MUSIKFREUNDEJÄNNER - Wahlver-wandtschaften SIR ANDRÁS SCHIFF IM PORTRÄT - Musikverein
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MUSIKFREUNDE Inhalt 4 Wahlverwandtschaften 30 Der Geist des Hauses Sir András Schiff im Porträt Spuk im Musikverein? 8 Wiener Stimmen 36 Die Gegenwart der Erinnerung Eine Zusammenarbeit mit der Markus Hering erschließt Brunnenpassage den Gert-Jonke-Kosmos 14 „Spüren, wie die Bühne brennt“ 40 Wiener Wahlberliner Martin Grubinger Andreas Ottensamer 18 Surprise! 44 Die gestiefelte Katze Die Kunstpsychologie Eine Uraufführung bei Allegretto des Überraschens 22 Dream-Team der Kammermusik Das Julia Fischer Quartett 26 Der Super-Maestro Valery Gergiev Standards 3 Editorial 34 Alla breve 49 Kalendarium Jänner 54 Preludio 56 Vorschau Februar
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MUSIKFREUNDE Editorial Liebe Musikfreundinnen und Musikfreunde, Vertiefung und Weitung, Intensivierung und Öffnung: vatorium des Musikvereins unterrichtete. Ganz in diesem Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bewegt sich, Sinn haben auch András Schiff und Robert Holl junge und sie tut es voll Überzeugung und Enthusiasmus in Künstlerinnen und Künstler für ihre Schubertiade im beide Richtungen. Die Porträts und Komponistenschwer- Jänner eingeladen. punkte, die wir für die Saison 2021/22 geplant haben, vertiefen das Konzertgeschehen auf vielfältige Weise. Sir Wiener Stimmen waren das, die damals, 1828, mit Franz András Schiff ist in dieser Saison der Künstler mit dem Schubert erstmals im Musikverein zu hören waren. Wir umfassendsten Porträt: Nicht weniger als acht verschie- übertragen solche Gedanken ins Heute und verbinden dene Programme hat er mit uns gemeinsam konzipiert. sie mit einem entschlossenen Schritt zur gesellschaftlichen Nach seinem ersten, begeistert aufgenommenen Porträt- Öffnung: „Wiener Stimmen“ ist ein Projekt, das wir ge- konzert mit der Cappella Andrea Barca gibt er nun einen meinsam mit der Wiener Brunnenpassage entwickelt und Abend mit seinem Freund Robert Holl. „Wahlverwandt- nun gestartet haben. Sechs junge, in Wien lebende Sän- schaft, Seelenverwandtschaft“, sagt András Schiff in gerinnen wurden eingeladen, eigene Songs in einem ge- dieser Ausgabe der „Musikfreunde“, verbinde ihn mit meinsamen künstlerischen Prozess für großes Orchester Robert Holl – und „vor allem die Liebe zu Schubert“. bearbeiten zu lassen. Am 4. Juni wird das Resultat in einem Konzert mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, Diese Liebe kommt in einem Konzert zum Tragen, das einem weiteren Kooperationspartner, im Großen Musik- sich an den Geist der Schubertiade anschließt und aufs vereinssaal zu hören sein. Es geht dabei nicht nur um eine schönste an die Geschichte der Gesellschaft der Musik- faszinierende Konzertidee, sondern um einen großen, freunde anknüpft. Mit seinen „Abendunterhaltungen“ nachhaltigen Schritt zur Weitung: hin auf die diverse, schloss sich der junge Musikverein damals an die Musik- vielfältige, pulsierende Wiener Stadtgesellschaft. Wir kultur der Salons an, er transformierte, wie man sagen freuen uns, Ihnen in dieser Ausgabe auch davon berichten könnte, ein Programmformat aus dem privaten Bereich zu können. Wiener Stimmen – einst und jetzt. ins Öffentliche, und so sann auch Franz Schubert darauf, im Musikverein eine „öffentliche Schubertiad“ zu ver- Herzlich anstalten. Die Gesellschaft der Musikfreunde ging gern darauf ein und überließ ihm ihr Haus für ein „Privatkon- zert“, bei dem auch zum ersten Mal öffentlich das be- rühmte „Ständchen“, D 920, für Altsolo und Frauenchor zu hören war. Das Vokalensemble bildeten damals Schü- Dr. Stephan Pauly lerinnen der legendären Anna Fröhlich, die am Konser- Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 3
WAHLVERWANDTSCHAFTEN Die Gesellschaft der Musikfreunde widmet Sir András Schiff ein umfassendes Porträt. Acht Konzerte zeigen den Künstler in den unterschiedlichsten Facet- ten seines Wirkens: im Jänner 2022, gemeinsam mit Robert Holl, als leiden- schaftlichen Schubert-Liebhaber und Liedpianisten. Im Gespräch mit Musik- vereinsintendant Dr. Stephan Pauly spricht András Schiff über seine Pro- grammwahl und die Möglichkeiten, die ihm die Musikvereinsresidenz bietet. 4
WAHLVERWANDTSCHAFTEN Wahlverwandt- schaften Sir András Schiff im Porträt Lieber András, wir freuen uns enorm über deine Residenz Dieser Abend ist gemeinsam mit Robert Holl entwickelt im Musikverein mit acht Konzerten. Nach dem ersten worden. Was verbindet euch beide? Konzert, das du mit deiner Cappella Andrea Barca und Große Beziehung, große Freundschaft, Wahlverwandt- Werken von Mozart und Schubert gegeben hast, steht schaft, Seelenverwandtschaft – vor allem die Liebe zu nun, im zweiten der Reihe, das Lied im Zentrum. Es wird Schubert. Wir trafen uns bei der Schubertiade, damals einen großen Abend geben: zusammen mit Robert Holl, noch in Hohenems, und wir wurden sofort Freunde und mit jungen Sängerinnen und Sängern, mit einem Instru- haben sehr viel zusammen musiziert, vor allem Schubert. mentalensemble. Wie wichtig ist für dich Liedbegleitung, Ich kenne wenige Leute, die Schubert’sche Musik so lieben und ist „Begleitung“ eigentlich das richtige Wort? und verstehen wie Robert. Er hat auch eine sehr tiefe Begleitung ist ein Schimpfwort, das darf man nicht Kenntnis der Literatur. Er kennt diese Dichter in- und sagen … Man darf es natürlich, aber wenn ich das höre, auswendig. denke ich, man wird von der Polizei „begleitet“. Nein, das ist eine Partnerschaft zwischen Singstimme und Klavier. Wenn man auf die Gattung des Liedes schaut, wird man Niemand ist wichtiger als der andere. Eine Partnerschaft, feststellen müssen, dass in den zurückliegenden Jahren ja! Von Kindheit an hatte ich das Glück, mit György Kur- das Publikum an vielen Orten – nicht an allen – kleiner tág studiert zu haben. Ich war 14 Jahre alt, und Professor geworden ist. Woran könnte das deiner Meinung nach Kurtág gab mir Schubert-Lieder zu lernen. Da musste ich liegen? Ist symphonisches Repertoire „leichter“ zu hören? singen und spielen und mich begleiten. Das war eine Ist es ein Problem des Hörens? wunderbare Erfahrung. Auch die Literatur spielt eine Symphonisches Repertoire ist leichter zu hören, es ist große Rolle, die Poesie, diese wunderschönen Gedichte. spektakulärer, aber ich würde alles tun für zwei Gattungen, Da konnte ich Gott sei Dank schon Deutsch. Diese Lied- die für mich wichtigsten: die Streichquartette und die literatur bedeutet für mich an allererster Stelle Franz Lieder. Die sind intim, man braucht die passenden Räume, Schubert und dann natürlich Schumann und Brahms und nicht zu groß, aber das habt ihr in Wien … Ich möchte Hugo Wolf und alle … Diese Literatur deutscher Lieder, jetzt nicht so dumm nostalgisch klingen …, aber als wir das ist eine großartige Tradition. damals in Hohenems mit Robert Holl „Die Bürgschaft“ aufgeführt haben, die Schiller-Ballade in der Schubert- Schubert saß beim Vortrag seiner Lieder ja oft genug Vertonung, da saß da noch ein Publikum, von denen jeder selbst am Klavier. Merkt man das eigentlich pianistisch? diese Ballade auswendig kannte – das ist keine Kleinigkeit. Absolut. Schubert war nicht ein Klaviervirtuose wie Das ist eine Bildungsfrage und eine Erziehungsfrage. Ich Beethoven oder Mozart, aber laut Zeitgenossen hat er glaube, in Zukunft müssen wir, sowohl Veranstalter als wunderschön mit sehr, sehr schönem Anschlag und sehr, auch Interpreten, mehr für die Erziehung tun und vielleicht sehr sensibel Klavier gespielt. Das hätte ich irrsinnig ein bisschen erklären. Ich mache es jetzt auch sehr gerne gerne gehört. Ja, das ist eine ganz eigene Klaviersprache. in meinen Klavierabenden. Ich spreche zum Publikum, Das sehen wir auch in seinen Impromptus und in den und das kommt sehr gut an. Klaviersonaten. Sie sind oft wie Lieder ohne Worte. Schu- bert hat eine ganz transparente, durchsichtige Art, für das Klavier zu schreiben. Das ist nie so vollgriffig wie Beethoven, sondern ganz feinsinnig und immer trans- parent. 5
WAHLVERWANDTSCHAFTEN Donnerstag, 13. Jänner 2022 Sir András Schiff | Klavier Robert Holl | Bass Anja Mittermüller | Mezzosopran Jan Petryka | Tenor Angelo Pollak | Tenor Johannes Bamberger | Tenor David Jagodic | Tenor Clemens Kölbl | Bariton Georg Klimbacher | Bariton Martin Summer | Bass Hariolf Schlichtig | Viola Yuuko Shiokawa | Viola Rafael Rosenfeld | Violoncello Xenia Jankovic | Violoncello Brita Bürgschwendtner | Kontrabass Franz Schubert Fotos: Wolf-Dieter Grabner Lieder und mehrstimmige Gesänge Die Förderung von jungen Künstlerinnen und Künstlern, ihnen anhören, dass man wirklich drei findet, drei pro Pianistinnen und Pianisten ist dir ein großes Anliegen, Jahr, die dann für mein Gefühl interessant sind und etwas das Unterrichten zum Beispiel. Im Rahmen deiner Resi- zu sagen haben. Es gibt keine Pflichtstücke. Die Klavier- denz gibt es auch ein Projekt in diesem Zusammenhang: literatur ist groß, und niemand kann – inklusive mir – „Building Bridges“. Was ist die Idee dahinter – und wie alles gleich gut spielen. Wir müssen wählerisch sein. Ein hast du die beteiligten jungen Pianistinnen ausgesucht? Programm ist wie eine Visitenkarte. Ja, das stimmt. Das Pädagogische spielt eine immer wichtigere Rolle in meinem Leben. Ich habe jetzt auch Ich freue mich enorm auf den Abend, weil das ja auch meine eigene Klasse in Berlin an der Barenboim-Said- ein Zeichen ist: dass in deiner Residenz drei junge Pia- Akademie, und das interessiert mich sehr – unterrichten nistinnen eine Möglichkeit zum Auftritt haben. Vielleicht und auch die Förderung von jüngeren Musikern und nochmals in deine Biographie zurückgefragt – ich weiß Künstlern. Es gibt so viele Wettbewerbe, und das ist für nicht, ob man das so fragen kann: War es früher einfacher, mich wie eine Hölle. Musik ist ja kein Sport! Das kann ein junger Künstler zu sein und seinen Weg zu finden in man nicht vergleichen, das ist irrsinnig subjektiv. Was die Welt der klassischen Musik als Beruf? dem einen gefällt, das gefällt dem anderen nicht. Es gibt Fragen kann man. Ja und nein … Vieles war damals natürlich gewisse objektive Kriterien: Wer spielt schneller, viel schwerer. Für mich persönlich in Ungarn aufzuwach- wer spielt lauter? Und wer macht wenige oder keine Feh- sen, das war wunderbar. Eine bessere musikalische Aus- ler? Das sind die objektiven Kriterien. Für mich ist das bildung hätte ich nicht haben können. Dann nach West- ekelhaft und hat mit Kunst nichts zu tun. Entscheidend europa zu kommen war irrsinnig schwierig. Das war ein in der Kunst sind die nicht messbaren Elemente. Die Privileg. Man musste eine Einladung haben, um eine kommen zu kurz in den Wettbewerben. Ich möchte den Erlaubnis zu bekommen. Also, das war nicht so wie heu- Jugendlichen und Jungen helfen, damit sie keine Wett- te. Es passiert mir sehr oft – und ich bin ziemlich entsetzt bewerbe machen müssen. Das Ziel ist, dass sie Konzert- darüber: Ich spiele einen Klavierabend in London oder in möglichkeiten haben. Wien, und dann kommen so junge Pianisten, klopfen mir auf die Schulter und sagen „und übrigens, hier ist meine Das heißt, deine alternative Idee der Förderung ist Aus- neue CD von den Goldberg-Variationen“ … Wir hätten uns bildung, Unterricht, Dialog, aber eben auch: Du lädst drei das nie getraut. Wenn ich in einem Konzert von Richter Pianistinnen und Pianisten ein und stellst sie vor und oder Rubinstein war – ich hätte nie daran gedacht, in die gibst ihnen somit ein Forum. Nähe zu kommen. Ich hatte auch keine CD. Wir waren Es kommen sehr viele Junge zu mir, wo auch immer viel bescheidener. In diesem Sinne war es damals schwe- ich bin, und sie wollen mir etwas vorspielen. Ich sage sehr rer. Allerdings ist es für die heutigen auch sehr schwer, selten Nein. Wenn ich ein bisschen Zeit habe, höre ich sie weil es sehr viele von ihnen sind. Vorne oder oben ist mir an. Man muss aber Dutzende oder Hunderte von immer Platz, an die Spitze kann man schon kommen. 6
WAHLVERWANDTSCHAFTEN „Ohne Wien und ohne den Musikverein wäre das Leben eines Musikers sehr armselig.“ Sir András Schiff Aber in der Mitte ist sehr viel Verkehr. Das Problem ist, Ohne Wien und ohne den Musikverein wäre das Leben dass jeder von diesen jungen Instrumentalisten … sie eines Musikers sehr armselig. Wien ist sehr privilegiert denken, dass sie etwas Besonderes sind. Das müssen aber mit solchen Sälen. Der Goldene Saal ist ein Traum. Da die anderen von einem denken. kommt man rein … man versteht das Wunder dieses Saals, wenn das Publikum kommt. Es hat fast keinen Sinn, dort Vielleicht auch hier nochmal vereinfacht gefragt: Was im leeren Saal zu proben, denn „oh, hier ist sehr viel Nach- ist dein wichtigster Rat, den du jungen Pianistinnen und hall“, und dann kommt das Publikum – und plötzlich ist Pianisten mit auf den Weg geben kannst? alles perfekt. Der Saal spielt mit. Er ist wie ein Instrument. Also Bescheidenheit ist ein guter Ratschlag. Anderer- Das Gleiche im Brahms-Saal. Das ist auch für Kammer- seits: Selbstbewusstsein ist auch wichtig. Wenn du ach so musik, für Streichquartett, für Lieder ganz ideal und sehr, bescheiden bist, dann kannst du niemals auf die Bühne sehr atmosphärisch. kommen. Ich habe ein gewisses Selbstbewusstsein, aber ich bin auch jetzt noch nervös vor jedem Konzert. Das ist Wir freuen uns enorm auf die kommenden Konzerte das Jetzt und Hier und Nie-Wieder. Das ist, was zählt – deines Porträts in der Saison 2021/22! Vielen Dank, dass und wir sind keine Maschinen. Aber Bescheidenheit, eine du diese Konzerte mit uns geplant hast, und vielen Dank echte, ganz intensive Liebe für die Musik … das klingt für das schöne Gespräch. selbstverständlich, aber das ist nicht immer da: Das ist kein Beruf, das ist keine Karriere, das ist eine Berufung, Das Gespräch führte Intendant Dr. Stephan Pauly. sie muss da sein und ein Glücksgefühl, dass wir das ma- chen dürfen … und sehr viel Disziplin. Begabung ist das Wichtigste, aber das genügt alleine nicht. Vielleicht zum Schluss noch ein Blick auf alle deine Kon- zerte in deiner Residenz. Sie werden stattfinden im Großen Saal des Musikvereins und im Brahms-Saal. Wie Einen weiteren Teil des Gesprächs, bezogen auf die würdest du die beiden Säle beschreiben und wahrneh- Porträtkonzerte im Februar und März 2022, veröffent- men? lichen wir in der kommenden Ausgabe der „Musik- freunde“. Das komplette Interview können Sie als Video im Youtube-Kanal des Musikvereins sehen. 7
WIENER STIMMEN Wiener Stimmen Eine Zusammenarbeit mit der Brunnenpassage Es ist ein zentrales Ziel für die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, sich den vielfältigen Wiener Stadtgesellschaften weiter zu öffnen. Gemeinsam mit der Wiener Brunnenpassage hat sie dazu ein erstes großes künstlerisches Projekt gestartet: Wiener Stimmen. Ein weiterer Kooperationspartner des innovativen Projekts ist das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich. Mit dem großangelegten Kooperationsprojekt „Wiener „Die Emporbringung der Musik“ war das zentrale An- Stimmen“ lädt der Wiener Musikverein sechs in Wien liegen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bei lebende Sängerinnen mit unterschiedlichen musikalischen ihrer Gründung im Jahr 1812, getragen von der Vision, und sprachlichen Backgrounds ein, ihre Songs in einem Musik der bürgerlichen Gesellschaft – und somit nicht nur gemeinsamen künstlerischen Prozess für großes Orches- dem Adel – zugänglich zu machen. Im Fokus stand die ter bearbeiten zu lassen und am 4. Juni 2022 im Rahmen rezipierende wie produzierende Beschäftigung mit Musik, des Musikverein Festivals auf der Bühne des Großen Saals die Sammeltätigkeit und Musikausbildung, „der Selbst- mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich und zweck und Selbstgenuss derselben“ waren „nur unter- unter der Leitung des englischen Dirigenten Wayne Mar- geordnete Ziele“. Mit diesem hochgesteckten Anspruch shall zur Aufführung zu bringen. Damit sollen musikali- verpflichtete sich der Musikverein von Anfang an zu einer sche Brücken geschlagen, neue Ästhetiken kreiert und offenen und dynamischen, auf ständige Entwicklung und der Wiener Musikverein durch weitere musikalische Optimierung ausgerichteten Haltung. Dieser Gründungs- Handschriften bereichert werden. In dem dabei entste- gedanke ist und bleibt auch über 200 Jahre später ein henden kreativen Dialog wird bei aller Verschiedenheit Motor – ins Heute übersetzt: Menschen in ihrer Vielfalt ein gemeinsamer Konzertabend entstehen, in dem alle die lebensbereichernde Erfahrung von Musik zu ermög- Beteiligten im Austausch und auf Augenhöhe zusammen- lichen und sie für alle, die es wollen, erlebbar zu machen. arbeiten, als klares Zeichen für das Miteinander und die Die heutige Realität ist jedoch eine andere als damals. verbindende Kraft der Musik. „Wiener Stimmen“ soll Eine zunehmend heterogener werdende Gesellschaft ist somit zeitgenössische musikalische Begegnungen ermög- im Wandel begriffen, geglaubte Wirklichkeiten splitten lichen und Raum geben, in dem gemeinsames Musik- sich auf, kulturelle Gewissheiten werden hinterfragt, Be- Erleben stattfindet. grifflichkeiten neu definiert. All diese gesellschaftlichen Phänomene fordern den Kulturbetrieb heraus. Gegen- wärtig findet österreich- wie europaweit ein Paradigmen- wechsel statt, der die gängigen Narrative überdenkt, um Voraussetzungen zu schaffen, die es erlauben, dass sich unterschiedliche Perspektiven in ihren diversen Erschei- 9
WIENER STIMMEN Kick-off für das Kooperationsprojekt „Wiener Stimmen“ mit Gordana Crnko und Anne Wiederhold-Daryanavard (Brunnenpassage) und Frank Druschel (Tonkünstler- Orchester Niederösterreich) Fotos: Wolf-Dieter Grabner nungsformen im Kultursektor wiederfinden. Solche Etukudo, Basma Jabr, Nataša Mirković, Golnar Shahyar neuen Ansätze sind ungewohnt, bergen aber vor allem und Sakina Teyna repräsentieren mit ihrer Musik somit Chancen und lassen frische Perspektiven entstehen, die nicht nur ihre eigene Stimme, sondern schaffen auch neue ästhetische Ausdrucksformen wie auch unkonven- Zugang zu den vielfältigen Musikszenen, die sich in den tionelle musikalische Begegnungen ermöglichen. letzten Jahrzehnten in Wien etabliert haben und neben den klassischen musikalischen Pfaden ein Teil eines le- „Wiener Stimmen“ zeigt, welches kreative Potenzial frei- bendigen Sounds der Stadt geworden sind. gesetzt werden kann, wenn Künstlerinnen und Künstler Das verbindende Element von „Wiener Stimmen“ zeigt aus den verschiedensten Musikszenen und -kulturen sich, über den kreativen künstlerischen Prozess hinaus, zusammenkommen. Mit Alexia Chrysomalli, Marjorie auch auf institutioneller Ebene. Entwickelt wurde die Etukudo, Basma Jabr, Nataša Mirković, Golnar Shahyar Idee gemeinsam mit der Wiener Brunnenpassage, mit der und Sakina Teyna konnten wir herausragende Sängerin- die Gesellschaft der Musikfreunde eine strategische Part- nen und starke Künstlerpersönlichkeiten Wiens gewinnen. nerschaft eingegangen ist. Beide Institutionen stimmen Sie haben ihre eigenen individuellen Stimmen und singen darin überein, dass es zu ihren Zielsetzungen gehört, in verschiedenen Sprachen – in Arabisch, Bosnisch, Kulturangebote der gesamten Bevölkerung in ihrer Viel- Deutsch, Efik, Englisch, Farsi, Griechisch, Kurdisch und falt zugänglich zu machen und aktive Teilhabe zu fördern. Türkisch. Und gleichzeitig sind sie auch „Wiener Stimmen“ Die Brunnenpassage wird seit der Gründung 2007 über in all ihren Facetten und Nuancen – laut, zart, leise, ihre die Grenzen Österreichs hinaus wahrgenommen und das Geschichten erzählend, von Freude oder Melancholie Team rund um die künstlerische Leiterin Anne Wieder- getragen, selbstbewusst in vielen Sprachen. hold-Daryanavard von internationalen Kulturinstitutionen Alle Lieder, die im Rahmen des Konzerts zu hören sein eingeladen, um sein profundes Wissen und seine prakti- werden, stehen für sich und ergeben ein großartiges Ge- schen Erfahrungen weiterzugeben. Im Rahmen des Euro- samtgefüge. Jede Sängerin vermittelt auf unterschiedliche päischen Kulturmarken-Awards 2021 wurde die Brunnen- Art und Weise, mit unterschiedlichen musikalischen passage mit dem „Europäischen Preis für Stadtkultur“ Stilen, basierend auf ihren jeweiligen Traditionen, ihre ausgezeichnet. Sicht der Welt als im Wesen immanente einzigartige Ge- schichte und Wahrheit. Alexia Chrysomalli, Marjorie 10
WIENER STIMMEN Ihr Know-how und Gespür für innovative Formate bringt die Brunnenpassage auch in der Zusammenarbeit mit dem Musikverein ein, insbesondere im Projekt „Wiener Stimmen“, als Auftakt und Zeichen für weitere innovati- ve Formate, kuratiert von Gordana Crnko, die den Musik- bereich der Brunnenpassage leitet und für die Drama- turgie von „Wiener Stimmen“ verantwortlich zeichnet. Als weiterer Kooperationspartner fungiert das Tonkünst- ler-Orchester Niederösterreich, das vor allem durch seine jahrelange Erfahrung mit seinen „Plugged In“-Konzerten das Projekt bereichert. Für „Wiener Stimmen“ steht ein großer symphonischer Apparat zur Verfügung. Die Songs werden eigens für das Konzert von dem Geiger und in diesem Bereich höchst versierten Musik-Allrounder und Komponisten Michael Radanovics für Orchester arrangiert. „Wiener Stimmen“ schafft viele Kreuzungen, geht jedoch weiter als jedes Crossover-Projekt. Über den Dialog der Mit „Wiener Stimmen“ sol unterschiedlichen musikalischen Stile hinaus entstehen Prozesse, die Bezüge zwischen der Wiener Kultur im len musikalische Brücken klassisch-musikalischen Verständnis und Musikkulturen anderer Länder herstellen und in die Gegenwart trans- geschlagen, neue Ästheti ferieren, mit dem Blick nach vorne, nicht genreübergrei- fend, sondern im Sinne einer Transformation, die neue ken kreiert und der Wiener ästhetische Erfahrungen möglich macht. Der rote Faden von „Wiener Stimmen“ soll die Begegnung sein, mit dem Musikverein durch weitere Anspruch, im gemeinsamen Austausch zwischen den Künstlerinnen und Künstlern wie auch zwischen den musikalische Handschriften jeweiligen Institutionen, in Dialog zu treten, einander befruchtend und zeichensetzend. bereichert werden. Dabei In diesem Sinne fand im Oktober mit dem Kick-off-Event der offizielle Start von „Wiener Stimmen“ statt, mit all soll bei aller Verschieden jenen, die an dem Projekt beteiligt sind. Neben Vertrete- rinnen und Vertretern des Musikvereins, der Brunnen- heit etwas Gemeinsames passage und des Tonkünstler-Orchesters haben sich mit Alexia Chrysomalli, Marjorie Etukudo, Basma Jabr, Nataša entstehen: als klares Zei Mirković, Golnar Shahyar und Sakina Teyna auch alle sechs Sängerinnen sowie Arrangeur Michael Radanovics chen für das Miteinander im Gläsernen Saal des Musikvereins eingefunden, um einander kennenzulernen und sich stimmenvoll auszu- und die verbindende Kraft tauschen – vor allem aber auch um alle Songs des Konzerts gemeinsam zu hören und den kreativen Prozess zu starten, der Musik, nicht nur auf der Energien freisetzen und entfalten lassen kann. künstlerischer, sondern Mit „Wiener Stimmen“ möchte der Musikverein die Auf- merksamkeit auf die Vielfalt der unterschiedlichsten auch auf institutioneller Stimmen lenken, sie hörbar machen und seine Türen nicht nur weit öffnen, sondern offenhalten, Raum geben Ebene. und das Haus zu einem Orientierung- und Zusammen- halt-stiftenden künstlerisch-kulturellen Ort machen, wo vielfältigste kreative und bereichernde Begegnungen möglich sind. Karin Frey Karin Frey ist als Mitarbeiterin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien im Programmbereich der Vier Neuen Säle tätig und koordiniert das Projekt „Wiener Stimmen“. 11
WIENER STIMMEN Wiener Stimmen Die Sängerinnen mit Stimmen zum Projekt Alexia Chrysomalli „Einheit durch Einzigartigkeit. Das ist etwas, das mich in all den Jahren meiner Gesangsreise begleitet hat. Für mich ist dieses Konzert eine Syn- ergie, indem wir alle durch die Ehrung Sakina Teyna unserer Einzigartigkeit zusammen- kommen und eine Einheit erreichen, „Als ich vor 14 Jahren meine Heimat die vor allem ein Gefühl von Freiheit verlassen musste, konnte ich nicht und Liebe zur gleichen Zeit ist! Ich viel Gepäck mitnehmen. Das, was ich bin dankbar!“ in meinem Herzen mitnehmen konn- te, war meine Leidenschaft für die Musik, meine Stimme, meine verbo- tene Sprache und die Geschichten der Menschen, insbesondere die der Frau. In meiner Wahlheimat Wien begeg- nete ich vielen Menschen mit unter- Marjorie Etukudo schiedlichen Geschichten, die uns verbunden haben. Hierzu zählen auch „Es ist etwas ganz Besonderes, in ei- die tollen Sängerinnen von ,Wiener nem solch altehrwürdigen Saal auf- Stimmen‘. Der Musikverein und die treten zu dürfen. Auf einer Bühne zu Brunnenpassage stellen uns mit die- singen, auf der schon so viele Größen ser Veranstaltung Brücken zur Ver- der Musikbranche gestanden sind, fügung, die uns mit einer Welt ver- erfüllt mich mit Ehrfurcht und lässt binden, in der verschiedene Sprachen, mich versuchen, nur das Beste aus vielfältige Musikformen und Klänge mir herauszuholen!“ Platz finden. Mit diesen Brücken wird Wien umso schöner. Wie schön, ein Teil dieser Brücke zu sein.“ Fotos: Wolf-Dieter Grabner 12
WIENER STIMMEN Nataša Mirković „Großartig, bei einem Projekt mitge- stalten zu dürfen, wo es um das Wort WIR geht. Das ist schon so selten auf der Welt geworden. WIR sind in der Musik schon lange verbunden. WIR hören auch Verschiedenes. Jetzt freue ich mich darauf, dass WIR UNS ken- Golnar Shahyar nenlernen. Dass WIR GEMEINSAM in dem wunderschönen Großen Saal „Man kann sich nur vorstellen, wie des Musikvereins, im Herzen Wiens, hoch die Erwartungen an ein Haus MITEINANDER Zeit verbringen. Nur wie den Musikverein sind. Das macht WIR. Außerhalb aller Weltgeschehen ein Konzert wie ,Wiener Stimmen‘ zu und aller Tagesabläufe. Ein Wohn- einem Akt des Mutes. Es ist aber auch zimmer nur für UNS. Viele Menschen ein Akt der Klugheit, da die Wiener zaubern an diesem Projekt, damit WIR Musikszene so viel zu bieten hat und GEMEINSAM diesen schönen Abend es einfach ein Verlust wäre, diesen feiern können. Taucht mit UNS ein. Ich Schatz nicht in ein Musikhaus einzu- zähle die Tage bis zum 4. Juni 2022.“ bringen, das selbst nicht weniger als ein Schatz ist. Es ist auch ein Akt der Verantwortung, ein Haus, das ,der Musik gehört‘, für alle Menschen in der Stadt einladend zu gestalten. Es ist auch ein Akt der Anerkennung des großen musikalischen Potenzials, das wir erreichen können, wenn wir Risi- Basma Jabr ken eingehen und uns auf Dinge ein- lassen, die außerhalb unserer Kom- „Jede von uns hat ihre eigene Ge- fortzone liegen. Möge dies der Beginn schichte, ihren Weg und ihren Traum, eines Prozesses sein, der uns als Mu- und mit Wiener Stimmen sind wir sikgemeinschaft zusammenbringt – zusammen auf einer Bühne, vereint auf Augenhöhe – um herauszufinden, durch die Musik und vereint durch wie unsere ,Musik der Zukunft‘ klingt. unsere starken Seelen, wie toll! All Es ist mir eine absolute Freude und diese Vielfalt wird hier in einer inten- Ehre, Teil dieses Prozesses zu sein.“ siven Harmonie der Kulturen ver- bunden, in einem Ereignis, das ein- zigartig ist. Wie inspirierend!“ Dieses Projekt wird von der Erste Bank im Rahmen der Premium-Partnerschaft mit dem Musikverein unterstützt. 13
„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“ Eines wünscht sich Martin Grubinger bei jedem Konzert: in einen Flow zu kommen, denn dann spürt er weder Anstrengung, Schmerzen noch seinen rasenden Puls, sondern nur mehr die Musik. Der Schlagzeuger spielt vor allem zeitgenössische Stücke und kritisiert, dass sich viele Musiker ihrer musikge- schichtlichen Verantwortung entziehen. 14
„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“ „Spüren, wie die Bühne brennt“ Martin Grubinger Begegnen Sie manchmal Musikern oder Studierenden, Hart. die hervorragende Künstler sind, nur leider nicht auf der Ja, manche tun sich im entscheidenden Moment Bühne? schwer. Aber um ein erfolgreicher Künstler zu sein, muss Ja, die Trainingsweltmeister, die gibt es überall, im man mit den Zuschauern kommunizieren, die musikali- Sport, in der Politik und auch in der Musik. Es gibt Stu- sche Botschaft transportieren und Emotionen über die dierende, die liefern im Unterricht oder beim internen Rampe bringen können. Nur so gelingt es, am Ende eines Vorspiel Höchstleistungen ab, aber dann bestreiten sie Abends ein Publikum nach Hause zu schicken, das über- einen Wettbewerb, eine Prüfung oder ein Konzert, und wältigt ist. Gestern haben wir ein großes Konzert gehabt, plötzlich denkst du dir: „Das kann nicht sein. Das kann ich habe mit meinen Studierenden gespielt. Kurz bevor nicht derselbe Interpret sein, mit dem ich so lange gearbei- wir auf die Bühne gegangen sind, habe ich zu ihnen ge- tet habe.“ sagt: „Das müsst ihr jetzt genießen. Das ist jetzt kein Vortragsabend vor 25 Leuten, sondern vor 2000, die alle Und was dann? eine maximale Erwartung haben.“ Das sind schon ande- Es gibt Studierende, die sich entwickeln und mit der re Voraussetzungen. Man geht hinaus und spürt schon, Zeit an Selbstvertrauen gewinnen. Und andere, die reali- wie die Bühne brennt. Gerade in Wien, wo wir schon so sieren, dass Auftritte nicht ihr Ding sind. Ich denke an viele Jahre spielen, hat das Publikum hohe Ansprüche. einen Studenten – er war der talentierteste, den ich jemals Und es kennt sich aus, es weiß so vieles über unsere Ins- hatte –, der brachte unglaubliche Voraussetzungen mit. trumente, das Schlagzeugrepertoire und die Musiker. Es Eines Tages kam er zu mir und sagte: „Martin, das ist nicht hat schon so viel gehört und so viel erlebt, man kann ihm das, was ich machen kann. Ich habe nicht die Nerven, auf nichts vormachen. Das ist fantastisch. der Bühne das abzuliefern, was ich von mir erwarte.“ 15
„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“ „Wenn ich die Wahl hätte, mich entweder mit einem Zukunftsforscher oder einem zeitgenössischen Komponisten zu unter- halten, würde ich mit dem Komponisten reden wollen. Letzterer kann viel weiter vorausschauen.“ Martin Grubinger Und druckvoll. Gut, dass Sie Ihren Musikern – bei alledem, Interessant, dass Sie diese Mission so befeuert hat. was Sie ihnen abverlangen – ausdrücklich nahelegen, Das hat sie. Für mich ist jedes Konzert eine Prüfung. dass sie so einen Abend genießen sollen. Wenn an einem Abend das Beethoven-Violinkonzert auf Unbedingt! Es gibt Künstler, die ihr Leben lang davon dem Programm steht, wird niemand die Frage stellen, ob träumen, im Musikverein, bei den Salzburger Festspielen das ein gutes Werk ist. Aber die Musik, die wir machen, oder im Konzerthaus zu spielen. Diese Burschen sind 19 also Ur- und Erstaufführungen, Konzerte, die erst vier, oder 21 Jahre alt, und es ist schon so weit. Das muss man fünf Jahre alt sind, stehen immer vor dem Publikum zur genießen, weil es nur einem ganz kleinen Prozentsatz von Verhandlung. Wenn ich da rausgehe und das Schlagwerk- Künstlern gegönnt ist, das zu erleben. konzert von Kalevi Aho spiele, diskutieren die Zuhörer und das Orchester ganz sicher, ob es gut ist. Ich muss es Genuss und Konzentration schließen einander nicht aus? also schaffen, das Werk mit so viel Leidenschaft und Be- Nein, im Gegenteil. Das ist der perfekte Flow. Dann ist geisterung zu bringen, dass sie sagen: „Großartig, wir man nur mehr mit sich, den Mitmusikern und der Musik. haben etwas Neues für unser Repertoire.“ Man nimmt um sich herum nichts mehr wahr, man ist wie in Trance. Man spürt nichts mehr, keine Anstrengung, Die Diskussion beginnt doch schon, lange bevor Sie ein keine Schmerzen, keinen Puls, obwohl der auf 190 ist. Ein neues Werk aufführen. Um das überhaupt tun zu können, wunderbarer Moment – aber man erreicht ihn nicht bei müssen Sie erstmal den Veranstalter überzeugen. jedem Konzert. Sicher, aber gerade im Wiener Musikverein gab es dafür immer wieder die Offenheit. Bloß, wenn ich das Wovon hängt es ab, ob man in diesen Flow kommt? Stück nicht gut spiele, wird der Veranstalter es künftig Von guter Vorbereitung, sodass man technisch total nicht mehr machen wollen. Darum muss ich überzeugen, drübersteht und sich nur um musikalische Dinge kümmern damit es ein anderer Künstler wieder spielen kann. Und kann. Und natürlich spielt ein voller Saal eine große Rol- dann kann das Publikum die Interpreten vergleichen, so le, denn seit der Corona-Pandemie haben wir das nicht wie es beim Beethoven-Violinkonzert etwa Janine Jansen, mehr so oft gehabt. Umso mehr Bedeutung hat das heute Nigel Kennedy oder Lisa Batiashvili einander gegenüber- für uns. stellt. Das brauchen wir Schlagzeuger auch. Sie hat es immer schon gereizt, an der Rampe stehen? Und wie treffen Sie Ihre Selektion? Nicht alles, was neu Total! Ich hatte immer die Mission, Musik in den Saal ist, muss spielenswert sein. zu bringen, die vor 15 Jahren noch als exotisch gegolten Meistens haben die Komponisten, die ich beauftrage, hat. Im Goldenen Saal des Musikverein wäre es vor 20 schon ein großes Werk. Ich schaue mir die Partituren an, Jahren völlig undenkbar gewesen, als Schlagzeugsolist treffe den Komponisten mehrfach. Ein Friedrich Cerha aufzutreten. Aber es hat sich alles gedreht. Wir haben das etwa steht in einer Reihe mit den großen Komponisten Repertoire, das Publikum, das Orchester, die Dirigenten, Österreichs der vergangenen 300 Jahre. Dieser Mann ist die Leute sind bereit. Das Schlagzeug hat sich durchgesetzt. eine Legende. Wenn ich in eineinhalb Jahren aufhöre, wird dieses Ins- trument immer seinen Platz haben. Und es wird weiter- Es gibt aber nicht nur Cerhas. gehen. Klar. Bei den jüngeren Komponisten riskiert man mehr. Aber selbst wenn ich das Gefühl habe, das Werk ist nicht überragend, werde ich das Maximum rauspressen, um es abheben zu lassen. Da ist viel möglich. 16
„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“ Samstag, 15. Jänner 2022 Sonntag, 16. Jänner 2022 Wiener Symphoniker Andrés Orozco-Estrada | Dirigent Martin Grubinger | Schlagzeug Kalevi Aho Sieidi. Konzert für Schlagzeug und Orchester Erich Wolfgang Korngold Märchenbilder, op. 3 Modest Mussorgskij Bilder einer Ausstellung (Bearbeitung für Orchester von Maurice Ravel) Wobei es ein Percussionist ja leichter hat, Zuhörer mit zeitgenössischer Musik in den Bann zu ziehen, als etwa ein Geiger. Denn es gibt unendlich viel klassische und romantische Literatur für Violine, die mit zeitgenössischer konkurriert. Das ist beim Schlagzeug nicht der Fall. Wir tun uns sicher leichter, wir haben kein Tschaikow- skij-Schlagzeugkonzert. Unser Repertoire stammt aus den letzten 30 Jahren. Nur: Wenn man sich die Musikgeschich- te ansieht, hat es immer große Solisten gegeben, die Fotos: Simon Pauly Mozart, Beethoven oder Brahms inspiriert haben. Warum hat Mozart dieses wunderschöne Klarinettenkonzert ge- Ohne das zu beabsichtigen. schrieben? Weil er Anton Stadler kannte, der großartig Stimmt, aber er tut es. Das ist für jeden von uns span- Klarinette spielte. Alle Musiker, nicht nur wir Schlagzeu- nend. Wenn wir heute in einer Uraufführung von Olga ger, haben einen musikgeschichtlichen Auftrag. Neuwirth oder Johannes Maria Staud sitzen, kann es sein, dass wir einen Moment erleben, über den die Leute noch Wird dieser Auftrag jetzt wahrgenommen? in 150 Jahren reden. Und wir waren dabei! Das hat doch Ich meine das als ernste Kritik: Viele Künstler und eine enorme Faszination. Orchester haben sich der musikgeschichtlichen Verant- Das Gespräch führte Judith Hecht. wortung und Tradition völlig entledigt. Was Anton Bruck- ner uns heute ist, wird Friedrich Cerha in 100 Jahren sein, Mag. Judith Hecht ist Juristin und Journalistin bei der „Presse“, das muss uns doch klar sein. Und auch, dass Komponisten wo sie für das Sonntagsinterview „Letzte Fragen“ Indikatoren für die Zukunft sind. Wenn ich die Wahl zuständig ist. hätte, mich entweder mit einem Zukunftsforscher oder einem zeitgenössischen Komponisten zu unterhalten, würde ich mit dem Komponisten reden wollen. Letzterer kann viel weiter vorausschauen. 17
SURPRISE! Surprise! Die Kunstpsychologie des Überraschens In England, wo Joseph Haydns Symphonie „Mit dem Paukenschlag“ 1792 ur- aufgeführt wurde, führt sie den Beinamen „The Surprise“. Der Name kam erst hinterher in Umlauf, klarerweise. Denn was wäre eine Überraschung wert, wenn man sie vorher schon ankündigen würde? Rüdiger Görner hat sich Gedanken zu Dramaturgie und Kunst des Überraschens gemacht – und kommt dabei zu überraschenden Einsichten. Gehen wir vom Wort „Überraschung“ Tod seiner ersten Frau, Maria Barba- aus: Wenn sich etwas über alle Maßen ra, komponiert hatte, eine dynamische rasch vollzieht, überrascht es uns. Klage, die sich von sich selbst gar nicht Meist sind Überraschungen mit Freu- mehr erholen möchte, die sich perpe- de verbunden oder mit dem Wunsch, tuiert und deren Ende dann Vollen- jemandem eine Freude zu bereiten, dung und Abbruch (der Elegie, der wobei Volkes Mund auch die „böse Trauer) in einem ist? Überraschung“ kennt. Die Überra- schung ist mit Plötzlichkeit verwandt, Haydns vierundneunzigste Sympho- denn es wäre widersinnig, von einer nie trägt bekanntlich im Deutschen allmählichen Überraschung zu spre- anders als im Englischen, Französi- chen. schen und Italienischen nicht die Bezeichnung „Überraschungssym- Gibt es das: einen überraschungstaug- phonie“, sondern „Mit dem Pauken- lichen Kunstgriff? Eine gelinde Über- schlag“. Im Spanischen hat sich eine raschung kann in der Musik schon ein Doppelbezeichnung eingebürgert: „La unerwarteter Tonarten- oder Rhyth- sorpresa o La del toque de timbal“. muswechsel sein. Oder das kecke „Überraschungssymphonie“ hätte im Hereinrufen der Klarinette im Final- Deutschen etwas von „Kinderüber- satz von Bruckners Fünfter, ein Ruf, raschung“, klänge irgendwie daneben, aus dem dann ein orchestrales Haupt- als schlagkräftige Bezeichnung wäre thema wird. Musikalisch weiter ge- sie einfach zu vielsilbig. „Mit dem fragt: Ist es noch eine „Überraschung“ Paukenschlag“ – man weiß sogleich, oder etwas Erhaben-Wundersames, was Sache ist. wenn Bach seine Chaconne als Ab- schluss der zweiten Partita für Violine in d-Moll dreimal so lange werden lässt wie irgendeinen anderen Satz seiner drei Partiten? Vor allem dann, wenn man sich verdeutlicht, dass er diesen Satz nach dem so plötzlichen 18
SURPRISE! zerte] der Gott des Schlafs seine Flügel „Neuem“, so wie ein Anderer später über die Versammlung ausgebreitet mit dem neuen „Tristan-Akkord“ hielt. Er sah das für eine Beschimp- überraschte, nein verblüffte. Denn fung seiner Muse an, gelobte, diesel- das Verblüffen darf als Steigerung des be zu rächen, und komponierte zu Überraschens gelten. Überraschungen diesem Endzwecke eine Symphonie, in der Musik sind eben das Unerhör- in welcher er da, wo es am wenigsten te. Kein Stück überlebt im Repertoire, erwartet wird, im Andante, das leises- das nicht zunächst unerhört war. Fotos: Archiv · Bibliothek · Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien te Piano mit dem Fortissimo im Kon- trast brachte. Um die Wirkung so Nicht jeder lässt sich gern überra- überraschend als möglich zu machen, schen. Denn Überraschungen werfen begleitete er das Fortissimo mit Pau- uns für Augenblicke des Entzückens ken. […] Haydn hatte die Pauken- aus der Bahn des Üblichen. Beetho- schläger vorzüglich gebeten, dicke ven, dessen ganzes Werk aus musika- Stöcke zu nehmen und recht unbarm- lischen Überraschungen in Form voll- herzig dreinzuschlagen. Diese ent- kommener Klangexperimente besteht, sprachen auch völlig seiner Erwar- widmete Fürst Lichnowsky seine tung. Der urplötzliche Donner des Klaviersonate Nr. 27 mit den Worten, ganzen Orchesters schreckte die dass er ihm „eine Überraschung“ habe Schlafenden auf, alle wurden wach bereiten wollen, eine unter zahllosen. und sahen einander mit verstörten Künstler verstehen sich nun einmal Takt 16, zweiter Satz. Da geschieht es: und verwunderten Mienen an. […] Da darauf, das Bedürfnis des Menschen Das Andante scheint dabei, sich ein- aber während dem Andante ein emp- nach spontanem Wechsel, das mit zuschläfern, da reißt der Fortissimo- findsames Fräulein von der überra- einem unbestimmbaren Glücksemp- G-Dur-Akkord den gemachen Rhyth- schenden Wirkung der Musik hin- finden einhergeht, formgerecht aus- mus auf. Haydn soll laut seinem gerissen, derselben nicht hinlängliche zureizen. Überraschungen, selbst der Biographen Georg August Griesinger Nervenkräfte entgegenstellen konnte, bescheidensten Art, entlasten, wenn kommentiert haben, es sei ihm daran deswegen in eine Ohnmacht fiel und auch nur kurzzeitig, den Menschen gelegen gewesen, „das Publikum an die frische Luft geführt werden von psychischem Druck. durch etwas Neues zu überraschen, mußte, so benützten einige diesen und auf eine brillante Art zu debütie- Vorfall als Stoff zum Tadel und sagten, ren, um mir nicht den Rang von Pley- Haydn habe bisher immer auf eine el, meinem Schüler, ablaufen zu las- galante Art überrascht, doch dieses sen, der zur nämlichen Zeit bey einem Mal sei er sehr grob gewesen. Haydn Orchester in London angestellt war bekümmerte sich wenig um den Tadel; (im Jahr 1792) und dessen Konzerte sein Endzweck, gehört zu werden, war acht Tage vor den meinigen eröffnet vollkommen und selbst für die Zu- wurden“. Dessen biographischer Kon- kunft erreicht.“ Nun, Ohnmachtsan- kurrent um das treffende Haydn-Bild, fälle aufgrund dieser einen Orchester- Albert Christoph Dies, überliefert stelle sind selten geworden. Was Haydns Absicht dagegen so: „Haydn beiden Überlieferungen zu entneh- machte mit Verdruß die Bemerkung, men ist: Haydn wollte überraschen, daß selbst im zweiten Akt [der Kon- verband er diesen Effekt doch mit 19
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SURPRISE! Jean-Antoine Watteau schuf um Noch einmal gefragt: Wie wird die 1718/19 eine Ikone der Rokoko-Malerei, Überraschung zum Kunstgriff, der genannt „La Surprise“. Am Maßstab zudem darin besteht, etwas zu schaf- der Rokoko-Ästhetik gemessen, be- fen, das anhaltend aufmerken lässt steht die „Überraschung“ dieses Ge- und sich nicht in seinem Überra- mäldes in der sinnlichen Intensität, schungswert verbraucht? Die Über- mit der Watteau die Umarmung des raschung ist das Unvermutete. Ob Liebespaares darstellt, ebenso die Komponist oder Couturier (Mode- Dynamik der Mezzetino-Figur aus der kreationen leben Saison um Saison Commedia dell’Arte, die ihre Gitarre von leibhaftig tragbaren Überraschun- stimmt, um sich in diese Liebesszene, gen!), Dichter, Bildkünstler (von Ins- isoliert auf verlorenem Posten blei- tallationen vor allem!) oder Regisseur Foto: Kemal Mehmet Girgin bend, einzustimmen. Das Bild fängt – es muss ihnen gelingen, mit einem eine rauschende Bewegung ein. Sta- Einfall das Publikum zu verwundern, tisch wirkt nur ein kleiner Hund, der das abgenutzte Kunstkonsumverhal- die Szene beobachtet. Überraschung ten jäh zu durchbrechen. Wenn wir Giovanni Antonini ist hier zweierlei: der Kuss und das als Hörer oder Betrachter, als Leser Auftreten des Mezzetino. Überra- oder Warenkunden für einen auch schend ist auch, dass der Gitarrist zu längeren Augenblick aufmerken, dann seiner künftigen Melodie bereits zu ist die Überraschung gelungen. Wir Wir brauchen tanzen scheint, denn das Bild zeigt brauchen Überraschungen, um nicht ihn ja beim Stimmen seines Instru- zu verdämmern, um zu spüren, was Überraschungen, ments. ein Reiz ist, ohne dass die Kunst den Reiz überreizt. So scheitert eine In- um nicht zu ver- „Surprised by Joy – impatient as the szenierung, die eine Überraschung wind“, wie Wordsworth dichtete; C. S. nach der anderen bietet. Wer nur noch dämmern, um zu Lewis, einst ein Schriftsteller mit überrascht, enttäuscht. Auch für allzu Millionenauflagen, heute allenfalls bemüht bereitete Überraschungen, spüren, was ein noch bekannt als Verfasser des Epos ob auf der Bühne, im Kunstwerk oder für Kinder, „Die Chroniken von Nar- im Privaten, gilt Goethes Wort im Reiz ist, ohne nia“ (1950), erfolgreich verfilmt mit „Tasso“: „So fühlt man Absicht, und Tilda Swinton in einer der Hauptrol- man ist verstimmt.“ Vermutlich be- dass die Kunst len (2005), Lewis also wählte diese müht sich deswegen unser Mezzetino Formulierung von Wordsworth, je- so sehr darum, spielerisch seine Gi- den Reiz über- doch ohne den Zusatz „ungeduldig tarre zu stimmen, damit sein über- wie der Wind“, als Titel für seine raschendes Hinzukommen zu dieser reizt. Autobiographie. Diesen Augenblick Watteau’schen Liebesszene stimmig des Überrascht-Werdens durch Freu- bleibt. de beschreibt er als den Moment sei- Rüdiger Görner ner Konvertierung vom Atheismus zum christlichen Glauben, ein Um- Univ-Prof. Dr. Rüdiger Görner ist Professor für Montag, 24. Jänner 2022 kehrpunkt im Lauf des Lebens. neuere deutsche Literatur und Gründungs- direktor des Centre for Anglo-German Cultural Il Giardino Armonico Relations am Queen Mary College, University of Kammerorchester Basel London. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher – Giovanni Antonini | Dirigent u. a. über Hölderlin, Goethe, Nietzsche, Trakl, Rilke, Thomas Mann und Oskar Kokoschka – „Surprise“ und zuletzt „Romantik. Ein europäisches Ereignis“. Joseph Haydn Symphonie C-Dur, Hob. I:90 Symphonie B-Dur, Hob. I:98 Gioacchino Rossini Ouvertüre zur Oper „La scala di seta“ Joseph Haydn Symphonie G-Dur, Hob. I:94, „Mit dem Paukenschlag“ Jean-Antoine Watteau: La Surprise / Foto: Paul J. Getty Museum Los Angeles 21
DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK Für Julia Fischer ist ihr Streichquartett mit Alexander Sitkovetsky, Nils Mön- kemeyer und Benjamin Nyffenegger als Formation „das, wovon man träumt“. Und die Konzerte des Ensembles spre- chen für sich. Im Jänner gastiert das kammermusikalische Dream-Team wieder im Musikverein. Foto: Irène Zandel 22
DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK Dream-Team der Kammermusik Das Julia Fischer Quartett „Schon der erste leise Akkord … war eine kleine Offen- menwürfeln und dann davon ausgehen, dass man mit barung. Nicht immer erlebt man live Streichquartette mit wenigen Proben auf das Level eines Orchesters kommt.“ so sauberer Intonation und derart nobler Klangqualität. Egal ob es um Intonation, Bogenwechsel, Artikulation, Und es wird schnell klar, dass vier Musiker, die auch so- Dynamik geht: „Wenn das beim Streichquartett nicht listisch brillant sind, eine herausgehobene Ensemble- wirklich stimmt, macht die Literatur fürs Publikum keinen leistung zustande bringen. Es gibt ja recht viele gute Spaß und für die Musiker auch nicht“, weiß Julia Fischer. Quartette, aber selten erlebt man ein solches, in dem jeder „Vieles kann man nicht in zwei Proben lernen, auch nicht Einzelne ein besonderer Instrumentalist ist.“ Die „West- in zwei Monaten. Das muss wachsen, das lernt man über deutsche Zeitung“ bringt es in einer Konzertkritik über Jahre.“ das Julia Fischer Quartett auf den Punkt. Wo auch immer Vor zehn Jahren ging das Julia Fischer Quartett erstmals das Ensemble auftritt, klingen die Rezensionen ähnlich. auf Tournee. Im Jahr zuvor waren die vier herausragenden Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa hebt das „vitale Mitein- Solisten erstmals zu viert zum gemeinsamen Kammer- ander aus symphonischem Geist“ und die „enormen musizieren zusammengekommen. „Alle drei sind lang- Ausdrucksenergien“ hervor. jährige Freunde von mir und Kollegen, mit denen ich über Jahre hinweg viel gespielt und gearbeitet habe. Und nicht „Ich wollte die Streichquartettliteratur in meinem musi- nur ich mit den drei, sondern auch die drei untereinander“, kalischen Leben nicht missen“, sagt Julia Fischer im erzählt Julia Fischer. „Als es sich dann 2010 bei meinem Gespräch. „Aber ich habe den Anspruch an mich selber: Festival am Starnberger See ergeben hat, dass wir mit Wenn ich das mache, muss das mit einer Gruppe sein, mit einander Quartett gespielt haben, haben wir festgestellt: der ich dann auch bleibe. Das Streichquartett ist die ein- Das passt, das funktioniert.“ zige Formation, die man nicht zusammenwürfeln kann, „Eine Hauptfrage ist natürlich Geige und Geige“, führt es ist die komplizierteste, schwierigste und durchsich- Julia Fischer ins Treffen. Mit Alexander Sitkovetsky, den tigste – ein bisschen wie ein Mini-Orchester: Man kann sie mit elf Jahren beim Menuhin-Wettbewerb kennen- auch ein Orchester nicht so einfach per Telefon zusam- lernte, verbindet Julia Fischer das gleiche Geburtsjahr 23
DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK Foto: Irène Zandel und die musikalische Herkunft aus der russischen Schu- Freilich wäre es ein Trugschluss zu denken, bei einem le. „Alexander war an der Menuhin-Schule, und meine solchen Dream-Team müsste in der Zusammenarbeit Lehrerin Ana Chumachenco war auch Schülerin von immer alles eitel Wonne sein. „Da gab es auch Streiterei- Yehudi Menuhin. Dadurch, glaube ich, können wir im en, Kämpfe und Geschrei“, hält Julia Fischer lachend fest. Zusammenspiel gleich auf einem anderen Level starten.“ „Das haben wir alles gemacht. Es ist ja nicht so, dass wir Mit dem deutschen Bratschisten Nils Mönkemeyer hat an jedes Werk mit der gleichen Einstellung herangehen. Julia Fischer studiert und schon damals viel musiziert Ich gehe natürlich in jede Probe, egal ob Quartett oder – auch ihn, der heute auch ein Kollege als Professor an Duo oder Violinkonzert, erst einmal mit einer sehr ge- der Musikhochschule München ist, kennt sie seit rund festigten Meinung, in welcher Interpretation ich dieses zwanzig Jahren. „Nils und ich“, sagt Julia Fischer, „das Stück spielen möchte. Und das ist bei den anderen genau- ist eine von diesen Begegnungen, die man nicht oft im so, denke ich.“ Da komme dann die persönliche Einstel- Leben hat. Wir sind einfach absolut seelenverwandt. Ob lung, die Haltung ins Spiel, kurz: „der Charakter: Ist man wir zu zweit spielen oder in einer Gruppe von zehn: Wir bereit, sich eine andere Meinung anzuhören, sich darauf empfinden immer gleich.“ Und der Schweizer Cellist einzulassen, was ein anderer zu sagen hat? Diesen Dis- Benjamin Nyffenegger ist „einer der begeisterungsfähigs- kussionen muss man sich stellen können, man muss auch ten Musiker“, die sie kenne, „wahnsinnig besessen, fleißig, argumentieren können und bereit sein, über seinen eige- anspruchsvoll, sich selbst, aber auch allen anderen gegen- nen Schatten zu springen, einen musikalischen Weg über. Wenn die Bratsche ein Solo hat, dann hat er das einzuschlagen, den man alleine nie gehen würde. Ich dringende Bedürfnis, alles dafür zu tun, damit die Bratsche glaube, nur wenn man diese Neugierde hat, kann man noch schöner klingt. Diese Kombination“, sagt Julia Fischer Quartett spielen.“ über ihr Streichquartett, „ist das, wovon man träumt.“ Dass alle vier Quartettmitglieder auch als höchst erfolg- reiche Solisten tätig sind, kommt ihnen im Ensemblespiel zugute, meint Julia Fischer. „Da haben wir unsere Narren- freiheit zu tun, was wir wollen. Aber wenn wir uns zum „Ich finde einfach, auch in Quartettspielen treffen, ist unser Ziel, als Gruppe das Maximale herauszuholen. In diesen Momenten stellt jeder der neuen Musik ist es von uns das Quartett vor sich selbst.“ wichtig, dass sie die Men- schen emotional erreicht.“ Julia Fischer 24
DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK Die Programme entstehen stets gemeinsam. „Wir sitzen dann bei einer Tournee zusammen und reden darüber, was wir machen könnten, wer welche Wünsche und Ideen hat. Das Schöne ist ja: Das Repertoire ist riesengroß, fast unerschöpflich und völlig unterschiedlich.“ Für die erste Tournee nach der pandemiebedingt langen Pause haben die vier Musiker zwei Klassiker des Repertoires gewählt: Donnerstag, 27. Jänner 2022 Mozarts Quartett KV 421 und Tschaikowskijs Erstes Quar- tett, das Opus 11. Als drittes Werk wurde ein neues Stück Julia Fischer Quartett in Auftrag gegeben. Julia-Fischer-Fans ist der Name Andrey Rubtsov nicht ganz unbekannt. Die Geigerin hat Wolfgang Amadeus Mozart – mit der Academy of St Martin in the Fields – bereits 2016 Streichquartett d-Moll, KV 421 Rubtsovs Violinkonzert und 2018 seine Kammersympho- Andrey Rubtsov nie zur Uraufführung gebracht. Der gleichaltrige Kompo- Streichquartett (Österreichische nist war Solooboist des Russischen Nationalorchesters, Erstaufführung) als Julia Fischer dort 2001 ihr Debüt gab. „Andrey war der Peter Iljitsch Tschaikowskij einzige Musiker, der Englisch sprach. Mit ihm konnte ich Streichquartett D-Dur, op. 11 mich unterhalten, und es ist sofort eine fast rührende musikalische Freundschaft entstanden. Wir haben uns über all die Jahre sehr selten gesehen, waren aber durch- Den ganzen Sommer über war Julia Fischer im regen gehend in Kontakt und wussten, was der andere gerade Austausch mit dem Komponisten, erhielt Informationen, macht. Von seiner Musik bin ich einfach immer hingeris- Themen, Noten. Seit September ist das neue Streichquar- sen. Er schreibt so inspirierte und emotionale Musik. Ich tett fertig und liegt freilich auch Alexander Sitkovetsky, finde einfach, auch in der neuen Musik ist es wichtig, dass Nils Mönkemeyer und Benjamin Nyffenegger vor. „Jeder sie die Menschen emotional erreicht, und das ist bei sei- hat sein Thema, jeder hat gut zu tun, und jeder kann das ner Musik einfach immer der Fall. Und: Man merkt, dass Instrument benutzen, wie er es gelernt hat. Keiner muss er selber Interpret ist, weil er so schreibt, dass man als auf irgendwelchen Kinnhaltern herumhauen oder rum- Musiker weiß, was man zu tun hat, und trotzdem Raum tanzen oder dazu pfeifen“, sagt Julia Fischer ernst und für die eigene Interpretation bleibt.“ doch mit spürbarem Augenzwinkern. Nun geht es darum, noch vor Weihnachten eine freie Phase für die Proben zu finden, denn in einem Punkt geht es allen gleich: „Viele Konzerte vom vergangenen Jahr wurden auf dieses Jahr verschoben, aber man hat ja auch geplante Konzerte für dieses Jahr. Man hat jetzt ganz einfach einen doppelten Kalender.“ Auch diese Übung wird gelingen, und dann geht es end- lich wieder gemeinsam auf Tournee, die auch in den Musikverein führt: mit Klassikern von Mozart und Tschai- kowskij und einem vielversprechenden neuen Werk, ge- spielt von einem Dream-Team der Kammermusik. Ulrike Lampert Mag. Ulrike Lampert ist Redakteurin der Zeitschrift „Musikfreunde“ und der Programmhefte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Foto: Uwe Arens 25
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