Musik zur Sprache bringen - SWR2 Essay - Wolfgang Rihm ...

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SWR2 Essay
Musik zur Sprache bringen
Wolfgang Rihm zum 70. Geburtstag

Von Ulrich Mosch

Sendung: Sonntag, 13.03.2022
Redaktion: Lydia Jeschke
Produktion: SWR 2022

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Sprecher: Doris Wolters, Sebastian Mirow, Ulrich Mosch
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[Musik 1]
Wolfgang Rihm: Frage
Dauer: 55‘‘

Trotz manchem bei einem ersten Hören vielleicht Befremdlichen: dem Ohr scheint diese
Musik aus der Feder Wolfgang Rihms vergleichsweise leicht zugänglich und unmittelbar
nachvollziehbar. Eine weich timbrierte, nur gelegentlich unterbrochene Linie von
Englischhorn, Baßklarinette, Bratsche und Violoncello unisono, die sich ziellos durch eine
zerklüftete Landschaft vorwiegend perkussiver Klänge von Harfe, Klavier, Schlagzeug,
Violoncello und Kontrabaß schlängelt. Auf unserem Hörweg durch diese Landschaft reihen
sich Klangereignisse unterschiedlicher Art und Intensität aneinander. Entwicklung gibt es
nicht, nur hier und da eine kleine klangliche Geste, aber ohne Fortsetzung. Auch die Linie
entwickelt keine vorwärtstreibende Dynamik. Der Hörweg zeichnet sich aus durch fast
gänzliche Unvorhersehbarkeit: ständig tut sich Neues auf, selbst wenn uns gelegentlich auch
einmal ein Klang wiederbegegnet. Aufs ganze gesehen bleibt die Musik statisch.
       Solch detaillierte Beschreibung von Musik − hier eines Ausschnitts von Frage für
Ensemble aus dem Jahre 2000 in einer Aufnahme mit dem Ensemble Recherche − setzt bei
Hörerin und Hörer, damit ihnen die Worte etwas sagen, entweder eine große Vertrautheit mit
dem klingenden Werk voraus, oder sie bedarf wenigstens einer halbwegs frischen
Hörerinnerung. Jeder Versuch, den noch nicht gehörten Rest dieses Abschnitts allein mit
sprachlichen Mitteln evozieren zu wollen, so daß Sie eine klare Vorstellung davon bekämen,
wäre daher aussichtslos: Zu weit entfernt sind die Worte von dem, was diese Musik ausmacht.
Selbst im besten Falle könnte die sprachliche Evokation von Musik diese nicht ersetzen. Sie
bliebe, was sie ist: eben sprachliche Evokation, wäre nicht die Sache selbst. In ihrer ganzen
Fülle und Komplexität ist Musik und insbesondere musikalische Kunst nur klingend
erfahrbar.
       Warum dann überhaupt versuchen, Musik wie jene von Wolfgang Rihm zur Sprache
zu bringen? Wir könnten es doch bei der Aufforderung belassen: »Hören Sie einfach zu!« und
die Werke in Gänze zu Gehör bringen. Es gibt aber gute Gründe, den Versuch zu machen:
− Da ist zunächst das Musikhören selbst, wenn es denn mehr sein soll, als − wie so oft −
musikalische Klänge bloß als ein besseres Hintergrundgeräusch zu registrieren. Hören als
Nachvollzug eines musikalischen Werkes ist ein komplexer Vorgang, der nicht nur auf den

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Augenblick jetzt, auf die unmittelbare Gegenwart, beschränkt ist, in der ich das Stück höre:
Hören in diesem Sinne erfordert meine Aktivität, ruft Erinnerungen auf, mobilisiert Wissen
und frühere Erfahrungen, weckt Emotionen, Begeisterung oder vielleicht auch Widerwillen.
Was im einzelnen passiert und wie sich musikalisch eines zum anderen verhält, ist für uns nur
ganz zu verstehen, wenn wir die Musik hörend vollziehen. Sie zur Sprache zu bringen kann
uns das Verständnis erleichtern, gelegentlich auch überhaupt erst ermöglichen.
− Auch wenn wir uns nicht mit dem So-Sein der Musik, so wie sie eben ist, bescheiden
wollen, nicht mit einfachen ästhetischen Urteilen: dies sei gut und jenes schlecht, schön oder
häßlich, berührend oder gänzlich uninteressant − um argumentieren zu können, müssen wir
versuchen, die Musik auf Begriffe zu bringen, sie verstehend zu durchdringen. Schon der
einfachste Versuch, ein ästhetisches Urteil über ein Werk zu begründen, setzt voraus, daß wir
einzelne Aspekte benennen.
− Und nicht zuletzt: Der begrifflichen Anstrengung bedürfen wir, um das Besondere an einer
Musik zu erfassen, und zwar in doppelter Hinsicht: das für den Komponisten
Charakteristische, seine Handschrift, seine Sprache, sein Idiom einerseits und das Zeittypische
andererseits, das heißt warum es sich dabei vielleicht um Musik von heute und nicht um
solche von gestern oder vorgestern handelt.
       Sprechen über Musik kann und will deren klingende Erfahrung keinesfalls ersetzen.
Sie kann aber den sinnlichen Vollzug erleichtern und das Verständnis vertiefen.

Zur ästhetischen Erfahrung des eingangs gehörten Ausschnitts aus dem Ensemblestück Frage
von Wolfgang Rihm gehört die Unvorhersehbarkeit der Abfolge der Klangereignisse. Bevor
man darüber wie auch immer urteilt, lohnt sich ein Versuch zu verstehen, warum das so ist.
Und dazu kann man diese Erfahrung beziehen auf ein kompositorisches Ideal, das Wolfgang
Rihm 1983 umriß. In einem programmatischen Vortrag unter dem Titel »Musikalische
Freiheit« auf den Römerbad-Musiktagen in Badenweiler sagte er unter Bezug auf Ferruccio
Busonis 1907 erstmals veröffentlichtes Büchlein Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst:

  [Zitat Rihm]
  »Busoni entwirft dort ein freies Musikdenken, eine Haltung, die keinerlei Rezeptur erlaubt,
  die jede Gestalt im Moment als ein wachstumsfähiges Ganzes und jedes Ganze ebenso nur
  für sich ohne Wiederholbarkeit zu erfinden befiehlt. Das Ergebnis ist − zumindest in
  Wunsch und Absicht − eine ständig sich erneuernde Musik, die das Hören am Entstehen
  teilhaben läßt, die sozusagen offenliegt an ihrem generativen Pol, dort wo sie wächst.«

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Wie so oft bei Komponisten oder Künstlern, wenn die Kunst von Kollegen Gegenstand ist,
spricht Rihm hier auch und vor allem über sich. Busoni ist für ihn wie Robert Schumann oder
Edgard Varèse und weitere Komponisten, die er in diesem Zusammenhang nennt, ein Bruder
im Geiste und ein Vorbild für das eigene Schaffen.
       Wie hat man sich das Komponieren auf der Basis eines solchen freien, ungebundenen
Musikdenkens vorzustellen? Auf diese Frage kam Rihm am Schluß eines Vortrages zum
Thema »Neo-Tonalität?« bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1984 zu
sprechen:

   [Zitat Rihm]
   »Indem der Komponist die Energie eines musikalischen Augenblicks in und an sich selbst
   erfährt, indem er sich in diesem Augenblick befindet und dessen Tendenz wahrnimmt, also
   so etwas wie den ›Willen des Materials‹, dessen Wachstumsenergie, vage vernimmt, indem
   der Komponist also diese scheinbare Selbstaufgabe vollzieht, komponiert er erst. Mit sich.
   Sein eigener Grundton färbt den Verlauf.«

Anstatt also über das einmal gewählte musikalische Material einfach zu verfügen nimmt der
Komponist − sprich: Rihm − sich zurück und versucht, dessen Tendenz im Augenblick der
Niederschrift zu erspüren. Dabei weiß er natürlich genau, daß diese Tendenz nicht objektiv,
sondern nur für ihn und nur in diesem Augenblick existiert. Er selbst ist es, dessen
Bewußtsein die Strebungen empfindet. Und diese mögen heute so sein und sind morgen,
aufgrund anderer Befindlichkeit, wahrscheinlich anders. Damit berührt das Zitat einen
zentralen Aspekt seines Schaffens: Einmal abgesehen von der direkten kompositorischen
Setzung des Klangs, geht Rihm vom Vorhandenen aus, ganz gleich ob dies ein eben
geschriebener Ton oder Klang ist, ein Stückanfang von gestern oder eine frühere eigene
Komposition, die er sich wieder vornimmt. Und dieses sozusagen handgreifliche und auf den
Augenblick konzentrierte Verhältnis zum bereits Existierenden hinterläßt seine Spuren in der
entstehenden Musik.
       Rihms Wunsch, in jedem Augenblick der Wachstumsenergie nachspüren zu wollen,
läßt zugleich darauf schließen, daß er ein besonderes Verhältnis zu den größeren Dimensionen
der musikalischen Form hat. Unter Bezug auf seinen Lebensalltag formulierte er das so:

   [Zitat Rihm]

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»Ich plane nicht etwas und setze es dann in die Tat um, sondern ich plane etwas, indem ich
   es tue, gleichzeitig.«

Das heißt nichts anderes, als daß die Form eines Werkes − auch wenn sie bereits von Anfang
an vielleicht in groben Umrissen in Rihms Vorstellung existieren mag − sich erst im Verlauf
des Kompositionsprozesses konkret herausbildet.
       Eng verbunden mit dieser Art der Hervorbringung ist ein anderer Aspekt, den er 1978
auf den Darmstädter Ferienkursen mit der Gegenüberstellung von »inklusivem Komponieren«
und »exklusivem Komponieren« auf den Begriff brachte:

   [Zitat Rihm]
   »Unter inklusivem Komponieren verstehe ich eine Arbeitsweise, die durch Einbeziehung
   und Umschließung aller von Phantasie und Arbeitsökonomie berührten und geöffneten
   Bereich zu einem mit Gegenwart vollgesogenen Ergebnis gelangt. Dieser Vorgang liegt
   näher beim Integrieren als beim Summieren. Das Ergebnis ist wie ein Humus voll kreativer
   Zukunft. Exklusiv − ausschließend − zu komponieren bedeutet, einen Ansatz verfolgen,
   der versucht durch immer tiefere Reinigung zu einem idealen puren Kern zu gelangen.
   Paradoxerweise wird dadurch die Gegenwart als konkreter Bezug aufgegeben, und
   dementsprechend ist das ›weiße Kunstwerk‹ auch mehr vollgesogen mit Vergangenheit, es
   ist genuin traditionell, substantiell konservativ.«

Während des Komponierens, wie Rihm sagt, die Wachstumsenergie des Materials zu erspüren
und darauf zu reagieren, schließt ein, daß musikalisch alles möglich ist, auch, was als
Anspielung auf die ästhetisch seit den fünfziger Jahren wie noch nie zuvor präsente
musikalische Vergangenheit erscheint. In der Fülle liegt die kreative Zukunft, und sie zu
nutzen setzt die gesteigerte Geistesgegenwart des komponierenden Subjekts voraus.
       Das Anfang der 1980er Jahre umrissene Ideal eines freien Musikdenkens mit all
seinen Implikationen und Konsequenzen hat für Rihm bis heute seine Bedeutung nicht
verloren. Zwar lotete er seither die Spielräume dessen, was »ständiges Erneuern« konkret
heißen kann, in vielen Richtungen aus. Fluchtpunkt blieb aber der Wachstumsgedanke: Musik
nicht als Prozeß der Verarbeitung von Motiven oder Themen, nicht als Prozeß der Variation
oder der Transformation eines Themas und ebensowenig als Fortspinnung, wo aus einem
Motiv immer neue Möglichkeiten hervorgetrieben werden − das gibt es in seinem Schaffen
auch. Musik vielmehr als Spur eines Wachstumsprozesses: der Hörer als Beobachter des

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Entstehens einer musikalischen Gestalt: wie diese sozusagen an ihrer Quelle hervortritt und
musikalische Realität wird.
        Ein Erzeugnis solchen kompositorischen Arbeitens, das die »Wachstumsenergie« des
Materials, hier die harmonische Energie, »seismographisch« zu erfassen sucht − wie Rihm
selbst es einmal ausgedrückt hat −, ist Astralis (»Über die Linie III«) für kleinen Chor,
Violoncello und zwei Pauken von 2001. Zugrunde liegt das Gedicht gleichen Titels − wörtlich
übersetzt: die Sterne betreffend − von Novalis, mit dem der Dichter den unvollendet
gebliebenen zweiten Teil seines im Jahre 1800 entstandenen Romans Heinrich von
Ofterdingen eröffnete. Die letzten Verse des Gedichts lauten:

   [Zitat Novalis]
   »Der Leib wird aufgelöst in Tränen,
   Zum weiten Grabe wird die Welt,
   In das, verzehrt von bangem Sehnen,
   Das Herz, als Asche, niederfällt.«

Als Hörbeispiel muß hier der Schluß des Werkes mit dem letzten Vers des in der extremen
zeitlichen Dehnung allerdings kaum mehr verständlichen Textes genügen: »Das Herz, als
Asche, niederfällt.«

[Musik 2]
Wolfgang Rihm, Astralis für kleinen Chor, Violoncello und zwei Pauken (2001
Dauer: 2‘20‘‘

Der Schluß von Astralis von Wolfgang Rihm in einer Aufnahme mit dem RIAS-Kammerchor,
Rie Miyama, Schlagzeug, und Dirk Wietheger, Violoncello, unter der Leitung von Hans-
Christoph Rademann. Beim Hören dieser Musik kann man sich unschwer vorstellen, wie, als
der Komponist das Stück schrieb, eine Harmonie nach der anderen unter seinen Händen
entstand und er sie sofort aufs Papier brachte. Wie sagte Rihm 1981 in einem Vortrag zur
Psychologie des musikalischen Arbeitens an der Universität Freiburg im Breisgau zum
Verhältnis von momentaner Befindlichkeit beim Arbeiten und deren Spur im vollendeten
Werk?

   [Zitat Rihm]

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»Mein Zustand bei der Arbeit − wenn sie in Gang kam − ist einer der gleichzeitig ruhigen
  und rastlosen Überhelle. Wohl wird vieles, oft alles, danach vergessen. Die grell
  erleuchteten Wege und Verbindungsbrücken, die von der kombinatorischen Phantasie
  freigesetzt und angeboten werden, sind vergessen, wenn einmal die Wahl getroffen ist,
  deren Freiheit zu den größtvorstellbaren menschlichen Freiheiten gehört.«

Was wir hörend als kontinuierlichen harmonischen Fluß von knapp einer halben Stunde
Dauer erleben, weitab von jeder kadenziellen Logik der Verkettung von Akkorden, wie sie
uns aus der tonalen Musik vertraut ist, ist das Produkt dieses besonderen Schaffensprozesses.
Bei jedem einzelnen Klang galt es für den Komponisten − so stelle ich es mir jedenfalls vor −
zu erspüren, wohin er harmonisch zu drängen schien, auch wo das Violoncello als das
instrumentale Andere eingreifen und den fließenden Stimmklang irritieren und wo die Pauken
grollend grundieren sollten. Diese Musik ist aus momentaner Eingebung heraus entstanden;
niedergeschrieben wurde, was in jedem dieser Augenblicke dem Komponisten als stimmig
erschien und was uns, den Hörerinnen und Hörern, eben deshalb als durch und durch, wie er
in dem Zitat aus »Neo-Tonalität?« sagte, von »seinem Grundton« geprägt entgegentritt.
       Die Ausführungsanweisungen: »So langsam wie möglich« und »So leise wie möglich«
zu Beginn der Partitur von Astralis verweisen auf ein Schlüsselthema jeder Vokalmusik: den
Atem, und damit indirekt auf den Untertitel des Werkes: »Über die Linie«. Denn: Nichts ist
schwerer als in extrem langsamem Tempo und dazu noch im Pianissimo eine vokale Linie
klar zu zeichnen, ohne sie brüchig werden zu lassen. Die dazu nötige Anstrengung der Sänger
verwandelt sich fast unweigerlich in eine besondere Intensität von Klang und Fluß. Der
Untertitel benennt ein Thema, das Rihm damals schon eine ganze Weile in verschiedenen
Werken intensiv beschäftigt hatte: Was ist eine Linie? oder was gerade noch Linie oder
vielleicht nicht mehr Linie? Bei Astralis haben wir es mit einer vokalen Linie
unterschiedlicher Breite zu tun, die sich manchmal ganz zusammenzieht auf das Unisono, um
dann wieder, sozusagen mit breitem Pinsel, ausgefächert zu werden im Klangraum. Nicht zu
vergessen bei einem literarisch so beschlagenen Komponisten ist dabei auch der literarische
Hallraum dieser Musik »über die Linie«: Ernst Jüngers gleichnamiger Essay von 1950.
       Wenn Wolfgang Rihm über Musik spricht, dann weniger − oder nur in sehr
allgemeiner Form − über die Musik selbst oder deren Verlauf. Gegenstand sind ihre
Hervorbringung, die Entstehungsbedingungen, die Kontexte oder die Stellung des Künstlers
in der Gesellschaft − wie sollte es auch anders sein bei einem Komponisten. Wie hatte er es
schon 1974 anläßlich einer Preisverleihung ausgedrückt: Worte und Begriffe könnten nur als

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die Unbekannten einstehen für das, was eigentlich Musik allein hätte sagen können.

Die Grenzen bloßer Beschreibung von Musik dürfte das Beispiel zu Beginn klar gemacht
haben: beschreiben läuft hinaus auf ein bloßes Verdoppeln. Aber auch der Bezug auf Rihms
Poetik hat uns nicht wirklich weitergebracht: Was hilft es denn zu wissen, ein Stück sei auf
diese oder jene Weise hervorgebracht worden, so interessant das auch sein mag? Der
entscheidende Punkt wurde damit nicht berührt, nämlich: was es ist. In einem Brief vom 27.
Juli 1932 an seinen Schwager, den Geiger Rudolf Kolisch, sprach Arnold Schönberg diesen
Punkt beiläufig. Dieser hatte ihm ganz stolz mitgeteilt, die Zwölftonreihe des Dritten
Streichquartetts op. 30 herausgefunden zu haben; und Schönberg antwortete:

  [Zitat Arnold Schönberg]
  »Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch
  nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist;
  während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist!«

»Was ist es?« Was also ist diese Musik von Wolfgang Rihm? Wie der weitere Verlauf des
zitierten Briefes erkennen läßt, war für Schönberg klar, worauf es ankam: nämlich den
»musikalischen Gedanken«, seine Darstellung und seine Durchführung. Wenige Jahrzehnte
später hatte sich die Frage indessen zugespitzt: So beschrieb Theodor W. Adorno in seiner
1970 postum publizierten Ästhetischen Theorie − auch wenn er mit den Werken von Pierre
Boulez, Karlheinz Stockhausen und John Cage ganz andere Musik im Blick hatte als
Schönberg − die künstlerische Tätigkeit als:

  [Zitat Adorno]
  »Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.«

Ein wesentliches Merkmal der Gegenwartskunst im allgemeinen und der jüngsten Musik ist
für Adorno ihr Rätselcharakter. Und das gilt auch für Rihms Werke. Eine Antwort auf
Schönbergs Frage, was es sei, scheint damit jedoch noch weiter in die Ferne zu rücken.
       Die größte Herausforderung, mit der konfrontiert ist, wer über Musik reden möchte,
bilden die Begriffe. Faßt man einzelne musikalische Gestalten mit Eduard Hanslicks
Formulierung aus dem Traktat Vom musikalisch Schönen von 1854 als »tönend bewegte
Formen« auf, die der menschliche Geist aus dem »geistfähigen Material« geformt hat, so sind

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diese zu spezifisch, um dafür jeweils eigene Begriffe zu finden. Und das heißt nicht etwa, sie
seien zu vage. Am schwersten sprachlich zu fassen ist eben das Besondere. In seiner
Einführung in die Musikästhetik von 1947 kam der französische Musikkritiker und Philosoph
Boris de Schloezer auf diesen Umstand zu sprechen:

  [Zitat Boris de Schloezer]
  »Aufgrund der Tatsache, daß der Sinn des musikalischen Werkes diesem immanent ist und
  nur in ihm existiert, ist er konkret, nicht abstrakt, er ist hic et nunc[, hier und jetzt]. Das
  Musikwerk − und in geringerem Maße im übrigen jedes Kunstwerk − ist dem Verstand
  unzugänglich, es entzieht sich dem diskursiven Wissen wie diesem eine bestimmte Person
  sich entzieht […].«

Ein Werk als ganzes wie auch die einzelnen tönenden Gestalten sind demnach nicht etwa zu
abstrakt, um sie benennen zu können, sie sind im Gegenteil zu konkret. Das mag einer der
Gründe sein, warum summarische Formulierungen wie: dieses Stück sei seriell komponiert,
jenes neo-tonal und jenes andere vielleicht zwölftönig oder modal, so wenig besagen. Das
Spezifische läßt sich eben nur schwer fassen. Letztlich handelt es sich dabei um Formeln, die
ein Stück vielleicht in seinem historischen Kontext verorten, ohne aber tatsächlich etwas
Substantielles über das musikalisch Besondere zu sagen. Erst wie der Komponist − sei dies
nun Rihm oder seien es Brahms oder Beethoven − mit seinen Mitteln konkret gearbeitet hat,
macht das Stück zu musikalischer Kunst. Sonst wäre ja auch jede beliebige, noch so
schematische Schülerarbeit Kunst. Immer wieder sehen wir uns also zurückgeworfen auf
Schönbergs Frage: »Was ist es?«
       Gleichwohl gilt es zuzugestehen: Auch wenn viele herkömmliche Begriffe vielleicht
bloße Formeln sein mögen, die nicht an das Besondere eines Werkes heranreichen: sie bieten
jedoch wenigstens Anhaltspunkte, um Musik zur Sprache zu bringen. Wieviel schwieriger ist
es aber, über eine Musik zu sprechen, die sich diesen Begriffen weitgehend entzieht und wie
jene Wolfgang Rihms direkte musikalische Rede sein möchte, »bewußt gesprochene
Sprache«, eine Musik, die auf »ständige Erneuerung« zielt?

Der Eindruck, mit den herkömmlichen Begriffen wenig ausrichten zu können, hängt aber
noch mit etwas anderem zusammen: Musik ist − wie Tanz, Theater, Film oder auch die
Rezitation von Gedichten − eine Zeitkunst. Das heißt: Ein Werk wie Frage, aus dem wir
eingangs einen Ausschnitt hörten, ist uns nicht als realer Gegenstand gegeben, so wie sich

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etwa der David des Michelangelo in den Uffizien in Florenz oder Pablo Picassos Desmoiselles
d'Avignon im Museum of Modern Art in New York unserem Auge zur Anschauung darbietet.
Musik vergeht, und das unaufhaltsam. Zwar läßt sich ihre Spur auf Tonträger bannen. Sie
selbst aber ist nicht festzuhalten, ist ephemer. Wer Musik hört, muß den Zeitgegenstand,
dessen Ablauf er sich überantwortet, mit seinem Bewußtsein umfassen. Und erst an seinem
Ende ist das Stück dem Hörer als ganzes gegeben. Diese Konstitution des zeitlichen
Gegenstandes durch den Wahrnehmenden ist die Voraussetzung für das Hören von Musik als
Kunst und nicht nur, um es etwas flapsig auszudrücken, als »Wellness für die Ohren«. Zwar
gestattet schon ein kleiner Ausschnitt, ein Werk zu identifizieren, sofern wir es gut kennen;
und dasselbe gilt für einen bestimmten musikalischen Sound oder Musik als emotionales
Stimulans: Für die Begegnung mit einem musikalischen Werk jedoch ist die Konstitution als
Zeitgegenstand mit seinem ganzen Verlauf die unabdingbare Voraussetzung. Und das braucht
Zeit
       Damit hängen verschiedene Dinge zusammen, über die wir normalerweise nicht weiter
nachdenken: Wenn wir über ein konkretes Musikstück wie Astralis oder Frage sprechen, ist
von einem Gegenstand die Rede, den wir im Moment weder vor Ohren noch vor Augen
haben, sondern allenfalls als mehr oder weniger vage Vorstellung im Bewußtsein. Während
der Musik zu reden würde ja die Hörerfahrung stören, wenn nicht sogar zerstören.
Paradoxerweise beziehen wir uns zudem bei Musik sprachlich auf ein Objekt, dessen
wichtigstes Merkmal, nämlich als musikalischer Verlauf, das heißt zeitlich organisiert zu sein,
stillgestellt ist. Und etwas dem schnellen Blick Vergleichbares, der uns erlaubt, ein Bild als
ganzes zu vergegenwärtigen, gibt es beim Ohr nicht, es sei denn wir kennen ein Werk in- und
auswendig. Das ist das Problem jeder akustischen Illustration mittels Musikbeispielen, auch in
diesem Essay.
       Des weiteren sind die meisten der herkömmlichen Begriffe, mit den wir über Musik
sprechen, objektbezogen und nicht verlaufsbezogen. Eine der größten Schwierigkeiten, über
Musik zu reden, liegt darin, daß Musik ein komplexer dynamischer Verlauf mit einer eigenen
Dramaturgie und einer bestimmten Dauer ist: bei dem in jedem Moment, was wir gerade
hören, im Licht des eben Vergangenen erscheint und das neu Gehörte das Vergangene in ein
anderes Licht rückt. Diese nur hörend in ihrer ganzen Fülle erfahrbaren und über den
gesamten Verlauf hinweg sich vielleicht in jedem Augenblick verändernden
Spannungsverhältnisse zwischen Statik und Dynamik in Worte zu fassen, gehört zu den
größten Herausforderungen für das Reden über Musik: den Zeitgegenstand in actu, das heißt
als komplexen dynamischen Verlauf zu thematisieren und eben nicht nur als, wie der

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polnische Philosoph Roman Ingarden es ausgedrückt hat, »quasi-zeitlichen« Gegenstand, bei
dem die zeitliche Abfolge der Teile und die innere Dynamik aufgehoben ist.
       Wie sieht nun der musikalische Verlauf in Wolfgang Rihms Musik aus? Seine die
Strebungen des Augenblicks erspürende kompositorische Arbeitsweise führt − nicht weiter
verwunderlich − tendenziell zu einer Reihung von musikalischen Augenblicken, von denen
einer mit dem anderen durch die Hervorbringung verbunden ist. Und das ist unabhängig
davon, ob auf einzelne Klangereignisse bezogen oder auf die Harmonik oder etwa auf
energiereiche, repetitive rhythmische Motive. Ein Beispiel für solche rhythmische Energie ist
der Anfang der zweiten der Vier Studien zu einem Klarinettenquintett mit ihrem
charakteristischen Wechsel von extremer Dynamik vielfach repetierter Motive in den
Streichern und plötzlichem Innehalten oder Erstarren. Sie hören Jörg Widmann, Klarinette,
und das Minguet Quartett.

[Musik 3]
Wolfgang Rihm, Vier Studien zu einem Klarinettenquintett, Nr. 2
Dauer: 1‘10‘‘

Bei Rihms auf die momentane Eingebung setzenden Arbeitsweise stehen die
aufeinanderfolgenden Klangereignisse nicht nur durch ihre bloße Nachbarschaft in
Beziehung, sondern auch über jene im Moment des Komponierens empfundenen »Tendenzen
des Materials«, von denen Rihm spricht. Und sie gruppieren sich in ausgreifenderer
Perspektive zu größeren Einheiten. Näher als zu bloßer Reihung beliebiger Klänge ist das
Resultat zu dem, was Arnold Schönberg entwickelnde Variation genannt hat: Dabei liegt kein
durchgehendes »Motiv der Variation« oder Thema zugrunde; die eben gehörte Variation ist
vielmehr mit der vorletzten nur über die direkt vorausgehende motivisch verbunden. Die
musikalische Zeiterfahrung beim Hören von Rihms Musik liegt daher näher beim Abtasten als
beim Nachvollziehen von Entwicklungen oder Prozessen, wiewohl es immer großräumige
formale Dramaturgien und Spannungskurven gibt. Hören heißt bei ihm, einen Hörweg
abzugehen oder einen klanglichen Raum zu durchschreiten.

Folgt man Adorno, machen Künstler − auch Wolfgang Rihm − Dinge, von denen wir nicht
wissen, was sie sind. Wie sich nun diesen Dingen, auch sprachlich, nähern? Eine Möglichkeit
besteht darin, mit damit, wie mit jedem anderen uns völlig fremden Gegenstand, einfach
Erfahrungen zu sammeln, und zwar durch den Umgang. Und in unserem Zusammenhang

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hieße das: uns mit der Musik zu beschäftigen und durch wiederholtes oder gar vielfaches
Hören ein spezifisches Erfahrungs- und Hörwissen aufzubauen. Vielfaches Hören erlaubt uns,
eine große Vertrautheit mit einem Musikstück als Zeitgegenstand zu erwerben; sie versetzt
uns auch in die Lage, während erneuten Hörens vielleicht eine besonders eindrückliche Stelle
in unserer Vorstellung vorwegzunehmen oder das eben Gehörte auf etwas in der
unmittelbaren Erinnerung haften Gebliebenes zu beziehen.
       Daß sich Musik der Sprache und damit dem Wissen in Aussageform hartnäckig
entzieht, daß wir nicht sagen können, was dieses oder jenes Werk sei, um Schönbergs Frage
nochmals aufzunehmen, scheint aber den hörenden Vollzug in keiner Weise zu
beeinträchtigen oder gar in Frage zu stellen. »Verstehen« der Musik, wenn man denn davon
sprechen möchte, speist sich anscheinend hauptsächlich aus anderen Quellen. Und diese sind
in einem durch Erfahrung erworbenen »Hörwissen« zu suchen. Im Zusammenhang mit
Ausführungen zum romantischen Gesang stellte der französische Philosoph und Kritiker
Roland Barthes eher beiläufig eine Frage, die uns mitten hineinführt in dieses komplexe
Gebiet. Barthes fragte sich und gab gleich auch die Antwort:

  [Zitat Roland Barthes]
  »Was singt mir in meinem, des Zuhörenden Körper das Lied? Alles, was in mir widerhallt,
  mich ängstigt oder mein Begehren weckt.«

Roland Barthes zufolge gibt es also in uns, in unserem Körper eine Instanz, die uns das Lied
singt, das wir gerade im Konzert oder von Tonträger hören, und die aus den
aufeinanderfolgenden akustischen Klangereignissen überhaupt erst Musik macht. Diese
Instanz umfaßt alles, was in uns widerhallt. Und man darf hier, denke ich, ohne Bedenken
verallgemeinern im Hinblick auf alle Musik: Diese Instanz wird gebildet durch meinen
gesamten individuellen Erfahrungsschatz − nicht nur den musikalischen − und mein ganzes
Wissen, auch das unbewußte. Die Musik ruft sedimentiertes Wissen und frühere Erfahrungen
auf; diese bilden einen Resonanzraum für das, was wir gerade hören. Als Beispiel für die
Bedeutung solchen Hörwissens mag der Schluß des dritten Satzes von Wolfgang Rihms Vier
Studien zu einem Klarinettenquintett dienen. Die Studie beginnt mit einem langsamen Walzer,
der im bereits fortgeschrittenen Satz, dort wo unsere Beispiel einsetzt, wiederaufgenommen
wird und sich allmählich verwandelt, um dann in einen Abgesang zu münden. Sie hören
nochmals Jörg Widmann, Klarinette, und das Minguet Quartett:

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[Musik 4]
Wolfgang Rihm, Vier Studien zu einem Klarinettenquintett, Nr. 3
Dauer: 1‘30‘‘

Woher wissen wir, daß das Stück hier zu Ende geht? Warum stellt sich der Effekt ein, obwohl
wir im vorliegenden Zusammenhang nicht die gesamten gut neun Minuten des Satzes hören
konnten? Und warum ist es unmittelbar verständlich, das der Satz mit dem letzten
Klarinettenton wie mit einem Fragezeichen endet, so als sollte uns bedeutet werden, es sei
eben doch noch nicht ganz zu Ende. Immerhin ist das Stück ja an dritter Stelle eingebettet in
ein vier Sätze umfassendes Werk.
       Über Vorstellungen davon, was Schließen − und nicht einfach Aufhören oder
Abbrechen − musikalisch heißen kann, verfügen wir alle, ganz gleich, ob musikalisch
geschult oder nicht, und dies selbst dann, wenn nicht jeder und jede dieses Phänomen in
Worte fassen könnte. Und das ganz einfach aus Erfahrung. Es handelt sich um ein nicht in
Aussageform existierendes Wissen, über das wir gleichwohl ohne Umstände verfügen, und
dabei bilden auch uns vertraute Formen des Schließens in anderen Zeitkünsten wie Theater
oder Film oder Erfahrungen aus dem Alltag den Hintergrund für die Wahrnehmung dieses
Satzschlusses. Musikalisches Schließen ist nur ein Beispiel unter vielen anderen, etwa
Einschub, Überleitung, Unterbrechung, Gleichzeitigkeit mehrerer Schichten, Kontinuität oder
Diskontinuität oder welches andere musikalische Phänomen auch immer. Das Beispiel
Schließen offenbart die Bedeutung und die Komplexität dieser inneren Instanz. Für das Hören
ist es nicht nötig, daß dieses Wissen − dessen Status als Wissen gegenwärtig in der
Philosophie lebhaft diskutiert wird − in Aussageform existiert. Um aber zu verstehen, warum
wir Musik überhaupt als einen sinnvollen Klangverlauf erleben, das heißt als einen funktional
differenzierten komplexen Zusammenhang, ist dieses Erfahrungswissen von zentraler
Bedeutung. Wie gerade dieses Beispiel schön zeigt, ist es gleichwohl möglich, dieses
implizite Wissen zur Sprache zu bringen.

Kommen wir nochmals zurück auf Rihms Ideal eines freien Musikdenkens und seinen ganz
auf den schöpferischen Augenblick setzenden Schaffensprozeß. Auch wenn die daraus
hervorgehenden musikalischen Formen nicht im Detail vorausgeplant sind und sich eher
während der Arbeit ergeben, gibt es bei seinem Komponieren vielfach leitende Ideen, und das
sind nicht selten von Bildender Kunst inspirierte Vorstellungen. Diese Bildnerischen

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Vorstellungen erlaubten dem Komponisten, musikalische Verläufe jenseits der
herkömmlichen Tonsatzkategorien und jenseits des seit den fünfziger Jahren dominierenden
strukturellen Denkens neu zu entwerfen. Vorstellungen wie »Dichtebündel«, »Farbkampf«,
»Klanghieb«, »Linienzwang«, »Klanghaptik«, »Spur« oder »Schrift-zug« erlauben uns,
metaphorisch gewendet, über das sich allen herkömmlichen musikalischen Begriffen
entziehende Klanggeschehen zu sprechen. Auch »Übermalung« und »Inskription« gehören
dazu. Letztere Verfahrensweisen bringen uns nochmals zum Schaffensprozeß zurück, genauer
zu dem Umstand, daß Rihm häufig eigene Stücke wiederaufgreift. Dabei geht es nicht um
satztechnische »Verbesserung«, sondern eher um neue Aggregatzustände des Materials. Ganz
im Sinne seiner Poetik des unmittelbaren Reagierens auf Vorhandenes fügt er, in jedem
Augenblick auf den vorhandenen Verlauf Bezug nehmend, neue musikalische Schichten
hinzu. Oder er löst einzelne Schichten heraus und kombiniert sie mit neu komponierten.
Inspiriert von Malerfreunden und -kollegen seiner Generation wie Kurt Kocherscheidt oder
Arnulf Rainer hat Rihm dies künstlerische Verfahren als »Übermalung« bezeichnet. Und
daraus sind ganze Werkfamilien entstanden, die die klanglichen und dramaturgischen
Möglichkeiten des Verfahrens ausloten.
       Was in einem solchen Übermalungs- oder Inskriptionsprozeß zu einer historischen
Schicht geworden ist, stellt sich durch das Hinzugefügte anders dar, erscheint sozusagen in
ein anderes Licht gerückt. Bei der warm timbrierten Linie, die sich in unserem allerersten
Musikbeispiel aus dem Ensemblestück Frage durch die zerklüftete, harte Klanglandschaft
schlängelt, handelt es sich um eine solche spätere »Inskription«, hier im wörtlichen Sinne eine
»Einschreibung« in die bestehende Partitur des von 1991 stammenden Kolchis für fünf
Instrumente.

[Musik 5]
Wolfgang Rihm, Frage
Dauer: 50‘‘

Durch diese rund zehn Jahre später erfolgte Einschreibung der farblich und qualitativ
kontrastierenden Linie wird die Musik zu einem Wechselspiel von Kontinuität und
Diskontinuität. Ästhetisch ist die zeitlich auseinanderliegende Entstehung der beiden
Schichten aber nur insofern von Bedeutung, als es zwei unterschiedliche Schichten gibt, die −
durch die Interpreten hier und jetzt gleichzeitig realisiert − miteinander interagieren. Für die
Hörer stellt sich das Werk als aus einem Guß dar.

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Abschließend noch kurz einige Bemerkungen zur Notwendigkeit und zugleich zur
Vergeblichkeit des Zur-Sprache-Bringens, aber auch zu dessen Gefahren. Als Ausgangspunkt
mag ein 1992 veröffentlichter und hier nur auszugweise zitierter Programmtext zu Kolchis aus
der Feder des Komponisten dienen, zu jenem Stück, das die Grundlage für den eingangs
gehörten übermalten Ausschnitt aus Frage bildete:

  [Zitat Rihm]
  »Jedweder Bildbesatz, jener aus Naivität ebenso wie der aus Wissen, enthüllt in seiner
  Abhängigkeit von mißverstehbarer begrifflicher Verdopplung, vor allem durch seine
  Einengung von Erfahrung und Erlebnis, die Notwendigkeit eines revolutionären Bild-
  Verbotes: dieses verstanden als Schutz des Autonom-Unwiederholbaren. […] Jedes Abbild
  tendiert […] zu einer Auslöschung des Originals. Bild-Verbot wäre also nicht ein
  manichäischer Akt der Originalzertrümmerung, sondern − paradox formuliert − ein
  revolutionäres Konservieren der Autonomie; diese soll bewahrt werden bis hinein in die
  Herrschaftslosigkeit. Einzige Antwort auf Kunst ist Kunst.«

Rihms letzter Satz, Kunst sei die einzige Antwort auf Kunst, scheint jeden Versuch von
sprachlicher Annäherung an seine Musik abzuschmettern und unmöglich machen zu wollen.
Gleichwohl gilt es zu unterscheiden. Der Text zeigt zwar ein tiefes Mißtrauen gegenüber
sprachlicher Annäherung und formuliert zugleich eine Kritik an dem Genre der
Programmhefttexte, zu dem auch er sich vielfach von Veranstaltern genötigt sah beizutragen.
Dieser in einer gepanzerten, hermetischen Sprache verfaßte Text wendet sich aber
insbesondere gegen bestimmte Formen der Reaktion auf seine Musik, die diese voreilig auf
simple Formeln bringen möchten und damit, wie er sagt, »Erfahrung und Erlebnis« einengen
oder gar verunmöglichen: so etwa das Ende der 1970er Jahre kursierende und auch seiner
Musik angeheftete Etikett der »Neuen Einfachheit« oder gar die unerträgliche Bezeichnung
seines Dritten Streichquartetts als »faschistische Musik« anläßlich der Uraufführung im April
1977 in Royan, eine Bezeichnung, bei der man sich fragt, was der Kritiker überhaupt gehört
hat oder aus ideologischen Gründen zu hören in der Lage war.
       Auch wenn letztlich keine definitive Antwort auf Arnold Schönbergs Frage, was diese
oder jene Musik sei, möglich ist: Die Anstrengung, Musik zur Sprache zu bringen hilft uns,
sie besser zu verstehen, selbst wenn die Worte bei weitem nicht heranzureichen vermögen an
die Komplexität und Fülle dessen, was Musik als Kunst ausmacht, eine Fülle, die sich

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letztlich nur im Hören erschließt. Vertrauen dürfen wir aber ohne Frage auf jene Instanz, von
der Roland Barthes sprach und deren implizites Erfahrungs- und Hörwissen uns in die Lage
versetzt, auf Rihms aus »inklusivem Komponieren« hervorgegangene Musik angemessen zu
reagieren.
       Lassen wir der Musik das letzte Wort: Sie hören den Schluß des zweiten Satzes aus
Wolfgang Rihms eben erwähntem Dritten Streichquartett Im Innersten von 1976. Es spielt
noch einmal das Minguet Quartett.

[Musik 6]
Wolfgang Rihm, Im Innersten, 2. Satz
Dauer: 2‘30‘‘

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