MUSIKFREUNDEJÄNNER - Wahlver-wandtschaften SIR ANDRÁS SCHIFF IM PORTRÄT - Musikverein

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MUSIKFREUNDEJÄNNER - Wahlver-wandtschaften SIR ANDRÁS SCHIFF IM PORTRÄT - Musikverein
MUSIKFREUNDE                   JÄNNER
                               2022

Wahlver-
wandtschaften
SIR ANDRÁS SCHIFF IM PORTRÄT
MUSIKFREUNDEJÄNNER - Wahlver-wandtschaften SIR ANDRÁS SCHIFF IM PORTRÄT - Musikverein
MUSIKFREUNDEJÄNNER - Wahlver-wandtschaften SIR ANDRÁS SCHIFF IM PORTRÄT - Musikverein
MUSIKFREUNDE

                         Inhalt

4 		Wahlverwandtschaften                    30		Der Geist des Hauses
    Sir András Schiff im Porträt                Spuk im Musikverein?

 8		Wiener Stimmen                          36		Die Gegenwart der Erinnerung
    Eine Zusammenarbeit mit der                 Markus Hering erschließt
    Brunnenpassage                              den Gert-Jonke-Kosmos

14   „Spüren, wie die Bühne brennt“        40		Wiener Wahlberliner
     Martin Grubinger                          Andreas Ottensamer

18   Surprise!                              44		Die gestiefelte Katze
     Die Kunstpsychologie                       Eine Uraufführung bei Allegretto
     des Überraschens

22   Dream-Team der Kammermusik
     Das Julia Fischer Quartett

26   Der Super-Maestro
     Valery Gergiev

                                          Standards
                                             3 Editorial
                                            34 Alla breve
                                            49 Kalendarium Jänner
                                            54 Preludio
                                            56 Vorschau Februar
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Zwischentöne
                 Der Zwischenton macht
                 die Musik. Täglich im
                 Leben, im Feuilleton
                 der „Presse“ und unter
                 DiePresse.com/kultur

                   Klassisch
               und zeitgenössisch:
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MUSIKFREUNDE

                               Editorial

Liebe Musikfreundinnen
und Musikfreunde,

Vertiefung und Weitung, Intensivierung und Öffnung:             vatorium des Musikvereins unterrichtete. Ganz in diesem
Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bewegt sich,          Sinn haben auch András Schiff und Robert Holl junge
und sie tut es voll Überzeugung und Enthusiasmus in             Künstlerinnen und Künstler für ihre Schubertiade im
beide Richtungen. Die Porträts und Komponistenschwer-           Jänner eingeladen.
punkte, die wir für die Saison 2021/22 geplant haben,
vertiefen das Konzertgeschehen auf vielfältige Weise. Sir       Wiener Stimmen waren das, die damals, 1828, mit Franz
András Schiff ist in dieser Saison der Künstler mit dem         Schubert erstmals im Musikverein zu hören waren. Wir
umfassendsten Porträt: Nicht weniger als acht verschie-         übertragen solche Gedanken ins Heute und verbinden
dene Programme hat er mit uns gemeinsam konzipiert.             sie mit einem entschlossenen Schritt zur gesellschaftlichen
Nach seinem ersten, begeistert aufgenommenen Porträt-           Öffnung: „Wiener Stimmen“ ist ein Projekt, das wir ge-
konzert mit der Cappella Andrea Barca gibt er nun einen         meinsam mit der Wiener Brunnenpassage entwickelt und
Abend mit seinem Freund Robert Holl. „Wahlverwandt-             nun gestartet haben. Sechs junge, in Wien lebende Sän-
schaft, Seelenverwandtschaft“, sagt András Schiff in            gerinnen wurden eingeladen, eigene Songs in einem ge-
dieser Ausgabe der „Musikfreunde“, verbinde ihn mit             meinsamen künstlerischen Prozess für großes Orchester
Robert Holl – und „vor allem die Liebe zu Schubert“.            bearbeiten zu lassen. Am 4. Juni wird das Resultat in einem
                                                                Konzert mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich,
Diese Liebe kommt in einem Konzert zum Tragen, das              einem weiteren Kooperationspartner, im Großen Musik-
sich an den Geist der Schubertiade anschließt und aufs          vereinssaal zu hören sein. Es geht dabei nicht nur um eine
schönste an die Geschichte der Gesellschaft der Musik-          faszinierende Konzertidee, sondern um einen großen,
freunde anknüpft. Mit seinen „Abendunterhaltungen“              nachhaltigen Schritt zur Weitung: hin auf die diverse,
schloss sich der junge Musikverein damals an die Musik-         vielfältige, pulsierende Wiener Stadtgesellschaft. Wir
kultur der Salons an, er transformierte, wie man sagen          freuen uns, Ihnen in dieser Ausgabe auch davon berichten
könnte, ein Programmformat aus dem privaten Bereich             zu können. Wiener Stimmen – einst und jetzt.
ins Öffentliche, und so sann auch Franz Schubert darauf,
im Musikverein eine „öffentliche Schubertiad“ zu ver-           Herzlich
anstalten. Die Gesellschaft der Musikfreunde ging gern
darauf ein und überließ ihm ihr Haus für ein „Privatkon-
zert“, bei dem auch zum ersten Mal öffentlich das be-
rühmte „Ständchen“, D 920, für Altsolo und Frauenchor
zu hören war. Das Vokalensemble bildeten damals Schü-           Dr. Stephan Pauly
lerinnen der legendären Anna Fröhlich, die am Konser-           Intendant der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

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WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Die Gesellschaft der Musikfreunde widmet Sir András Schiff ein umfassendes
Porträt. Acht Konzerte zeigen den Künstler in den unterschiedlichsten Facet-
ten seines Wirkens: im Jänner 2022, gemeinsam mit Robert Holl, als leiden-
schaftlichen Schubert-Liebhaber und Liedpianisten. Im Gespräch mit Musik-
vereinsintendant Dr. Stephan Pauly spricht András Schiff über seine Pro­-
grammwahl und die Möglichkeiten, die ihm die Musikvereinsresidenz bietet.

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WAHLVERWANDTSCHAFTEN

          Wahlverwandt-
            schaften
                          Sir András Schiff im Porträt

Lieber András, wir freuen uns enorm über deine Residenz    Dieser Abend ist gemeinsam mit Robert Holl entwickelt
im Musikverein mit acht Konzerten. Nach dem ersten         worden. Was verbindet euch beide?
Konzert, das du mit deiner Cappella Andrea Barca und          Große Beziehung, große Freundschaft, Wahlverwandt-
Werken von Mozart und Schubert gegeben hast, steht         schaft, Seelenverwandtschaft – vor allem die Liebe zu
nun, im zweiten der Reihe, das Lied im Zentrum. Es wird    Schubert. Wir trafen uns bei der Schubertiade, damals
einen großen Abend geben: zusammen mit Robert Holl,        noch in Hohenems, und wir wurden sofort Freunde und
mit jungen Sängerinnen und Sängern, mit einem Instru-      haben sehr viel zusammen musiziert, vor allem Schubert.
mentalensemble. Wie wichtig ist für dich Liedbegleitung,   Ich kenne wenige Leute, die Schubert’sche Musik so lieben
und ist „Begleitung“ eigentlich das richtige Wort?         und verstehen wie Robert. Er hat auch eine sehr tiefe
    Begleitung ist ein Schimpfwort, das darf man nicht Kenntnis der Literatur. Er kennt diese Dichter in- und
sagen … Man darf es natürlich, aber wenn ich das höre, auswendig.
denke ich, man wird von der Polizei „begleitet“. Nein, das
ist eine Partnerschaft zwischen Singstimme und Klavier. Wenn man auf die Gattung des Liedes schaut, wird man
Niemand ist wichtiger als der andere. Eine Partnerschaft, feststellen müssen, dass in den zurückliegenden Jahren
ja! Von Kindheit an hatte ich das Glück, mit György Kur- das Publikum an vielen Orten – nicht an allen – kleiner
tág studiert zu haben. Ich war 14 Jahre alt, und Professor geworden ist. Woran könnte das deiner Meinung nach
Kurtág gab mir Schubert-Lieder zu lernen. Da musste ich liegen? Ist symphonisches Repertoire „leichter“ zu hören?
singen und spielen und mich begleiten. Das war eine Ist es ein Problem des Hörens?
wunderbare Erfahrung. Auch die Literatur spielt eine          Symphonisches Repertoire ist leichter zu hören, es ist
große Rolle, die Poesie, diese wunderschönen Gedichte. spektakulärer, aber ich würde alles tun für zwei Gattungen,
Da konnte ich Gott sei Dank schon Deutsch. Diese Lied- die für mich wichtigsten: die Streichquartette und die
literatur bedeutet für mich an allererster Stelle Franz Lieder. Die sind intim, man braucht die passenden Räume,
Schubert und dann natürlich Schumann und Brahms und nicht zu groß, aber das habt ihr in Wien … Ich möchte
Hugo Wolf und alle … Diese Literatur deutscher Lieder, jetzt nicht so dumm nostalgisch klingen …, aber als wir
das ist eine großartige Tradition.                         damals in Hohenems mit Robert Holl „Die Bürgschaft“
                                                           aufgeführt haben, die Schiller-Ballade in der Schubert-
Schubert saß beim Vortrag seiner Lieder ja oft genug Vertonung, da saß da noch ein Publikum, von denen jeder
selbst am Klavier. Merkt man das eigentlich pianistisch? diese Ballade auswendig kannte – das ist keine Kleinigkeit.
    Absolut. Schubert war nicht ein Klaviervirtuose wie Das ist eine Bildungsfrage und eine Erziehungsfrage. Ich
Beethoven oder Mozart, aber laut Zeitgenossen hat er glaube, in Zukunft müssen wir, sowohl Veranstalter als
wunderschön mit sehr, sehr schönem Anschlag und sehr, auch Interpreten, mehr für die Erziehung tun und vielleicht
sehr sensibel Klavier gespielt. Das hätte ich irrsinnig ein bisschen erklären. Ich mache es jetzt auch sehr gerne
gerne gehört. Ja, das ist eine ganz eigene Klaviersprache. in meinen Klavierabenden. Ich spreche zum Publikum,
Das sehen wir auch in seinen Impromptus und in den und das kommt sehr gut an.
Klaviersonaten. Sie sind oft wie Lieder ohne Worte. Schu-
bert hat eine ganz transparente, durchsichtige Art, für
das Klavier zu schreiben. Das ist nie so vollgriffig wie
Beethoven, sondern ganz feinsinnig und immer trans-
parent.

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WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Donnerstag, 13. Jänner 2022

Sir András Schiff | Klavier
Robert Holl | Bass
Anja Mittermüller | Mezzosopran
Jan Petryka | Tenor
Angelo Pollak | Tenor
Johannes Bamberger | Tenor
David Jagodic | Tenor
Clemens Kölbl | Bariton
Georg Klimbacher | Bariton
Martin Summer | Bass
Hariolf Schlichtig | Viola
Yuuko Shiokawa | Viola
Rafael Rosenfeld | Violoncello
Xenia Jankovic | Violoncello
Brita Bürgschwendtner | Kontrabass

Franz Schubert                                                                                                    Fotos: Wolf-Dieter Grabner

Lieder und mehrstimmige Gesänge

Die Förderung von jungen Künstlerinnen und Künstlern,              ihnen anhören, dass man wirklich drei findet, drei pro
Pianistinnen und Pianisten ist dir ein großes Anliegen,            Jahr, die dann für mein Gefühl interessant sind und etwas
das Unterrichten zum Beispiel. Im Rahmen deiner Resi-              zu sagen haben. Es gibt keine Pflichtstücke. Die Klavier-
denz gibt es auch ein Projekt in diesem Zusammenhang:              literatur ist groß, und niemand kann – inklusive mir –
„Building Bridges“. Was ist die Idee dahinter – und wie            alles gleich gut spielen. Wir müssen wählerisch sein. Ein
hast du die beteiligten jungen Pianistinnen ausgesucht?            Programm ist wie eine Visitenkarte.
   Ja, das stimmt. Das Pädagogische spielt eine immer
wichtigere Rolle in meinem Leben. Ich habe jetzt auch              Ich freue mich enorm auf den Abend, weil das ja auch
meine eigene Klasse in Berlin an der Barenboim-Said-               ein Zeichen ist: dass in deiner Residenz drei junge Pia-
Akademie, und das interessiert mich sehr – unterrichten            nistinnen eine Möglichkeit zum Auftritt haben. Vielleicht
und auch die Förderung von jüngeren Musikern und                   nochmals in deine Biographie zurückgefragt – ich weiß
Künstlern. Es gibt so viele Wettbewerbe, und das ist für           nicht, ob man das so fragen kann: War es früher einfacher,
mich wie eine Hölle. Musik ist ja kein Sport! Das kann             ein junger Künstler zu sein und seinen Weg zu finden in
man nicht vergleichen, das ist irrsinnig subjektiv. Was            die Welt der klassischen Musik als Beruf?
dem einen gefällt, das gefällt dem anderen nicht. Es gibt              Fragen kann man. Ja und nein … Vieles war damals
natürlich gewisse objektive Kriterien: Wer spielt schneller,       viel schwerer. Für mich persönlich in Ungarn aufzuwach-
wer spielt lauter? Und wer macht wenige oder keine Feh-            sen, das war wunderbar. Eine bessere musikalische Aus-
ler? Das sind die objektiven Kriterien. Für mich ist das           bildung hätte ich nicht haben können. Dann nach West-
ekelhaft und hat mit Kunst nichts zu tun. Entscheidend             europa zu kommen war irrsinnig schwierig. Das war ein
in der Kunst sind die nicht messbaren Elemente. Die                Privileg. Man musste eine Einladung haben, um eine
kommen zu kurz in den Wettbewerben. Ich möchte den                 Erlaubnis zu bekommen. Also, das war nicht so wie heu-
Jugendlichen und Jungen helfen, damit sie keine Wett-              te. Es passiert mir sehr oft – und ich bin ziemlich entsetzt
bewerbe machen müssen. Das Ziel ist, dass sie Konzert-             darüber: Ich spiele einen Klavierabend in London oder in
möglichkeiten haben.                                               Wien, und dann kommen so junge Pianisten, klopfen mir
                                                                   auf die Schulter und sagen „und übrigens, hier ist meine
Das heißt, deine alternative Idee der Förderung ist Aus-           neue CD von den Goldberg-Variationen“ … Wir hätten uns
bildung, Unterricht, Dialog, aber eben auch: Du lädst drei         das nie getraut. Wenn ich in einem Konzert von Richter
Pianistinnen und Pianisten ein und stellst sie vor und             oder Rubinstein war – ich hätte nie daran gedacht, in die
gibst ihnen somit ein Forum.                                       Nähe zu kommen. Ich hatte auch keine CD. Wir waren
   Es kommen sehr viele Junge zu mir, wo auch immer                viel bescheidener. In diesem Sinne war es damals schwe-
ich bin, und sie wollen mir etwas vorspielen. Ich sage sehr        rer. Allerdings ist es für die heutigen auch sehr schwer,
selten Nein. Wenn ich ein bisschen Zeit habe, höre ich sie         weil es sehr viele von ihnen sind. Vorne oder oben ist
mir an. Man muss aber Dutzende oder Hunderte von                   immer Platz, an die Spitze kann man schon kommen.

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WAHLVERWANDTSCHAFTEN

„Ohne Wien und ohne den Musikverein wäre das Leben
eines Musikers sehr armselig.“
                                                                                                                        Sir András Schiff

Aber in der Mitte ist sehr viel Verkehr. Das Problem ist,        Ohne Wien und ohne den Musikverein wäre das Leben
dass jeder von diesen jungen Instrumentalisten … sie             eines Musikers sehr armselig. Wien ist sehr privilegiert
denken, dass sie etwas Besonderes sind. Das müssen aber          mit solchen Sälen. Der Goldene Saal ist ein Traum. Da
die anderen von einem denken.                                    kommt man rein … man versteht das Wunder dieses Saals,
                                                                 wenn das Publikum kommt. Es hat fast keinen Sinn, dort
Vielleicht auch hier nochmal vereinfacht gefragt: Was            im leeren Saal zu proben, denn „oh, hier ist sehr viel Nach-
ist dein wichtigster Rat, den du jungen Pianistinnen und         hall“, und dann kommt das Publikum – und plötzlich ist
Pianisten mit auf den Weg geben kannst?                          alles perfekt. Der Saal spielt mit. Er ist wie ein Instrument.
   Also Bescheidenheit ist ein guter Ratschlag. Anderer-         Das Gleiche im Brahms-Saal. Das ist auch für Kammer-
seits: Selbstbewusstsein ist auch wichtig. Wenn du ach so        musik, für Streichquartett, für Lieder ganz ideal und sehr,
bescheiden bist, dann kannst du niemals auf die Bühne            sehr atmosphärisch.
kommen. Ich habe ein gewisses Selbstbewusstsein, aber
ich bin auch jetzt noch nervös vor jedem Konzert. Das ist        Wir freuen uns enorm auf die kommenden Konzerte
das Jetzt und Hier und Nie-Wieder. Das ist, was zählt –          deines Porträts in der Saison 2021/22! Vielen Dank, dass
und wir sind keine Maschinen. Aber Bescheidenheit, eine          du diese Konzerte mit uns geplant hast, und vielen Dank
echte, ganz intensive Liebe für die Musik … das klingt           für das schöne Gespräch.
selbstverständlich, aber das ist nicht immer da: Das ist
kein Beruf, das ist keine Karriere, das ist eine Berufung,                              Das Gespräch führte Intendant Dr. Stephan Pauly.
sie muss da sein und ein Glücksgefühl, dass wir das ma-
chen dürfen … und sehr viel Disziplin. Begabung ist das
Wichtigste, aber das genügt alleine nicht.

Vielleicht zum Schluss noch ein Blick auf alle deine Kon-
zerte in deiner Residenz. Sie werden stattfinden im
Großen Saal des Musikvereins und im Brahms-Saal. Wie             Einen weiteren Teil des Gesprächs, bezogen auf die
würdest du die beiden Säle beschreiben und wahrneh-              Porträtkonzerte im Februar und März 2022, veröffent-
men?                                                             lichen wir in der kommenden Ausgabe der „Musik-
                                                                 freunde“. Das komplette Interview können Sie als
                                                                 Video im Youtube-Kanal des Musikvereins sehen.

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WIENER STIMMEN

     Wiener Stimmen
                           Eine Zusammenarbeit mit
                              der Brunnenpassage

Es ist ein zentrales Ziel für die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, sich den
vielfältigen Wiener Stadtgesellschaften weiter zu öffnen. Gemeinsam mit der
Wiener Brunnenpassage hat sie dazu ein erstes großes künstlerisches Projekt
gestartet: Wiener Stimmen. Ein weiterer Kooperationspartner des innovativen
Projekts ist das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich.

Mit dem großangelegten Kooperationsprojekt „Wiener             „Die Emporbringung der Musik“ war das zentrale An-
Stimmen“ lädt der Wiener Musikverein sechs in Wien             liegen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien bei
lebende Sängerinnen mit unterschiedlichen musikalischen        ihrer Gründung im Jahr 1812, getragen von der Vision,
und sprachlichen Backgrounds ein, ihre Songs in einem          Musik der bürgerlichen Gesellschaft – und somit nicht nur
gemeinsamen künstlerischen Prozess für großes Orches-          dem Adel – zugänglich zu machen. Im Fokus stand die
ter bearbeiten zu lassen und am 4. Juni 2022 im Rahmen         rezipierende wie produzierende Beschäftigung mit Musik,
des Musikverein Festivals auf der Bühne des Großen Saals       die Sammeltätigkeit und Musikausbildung, „der Selbst-
mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich und             zweck und Selbstgenuss derselben“ waren „nur unter-
unter der Leitung des englischen Dirigenten Wayne Mar-         geordnete Ziele“. Mit diesem hochgesteckten Anspruch
shall zur Aufführung zu bringen. Damit sollen musikali-        verpflichtete sich der Musikverein von Anfang an zu einer
sche Brücken geschlagen, neue Ästhetiken kreiert und           offenen und dynamischen, auf ständige Entwicklung und
der Wiener Musikverein durch weitere musikalische              Optimierung ausgerichteten Haltung. Dieser Gründungs-
Handschriften bereichert werden. In dem dabei entste-          gedanke ist und bleibt auch über 200 Jahre später ein
henden kreativen Dialog wird bei aller Verschiedenheit         Motor – ins Heute übersetzt: Menschen in ihrer Vielfalt
ein gemeinsamer Konzertabend entstehen, in dem alle            die lebensbereichernde Erfahrung von Musik zu ermög-
Beteiligten im Austausch und auf Augenhöhe zusammen-           lichen und sie für alle, die es wollen, erlebbar zu machen.
arbeiten, als klares Zeichen für das Miteinander und die       Die heutige Realität ist jedoch eine andere als damals.
verbindende Kraft der Musik. „Wiener Stimmen“ soll             Eine zunehmend heterogener werdende Gesellschaft ist
somit zeitgenössische musikalische Begegnungen ermög-          im Wandel begriffen, geglaubte Wirklichkeiten splitten
lichen und Raum geben, in dem gemeinsames Musik-­              sich auf, kulturelle Gewissheiten werden hinterfragt, Be-
Erleben stattfindet.                                           grifflichkeiten neu definiert. All diese gesellschaftlichen
                                                               Phänomene fordern den Kulturbetrieb heraus. Gegen-
                                                               wärtig findet österreich- wie europaweit ein Paradigmen-
                                                               wechsel statt, der die gängigen Narrative überdenkt, um
                                                               Voraussetzungen zu schaffen, die es erlauben, dass sich
                                                               unterschiedliche Perspektiven in ihren diversen Erschei-

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WIENER STIMMEN

 Kick-off für das Kooperationsprojekt
„Wiener Stimmen“ mit Gordana Crnko
  und Anne Wiederhold-Daryanavard
                (Brunnenpassage) und
        Frank Druschel (Tonkünstler-­
         Orchester Niederösterreich)

Fotos: Wolf-Dieter Grabner

nungsformen im Kultursektor wiederfinden. Solche                   Etukudo, Basma Jabr, Nataša Mirković, Golnar Shahyar
neuen Ansätze sind ungewohnt, bergen aber vor allem                und Sakina Teyna repräsentieren mit ihrer Musik somit
Chancen und lassen frische Perspektiven entstehen, die             nicht nur ihre eigene Stimme, sondern schaffen auch
neue ästhetische Ausdrucksformen wie auch unkonven-                Zugang zu den vielfältigen Musikszenen, die sich in den
tionelle musikalische Begegnungen ermöglichen.                     letzten Jahrzehnten in Wien etabliert haben und neben
                                                                   den klassischen musikalischen Pfaden ein Teil eines le-
„Wiener Stimmen“ zeigt, welches kreative Potenzial frei-           bendigen Sounds der Stadt geworden sind.
gesetzt werden kann, wenn Künstlerinnen und Künstler               Das verbindende Element von „Wiener Stimmen“ zeigt
aus den verschiedensten Musikszenen und -kulturen                  sich, über den kreativen künstlerischen Prozess hinaus,
zusammenkommen. Mit Alexia Chrysomalli, Marjorie                   auch auf institutioneller Ebene. Entwickelt wurde die
Etukudo, Basma Jabr, Nataša Mirković, Golnar Shahyar               Idee gemeinsam mit der Wiener Brunnenpassage, mit der
und Sakina Teyna konnten wir herausragende Sängerin-               die Gesellschaft der Musikfreunde eine strategische Part-
nen und starke Künstlerpersönlichkeiten Wiens gewinnen.            nerschaft eingegangen ist. Beide Institutionen stimmen
Sie haben ihre eigenen individuellen Stimmen und singen            darin überein, dass es zu ihren Zielsetzungen gehört,
in verschiedenen Sprachen – in Arabisch, Bosnisch,                 Kulturangebote der gesamten Bevölkerung in ihrer Viel-
Deutsch, Efik, Englisch, Farsi, Griechisch, Kurdisch und           falt zugänglich zu machen und aktive Teilhabe zu fördern.
Türkisch. Und gleichzeitig sind sie auch „Wiener Stimmen“          Die Brunnenpassage wird seit der Gründung 2007 über
in all ihren Facetten und Nuancen – laut, zart, leise, ihre        die Grenzen Österreichs hinaus wahrgenommen und das
Geschichten erzählend, von Freude oder Melancholie                 Team rund um die künstlerische Leiterin Anne Wieder-
getragen, selbstbewusst in vielen Sprachen.                        hold-Daryanavard von internationalen Kulturinstitutionen
Alle Lieder, die im Rahmen des Konzerts zu hören sein              eingeladen, um sein profundes Wissen und seine prakti-
werden, stehen für sich und ergeben ein großartiges Ge-            schen Erfahrungen weiterzugeben. Im Rahmen des Euro-
samtgefüge. Jede Sängerin vermittelt auf unterschiedliche          päischen Kulturmarken-Awards 2021 wurde die Brunnen-
Art und Weise, mit unterschiedlichen musikalischen                 passage mit dem „Europäischen Preis für Stadtkultur“
Stilen, basierend auf ihren jeweiligen Traditionen, ihre           ausgezeichnet.
Sicht der Welt als im Wesen immanente einzigartige Ge-
schichte und Wahrheit. Alexia Chrysomalli, Marjorie

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WIENER STIMMEN

                                    Ihr Know-how und Gespür für innovative Formate bringt
                                    die Brunnenpassage auch in der Zusammenarbeit mit
                                    dem Musikverein ein, insbesondere im Projekt „Wiener
                                    Stimmen“, als Auftakt und Zeichen für weitere innovati-
                                    ve Formate, kuratiert von Gordana Crnko, die den Musik-
                                    bereich der Brunnenpassage leitet und für die Drama-
                                    turgie von „Wiener Stimmen“ verantwortlich zeichnet.
                                    Als weiterer Kooperationspartner fungiert das Tonkünst-
                                    ler-Orchester Niederösterreich, das vor allem durch seine
                                    jahrelange Erfahrung mit seinen „Plugged In“-Konzerten
                                    das Projekt bereichert. Für „Wiener Stimmen“ steht ein
                                    großer symphonischer Apparat zur Verfügung. Die Songs
                                    werden eigens für das Konzert von dem Geiger und in
                                    diesem Bereich höchst versierten Musik-Allrounder und
                                    Komponisten Michael Radanovics für Orchester arrangiert.
                                    „Wiener Stimmen“ schafft viele Kreuzungen, geht jedoch
                                    weiter als jedes Crossover-Projekt. Über den Dialog der
Mit „Wiener Stimmen“ sol­           unterschiedlichen musikalischen Stile hinaus entstehen
                                    Prozesse, die Bezüge zwischen der Wiener Kultur im
len musikalische Brücken            klassisch-musikalischen Verständnis und Musikkulturen
                                    anderer Länder herstellen und in die Gegenwart trans-
geschlagen, neue Ästhe­ti­          ferieren, mit dem Blick nach vorne, nicht genreübergrei-
                                    fend, sondern im Sinne einer Transformation, die neue
ken kreiert und der Wiener          ästhetische Erfahrungen möglich macht. Der rote Faden
                                    von „Wiener Stimmen“ soll die Begegnung sein, mit dem
­Musikverein durch weitere          Anspruch, im gemeinsamen Austausch zwischen den
                                    Künstlerinnen und Künstlern wie auch zwischen den
 musikalische Handschriften         jeweiligen Institutionen, in Dialog zu treten, einander
                                    befruchtend und zeichensetzend.
 bereichert werden. Dabei           In diesem Sinne fand im Oktober mit dem Kick-off-Event
                                    der offizielle Start von „Wiener Stimmen“ statt, mit all
 soll bei aller Verschieden­        jenen, die an dem Projekt beteiligt sind. Neben Vertrete-
                                    rinnen und Vertretern des Musikvereins, der Brunnen-
 heit ­etwas Gemeinsames            passage und des Tonkünstler-Orchesters haben sich mit
                                    Alexia Chrysomalli, Marjorie Etukudo, Basma Jabr, Nataša
 ­entstehen: als klares Zei­        Mirković, Golnar Shahyar und Sakina Teyna auch alle
                                    sechs Sängerinnen sowie Arrangeur Michael Radanovics
  chen für das Miteinander          im Gläsernen Saal des Musikvereins eingefunden, um
                                    einander kennenzulernen und sich stimmenvoll auszu-
  und die verbindende Kraft         tauschen – vor allem aber auch um alle Songs des Konzerts
                                    gemeinsam zu hören und den kreativen Prozess zu starten,
  der Musik, nicht nur auf          der Energien freisetzen und entfalten lassen kann.

  künstlerischer, sondern           Mit „Wiener Stimmen“ möchte der Musikverein die Auf-
                                    merksamkeit auf die Vielfalt der unterschiedlichsten
  auch auf institutioneller         Stimmen lenken, sie hörbar machen und seine Türen
                                    nicht nur weit öffnen, sondern offenhalten, Raum geben
  Ebene.                            und das Haus zu einem Orientierung- und Zusammen-
                                    halt-stiftenden künstlerisch-kulturellen Ort machen, wo
                                    vielfältigste kreative und bereichernde Begegnungen
                                    möglich sind.
                                                                                                   Karin Frey

                                                             Karin Frey ist als Mitarbeiterin der Gesellschaft
                                         der Musikfreunde in Wien im Programmbereich der Vier Neuen Säle
                                                        tätig und koordiniert das Projekt „Wiener Stimmen“.

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WIENER STIMMEN

            Wiener Stimmen
                             Die Sängerinnen mit Stimmen
                                     zum Projekt

Alexia
Chrysomalli
„Einheit durch Einzigartigkeit. Das
ist etwas, das mich in all den Jahren
meiner Gesangsreise begleitet hat.
Für mich ist dieses Konzert eine Syn-
ergie, indem wir alle durch die Ehrung                                           Sakina Teyna
unserer Einzigartigkeit zusammen-
kommen und eine Einheit erreichen,                                               „Als ich vor 14 Jahren meine Heimat
die vor allem ein Gefühl von Freiheit                                            verlassen musste, konnte ich nicht
und Liebe zur gleichen Zeit ist! Ich                                             viel Gepäck mitnehmen. Das, was ich
bin dankbar!“                                                                    in meinem Herzen mitnehmen konn-
                                                                                 te, war meine Leidenschaft für die
                                                                                 Musik, meine Stimme, meine verbo-
                                                                                 tene Sprache und die Geschichten der
                                                                                 Menschen, insbesondere die der Frau.
                                                                                 In meiner Wahlheimat Wien begeg-
                                                                                 nete ich vielen Menschen mit unter-
                                         Marjorie Etukudo                        schiedlichen Geschichten, die uns
                                                                                 verbunden haben. Hierzu zählen auch
                                         „Es ist etwas ganz Besonderes, in ei-   die tollen Sängerinnen von ,Wiener
                                         nem solch altehrwürdigen Saal auf-      Stimmen‘. Der Musikverein und die
                                         treten zu dürfen. Auf einer Bühne zu    Brunnenpassage stellen uns mit die-
                                         singen, auf der schon so viele Größen   ser Veranstaltung Brücken zur Ver-
                                         der Musikbranche gestanden sind,        fügung, die uns mit einer Welt ver-
                                         erfüllt mich mit Ehrfurcht und lässt    binden, in der verschiedene Sprachen,
                                         mich versuchen, nur das Beste aus       vielfältige Musikformen und Klänge
                                         mir herauszuholen!“                     Platz finden. Mit diesen Brücken wird
                                                                                 Wien umso schöner. Wie schön, ein
                                                                                 Teil dieser Brücke zu sein.“
Fotos: Wolf-Dieter Grabner

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WIENER STIMMEN

Nataša Mirković
„Großartig, bei einem Projekt mitge-
stalten zu dürfen, wo es um das Wort
WIR geht. Das ist schon so selten auf
der Welt geworden. WIR sind in der
Musik schon lange verbunden. WIR
hören auch Verschiedenes. Jetzt freue
ich mich darauf, dass WIR UNS ken-                                                  Golnar Shahyar
nenlernen. Dass WIR GEMEINSAM
in dem wunderschönen Großen Saal                                                    „Man kann sich nur vorstellen, wie
des Musikvereins, im Herzen Wiens,                                                  hoch die Erwartungen an ein Haus
MITEINANDER Zeit verbringen. Nur                                                    wie den Musikverein sind. Das macht
WIR. Außerhalb aller Weltgeschehen                                                  ein Konzert wie ,Wiener Stimmen‘ zu
und aller Tagesabläufe. Ein Wohn-                                                   einem Akt des Mutes. Es ist aber auch
zimmer nur für UNS. Viele Menschen                                                  ein Akt der Klugheit, da die Wiener
zaubern an diesem Projekt, damit WIR                                                Musikszene so viel zu bieten hat und
GEMEINSAM diesen schönen Abend                                                      es einfach ein Verlust wäre, diesen
feiern können. Taucht mit UNS ein. Ich                                              Schatz nicht in ein Musikhaus einzu-
zähle die Tage bis zum 4. Juni 2022.“                                               bringen, das selbst nicht weniger als
                                                                                    ein Schatz ist. Es ist auch ein Akt der
                                                                                    Verantwortung, ein Haus, das ,der
                                                                                    Musik gehört‘, für alle Menschen in
                                                                                    der Stadt einladend zu gestalten. Es
                                                                                    ist auch ein Akt der Anerkennung des
                                                                                    großen musikalischen Potenzials, das
                                                                                    wir erreichen können, wenn wir Risi-
                                         Basma Jabr                                 ken eingehen und uns auf Dinge ein-
                                                                                    lassen, die außerhalb unserer Kom-
                                         „Jede von uns hat ihre eigene Ge-          fortzone liegen. Möge dies der Beginn
                                         schichte, ihren Weg und ihren Traum,       eines Prozesses sein, der uns als Mu-
                                         und mit Wiener Stimmen sind wir            sikgemeinschaft zusammenbringt –
                                         zusammen auf einer Bühne, vereint          auf Augenhöhe – um herauszufinden,
                                         durch die Musik und vereint durch          wie unsere ,Musik der Zukunft‘ klingt.
                                         unsere starken Seelen, wie toll! All       Es ist mir eine absolute Freude und
                                         diese Vielfalt wird hier in einer inten-   Ehre, Teil dieses Prozesses zu sein.“
                                         siven Harmonie der Kulturen ver-
                                         bunden, in einem Ereignis, das ein-
                                         zigartig ist. Wie inspirierend!“                  Dieses Projekt wird von der Erste Bank
                                                                                          im Rahmen der Premium-Partnerschaft
                                                                                                mit dem Musikverein unterstützt.

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„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“

Eines wünscht sich Martin Grubinger bei jedem Konzert: in einen Flow zu
kommen, denn dann spürt er weder Anstrengung, Schmerzen noch seinen
rasenden Puls, sondern nur mehr die Musik. Der Schlagzeuger spielt vor allem
zeitgenössische Stücke und kritisiert, dass sich viele Musiker ihrer musikge-
schichtlichen Verantwortung entziehen.

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„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“

                „Spüren,
              wie die Bühne
                 brennt“
                                        Martin Grubinger

Begegnen Sie manchmal Musikern oder Studierenden,                   Hart.
die hervorragende Künstler sind, nur leider nicht auf der              Ja, manche tun sich im entscheidenden Moment
Bühne?                                                              schwer. Aber um ein erfolgreicher Künstler zu sein, muss
   Ja, die Trainingsweltmeister, die gibt es überall, im            man mit den Zuschauern kommunizieren, die musikali-
Sport, in der Politik und auch in der Musik. Es gibt Stu-           sche Botschaft transportieren und Emotionen über die
dierende, die liefern im Unterricht oder beim internen              Rampe bringen können. Nur so gelingt es, am Ende eines
Vorspiel Höchstleistungen ab, aber dann bestreiten sie              Abends ein Publikum nach Hause zu schicken, das über-
einen Wettbewerb, eine Prüfung oder ein Konzert, und                wältigt ist. Gestern haben wir ein großes Konzert gehabt,
plötzlich denkst du dir: „Das kann nicht sein. Das kann             ich habe mit meinen Studierenden gespielt. Kurz bevor
nicht derselbe Interpret sein, mit dem ich so lange gearbei-        wir auf die Bühne gegangen sind, habe ich zu ihnen ge-
tet habe.“                                                          sagt: „Das müsst ihr jetzt genießen. Das ist jetzt kein
                                                                    Vortragsabend vor 25 Leuten, sondern vor 2000, die alle
Und was dann?                                                       eine maximale Erwartung haben.“ Das sind schon ande-
   Es gibt Studierende, die sich entwickeln und mit der             re Voraussetzungen. Man geht hinaus und spürt schon,
Zeit an Selbstvertrauen gewinnen. Und andere, die reali-            wie die Bühne brennt. Gerade in Wien, wo wir schon so
sieren, dass Auftritte nicht ihr Ding sind. Ich denke an            viele Jahre spielen, hat das Publikum hohe Ansprüche.
einen Studenten – er war der talentierteste, den ich jemals         Und es kennt sich aus, es weiß so vieles über unsere Ins-
hatte –, der brachte unglaubliche Voraussetzungen mit.              trumente, das Schlagzeugrepertoire und die Musiker. Es
Eines Tages kam er zu mir und sagte: „Martin, das ist nicht         hat schon so viel gehört und so viel erlebt, man kann ihm
das, was ich machen kann. Ich habe nicht die Nerven, auf            nichts vormachen. Das ist fantastisch.
der Bühne das abzuliefern, was ich von mir erwarte.“

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„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“

„Wenn ich die Wahl hätte, mich entweder
mit einem Zukunftsforscher oder einem
zeitgenössischen Komponisten zu unter-
halten, würde ich mit dem Komponisten
reden wollen. Letzterer kann viel weiter
vorausschauen.“
                                                                                 Martin Grubinger

Und druckvoll. Gut, dass Sie Ihren Musikern – bei alledem,          Interessant, dass Sie diese Mission so befeuert hat.
was Sie ihnen abverlangen – ausdrücklich nahelegen,                    Das hat sie. Für mich ist jedes Konzert eine Prüfung.
dass sie so einen Abend genießen sollen.                            Wenn an einem Abend das Beethoven-Violinkonzert auf
   Unbedingt! Es gibt Künstler, die ihr Leben lang davon            dem Programm steht, wird niemand die Frage stellen, ob
träumen, im Musikverein, bei den Salzburger Festspielen             das ein gutes Werk ist. Aber die Musik, die wir machen,
oder im Konzerthaus zu spielen. Diese Burschen sind 19              also Ur- und Erstaufführungen, Konzerte, die erst vier,
oder 21 Jahre alt, und es ist schon so weit. Das muss man           fünf Jahre alt sind, stehen immer vor dem Publikum zur
genießen, weil es nur einem ganz kleinen Prozentsatz von            Verhandlung. Wenn ich da rausgehe und das Schlagwerk-
Künstlern gegönnt ist, das zu erleben.                              konzert von Kalevi Aho spiele, diskutieren die Zuhörer
                                                                    und das Orchester ganz sicher, ob es gut ist. Ich muss es
Genuss und Konzentration schließen einander nicht aus?              also schaffen, das Werk mit so viel Leidenschaft und Be-
   Nein, im Gegenteil. Das ist der perfekte Flow. Dann ist          geisterung zu bringen, dass sie sagen: „Großartig, wir
man nur mehr mit sich, den Mitmusikern und der Musik.               haben etwas Neues für unser Repertoire.“
Man nimmt um sich herum nichts mehr wahr, man ist
wie in Trance. Man spürt nichts mehr, keine Anstrengung,            Die Diskussion beginnt doch schon, lange bevor Sie ein
keine Schmerzen, keinen Puls, obwohl der auf 190 ist. Ein           neues Werk aufführen. Um das überhaupt tun zu können,
wunderbarer Moment – aber man erreicht ihn nicht bei                müssen Sie erstmal den Veranstalter überzeugen.
jedem Konzert.                                                         Sicher, aber gerade im Wiener Musikverein gab es
                                                                    dafür immer wieder die Offenheit. Bloß, wenn ich das
Wovon hängt es ab, ob man in diesen Flow kommt?                     Stück nicht gut spiele, wird der Veranstalter es künftig
    Von guter Vorbereitung, sodass man technisch total              nicht mehr machen wollen. Darum muss ich überzeugen,
drübersteht und sich nur um musikalische Dinge kümmern              damit es ein anderer Künstler wieder spielen kann. Und
kann. Und natürlich spielt ein voller Saal eine große Rol-          dann kann das Publikum die Interpreten vergleichen, so
le, denn seit der Corona-Pandemie haben wir das nicht               wie es beim Beethoven-Violinkonzert etwa Janine Jansen,
mehr so oft gehabt. Umso mehr Bedeutung hat das heute               Nigel Kennedy oder Lisa Batiashvili einander gegenüber-
für uns.                                                            stellt. Das brauchen wir Schlagzeuger auch.

Sie hat es immer schon gereizt, an der Rampe stehen?                Und wie treffen Sie Ihre Selektion? Nicht alles, was neu
   Total! Ich hatte immer die Mission, Musik in den Saal            ist, muss spielenswert sein.
zu bringen, die vor 15 Jahren noch als exotisch gegolten               Meistens haben die Komponisten, die ich beauftrage,
hat. Im Goldenen Saal des Musikverein wäre es vor 20                schon ein großes Werk. Ich schaue mir die Partituren an,
Jahren völlig undenkbar gewesen, als Schlagzeugsolist               treffe den Komponisten mehrfach. Ein Friedrich Cerha
aufzutreten. Aber es hat sich alles gedreht. Wir haben das          etwa steht in einer Reihe mit den großen Komponisten
Repertoire, das Publikum, das Orchester, die Dirigenten,            Österreichs der vergangenen 300 Jahre. Dieser Mann ist
die Leute sind bereit. Das Schlagzeug hat sich durchgesetzt.        eine Legende.
Wenn ich in eineinhalb Jahren aufhöre, wird dieses Ins-
trument immer seinen Platz haben. Und es wird weiter-               Es gibt aber nicht nur Cerhas.
gehen.                                                                Klar. Bei den jüngeren Komponisten riskiert man mehr.
                                                                    Aber selbst wenn ich das Gefühl habe, das Werk ist nicht
                                                                    überragend, werde ich das Maximum rauspressen, um es
                                                                    abheben zu lassen. Da ist viel möglich.

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„SPÜREN, WIE DIE BÜHNE BRENNT“

                    Samstag, 15. Jänner 2022
                    Sonntag, 16. Jänner 2022

                    Wiener Symphoniker
                    Andrés Orozco-Estrada | Dirigent
                    Martin Grubinger | Schlagzeug

                    Kalevi Aho
                    Sieidi. Konzert für Schlagzeug und
                    Orchester
                    Erich Wolfgang Korngold
                    Märchenbilder, op. 3
                    Modest Mussorgskij
                    Bilder einer Ausstellung
                    (Bearbeitung für Orchester von
                    Maurice Ravel)

Wobei es ein Percussionist ja leichter hat, Zuhörer mit
zeitgenössischer Musik in den Bann zu ziehen, als etwa
ein Geiger. Denn es gibt unendlich viel klassische und
romantische Literatur für Violine, die mit zeitgenössischer
konkurriert. Das ist beim Schlagzeug nicht der Fall.
   Wir tun uns sicher leichter, wir haben kein Tschaikow-
skij-Schlagzeugkonzert. Unser Repertoire stammt aus den
letzten 30 Jahren. Nur: Wenn man sich die Musikgeschich-
te ansieht, hat es immer große Solisten gegeben, die                                                                            Fotos: Simon Pauly
Mozart, Beethoven oder Brahms inspiriert haben. Warum
hat Mozart dieses wunderschöne Klarinettenkonzert ge-              Ohne das zu beabsichtigen.
schrieben? Weil er Anton Stadler kannte, der großartig                Stimmt, aber er tut es. Das ist für jeden von uns span-
Klarinette spielte. Alle Musiker, nicht nur wir Schlagzeu-         nend. Wenn wir heute in einer Uraufführung von Olga
ger, haben einen musikgeschichtlichen Auftrag.                     Neuwirth oder Johannes Maria Staud sitzen, kann es sein,
                                                                   dass wir einen Moment erleben, über den die Leute noch
Wird dieser Auftrag jetzt wahrgenommen?                            in 150 Jahren reden. Und wir waren dabei! Das hat doch
   Ich meine das als ernste Kritik: Viele Künstler und             eine enorme Faszination.
Orchester haben sich der musikgeschichtlichen Verant-                                                  Das Gespräch führte Judith Hecht.
wortung und Tradition völlig entledigt. Was Anton Bruck-
ner uns heute ist, wird Friedrich Cerha in 100 Jahren sein,                Mag. Judith Hecht ist Juristin und Journalistin bei der „Presse“,
das muss uns doch klar sein. Und auch, dass Komponisten                                 wo sie für das Sonntagsinterview „Letzte Fragen“
Indikatoren für die Zukunft sind. Wenn ich die Wahl                                                                          zuständig ist.
hätte, mich entweder mit einem Zukunftsforscher oder
einem zeitgenössischen Komponisten zu unterhalten,
würde ich mit dem Komponisten reden wollen. Letzterer
kann viel weiter vorausschauen.

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SURPRISE!

              Surprise!
        Die Kunstpsychologie des Überraschens

In England, wo Joseph Haydns Symphonie „Mit dem Paukenschlag“ 1792 ur-
aufgeführt wurde, führt sie den Beinamen „The Surprise“. Der Name kam erst
hinterher in Umlauf, klarerweise. Denn was wäre eine Überraschung wert, wenn
man sie vorher schon ankündigen würde? Rüdiger Görner hat sich Gedanken
zu Dramaturgie und Kunst des Überraschens gemacht – und kommt dabei zu
überraschenden Einsichten.

                         Gehen wir vom Wort „Überraschung“         Tod seiner ersten Frau, Maria Barba-
                         aus: Wenn sich etwas über alle Maßen      ra, komponiert hatte, eine dynamische
                         rasch vollzieht, überrascht es uns.       Klage, die sich von sich selbst gar nicht
                         Meist sind Überraschungen mit Freu-       mehr erholen möchte, die sich perpe-
                         de verbunden oder mit dem Wunsch,         tuiert und deren Ende dann Vollen-
                         jemandem eine Freude zu bereiten,         dung und Abbruch (der Elegie, der
                         wobei Volkes Mund auch die „böse          Trauer) in einem ist?
                         Überraschung“ kennt. Die Überra-
                         schung ist mit Plötzlichkeit verwandt,    Haydns vierundneunzigste Sympho-
                         denn es wäre widersinnig, von einer       nie trägt bekanntlich im Deutschen
                         allmählichen Überraschung zu spre-        anders als im Englischen, Französi-
                         chen.                                     schen und Italienischen nicht die
                                                                   Bezeichnung „Überraschungssym-
                         Gibt es das: einen überraschungstaug-     phonie“, sondern „Mit dem Pauken-
                         lichen Kunstgriff? Eine gelinde Über-     schlag“. Im Spanischen hat sich eine
                         raschung kann in der Musik schon ein      Doppelbezeichnung eingebürgert: „La
                         unerwarteter Tonarten- oder Rhyth-        sorpresa o La del toque de timbal“.
                         muswechsel sein. Oder das kecke           „Überraschungssymphonie“ hätte im
                         Hereinrufen der Klarinette im Final-      Deutschen etwas von „Kinderüber-
                         satz von Bruckners Fünfter, ein Ruf,      raschung“, klänge irgendwie daneben,
                         aus dem dann ein orchestrales Haupt-      als schlagkräftige Bezeichnung wäre
                         thema wird. Musikalisch weiter ge-        sie einfach zu vielsilbig. „Mit dem
                         fragt: Ist es noch eine „Überraschung“    Paukenschlag“ – man weiß sogleich,
                         oder etwas Erhaben-Wundersames,           was Sache ist.
                         wenn Bach seine Chaconne als Ab-
                         schluss der zweiten Partita für Violine
                         in d-Moll dreimal so lange werden
                         lässt wie irgendeinen anderen Satz
                         seiner drei Partiten? Vor allem dann,
                         wenn man sich verdeutlicht, dass er
                         diesen Satz nach dem so plötzlichen

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SURPRISE!

                                                                                                                              zerte] der Gott des Schlafs seine Flügel   „Neuem“, so wie ein Anderer später
                                                                                                                              über die Versammlung ausgebreitet          mit dem neuen „Tristan-Akkord“
                                                                                                                              hielt. Er sah das für eine Beschimp-       überraschte, nein verblüffte. Denn
                                                                                                                              fung seiner Muse an, gelobte, diesel-      das Verblüffen darf als Steigerung des
                                                                                                                              be zu rächen, und komponierte zu           Überraschens gelten. Überraschungen
                                                                                                                              diesem Endzwecke eine Symphonie,           in der Musik sind eben das Unerhör-
                                                                                                                              in welcher er da, wo es am wenigsten       te. Kein Stück überlebt im Repertoire,
                                                                                                                              erwartet wird, im Andante, das leises-     das nicht zunächst unerhört war.
Fotos: Archiv · Bibliothek · Sammlungen der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

                                                                                                                              te Piano mit dem Fortissimo im Kon-
                                                                                                                              trast brachte. Um die Wirkung so           Nicht jeder lässt sich gern überra-
                                                                                                                              überraschend als möglich zu machen,        schen. Denn Überraschungen werfen
                                                                                                                              begleitete er das Fortissimo mit Pau-      uns für Augenblicke des Entzückens
                                                                                                                              ken. […] Haydn hatte die Pauken-           aus der Bahn des Üblichen. Beetho-
                                                                                                                              schläger vorzüglich gebeten, dicke         ven, dessen ganzes Werk aus musika-
                                                                                                                              Stöcke zu nehmen und recht unbarm-         lischen Überraschungen in Form voll-
                                                                                                                              herzig dreinzuschlagen. Diese ent-         kommener Klangexperimente besteht,
                                                                                                                              sprachen auch völlig seiner Erwar-         widmete Fürst Lichnowsky seine
                                                                                                                              tung. Der urplötzliche Donner des          Klaviersonate Nr. 27 mit den Worten,
                                                                                                                              ganzen Orchesters schreckte die            dass er ihm „eine Überraschung“ habe
                                                                                                                              Schlafenden auf, alle wurden wach          bereiten wollen, eine unter zahllosen.
                                                                                                                              und sahen einander mit verstörten          Künstler verstehen sich nun einmal
                                                                                    Takt 16, zweiter Satz. Da geschieht es:   und verwunderten Mienen an. […] Da         darauf, das Bedürfnis des Menschen
                                                                                    Das Andante scheint dabei, sich ein-      aber während dem Andante ein emp-          nach spontanem Wechsel, das mit
                                                                                    zuschläfern, da reißt der Fortissimo-     findsames Fräulein von der überra-         einem unbestimmbaren Glücksemp-
                                                                                    G-Dur-Akkord den gemachen Rhyth-          schenden Wirkung der Musik hin-            finden einhergeht, formgerecht aus-
                                                                                    mus auf. Haydn soll laut seinem           gerissen, derselben nicht hinlängliche     zureizen. Überraschungen, selbst der
                                                                                    Biographen Georg August Griesinger        Nervenkräfte entgegenstellen konnte,       bescheidensten Art, entlasten, wenn
                                                                                    kommentiert haben, es sei ihm daran       deswegen in eine Ohnmacht fiel und         auch nur kurzzeitig, den Menschen
                                                                                    gelegen gewesen, „das Publikum            an die frische Luft geführt werden         von psychischem Druck.
                                                                                    durch etwas Neues zu überraschen,         mußte, so benützten einige diesen
                                                                                    und auf eine brillante Art zu debütie-    Vorfall als Stoff zum Tadel und sagten,
                                                                                    ren, um mir nicht den Rang von Pley-      Haydn habe bisher immer auf eine
                                                                                    el, meinem Schüler, ablaufen zu las-      galante Art überrascht, doch dieses
                                                                                    sen, der zur nämlichen Zeit bey einem     Mal sei er sehr grob gewesen. Haydn
                                                                                    Orchester in London angestellt war        bekümmerte sich wenig um den Tadel;
                                                                                    (im Jahr 1792) und dessen Konzerte        sein Endzweck, gehört zu werden, war
                                                                                    acht Tage vor den meinigen eröffnet       vollkommen und selbst für die Zu-
                                                                                    wurden“. Dessen biographischer Kon-       kunft erreicht.“ Nun, Ohnmachtsan-
                                                                                    kurrent um das treffende Haydn-Bild,      fälle aufgrund dieser einen Orchester-
                                                                                    Albert Christoph Dies, überliefert        stelle sind selten geworden. Was
                                                                                    Haydns Absicht dagegen so: „Haydn         beiden Überlieferungen zu entneh-
                                                                                    machte mit Verdruß die Bemerkung,         men ist: Haydn wollte überraschen,
                                                                                    daß selbst im zweiten Akt [der Kon-       verband er diesen Effekt doch mit

                                                                                                                                                19
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SURPRISE!

Jean-Antoine Watteau schuf um                                                Noch einmal gefragt: Wie wird die
1718/19 eine Ikone der Rokoko-Malerei,                                       Überraschung zum Kunstgriff, der
genannt „La Surprise“. Am Maßstab                                            zudem darin besteht, etwas zu schaf-
der Rokoko-Ästhetik gemessen, be-                                            fen, das anhaltend aufmerken lässt
steht die „Überraschung“ dieses Ge-                                          und sich nicht in seinem Überra-
mäldes in der sinnlichen Intensität,                                         schungswert verbraucht? Die Über-
mit der Watteau die Umarmung des                                             raschung ist das Unvermutete. Ob
Liebespaares darstellt, ebenso die                                           Komponist oder Couturier (Mode-
Dynamik der Mezzetino-Figur aus der                                          kreationen leben Saison um Saison
Commedia dell’Arte, die ihre Gitarre                                         von leibhaftig tragbaren Überraschun-
stimmt, um sich in diese Liebesszene,                                        gen!), Dichter, Bildkünstler (von Ins-
isoliert auf verlorenem Posten blei-                                         tallationen vor allem!) oder Regisseur

                                                                                                                                                                          Foto: Kemal Mehmet Girgin
bend, einzustimmen. Das Bild fängt                                           – es muss ihnen gelingen, mit einem
eine rauschende Bewegung ein. Sta-                                           Einfall das Publikum zu verwundern,
tisch wirkt nur ein kleiner Hund, der                                        das abgenutzte Kunstkonsumverhal-
die Szene beobachtet. Überraschung                                           ten jäh zu durchbrechen. Wenn wir
                                                                                                                                  Giovanni Antonini
ist hier zweierlei: der Kuss und das                                         als Hörer oder Betrachter, als Leser
Auftreten des Mezzetino. Überra-                                             oder Warenkunden für einen auch
schend ist auch, dass der Gitarrist zu                                       längeren Augenblick aufmerken, dann
seiner künftigen Melodie bereits zu                                          ist die Überraschung gelungen. Wir                   Wir brauchen
tanzen scheint, denn das Bild zeigt                                          brauchen Überraschungen, um nicht
ihn ja beim Stimmen seines Instru-                                           zu verdämmern, um zu spüren, was                     Überraschungen,
ments.                                                                       ein Reiz ist, ohne dass die Kunst den
                                                                             Reiz überreizt. So scheitert eine In-                um nicht zu ver-
„Surprised by Joy – impatient as the                                         szenierung, die eine Überraschung
wind“, wie Wordsworth dichtete; C. S.                                        nach der anderen bietet. Wer nur noch                dämmern, um zu
Lewis, einst ein Schriftsteller mit                                          überrascht, enttäuscht. Auch für allzu
Millionenauflagen, heute allenfalls                                          bemüht bereitete Überraschungen,                     spüren, was ein
noch bekannt als Verfasser des Epos                                          ob auf der Bühne, im Kunstwerk oder
für Kinder, „Die Chroniken von Nar-                                          im Privaten, gilt Goethes Wort im                    Reiz ist, ohne
nia“ (1950), erfolgreich verfilmt mit                                        „Tasso“: „So fühlt man Absicht, und
Tilda Swinton in einer der Hauptrol-                                         man ist verstimmt.“ Vermutlich be-                   dass die Kunst
len (2005), Lewis also wählte diese                                          müht sich deswegen unser Mezzetino
Formulierung von Wordsworth, je-                                             so sehr darum, spielerisch seine Gi-                 den Reiz über-
doch ohne den Zusatz „ungeduldig                                             tarre zu stimmen, damit sein über-
wie der Wind“, als Titel für seine                                           raschendes Hinzukommen zu dieser                     reizt.
Autobiographie. Diesen Augenblick                                            Watteau’schen Liebesszene stimmig
des Überrascht-Werdens durch Freu-                                           bleibt.
de beschreibt er als den Moment sei-                                                                          Rüdiger Görner
ner Konvertierung vom Atheismus
zum christlichen Glauben, ein Um-                                              Univ-Prof. Dr. Rüdiger Görner ist Professor für    Montag, 24. Jänner 2022
kehrpunkt im Lauf des Lebens.                                                    neuere deutsche Literatur und Gründungs-
                                                                              direktor des Centre for Anglo-German Cultural       Il Giardino Armonico
                                                                             Relations am Queen Mary College, University of       Kammerorchester Basel
                                                                              London. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher –      Giovanni Antonini | Dirigent
                                                                                u. a. über Hölderlin, Goethe, Nietzsche, Trakl,
                                                                                Rilke, Thomas Mann und Oskar Kokoschka –          „Surprise“
                                                                                                       und zuletzt „Romantik.
                                                                                                   Ein europäisches Ereignis“.    Joseph Haydn
                                                                                                                                  Symphonie C-Dur, Hob. I:90
                                                                                                                                  Symphonie B-Dur, Hob. I:98
                                                                                                                                  Gioacchino Rossini
                                                                                                                                  Ouvertüre zur Oper „La scala di seta“
                                                                                                                                  Joseph Haydn
                                                                                                                                  Symphonie G-Dur, Hob. I:94,
                                                                                                                                  „Mit dem Paukenschlag“
Jean-Antoine Watteau: La Surprise / Foto: Paul J. Getty Museum Los Angeles

                                                                                                    21
DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK

Für Julia Fischer ist ihr Streichquartett
mit Alexander Sitkovetsky, Nils Mön-
kemeyer und Benjamin Nyffenegger
als Formation „das, wovon man träumt“.
Und die Konzerte des Ensembles spre-
chen für sich. Im Jänner gastiert das
kammermusikalische Dream-Team
wieder im Musikverein.

Foto: Irène Zandel

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DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK

  Dream-Team
der Kammermusik
                             Das Julia Fischer Quartett

„Schon der erste leise Akkord … war eine kleine Offen-             menwürfeln und dann davon ausgehen, dass man mit
barung. Nicht immer erlebt man live Streichquartette mit           wenigen Proben auf das Level eines Orchesters kommt.“
so sauberer Intonation und derart nobler Klangqualität.            Egal ob es um Intonation, Bogenwechsel, Artikulation,
Und es wird schnell klar, dass vier Musiker, die auch so-          Dynamik geht: „Wenn das beim Streichquartett nicht
listisch brillant sind, eine herausgehobene Ensemble-              wirklich stimmt, macht die Literatur fürs Publikum keinen
leistung zustande bringen. Es gibt ja recht viele gute             Spaß und für die Musiker auch nicht“, weiß Julia Fischer.
Quartette, aber selten erlebt man ein solches, in dem jeder        „Vieles kann man nicht in zwei Proben lernen, auch nicht
Einzelne ein besonderer Instrumentalist ist.“ Die „West-           in zwei Monaten. Das muss wachsen, das lernt man über
deutsche Zeitung“ bringt es in einer Konzertkritik über            Jahre.“
das Julia Fischer Quartett auf den Punkt. Wo auch immer            Vor zehn Jahren ging das Julia Fischer Quartett erstmals
das Ensemble auftritt, klingen die Rezensionen ähnlich.            auf Tournee. Im Jahr zuvor waren die vier herausragenden
Die „Süddeutsche Zeitung“ etwa hebt das „vitale Mitein-            Solisten erstmals zu viert zum gemeinsamen Kammer-
ander aus symphonischem Geist“ und die „enormen                    musizieren zusammengekommen. „Alle drei sind lang-
Ausdrucksenergien“ hervor.                                         jährige Freunde von mir und Kollegen, mit denen ich über
                                                                   Jahre hinweg viel gespielt und gearbeitet habe. Und nicht
„Ich wollte die Streichquartettliteratur in meinem musi-           nur ich mit den drei, sondern auch die drei untereinander“,
kalischen Leben nicht missen“, sagt Julia Fischer im               erzählt Julia Fischer. „Als es sich dann 2010 bei meinem
Gespräch. „Aber ich habe den Anspruch an mich selber:              Festival am Starnberger See ergeben hat, dass wir mit­
Wenn ich das mache, muss das mit einer Gruppe sein, mit            einander Quartett gespielt haben, haben wir festgestellt:
der ich dann auch bleibe. Das Streichquartett ist die ein-         Das passt, das funktioniert.“
zige Formation, die man nicht zusammenwürfeln kann,                „Eine Hauptfrage ist natürlich Geige und Geige“, führt
es ist die komplizierteste, schwierigste und durchsich-            Julia Fischer ins Treffen. Mit Alexander Sitkovetsky, den
tigste – ein bisschen wie ein Mini-Orchester: Man kann             sie mit elf Jahren beim Menuhin-Wettbewerb kennen-
auch ein Orchester nicht so einfach per Telefon zusam-             lernte, verbindet Julia Fischer das gleiche Geburtsjahr

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DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK

Foto: Irène Zandel

und die musikalische Herkunft aus der russischen Schu-               Freilich wäre es ein Trugschluss zu denken, bei einem
le. „Alexander war an der Menuhin-Schule, und meine                  solchen Dream-Team müsste in der Zusammenarbeit
Lehrerin Ana Chumachenco war auch Schülerin von                      immer alles eitel Wonne sein. „Da gab es auch Streiterei-
Yehudi Menuhin. Dadurch, glaube ich, können wir im                   en, Kämpfe und Geschrei“, hält Julia Fischer lachend fest.
Zusammenspiel gleich auf einem anderen Level starten.“               „Das haben wir alles gemacht. Es ist ja nicht so, dass wir
Mit dem deutschen Bratschisten Nils Mönkemeyer hat                   an jedes Werk mit der gleichen Einstellung herangehen.
Julia Fischer studiert und schon damals viel musiziert               Ich gehe natürlich in jede Probe, egal ob Quartett oder
– auch ihn, der heute auch ein Kollege als Professor an              Duo oder Violinkonzert, erst einmal mit einer sehr ge-
der Musikhochschule München ist, kennt sie seit rund                 festigten Meinung, in welcher Interpretation ich dieses
zwanzig Jahren. „Nils und ich“, sagt Julia Fischer, „das             Stück spielen möchte. Und das ist bei den anderen genau-
ist eine von diesen Begegnungen, die man nicht oft im                so, denke ich.“ Da komme dann die persönliche Einstel-
Leben hat. Wir sind einfach absolut seelenverwandt. Ob               lung, die Haltung ins Spiel, kurz: „der Charakter: Ist man
wir zu zweit spielen oder in einer Gruppe von zehn: Wir              bereit, sich eine andere Meinung anzuhören, sich darauf
empfinden immer gleich.“ Und der Schweizer Cellist                   einzulassen, was ein anderer zu sagen hat? Diesen Dis-
Benjamin Nyffenegger ist „einer der begeisterungsfähigs-             kussionen muss man sich stellen können, man muss auch
ten Musiker“, die sie kenne, „wahnsinnig besessen, fleißig,          argumentieren können und bereit sein, über seinen eige-
anspruchsvoll, sich selbst, aber auch allen anderen gegen-           nen Schatten zu springen, einen musikalischen Weg
über. Wenn die Bratsche ein Solo hat, dann hat er das                einzuschlagen, den man alleine nie gehen würde. Ich
dringende Bedürfnis, alles dafür zu tun, damit die Bratsche          glaube, nur wenn man diese Neugierde hat, kann man
noch schöner klingt. Diese Kombination“, sagt Julia Fischer          Quartett spielen.“
über ihr Streichquartett, „ist das, wovon man träumt.“               Dass alle vier Quartettmitglieder auch als höchst erfolg-
                                                                     reiche Solisten tätig sind, kommt ihnen im Ensemblespiel
                                                                     zugute, meint Julia Fischer. „Da haben wir unsere Narren-
                                                                     freiheit zu tun, was wir wollen. Aber wenn wir uns zum
„Ich finde einfach, auch in                                          Quartettspielen treffen, ist unser Ziel, als Gruppe das
                                                                     Maximale herauszuholen. In diesen Momenten stellt jeder
der neuen Musik ist es                                               von uns das Quartett vor sich selbst.“

wichtig, dass sie die Men-
schen emotional erreicht.“
                                                Julia Fischer

                                                                24
DREAM-TEAM DER KAMMERMUSIK

Die Programme entstehen stets gemeinsam. „Wir sitzen
dann bei einer Tournee zusammen und reden darüber,
was wir machen könnten, wer welche Wünsche und Ideen
hat. Das Schöne ist ja: Das Repertoire ist riesengroß, fast
unerschöpflich und völlig unterschiedlich.“ Für die erste
Tournee nach der pandemiebedingt langen Pause haben
die vier Musiker zwei Klassiker des Repertoires gewählt:                                          Donnerstag, 27. Jänner 2022
Mozarts Quartett KV 421 und Tschaikowskijs Erstes Quar-
tett, das Opus 11. Als drittes Werk wurde ein neues Stück                                         Julia Fischer Quartett
in Auftrag gegeben. Julia-Fischer-Fans ist der Name
Andrey Rubtsov nicht ganz unbekannt. Die Geigerin hat                                             Wolfgang Amadeus Mozart
– mit der Academy of St Martin in the Fields – bereits 2016                                       Streichquartett d-Moll, KV 421
Rubtsovs Violinkonzert und 2018 seine Kammersympho-                                               Andrey Rubtsov
nie zur Uraufführung gebracht. Der gleichaltrige Kompo-                                           Streichquartett (Österreichische
nist war Solooboist des Russischen Nationalorchesters,                                            Erstaufführung)
als Julia Fischer dort 2001 ihr Debüt gab. „Andrey war der                                        Peter Iljitsch Tschaikowskij
einzige Musiker, der Englisch sprach. Mit ihm konnte ich                                          Streichquartett D-Dur, op. 11
mich unterhalten, und es ist sofort eine fast rührende
musikalische Freundschaft entstanden. Wir haben uns
über all die Jahre sehr selten gesehen, waren aber durch-                 Den ganzen Sommer über war Julia Fischer im regen
gehend in Kontakt und wussten, was der andere gerade                      Austausch mit dem Komponisten, erhielt Informationen,
macht. Von seiner Musik bin ich einfach immer hingeris-                   Themen, Noten. Seit September ist das neue Streichquar-
sen. Er schreibt so inspirierte und emotionale Musik. Ich                 tett fertig und liegt freilich auch Alexander Sitkovetsky,
finde einfach, auch in der neuen Musik ist es wichtig, dass               Nils Mönkemeyer und Benjamin Nyffenegger vor. „Jeder
sie die Menschen emotional erreicht, und das ist bei sei-                 hat sein Thema, jeder hat gut zu tun, und jeder kann das
ner Musik einfach immer der Fall. Und: Man merkt, dass                    Instrument benutzen, wie er es gelernt hat. Keiner muss
er selber Interpret ist, weil er so schreibt, dass man als                auf irgendwelchen Kinnhaltern herumhauen oder rum-
Musiker weiß, was man zu tun hat, und trotzdem Raum                       tanzen oder dazu pfeifen“, sagt Julia Fischer ernst und
für die eigene Interpretation bleibt.“                                    doch mit spürbarem Augenzwinkern. Nun geht es darum,
                                                                          noch vor Weihnachten eine freie Phase für die Proben zu
                                                                          finden, denn in einem Punkt geht es allen gleich: „Viele
                                                                          Konzerte vom vergangenen Jahr wurden auf dieses Jahr
                                                                          verschoben, aber man hat ja auch geplante Konzerte für
                                                                          dieses Jahr. Man hat jetzt ganz einfach einen doppelten
                                                                          Kalender.“
                                                                          Auch diese Übung wird gelingen, und dann geht es end-
                                                                          lich wieder gemeinsam auf Tournee, die auch in den
                                                                          Musikverein führt: mit Klassikern von Mozart und Tschai-
                                                                          kowskij und einem vielversprechenden neuen Werk, ge-
                                                                          spielt von einem Dream-Team der Kammermusik.

                                                                                                                                   Ulrike Lampert

                                                                                Mag. Ulrike Lampert ist Redakteurin der Zeitschrift „Musikfreunde“
                                                                               und der Programmhefte der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.

                                                   Foto: Uwe Arens

                                                                     25
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