinern den produciert wird. Seyet auf wohl ich eüch bitte lebe wohl addio.“(1) Durch diesen Brief kennen wir den Tag der Erstaufführung von Mozarts Mottete „Exsultate, Jubilate“ KV 165 (158a), den 17. Januar 1773. Die autographe Partitur, früher im Besitz der Preussischen Staatsbibliothek in Berlin, befindet sich jetzt infolge des 2. Weltkrieges in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau. Sie trägt den Titel: Motetto Composto in Milano nel Gianaio 1773. Del Sigr: Cavaliere Amadeo Wolfgango Mozart Accademico di Bologna e di Verona. Der Anlaß Ihre dritte Italienreise (24. Oktober 1772 – 13. März 1773) hatte Vater und Sohn Mozart zum dritten Mal nach Mailand geführt. Anlass der Reise war die Aufführung von Wolfgangs Oper „Lucio Silla“, KV 135, die er größtenteils, wie damals üblich, erst an Ort und Stelle den zur Verfügung stehenden Sängerinnen und Sängern „in die Gurgel“ komponierte. (Im Hinblick auf die drei Aufenthalte der Mozarts in Mailand trifft der Ausdruck Italienreise nur bedingt zu; die Lombardei gehörte nämlich seit dem Utrechter Friedensvertrag, der 1713 den Spanischen Erbfolgekrieg beilegte, zu Österreich.)
Titelseite des Textbuches der am 26. Dezember 1772 uraufgeführten Oper „Lucio Silla“ „Wir haben eine weit bessere Wohnung, als wir sonst hatten, schöner, bequemmer, näher noch am theater und folglich etwa 50 schritte von der Mdme: d’Aste entfernt, die uns ein paar gute Kopfküssen geliehen, da die italiänischen speckschwarden uns zu hart sind.”(1) So berichtet Vater Mozart am 21. November 1772 nach Hause. Die erwähnte Madame d’Aste, in einem anderen Brief klangvoll als „Madame Marie Anne D’Aste d’Astiburg née Troger à Milan“ bezeichnet, sonst familiär Troger Mariandl genannt, war die Tochter des Sekretärs des Grafen Firmian, des Generalgouverneurs der Lombardei im Dienst der Kaiserin Maria Theresia. Der junge Komponist hatte also keinen langen Weg zur hauptsächlichen Stätte seines Wirkens, dem „Teatro Grande“ im Palazzo Regio-Ducale, dem heutigen Palazzo Reale. Dieser Saal war übrigens zwei Jahre zuvor, am 26. Dezember 1770, sozusagen von ihm selber mit der Uraufführung seiner Oper „Mitridate, Re di Ponto“, KV 87, nach einem Brand wiedereröffnet worden. Die Mozarts kannten sich da also schon aus. (Nach einer weiteren Brandkatastrophe bereits 1776 wurde er nicht mehr hergestellt; Kaiserin Maria Theresia beschloß die Errichtung des Teatro alla Scala, der nach zwei Jahren Bauzeit am 3. August 1778 festlich eröffnet wurde.)
Der Ort Stadtplan Michelin 46: Milano e dintorni Ebenfalls in keiner großen Entfernung vom Theater, nahe dem ehemaligen Ospedale Maggiore, (der heutigen Universität, für die Einheimischen: La „Ca’Granda“), stand und steht noch heute die Kirche Sant’Antonio Abate, d.h. des hl. Antonius, des Mönchsvaters, dessen Leben uns der hl. Athanasius überliefert hat. Im späten Mittelalter unterhielt der Antoniterorden hier ein Spital. 1576 übernahmen die wenige Jahre zuvor von Bischof Carlo Borromeo nach Mailand gerufenen Regularkleriker der Theatiner Kloster und Kirche. Sie bauten in den 1630er Jahren eine neue Kirche im Barockstil, bei der sie aber den alten gotischen Turm stehen ließen. Die Vermutung drängt sich auf, Vater und Sohn Mozart könnten während ihres genau viermonatigen Aufenthaltes (4. November bis Anfang März) in dieser Kirche ihre Christenpflichten erfüllt haben. Immerhin umfaßte diese Zeitspanne den ganzen Weihnachtsfestkreis, dessen Vorbereitungszeit nach der in Mailand geltenden ambrosianischen Liturgie sechs Adventssonntage enthält, und reichte bis in die erste Woche der Fastenzeit, die dort nicht mit dem Aschermittwoch, sondern mit dem ersten Fastensonntag, in jenem Jahr am 28. Februar, beginnt.
Sant’ Antonio Abate. Hauptschiff und Chor. Foto: Giovanni Dall’Orto Für diese Vermutung spricht weniger die Nähe der Kirche, - Kirchen gab es genug, nah und fern. Wichtiger ist, daß Mozarts Motette, die uns hier näher beschäftigen soll, für eine Aufführung in eben dieser Kirche geschrieben wurde. Nicht von der Hand zu weisen ist ferner der Gedanke, die Mozarts könnten bereits in Salzburg Beziehungen zu den Theatinern gepflegt haben, die dort Kajetaner genannt wurden, nach dem verdeutschten Vornamen eines der Ordensgründer, des hl. Gaetano Tiene (1480-1547), der übrigens seit 1672 als ein Patron Bayerns gilt. (Der Name Theatiner leitet sich ab von dem römischen Namen Teate (Marrucinorum) der Stadt Chieti in den Abruzzen, deren Bischof Gian Pietro Carafa, der spätere Papst Paul IV, Mitgründer und erster Ordensoberer war.) Die Annahme einer solchen Beziehung wird erhärtet durch die Tatsache, daß Leopold und Wolfgang in demselben Jahr 1773 in Wien „am 7. August, dem Tag des hl. Kajetan, das ihrem Logis nahegelegene Kajetanerkloster besuchen, wo Wolfgang ein Violinkonzert auf dem Kirchenchor spielt."(2) Eine weitere Vermutung liegt nahe, daß nämlich der unbekannte Autor des Motettentextes in dieser geistlichen Umgebung zu suchen sein könnte. Ein etwas oberflächliches Durchblättern des 1780 erschienenen zweibändigen Werkes des Theatiners A.F. Vezzosi: I scrittori dei Cherici Regolari detti Theatini erbrachte zwar Hinweise auf manche Poeten unter den Ordensmitgliedern, führte aber nicht auf die Spur eines mutmaßlichen Autors des Textes.
Der Sänger Venanzio Rauzzini nach dem Ölgemälde von J. Hutchinson, um 1778 (MGG 11, 54/1963) Der Sänger, der die Motette, wie in Wolfgangs Postscriptum an seine Schwester gesagt wird, am 17. Januar 1773 in dieser Mailander Theatinerkirche zum ersten Male zu Gehör brachte, war der Kastrat Venanzio Rauzzini. Von ihm nur soviel: Geboren 1746, sang er an vielen Theatern in Italien, in München, Wien und nach 1774 in England, wo er 1810 in Bath starb. Nach der Bühnenlaufbahn betätigte er sich als Gesang- und Klavierlehrer sowie Konzertveranstalter. Er galt als einer der besten Sänger seiner Zeit, als hervorragender Klavierspieler, bedeutender Komponist und wurde darüber hinaus als äußerst umgängiger und liebenswürdiger Mensch gerühmt.(3) Er sang in „Lucio Silla“ die Partie des „primo uomo“, des Cecilio, und Vater Mozart berichtet am 28. November 1772: „Der Wolfg: hat den Primo uomo noch nichts als die erste Arie gemacht, die ist aber unvergleichlich und er singt sie, wie ein Engl.”(1) Im Vorwort seiner neuen Ausgabe des Klavierauszugs(4) der Motette „Exsultate, Jubilate“ nach dem Urtext der Neuen Mozart-Ausgabe, der auch die 1978 aufgefundene Salzburger Textfassung enthält, schreibt Robert Münster: „Von 1766 bis 1772 war Rauzzini erster Sänger am Hofe zu München gewesen. Wahrscheinlich kannten ihn die Mozarts schon aus dieser Zeit.” Mit dem Hinweis auf eine nicht erhaltene Motette „Exultate, Jubilate“ von G.B.Porta im Bestand von 1753 der Münchener Hofbibliothek verbindet er die Vermutung: „Vielleicht hat Rauzzini diesen Text Mozart zur Neukomposition gegeben.” Es ist jedoch fraglich, ob aus der Übereinstimmung der zwei Anfangsworte auf eine Identität des weiteren Textverlaufs geschlossen werden kann.
Zur musikalischen Form Der Begriff Motette – Motetto a canto solo – ist hier in der partikularen Bedeutung , die er im 18. Jh. hatte, zu verstehen, so wie ihn J.J. Quantz im „Versuch einer Anweisung, die Flöte traversière zu spielen“ definiert: „In Italien benennet man, heutigen Tages, eine lateinische geistliche Solocantate, welche aus zween Arien und zweyen Recitativen besteht, und sich mit einem Halleluja schließt, und welche unter der Messe, nach dem Credo, gemeiniglich von einem der besten Sänger gesungen wird, mit diesem Namen.” Die Instrumentalbegleitung konnte vom einfachen Generalbaß bis zum vollstimmigen Orchestersatz reichen. Auf die formale Verwandtschaft (abgesehen von den Rezitativen) mit dem italienischen Instrumentalkonzert mit seiner Satzfolge Schnell-Langsam-Schnell weisen die meisten Kommentatoren gerne hin. Da die Motette, wie Quantz bemerkt, in der Regel für gute Sänger bestimmt ist, gerät sie nicht selten zum Bravourstück für Virtuosen der Kehle. Darin verleugnet sie, als echtes Kind ihrer Zeit, des 18. Jahrhunderts, und ihrer Heimat, Italiens, nicht ihre innere Verwandtschaft mit der Oper. So verwundert es nicht, daß Ludwig Schiedermair(5) Mozarts Komposition „eine opernmäßige Motette” nennt, und daß Alfred Einstein(6) von ihr behauptet: „Kirchlich ist sie nicht.” Diese Urteile gelten wohl in erster Linie der Musik. Aber nicht sie ist Gegenstand unserer Untersuchung, sondern der Text. Beniamino Dal Fabbro(7) urteilt über ihn – auch wenn er dabei eigentlich die Musik im Visier hat: „Di sacro, qui, non resta, davvero che il testo latino“. [Sakral ist hier wahrhaftig nur noch der lateinische Text.] Jeder Leser, der die im Titel gesetzten Fragezeichen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen hat, wird ihm wohl zustimmen. Gehören doch Worte wie Exsultate, Jubilate, psallant, pacem dona und Alleluia zum gängigen Vokabular liturgischer Texte. Mystifikationen in der Fachliteratur Alle Kommentatoren, soweit sie die Frage von Bestimmung und Deutung des Textes überhaupt anschneiden, sind sich übrigens darin einig, die zweite Arie (Tu, virginum corona) als Gebet an die Jungfrau Maria anzusehen. Jean-Victor Hocquard(8) nennt sie: „ ...ce magnifique fleuron marial, dont la suavité et la pureté de lignes viennent en droite ligne des grands maîtres de l’Italie profonde.” […dieses herrliche marianische Kleinod, das in der Anmut und Reinheit seiner Linienführung direkt auf die besten italienischen Meister verweist.] Auch Robert Münster (am bereits genannten Ort) versteht sie marianisch. Was darüber hinaus dem vertrauensseligen Leser an „Erläuterungen“ zur ganzen Motette in der Fachliteratur oder in CD-Beiheften vorgesetzt wird, das verdient, einmal an drei Zitaten demonstriert zu werden. Zitat 1: Carl De Nys schreibt im Jahr 1982 (in: La musique religieuse de Mozart. Collection Que sais-je? Nr 1986) : „Il ne s’agit pas d’un texte liturgique, mais sans doute d’un motet destiné au salut avec bénédiction solennelle pour la soirée; le 17 janvier était la fête du titulaire de l’Eglise des Théatins et le texte du larghetto (Tu virginum corona, tu nobis pacem dona) semble bien confirmer, qu’il s’agit d’une pièce dédiée à la ‚Reine de la Paix’.“ [Es handelt sich nicht um einen liturgischen Text, sondern ohne Zweifel um eine Motette, die bestimmt war für die Abendandacht mit feierlichem Segen; der 17. Januar war der Festtag des Patrons der Theatinerkirche und der Text des Larghetto (Tu virginum corona, tu nobis pacem dona) scheint zu bestätigen, daß es sich um ein Stück handelt, das der „Friedenskönigin“ zugeeignet ist.]
Zitat 2: Derselbe Carl De Nys, neun Jahre später (in: Marc Honnegger-Paul Prevost: Dictionnaire des oeuvres de l’art vocal. Bordes. 1991) : „Le texte latin non liturgique est parfaitement adapté à la fête du jour, Marie, reine de la paix, titulaire de cette église des Théatins. (...) Cette page, probablement destinée au salut vespéral au Saint-Sacrement, est un authentique chef d’oeuvre du compositeur, qui venait de fêter son 16e anniversaire.“ [Der lateinische, nicht-liturgische Text passt genau zu dem Fest des Tages, Maria, Königin des Friedens, Patronin dieser Kirche der Theatiner. (…) Das Stück, vermutlich für die Abendandacht zum hl. Sakrament bestimmt, ist ein echtes Meisterwerk des Komponisten, der eben die 16. Wiederkehr seines Geburtstages gefeiert hatte.] Zitat 3: Marie-Aude Roux (in: Guide de la Musique chorale sacrée et profane. De 1750 à nos jours. Fayard. 1993) bedient sich dieses Befundes, und bei ihr wird daraus: „Il ne s’agit vraisemblablement pas d’un texte liturgique à part entière, mais d’un texte se rapportant en ce 17 janvier à la fête du jour, celle de la titulaire de l’église, la Vierge Marie ”Reine de la Paix” (ainsi que le chantera l’andante Tu virginum corona, particulièrement beau et expressif.)“ [Es handelt sich wahrscheinlich nicht um einen in jeder Hinsicht liturgischen Text, sondern um einen Text, der sich auf das an diesem 17. Januar begangene Fest bezieht, nämlich der Patronin der Kirche, der Jungfrau Maria, „Königin des Friedens“ (so wie es das besonders schöne und ausdrucksvolle Andante Tu virginum corona aussagt.)] Wir überlassen dem Leser das Vergnügen, den Inhalt dieser Zitate miteinander zu vergleichen. Folgende Tatsachen seien in Erinnerung gerufen: a. Der 17. Januar ist auch in der ambrosianischen Liturgie der Tag des hl. Antonius des Mönchsvaters. Ein Marienfest gab und gibt es an diesem Tag nicht. b. Dieser hl. Antonius war und ist noch heute der alleinige Patron der Kirche Sant’Antonio Abate. Ein Kirchenpatrozinium Maria, Königin des Friedens, gibt es in der katholischen Kirche überhaupt erst im 20. Jahrhundert. (Weiteres hierzu bei der Besprechung der zweiten Arie). c. Der 17. Januar 1773 war ein Sonntag, genauer der 2. Sonntag nach Epiphanie, der demnach mit dem Fest des Kirchenpatrons zusammenfiel. Nicht nachgegangen sind wir der Frage, welche der beiden Feiern nach den Konkurrenzregeln der ambrosianischen Liturgie die andere verdrängt hat. Die Behauptung, der Text passe vollkommen ("parfaitement adapté”) für ein Marienfest, ist jedenfalls, wie wir noch sehen werden, völlig aus der Luft gegriffen. d. Aus der oben zitierten Definition von J.J. Quantz wissen wir, daß die Motette „unter (=während oder zu) der Messe, nach dem Credo gesungen wird“. Carl De Nys, der diese Definition ebenfalls zitiert, unterschlägt dabei bezeichnenderweise genau dieses Detail. Seine Information, Mozarts Werk sei in einer feierlichen Abendandacht mit sakramentalem Segen aufgeführt worden, erweist sich als Mystifikation. e. Zu Zitat 2, letzter Satz: Am 17. Januar 1773 stand Mozart genau 10 Tage vor der Vollendung seines 17. Lebensjahres, d.h. vor seinem „17e anniversaire“. Damit dürfte hinlänglich erwiesen sein, daß eine nähere, kritische Befragung des Motettentextes nach seinem Inhalt, seinem Sinn, seinem Ort im liturgischen Jahreskreis sich aufdrängt.
Der Text Erste Arie. F dur. Allegro. 4/4. 129 Takte. Exsultate, jubilate, Frohlocket, jubelt, o vos animae beatae! o ihr glücklichen Seelen! dulcia cantica canendo, Liebliche Lieder singend, cantui vestro respondendo, eurem Gesang antwortend, psallant aethera cum me. sollen lobpreisen die Himmel mit mir. Es ist eine Strophe aus fünf vierhebigen, trochäischen Zeilen. Die letzte ist katalektisch; sie wahrt das Reimschema aabba auf nur unreine Weise, kommt aber mit der Betonung auf der Schlußsilbe den Bedürfnissen des Komponisten entgegen. Der Reim jubilate – beatae kommt in der lateinischen Dichtung des Mittelalters und späteren Zeit häufig vor. In den Wörtern dulcia und cantui wären die Doppelvokale ia und ui nach dem Versmaß je als eine Silbe anzusehen. Mozart hat jedoch diese Worte dreisilbig vertont. Der bereits genannte neue Klavierauszug bringt dank einem Hinweis von Prof. Dr. Hans Musch, Freiburg, in den Takten 39 und 89 die richtige Silbenverteilung der Worte canendo und cantui in Übereinstimmung mit dem Autograph. Eine kritische Betrachtung des Inhalts führt zu folgenden Fragen: 1) Wer fordert zum Frohlocken und Lobpreisen auf? 2) Wer sind die glücklichen Seelen? 3) Wem gilt der Jubel und Lobpreis? 4) Was ist der Grund, der Anlaß zu der geforderten Freude? Wir kennen aus der Dichtung – von den Psalmen bis zur zeitgenössischen Lyrik – das Phänomen des aus dem eigenem Herzen zu sich selbst und zur ganzen Menschheit sprechenden „poetischen Ichs“. Dieses dürfen wir hier als Sprecher der Aufforderung zur allgemeinen Frohgestimmtheit ansehen. Die Antworten auf die übrigen Fragen werden sich aus den weiteren Ausführungen ergeben. Wir überspringen zunächst das nun folgende Rezitativ und untersuchen die
Zweite Arie. A dur. Andante. 3/4. 113 Takte Tu, virginum corona, Du, der Jungfrauen Kranz, tu nobis pacem dona. du, schenk uns (den) Frieden. Tu consolare affectus Du, lindere die Leiden unde suspirat cor. des seufzenden Herzens. Die Aussage ist klar: es ist ein Gebet erstens um Frieden, zweitens um Trost in menschlicher Not. Die Kommentatoren – es wurde bereits angedeutet – sind sich darin einig, in dem mit „virginum corona“ angeredeten Gebetsadressaten die Gottesmutter Maria zu erkennen. Dafür gibt es wohl nur die eine Erklärung, daß irgendwer einmal das Wort "corona" mißverstanden hat als Metapher für die erste, die erhabenste, alle andern übertreffende Jungfrau, - eben die „Krone der Jungfrauen“, - womit in christlich-geistlicher Poesie selbstverständlich die Jungfrau Maria gemeint wäre. Diese Fehlinterpretation, allgemein übernommen und weitergereicht, ist das Musterbeispiel eines „klassischen Irrtums“. Der Kenner liturgischer Texte weiß nämlich, daß die darauf folgende Bitte um das Geschenk des Friedens immer an Gott/Christus gerichtet wird, so z.B. im Agnus Dei der Messe: „Lamm Gottes, … gib uns den Frieden“, oder in der aus dem 9. Jh. stammenden Antiphon: „Da pacem, Domine“(In Martin Luthers Übersetzung: „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten. Es ist doch ja kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn du, unser Gott, alleine.“). Wenn wir Frieden nicht nur irdisch als Waffenruhe und Völkerverständigung verstehen, sondern in höherem Sinne als jenen Frieden, zu dem die Menschwerdung Gottes der Menschheit den Weg geöffnet hat, ist klar, daß nur der von Jes 9.6 verheißene Friedefürst ihn bringen, ihn geben kann, Christus selbst. An ihn richtet sich die direkte Bitte um Frieden. Maria, die Mittlerin der Gnaden, wird, wie in allen Anliegen, auch beim Gebet um Frieden nur um ihre Fürsprache angefleht. Die Identifikation „virginum corona“ gleich Jungfrau Maria muß demnach aus theologischen Gründen verworfen werden. (Zwar heißt es bereits in einer Marienlitanei des 12. Jh.: „Sancta Maria, Reformatrix pacis, ora pro nobis – Heilige Maria,Wiederherstellerin des Friedens, bitte für uns“; eine weitere Litanei aus der 2. Hälfte des 15. Jh. nennt Maria: „Sancta Mater pacis – Heilige Mutter des Friedens“. Aber erst im Jahr 1917, zur Zeit des ersten Weltkrieges, wurde durch Papst Benedikt XV. der Titel „Regina Pacis - Königin des Friedens“ in die Lauretanische Litanei eingefügt.(9). Das dürfte den Anstoß gegeben haben zu den dann erstmals auftretenden Kirchenpatrozinien unter dem Titel „Maria, Königin des Friedens“, so in Neviges, München-Giesing, Osnabrück, Göttingen usw.) Heißt das, daß mit „der Jungfrauen Krone“ Christus selbst gemeint ist? – So ist es! Mehrere Stellen des Neuen Testaments sprechen vom „Kranz des Lebens bzw der Herrlichkeit.“ 2 Tim 4,8: „Schon jetzt liegt für mich der Kranz der Gerechtigkeit bereit, den mir der Herr, der gerechte Richter, geben wird.“ - Jak 1,12: „Denn wenn er sich bewährt, wird er den Kranz des Lebens erhalten, der denen verheißen ist, die Gott lieben.“ - 1 Petr 5,4: „Wenn dann der oberste Hirt erscheint, werdet ihr den nie verwelkenden Kranz
der Herrlichkeit empfangen.“ - Offb 2,10: „Sei treu bis in den Tod; dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben.“ Im „Canticum Canticorum“ (Das Hohelied) heißt es 4,8: „Veni de Libano, sponsa, veni de Libano, veni coronaberis“ – „Komm vom Libanon, meine Braut, komme vom Libanon, ich werde dich bekränzen.“ Zwar steht das Wort „coronaberis“ nur in der Textfassung der Vulgata. In späteren Bibelausgaben, die auf dem hebräischen Originaltext beruhen, fehlt eine diesem Wort entsprechende Übersetzung. Ob diese Einfügung unter dem Einfluß der zitierten neutestamentlichen Stellen vorgenommen wurde, wie man mutmaßen könnte, mögen Bibelexegeten prüfen. Die kirchliche Überlieferung hat aber seit jeher in der Braut des Hohenliedes das Bild der Kirche bzw. der christlichen Seele gesehen, die vom „König“, d.h. Christus, zur mystischen Hochzeit gerufen wird. Das Aufsetzen des Kranzes steht sinnbildlich für die Aufnahme in die ewige Herrlichkeit, für die Vereinigung mit Gott. So verwundert es nicht, wenn mehrere Hymnen der christlichen Frühzeit Christus in poetischer Bildersprache als „corona“ anrufen: „Rex gloriose martyrum, corona confitentium. - Glorreicher König der Märtyrer, Krone der Bekenner.“(10) „Jesu redemptor omnium, perpes corona caelitum. - Jesu, unser aller Erlöser, ewige Himmelskrone.“(11) „Deus, tuorum militum sors et corona, praemium. - O Gott, deiner Diener Los, Krone und Belohnung.“(12) Ein dem großen Mailänder Bischof Ambrosius zugeschriebener Hymnus beginnt ausdrücklich mit den Worten: „Jesu, corona virginum.“(13) Bei der folgenden Bitte um Trost dürfte wohl mancher luxemburgische Musikfreund, durch Carl De Nys nun mal auf Maria verwiesen, an den Titel denken, unter dem Maria in seiner Heimat verehrt wird: Consolatrix afflictorum – Trösterin der Betrübten. Der Arientext erlaubt aber nicht anzunehmen, die zwei Bitten seien an verschiedene Adressaten gerichtet, die erste an Christus, die zweite an Maria. So liegt es näher, bei den Worten „consolare affectus unde suspirat cor“ an den Heiligen Geist zu denken, den Christus in Joh 14, 16 und 26 als Beistand (Paraklet; früher übersetzte man: Tröster) in Aussicht stellt, und den die Pfingstsequenz „Veni, sancte Spiritus“ anruft mit den Worten: „Consolator optime, dulcis hospes animae, dulce refrigerium – Bester Tröster, süßer Gastfreund der Seele, der kühle Labung bringt.“ Bemerkenswert ist auch, daß der Arientext das Begriffspaar: Frieden und Herz, aufgreift, übereinstimmend mit dem Evangelientext: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“ (Joh 14,27) Etwas kühn mag die Vermutung sein, der Texautor habe das dreimalige „Tu“ als poetisch- rhetorischen Kunstgriff gebraucht, um, ohne sie ausdrücklich zu nennen, die Hl. Dreifaltigkeit anzudeuten. Jedenfalls dürfen wir, (bessere Belehrung abwartend,) Christus, bzw. Gott in seiner Dreifaltigkeit als den Adressaten des Gebets der zweiten Arie identifizieren.
Dritte Arie: Alleluia. Fdur. (Molto allegro). 2/4. 159 Takte Der Beginn des Alleluia (Eulenburg Taschenpartitur Nr. 1022). Man bemerke die Quintenparallelen in Takt 22. Eine Unachtsamkeit Mozarts bei der Niederschrift? Die 7 in der Bezifferung lässt vermuten, daß er die Stelle anders gedacht haben könnte. Drei Takte, die vom Adur der zweiten Arie zur Grundtonart Fdur zurückführen, leiten über zum brillanten Schlußstück, dessen Text aus dem einzigen Wort Alleluia besteht. In der letzten Silbe
dieses Wortes – und damit des ganzen Motettentextes – verbirgt sich der Name Gottes: Hallelu - Jah(we). Preiset Gott. Für unsere Überlegungen könnte dieser Hinweis genügen, einmal, um die bei der Betrachtung der ersten Arie offengebliebene dritte Frage, wem der Lobpreis gelte, zu beantworten und zum zweiten, um zu beweisen, daß die Motette jedenfalls geistlich zu deuten ist. Exkurs über Halleluja Darüber hinaus verdient es das Wort, man könnte sagen, das „Phänomen“ Halleluja (wir verwenden jetzt die heute übliche Schreibweise), Gegenstand einiger Anmerkungen zu sein, die dessen Sinn und Wert ins rechte Licht rücken sollen. 1) Indem wir dieses Wort unübersetzt und fast im Originalklang aus dem Hebräischen beibehalten haben, sollten wir es mit Dankbarkeit als eine lebendige Erinnerung und stete, leider vielfach überhörte Mahnung an das jüdische Substrat des christlichen Glaubens hochschätzen. 2) Seit zwei Jahrtausenden singt die Kirche das Halleluja, „das schönste, älteste und kürzeste Lied, das sie kennt, ... die Erkennungsmelodie eines Christen"(14). Sie hat es mit dem Psalmengesang aus der Synagoge übernommen, und es dann zunächst als österlichen Jubelruf sich zu eigen gemacht. Unzählige Chormotetten von Desprez über Palestrina, Schütz bis Bachs Lobet den Herrn (BWV 230) enden mit freudig beschwingten Halleluja-Sätzen. Mozart hat drei Regina Caeli-Vertonungen geschaffen (KV 108, 127 und 276), die mit ihren immer wiederholten Hallelujarufen zu den schönsten Werken seiner frühen Kirchenmusik gehören. Von Haendels Halleluja aus dem Messias über dessen etwas aufgebauschte Kopie im Triumphlied von Brahms bis hin zu den überwältigenden Schlußtakten von Hindemiths Mathias der Maler-Symphonie, die den Hallelujagesang aus dem sechsten Bild der gleichnamigen Oper aufgreifen, zieht sich durch die ganze Musikgeschichte in Tönen schlichter Freude wie in feierlichem Pomp ein unaufhörliches Halleluja-Singen und -Klingen. 3) Als im Laufe der Zeit die Messliturgie feste Formen annahm, gab die Kirche dem Halleluja in derselben einen privilegierten Platz. Vergleichbar dem Sanctus, das in der Eucharistiefeier vor der Wandlung erklingt, steht das Halleluja vor dem Höhepunkt des Wortgottesdienstes, wo es als Christus-Akklamation die feierliche Verkündigung seines Wortes im Evangelium vorbereitet. Die Sänger des frühen Mittelalters verströmten sich dabei förmlich in unendlich langen Jubilus- Melismen. Diese führten zur Entstehung von über tausend Sequenzen, aus denen sich im hohen Mittelalter wieder die ersten kirchlichen volkssprachlichen Gesänge entwickelten. Es wäre zu wünschen, nur ein Fünkchen dieser überfließenden Kreativität, die sich am Halleluja entzündete, würde auch heute noch die Kirchenmusiker beleben. Blankes Entsetzen überkommt einen, wenn man die Rat- und Hilflosigkeit, oder, was schlimmer wäre, das Unwissen vieler musikalischer „Gestalter” gerade an dieser Stelle der Messe feststellen muß. Wie oft erlebt man, daß hier, wenn überhaupt was, dann irgend was, egal was gesungen wird, nur kein Halleluja, und das, obwohl so viele Kantoren- und Hallelujabücher, sonstige liturgische Hilfsliteratur und fertige Programmvorschläge zur Verfügung stehen. (Nachtrag: Dieser bittere Befund ist Gott sei Dank nicht überall angebracht.) 4) Und als letztes: Das Halleluja ist ein sängerfreundliches Wort wie kaum ein anderes. Seine vier klanggebenden Vokale bieten eine repräsentative Auswahl der Selbstlaute, das l fördert die
Lautbildung vorne im Mund, der h-Anlaut und das konsonantische i begünstigen den Tonansatz. Es gibt Chorleiter, die gerne und häufig ihre Sänger Stimmübungen auf dieses Wort singen lassen. Wer darin Mißbrauch heiliger Dinge sieht, hat nichts verstanden. Es ist natürlich reine Konjektur, aber ein schöner Gedanke, sich vorzustellen, es seien die Sänger gewesen, die sich wegen der gesanglichen Griffigkeit des Wortes in der christlichen Frühzeit gegen einen Übersetzungsersatz gewehrt hätten. ******* In der italienischen Oper des Barocks dienen die Arien und Ensembles dem Ausdruck der Affekte der Gefühle; die Rezitative erzählen die Geschehnisse, stellen die dramatischen Situationen vor, aus denen die Gemütsbewegungen der handelnden Personen sich ergeben. Dürfen wir, entsprechend diesem Grundmuster, nun von dem Rezitativ Auskunft und Aufklärung erhoffen über Deutung und Intention von Mozarts Motette? Das Rezitativ Ddur. 12 Takte Fulget amica dies, Es strahlt ein freundlicher Tag, iam fugere et nubila et procellae; gewichen sind Gewölk und Gewitter; exortus est iustis inexspectata quies. aufgegangen ist den Gerechten unerwartete Ruhe.*) Undique obscura regnabat nox. Ringsum herrschte finstere Nacht. Surgite tandem laeti Erhebt euch aber jetzt in Freuden, qui timuistis adhuc, die ihr in Angst wart bisher, et iucundi aurorae fortunatae und wohlgemut dem seligen Morgenlicht frondes, dextera plena, et lilia date. Kränze, mit vollen Händen, und Lilien bringet dar. *) Zur Übersetzung dieser Zeile später noch Genaueres
Das Rezitativ mit dem Originaltext und der Salzburger Textfassung (Klavierauszug der Neuen Mozart- Ausgabe mit korrigierter Textverteilung)
Der Text des Rezitativs stellt uns eine jener Naturidyllen vor Augen, wie sie in Dichtung und bildender Kunst nicht nur des 18. Jahrhunderts häufig vorkommen. In einer idealen Landschaft sieht man im Westen dunkle Gewitterwolken abziehen, von Osten künden die Strahlen der Sonne einen schönen Tag. Ein Hausvater beruhigt und ermuntert seine von der stürmischen Nacht verschreckten Hausgenossen; junges Volk springt bereits um den Altar der Göttin Aurora (um ein Marienbild?), streut Blumen, windet Kränze. Wer von einer christlich-geistlichen Deutung des Motettentextes nichts wissen will – nur dem Gaumen des Glaubens schmeckt Gottes Honig, sagt Augustinus(15) – der mag sich getrost mit dieser Vorstellung eines Naturschauspiels begnügen. Mehr bedarf es nicht, um den Text in sinnvollem Einklang mit Mozarts Musik zu hören. Die erste Arie ist dann ein froher, von Dankbarkeit erfüllter Morgengesang nach einer schrecklichen Sturmnacht, die zweite Arie versteht man als Wunsch, der Tag möge so friedlich und heiter verlaufen, wie er begonnen. Allenfalls kann man die Sturmnacht als Bild innerer Unruhe verstehen. Der Wechsel von Nacht zu Tag, gerne in Verbindung gebracht mit dem Eintreten friedvoller Stille nach Besänftigung entfesselter Naturgewalten, ist eine uralte Metapher, die gerade in der Zeit der Aufklärung selbstgefällig angewandt wurde, um deren Sieg über das ach! so finstere Mittelalter zu feiern. Als in der Folge die Kunst sich von Hof und Kirche emanzipiert und anhebt, für viele zum Religionsersatz zu werden, kann Beethoven mit dem Text seiner Chorfantasie op. 80 ihre Vergöttlichung besingen. Das geschieht vermittels derselben Bilder, mit Worten, die sich an vielen Stellen anhören, als seien sie aus Mozarts Motette ins Deutsche übersetzt worden. ******* Wie aber hat Mozart den Text verstanden? Jeder Versuch einer Antwort auf diese Frage bleibt Spekulation. Wir können uns allerhöchstens, etwas romanhaft, folgende Situtation vorstellen. Die Mailänder Theatiner nutzen die Anwesenheit des jungen Maestro – und des gefeierten Sängers – in ihrer Stadt, um das bevorstehende Fest ihres Kirchenpatrons musikalisch auszuzeichnen. Ein Pater, vielleicht aus Bayern oder dem Salzburger Land stammend, übermittelt dem Komponisten den Auftrag. Das tut er, nicht ohne eine ausführliche Katechese über den ausgewählten Text an den Mann zu bringen. Bevor wir dieser Szene beiwohnen, lassen wir uns Zeit für die angekündigte Anmerkung zu der Zeile: „exortus est iustis inexspectata quies“ aus dem Rezitativ. Wir übersetzten oben „exortus est“ als Satzprädikat und lasen demnach inexspectata quies als Satzsubjekt. Das aber wäre richtig nur, wenn im Text die weibliche Form „exorta est“ stehen würde. Die 20-bändige Taschenbuchausgabe der Neuen Mozart Ausgabe bringt tatsächlich diese Korrektur, nachdem 1978 der Autor dieser Zeilen die Herausgeber auf die Stelle aufmerksam gemacht hatte. Der bereits erwähnte, von Robert Münster herausgegebene Klavierauszug hat wieder (oder noch?) „exortus“. Liest man dagegen „exortus“ als Substantiv und Satzsubjekt, und übersetzt: Der Aufgang (der Sonne) ist (bringt) den Gerechten unerwartete Ruhe – dann fällt zunächst der Gebrauch der einfachen Copula „est“ als Satzprädikat störend in Auge und Ohr. Angesichts des im übrigen Text der Motette so sinnträchtigen, anschaulichen Verbvokabulars wirkt sie seltsam blass.
Stellen wir einmal den vier ersten Zeilen des Rezitativs Lk 1, 78-79 zur Seite: „... wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens.“ Im griechischen Urtext steht für aufstrahlendes Licht „anatolè“ d.h. der Aufgang (eines Gestirns, lat. ortus oder exortus). Das ist ein Titel des Messias, „des Sterns, der in Jakob aufgeht” (Num 24, 17), der von Jesaia verkündet wird: „Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Dunkel die Völker, doch über dir geht leuchtend der Herr auf, seine Herrlichkeit erscheint über dir“ (Jes 60, 1-2). Müssen wir noch sagen, daß wir nun, nach Aufdeckung dieser Zusammenhänge, der zweiten Übersetzung den Vorzug geben und das sowieso im Autograph stehende „exortus“, als Substantiv verstanden, als die richtige Lesart ansehen? Erwähnen wir noch der Vollständigkeit halber die aus mehreren Gründen nicht überzeugende Variante aus: Das Buch der Lieder und Arien(16). Dort liest man: Exortis es iustis inexspectata quies – Du bist den aufer-(ge)standenen Gerechten unerwartete Ruhe. Nicht uninteressant ist ferner die Feststellung, daß die letzten Worte des Rezitativs: „frondes, dextera plena, et lilia date“ deutlich anklingen an Vergil, Aeneis VI, 883/4: „Manibus, date, lilia plenis purpureos spargam flores“. ******* Hören wir nun, wie der Theatinerpater den geistlichen Kern aus der doch recht rätselhaften Schale der Worte herauslöst, und wie er, über die bereits gegebenen Hinweise hinaus, die tiefe Verwurzelung des Vokabulars in den Texten der Liturgie aufzeigt. „Der Text der Motette, die du für uns komponieren sollst, ist eine Allegorie, ein Gleichnis. Das helle Tageslicht nach der finsteren Nacht ist ein Bild für das Erscheinen des Erlösers nach dem langen Warten auf den Messias. Der Messias ist die Sonne der Gerechtigkeit, die aufgeht für die, die Gottes Namen fürchten, wie Maleachi 3, 20 sagt, oder wie es im Psalm 96 (Vulg.) Vers 11 heißt: „das Licht, das den Gerechten erstrahlt und Freude bringt den Menschen mit redlichem Herzen.“ Diese Gerechten sind die glücklichen Seelen, die mit Worten des 94. Psalms aufgefordert werden, ihre Freude kund zu tun: „Venite, exsultemus Domino, iubilemus Deo salutari nostro ... in psalmis iubilemus ei.“ [Kommt, laßt uns jubeln vor dem Herrn und zujauchzen dem Fels unseres Heiles! …Laßt uns vor ihm jauchzen mit Liedern!] Aber nicht nur sie, die ganze Schöpfung soll mitjauchzen, wie wir im Psalm 95, 11-13 singen: "Laetentur caeli [Der Himmel freue sich ... wenn er kommt.] Der Dichter schreibt im heutigen humanistischen Zeitgeist Aether für Himmel.” Runzeln der Mißbilligung legen sich auf die Stirn des frommen Paters, als er fortfährt: „Auch mit seiner Aufforderung, der Aurora Blumen zu bringen, stellt er uns antikisierend die heidnische Göttin vor Augen, als ob Vergil und Ovid ihr nicht oft genug gehuldigt hätten. Freilich weiß jedermann, daß auch die christliche Poesie das Bild der Morgenröte gebraucht, um die der Menschwerdung Gottes vorausgehende einzigartige Erwählung der heiligen Jungfrau Maria zu bezeichnen. „Solis praevia aurora fulgida“ – Du Frühglanz vor der Sonne her, nennt man sie in vielen Hymnen, und in der neuen Kirche der Zisterzienser zu Wilhering(17) steht die schöne Inschrift al fresco gemalt: „Aurora rutilans novi diluculi – Schimmernde Morgenröte des neuen Tages.“ Solltest du, mein lieber Wolfgang, wenn du der „aurora fortunata“ eine Notengirlande komponierst, dabei an Unsere Liebe Frau denken, ist dagegen nichts einzuwenden. Ich für
meinen Teil erinnere mich des lichterfüllten Hymnus „In Aurora“ unseres großen Bischofs Ambrosius, der mit den Worten beginnt: „Splendor paternae gloriae – Du Abglanz von des Vaters Pracht"(18). Seine letzte Strophe lautet: Aurora cursus provehit; Das Morgenrot steigt höher schon, Aurora totus prodeat, wie Morgenrot geh Er uns auf: In Patre totus Filius in seinem Vater ganz der Sohn Et totus in Verbo Pater. und ganz der Vater in dem Wort. Du darfst also „aurora“ getrost als figura für Christus verstehen, der für uns Morgen und nie endender Tag der neuen Schöpfung ist. Unerwartet kommt er, weil das Hoffen der Menschen das Ende des Wartens nicht voraussehen konnte. Jetzt aber ist Ruhe in der Gewißheit der Erlösung, in der Geborgenheit von Gottes Frieden ...” „Warum muß denn noch um Frieden und Trost gebetet werden, wenn doch schon alles da ist?” Wolfgang war über den langatmigen Erklärungen des Paters ungeduldig geworden. Er hatte weiter gelesen im Text und seinem Gespür für dramaturgische Folgerichtigkeit – der junge Mann hatte immerhin bereits ein halbes Dutzend Bühnenwerke komponiert – war ein Widerspruch zwischen dem Inhalt der zweiten Arie und der eben gehörten Deutung des vorhergehenden Textes aufgefallen. Der Pater setzt wieder an: „Christus ist nach seiner Menschwerdung, nach Opfertod und Auferstehung zu seinem Vater zurückgekehrt. Wir aber sind noch den menschlichen Unzulänglichkeiten des irdischen Daseins ausgesetzt. Da steht es uns wohl an, um seine Gnade und um den Beistand des Heiligen Geistes zu beten, bis die Bitte des Vaterunsers sich erfüllt und er in Herrlichkeit wieder kommen wird, seine Herrschaft endgültig ...” „Ja, und das Alleluia ist die Vorfreud‘ drauf. Ho capito, Padre, Addio!” Er winkte zum Gruß mit dem zusammengerollten Blatt und war weg. Der Pater war baff. Eben wollte er noch mit manchen erbaulichen Zitaten aus den Kirchenvätern seine Ausführungen zusammenfassend abschließen, aber der Blitzkerl hatte mit dem einen Wort von der Vorfreud‘ alles gesagt.
Anhang I : Die Salzburger Textfassung Im Jahr 1978 wurde in der Stadtpfarrkirche St. Jakob zu Wasserburg am Inn eine Stimmenabschrift der Motette Exsultate, Jubilate gefunden, die aus der Salzburger Dreifaltigkeitskirche herstammt, und die eine zum Teil andere Textierung aufweist. In der ersten Arie stehen an Stelle der Zeilen drei bis fünf folgende Worte: Summa Trinitas revelatur Die höchste Dreifaltigkeit offenbart sich Et ubique adoratur; und wird überall angebetet; Summa Trias adoratur, die höchste Dreieinigkeit wird angebetet; date illi gloriam. erweist ihr Ehre. Für Summa Trinitas revelatur gibt die Gesangstimme noch eine weitere Variante an: Caro factus, factus homo – Fleisch geworden, Mensch geworden. Die zweite Arie nebst Alleluia stimmt mit der Mailänder Urfassung überein, während das Rezitativ bei unveränderter Musik einen neuen Text hat. Tandem advenit hora Die Stunde ist gekommen qua Deum colimus Gott zu verehren in spiritu et veritate, im Geist und in der Wahrheit, et nomen illius magnum sein Name ist groß in omni loco est. an jedem Ort. Debitum iam illi sit sacrificium; Ihm opfern sei uns Pflicht; sed per Mariam aber durch Maria accedamus in fide haben wir Zugang im Glauben ad fontem gratiae, zum Quell der Gnade, ad thronum misericordiae, zum Thron des Erbarmens, ut magis acceptabile daß unser Dienst ihm sit hoc obsequium. wohlgefällig sei.
In einem Referat zur Tagung vom 29.-30. Mai 1981 der Mitarbeiter an der Neuen Mozart- Ausgabe schreibt Hellmut Federhofer: „Offenbar war Leopold Mozart an der neuen Textierung beteiligt, und sie erfolgte vielleicht auf seine Anregung hin oder ohnehin durch ihn selbst, obwohl seine Hand nur im Titel und in Tempoüberschriften begegnet”. Leopold Mozarts Namen wird mit dieser Unterstellung keine Ehre erwiesen, allzu uninspiriert ist der Inhalt, allzu mangelhaft die Textanpassung an die Gesanglinie. Ganz abgesehen davon, daß auch der ferventeste Muttergottesverehrer Anstoß daran nehmen muß, daß in dem aus Röm 5, 2 (... durch Jesus Christus, unsern Herrn, haben wir auch den Zugang zu der Gnade erhalten ...) entlehnten Zitat Maria für Christus eingesetzt wurde. Anhang II : „Venti, fulgura, procellae“, ein Schwesterwerk ? In den Acta Mozartiana (Jahrgang 18, 1971, Heft 1) berichtet Carl De Nys von der Auffindung einer Solomotette für Sopran und Orchester „Venti, fulgura, procellae“ in der Universitätsbibliothek von Brünn, die den Namen Mozarts als Komponisten trägt und mit einem Datum versehen ist, dessen zwei letzte Ziffern wegen nachträglicher Änderungen nicht eindeutig zu lesen sind: „d. 6. Marzo 17??“. Es handelt sich um eine nicht von Mozarts Hand stammende, aber zeitgenössische Abschrift. Carl De Nys selbst hat die Partitur im Doblinger-Verlag herausgegeben. (Diletto Musicale 567, 1972) Der Text dieser Motette weist inhaltliche wie stilistische Verwandtschaft mit dem von „Exsultate, jubilate“ auf. Die erste Arie gebietet den „Winden, Blitzen, Stürmen“ zu schweigen und bittet die Sterne, den Weg zum Paradies, zum ewigen Leben zu erhellen. Das Rezitativ schildert zuerst die Schrecken des Meersturms, um dann, bei besänftigten Wellen, die Erleichterung bei der Ankunft im sicheren Hafen auszudrücken. Freude über den wiedergewonnenen Frieden und die neu erweckte Gottesliebe sind der Inhalt der zweiten Arie, der selbstverständlich ein festliches Alleluja folgt. Der Text drückt demnach, wenn auch mit Hife anderer Bilder, dasselbe Motiv aus wie die oben besprochene Motette; die vom ewigen Leben und von der Gottesliebe redenden Stellen lassen keinen Zweifel darüber, daß er geistlich zu interpretieren ist. Die Komposition entspricht, genau wie „Exsultate, jubilate“, formal der Definition der Motette von J.J. Quantz. Der auffallendste äußerliche Unterschied zwischen den beiden Werken zeigt sich in den Rezitativen: Im Gegensatz zur schlichten Secco-Begleitung im Mailänder Werk weist der Brünner Fund ein dramatisch auskomponiertes Orchester- Accompagnato auf. Carl De Nys, obwohl er vorsichtshalber die in solchen Fällen gebotenen Vorbehalte anführt, bricht eine Lanze für seine Überzeugung, daaß es sich um ein echtes Werk Mozarts handelt. Indem er von den möglichen Lesarten der Jahreszahl auf der aufgefundenen Partitur, nämlich 1770, 1773, 1779 und 1780, mit guten Gründen das Jahr 1773 zurückbehält, rückt er es zeitlich
in die Nähe von „Exsutate, jubilate“ und mutmaßt eine Aufführung am 6. März des genannten Jahres in Verona, wo Vater und Sohn Mozart auf der Heimreise von Mailand aus Station machten. Hierzu schreibt er: „Im damaligen Kalender wurde am 6. März das Fest der hl. Märtyrinnen Felizitas und Perpetua gefeiert: Der Text der Motette „Venti, fulgura, procellae“ könnte beiden in den Mund gelegt werden.“ Auch hier haben wir es mit einer Mystifikation zu tun. Das Fest der beiden heiligen Frauen war damals, wie auch heute wieder, nicht am 6., sondern am 7. März, dem von der römischen „Depositio Martyrum“ und von dem syrischen Brevier bezeugten Tag ihrer Beisetzung. Weil es an dem Tag mit dem Fest des hl. Thomas von Aquin zusammenfiel, wurde es 1908 (!) auf den 6. März verschoben. Der neue römische Kalender von 1970 verlegte aber den Aquinaten auf den 28. Januar; die Verschiebung des Fests der beiden Märtyrinnen auf den 6. März aus dem Jahre 1908 wurde gleichzeitig wieder rückgängig gemacht.(19) Sogar wenn wir, Carl De Nys entgegenkommend, das Datum des „6. Marzo“ auf der Partitur als Kompositionsdatum annehmen und uns die Aufführung am 7. März vorstellen - man komponierte damals behender als heutzutage – kann man sich doch des Eindrucks nicht erwehren, es stelle für ihn kein Problem dar, jeden beliebigen Text jedem beliebigen Heiligen in den Mund zu legen. Der Beginn der Arie „Gaude, cor meum“ mit dem beanstandeten Quartsextakkord in Takt 5. Seine chronologische Einordnung der Motette versteht Carl De Nys übrigens ausdrücklich als Hypothese. Für die von ihm verfochtene Echtheit des Werkes gab es aber auch andere Befürworter unter den verantwortlichen Mitarbeitern der Neuen Mozart-Ausgabe. Der im
Mozart-Jahrbuch 1971/72 veröffentlichte Bericht der darüber geführten Diskussion gibt ausführlich die Gründe an, die nach Meinung des Hauptreferenten Hellmut Federhofer dafür sprechen. Er findet nichts, „was aus stilkritischen Erwägungen heraus gegen Mozarts Autorschaft spricht“, und hält die Echtheit des Werkes „für sehr wahrscheinlich“. Die Kontra-Stimmen unter den Wortmeldungen werden im Bericht nicht aufgeführt, lediglich die zusammenfassende Schlußbemerkung ist deutlich negativ. In ihr gehen grundsätzliche Überlegungen zur Frage der Echtheit bei unsicher überlieferten Werken im allgemeinen Hand in Hand mit Hinweisen auf Schwächen dieser Komposition im besonderen. Die genannten Schwächen werden in Pauschalurteilen namhaft gemacht, die, weil ohne nachvollziehbaren Bezug zur Partitur, sich dem Vorwurf der Subjektivität wohl nur schwer entziehen können. Der einzige konkrete, in der Partitur überprüfbare Einwand ist überdies leicht zu widerlegen. Er weist hin „auf ein Phänomen wie der überaus störende (und „unmozartische“) Quartsextakkord in Takt 5 der Einleitung (der Arie „Gaude, cor meum“)“, ein Phänomen, das sich übrigens in den Takten 29, 69 und 77 wiederholt. Wer an dieser Stelle Anstoß nimmt, muß sich fragen lassen, ob ihm die nicht seltenen Stellen in Werken Mozarts, Bachs und ihrer Zeitgenossen entgangen sind, die dasselbe Phänomen aufweisen. Übrigens: in der Generalbaß-Bezifferung steht zu dem Baßton Fis eine 6, der Komponist meint demnach den Sextakkord mit der Terz a; die beanstandete Quarte (das h der Bratsche) ist nur stimmführungsbedingter Durchgangston. Derselbe Durchgangs-Quartsextakkord in Takt 39 des Menuetts der C dur Symphonie, KV 551. Dies „unmozartisch" zu finden, verbietet sich bei einem Vergleich mit Takt 39 des Menuetts der „Jupiter-Symphonie“ – des sublimsten aller Menuette, - dort steht eine exakte Parallele. — Das Werk wurde nicht in die Neue Mozart-Ausgabe aufgenommen.
Anmerkungen 1) Mozart. Briefe und Aufzeichnungen. Hrsg. von der Intern. Stiftung Mozarteum, Salzburg. 2) Mozart. Dokumente seines Lebens. Hrsg. von O.E. Deutsch. dtv dokumente 1963. 3) Musik in Geschichte und Gegenwart . (MGG) 1963/1989. Bd 11, Sp. 54. 4) Carus CV 40.767/03 und Bärenreiter BA 4897a. 1990. 5) Mozart. Sein Leben und seine Werke. 1948. 6) Im Vorwort der Taschenpartitur. Eulenburg Nr. 1022. 7) Mozart. La Vita. Scritti e appunti. 1945/1975. Feltrinelli 1975. 8) Mozart. L’Amour, la Mort. Librairie Séguier. 1987. 9) Dom M. Boval O.S.B.: Les Litanies de Lorette. Ed. J. Dupuis. Charleroi. Paris. 1946. 10) Te decet hymnus. L’innario della ”Liturgia horarum”. A cura di Anselmo Lentini. Typ. Polygl. Vat. 1984. Oder: Les hymnes de Liturgia horarum. Desclée-Mame. 1990. - Nr. 255. VI Jh. 11) ebenda. Nr. 276. VIII. Jh. 12) ebenda. Nr. 262. V-VII. Jh. 13) ebenda. Nr. 275. 14) Kardinal J. Meisner. Predigt am Dt. Katholikentag 1990. In: Gottesdienst Nr. 13/1990 15) Enarr. in Ps. XCVI, 1. 16) Winkler Verlag 1956 17) Bei Linz an der Donau, erbaut 1734-1748 18) wie 10) Nr. 16. Übersetzung aus: Feier des Stundengebetes für die kath. Bistümer des deutschen Sprachgebietes. 19) Nachkonziliare Dokumentation Band 20. Der Römische Kalender. Paulinus Verlag Trier, 1969
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