Nach der Wahl ist vor der Wahl - Die Ukraine nach dem Sieg Poroschenkos
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PERSPEKTIVE | FES UKRAINE Nach der Wahl ist vor der Wahl Die Ukraine nach dem Sieg Poroschenkos STEPHAN MEUSER Juni 2014 n Der Milliardär Petro Poroschenko ist der erste Präsident der Ukraine seit 1991, der bereits im ersten Wahlgang gewählt wurde. Sein Wahlerfolg geht maßgeblich auf das taktische Bündnis mit Witali Klitschkos Partei UDAR zurück. Daneben erhielt er viele Stimmen von Wählern, für die die Stabilität des Landes an erster Stelle steht und die bereits deshalb für den nach allen Vorwahlumfragen klar führenden Kandi- daten stimmten. n Nach der Wahl ist vor der Wahl: Der neu gewählte Präsident wird in den kommen- den Wochen und Monaten versuchen, seine Machtposition auszubauen und abzu- sichern. Dazu sind vorgezogene Parlamentswahlen das geeignete Mittel. Alternativ kommt die Bildung einer informellen »präsidentiellen Mehrheit« durch unabhängige und politisch heimatlos gewordene Abgeordnete des aktuellen Parlaments in Be- tracht. Parallel dazu ist damit zu rechnen, dass es zu einer baldigen Verfassungsre- form mit einer Dezentralisierung der Ukraine kommt. Die offene Frage ist aber, wie weitreichend diese sein wird, denn hierzu ist aufgrund der nötigen 2/3-Mehrheit ein breiter politischer Konsens erforderlich. n Der Maidan-Bewegung ist es vorerst nicht gelungen, sich politisch zu institutionali- sieren und zu verstetigen. Stattdessen beherrschen wieder und weiterhin bereits be- kannte Kräfte die politische Szene. Dennoch wird es für die alten Eliten schwer sein, einfach zur Tagesordnung überzugehen, denn die Ziele des »Euromaidans« bleiben aktuell und könnten jederzeit wieder zu neuen Protesten führen.
STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL Wahlergebnis er – auch im Hinblick auf seine sehr guten englischen Sprachkenntnisse – in der ukrainischen Bevölkerung als Die ukrainische Präsidentschaftswahl brachte einen kla- weltgewandt und auf internationalem Parkett sehr vor- ren Sieger: Der Milliardär Petro Poroschenko gewann am zeigbar. Man darf sich aber nicht der Illusion hingeben, 25. Mai bereits im ersten Wahlgang mit 54 Prozent der dass sein deutlicher Wahlsieg ausschließlich sein eigenes Stimmen und weitem Abstand vor der Zweitplatzierten, Verdienst ist. Viele seiner Wähler, vor allem im Osten der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die nur des Landes, werden auch mangels echter Alternativen ca. 12 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Da- für ihn gestimmt haben. Während Julia Timoschenko mit wurde erstmals seit 1991 ein Kandidat bereits im im Wahlkampf das Image der »Frau von gestern« nicht ersten Wahlgang gewählt. Alle weiteren Kandidaten abstreifen konnte und außerdem immer wieder mit erreichten nur einstellige Werte, wobei überraschen- scharfen Attacken auf Russland polarisierte, konnte derweise mit Oleg Ljaschko und Anatolij Grizenko zwei Poroschenko die Rolle des ausgleichenden, ein wenig national-populistische Kandidaten auf den Plätzen drei über den Dingen stehenden Kandidaten spielen. Dass es und vier landeten. Der ehemalige Vize-Ministerpräsident erstmals seit langem keinen chancenreichen Kandidaten Janukowitschs, Sergej Tigipko belegte nach rund 13 Pro- aus dem Osten der Ukraine gab, spielte in Poroschen- zent bei den letzten Präsidentenwahlen 2010 mit nun- kos Hände, denn auch vor diesem Hintergrund bot seine mehr unter 5 Prozent der Stimmen lediglich den fünften Vergangenheit als Mitgründer der »Partei der Regionen« Platz. Die dezidiert rechten Kandidaten Oleg Tyanibok zumindest einen Anhaltspunkt für die dortigen Wähler, (»Swoboda«) und Dmitrij Jarosch (»Rechter Sektor«) er- sich »im Zweifel« besser für ihn zu entscheiden. Daneben reichten zusammen weniger als 2 Prozent der Stimmen. darf vermutet werden, dass er hinter den Kulissen bereits frühzeitig den Kontakt zu den regionalen und lokalen Poroschenkos Strategie, sich frühzeitig mit dem noch im Eliten der Ostukraine gesucht hat, wo er auch aufgrund Winter wie der große Gegenspieler von Ex-Präsident Janu- seines persönlichen politischen Werdegangs (immerhin kowitsch wirkenden Witali Klitschko und dessen UDAR- war er einst auch Minister unter Präsident Janukowitsch) Partei zu verbünden, ist aufgegangen. Klitschko wiede- jedenfalls wesentlich besser vermittelbar ist als seine rum zog aus diesem politischen Deal den entscheidenden Konkurrenz. Schließlich darf der »externe Faktor« bei der Vorteil beim Rennen um das Kiewer Bürgermeisteramt, Wahlentscheidung nicht vernachlässigt werden. Unter das er im dritten Anlauf endlich gewinnen konnte. Dieses dem Druck der russischen Annexion der Krim und des Bündnis, an dessen Zustandekommen sowohl der zurzeit faktischen Bürgerkrieges in der Ostukraine, der die Mög- in Wien festsitzende und nur gegen Kaution freigelas- lichkeit der Wahlbeteiligung in den Regionen Donezk sene Gas-»Oligarch« Firtasch als auch einige westliche und Lugansk stark herabsetzte, erschien es offenbar Länder hinter den Kulissen mitgeschmiedet haben sol- manchem Wähler (und vielleicht auch mancher Wahl- len, wird nun auf baldige vorgezogene Neuwahlen drin- kommission) entscheidend, den ohnehin in allen Um- gen, um auch die Machtverhältnisse im Parlament, der fragen deutlich führenden Kandidaten zu unterstützen Werchowna Rada, in seinem Sinne zu verändern. und somit eine Entscheidung schon im ersten Wahlgang herbeizuführen. Zur Stabilisierung des Landes flossen so Stimmen auf das Konto Poroschenkos, die er sonst erst in Warum Poroschenko? – Erfolgsfaktoren einem zweiten Wahlgang oder gar nicht erhalten hätte. Die Popularität des neu gewählten Präsidenten speist sich zum einen aus seinem frühzeitigen Engagement für Nächster Schritt: Machtkonsolidierung die »Euromaidan«-Bewegung, über die als erster um- nach innen und außen fassend und mit viel Sympathie sein eigener TV-Sender 5. Kanal berichtete. Zudem musste Poroschenko bereits Im starken Gegensatz zu einigen westlichen Perzep- im letzten Sommer einige geschäftliche Einbußen hin- tionen Poroschenkos als eines durch die Rückkehr zur nehmen, als Russland die Einfuhr bzw. Produktion seiner Verfassung von 2006 weitgehend entmachteten Präsi- Süßwaren mit fadenscheinigen Argumenten unterband. denten stehen die bisherigen historischen ukrainischen Dass er dies in Kauf nahm, wird ihm in der heutigen an- Erfahrungen: Noch jeder neu gewählte Präsident hat gespannten Situation positiv angerechnet. Daneben gilt versucht, sich eine Machtbasis im Parlament, bei regio- 1
STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL nalen Eliten, in den Machtministerien (Innen, Außen, der antiterroristischen Aktion« genannt), die bereits un- Verteidigung, Geheimdienst) und dem wirtschaftlichen mittelbar nach dem Wahltag einsetzte, trifft auf eine Leben der Ukraine zu verschaffen. Warum sollte das die- separatistische Bewegung, die nach allen verfügbaren ses Mal anders sein? Berichten gespalten ist in »echte Separatisten«, eher kompromissbereite Kräfte, die sich einen Verbleib in der Ukraine vorstellen können und originär aus Russland Verständigung mit den Eliten der Ostukraine bzw. dem russischen Tschetschenien stammende Ver- bände. Bei Letzteren bleibt unklar, ob diese nun mit akti- In diesem Sinne sind auch die bereits oben beschriebe- vem Zutun oder wohlwollender Duldung Moskaus in die nen (Wieder-)Annäherungsversuche an die Überreste Ukraine gelangt sind. Dies scheint ein koordiniertes Vor- der »Partei der Regionen« zu interpretieren. Ihre Parla- gehen der Anhänger der »Weg-von-Kiew«-Bewegung mentsfraktion zählt trotz zahlreicher Austritte noch im- zu erschweren, zumal sich auch die Vielzahl der regio- mer über 100 von einst 187 Sitzen. Hier geht es darum, nal auftretenden Führungsfiguren, »Volksgouverneure« einen Kompromiss mit denjenigen Kräften zu finden, und »Volksbürgermeister« über die eigenen Ziele nicht die im Osten der Ukraine noch über Rückhalt verfügen einig sind. Daneben hat die russische Führung die Wahl und die für weitere Projekte, wie z. B. eine im breiten des neuen Präsidenten zwar nicht offiziell anerkannt, Konsens erfolgende Verfassungsänderung politisch not- aber immerhin »respektiert« und nun auch nach NATO- wendig sind. Auch im Lichte der sich in der Vorwahl- Angaben mit einem Teilrückzug der eigenen, hinter der woche bereits abzeichnenden neuen Machtverhältnisse Grenze postierten Streitkräfte ein Entspannungssignal ist daher das parlamentarische »Memorandum über gesendet. Zudem hat Poroschenko schon während der gegenseitiges Einverständnis und Frieden«1 zu sehen, Wahlkampagne darauf hingewiesen, die Beziehungen das am 20. Mai verabschiedet wurde. Es enthält neben mit Russland wieder verbessern und das Gespräch su- der Selbstverpflichtung der politischen Kräfte auf eine chen zu wollen. Die nicht mehr völlig auseinanderlie- Reform der Verfassung, inklusive einer Dezentralisie- genden Positionen im von EU-Kommissar Oettinger mo- rung des politischen Systems, die Festschreibung der derierten Streit um (un-)bezahlte Gasrechnungen und Ukraine als parlamentarisch-präsidentielle Republik. den künftigen Gaspreis deuten ebenfalls in Richtung Daneben sollen Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei einer immerhin vorstellbaren Lösung zumindest dieses reformiert werden, eines der »left-overs« der EU-For- Teilkonflikts mit dem großen Nachbarn. Eine erste Teil- derungen aus der Zeit der Verhandlungen zum Assozi- summe der ausstehenden Gasrechnungen, umgerech- ierungsabkommen 2013. Schließlich soll der Status der net 786 Mio. US-Dollar, wurde jedenfalls am 2. Juni von russischen Sprache garantiert werden. Alle bewaffneten ukrainischer Seite überwiesen. Gruppen werden zur Abgabe der Waffen sowie zur Räu- mung besetzter Gebäude aufgerufen, ganz wie in den Genfer Verhandlungen seit Ostern bereits vorgesehen. Poroschenko und Klitschko – ein Bündnis auf Gegenseitigkeit Zum anderen ist Poroschenko offenbar überzeugt von der Notwendigkeit, eine militärische Offensive in Do- Der innenpolitische Hauptpartner Poroschenkos, der nezk und Lugansk innenpolitisch vorzubereiten und selbst nur über eine überschaubare »Mannschaft« und abzusichern, indem er den Kontakt zu lokal einflussrei- eine nur in der Theorie existierende Parteistruktur na- chen ehemaligen Anhängern seines geflüchteten Amts- mens »Solidarnost« (Solidarität) verfügt, ist seit Ende vorgängers sucht(e). Diese zunehmende Opferzahlen März 2014 Klitschkos Partei UDAR. Beide Politiker eint, fordernde militärische Offensive2 (offiziell »aktive Phase dass sie auf dem Maidan präsent waren und als rela- tiv »unbescholten« in Bezug auf Korruptionsvorwürfe 1. http://ukraine-eu.mfa.gov.ua/en/press-center/news/23241-memoran- angesehen werden. Boxen (Klitschko) und Schokolade dum-of-understanding-and-peace. (Poroschenko) sind offenbar Geschäftsfelder, die in der 2. Nach Angaben des ukrainischen Generalstaatsanwaltes Makhnitsky ukrainischen Öffentlichkeit als weniger belastet emp- vom 3. Juni sind seit Beginn des »Antiterroreinsatzes« Anfang April bereits 181 Tote zu verzeichnen, davon 59 Angehörige ukrainischer funden werden als Bankenwesen, Gasgeschäfte oder Sicherheitskräfte; http://www.kyivpost.com/content/ukraine/heavy- die Bau- bzw. Montanindustrie. Da sie beide auch in fighting-in-eastern-ukraine-as-government-restarts-active-phase-of-anti- terror-operation-350453.html. der Vergangenheit nicht in der allerersten Reihe der 2
STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL Politik standen, können sie außerdem recht erfolgreich geordnete in der Rada; den mit Poroschenko affiliierten den Ruf nach »neuen Gesichtern« bedienen. Inwieweit unabhängigen Abgeordneten und der UDAR-Fraktion sich hier die in hohen Popularitätsraten niederschla- kommt somit eine Schlüsselrolle in dieser Frage zu, die gende Wahrnehmung der Bevölkerung mit der künf- als politischer Hebel genutzt werden kann. Es ist vor- tigen Realität verträgt und ob nicht bereits der Keim auszusehen, dass im Falle von Neuwahlen (die aufgrund für die angesichts der großen Erwartungen zwangs- der gesetzlich zu beachtenden Fristen technisch nicht läufig nächste Enttäuschung der ukrainischen Wähler vor dem Herbst durchgeführt werden könnten) der neu gelegt wird, ist eine andere Frage. Jedenfalls bringen gewählte Präsident seine Machtbasis stark verbreitern beide sich mit ihren unterschiedlichen, sich ergänzen- würde. Seiner »Solidarnost«-Gruppierung und UDAR den Pluspunkten ein: hier das »neue Gesicht«, der ehe- werden zusammen – wären schon jetzt Wahlen – dras- malige Boxer Klitschko, dort der erfahrene Mann des tische Stimmengewinne vorhergesagt. Hingegen müss- Ausgleichs, polit-geografisch immer zwischen Ost- und ten sowohl Timoschenkos »Batkiwschtschyna« als auch Westukraine pendelnd, auf ein gutes Verhältnis zur EU Tianyboks »Swoboda« mit Einbußen rechnen, wobei setzend, aber auch rhetorische Brücken nach Russland letztere – sofern sie sich nicht mit dem »Rechten Sek- bauend. tor« zusammenschließt – sogar damit rechnen muss, den Einzug ins Parlament zu verpassen. Daher werden Nach dem doppelten Wahlerfolg vom 25. Mai beginnt beide Parteien alles versuchen, Neuwahlen zum jetzigen sich die ukrainische Politik auf das neue Kraftzentrum Zeitpunkt zu verhindern. Bei der Timoschenko-Partei Poroschenko / Klitschko auszurichten. In einer Phase gro- kommt hinzu, dass sie derzeit praktisch alle wichtigen ßer außenpolitischer und sozioökonomischer Unwägbar- Regierungsämter innehat – es also besser auch durch keiten ist es zum einen nichts Ungewöhnliches, dass sich Neuwahlen kaum werden kann. Die Interessenlage ist Teile der unabhängigen und der nach Austritt aus der folglich zwischen den drei die derzeitige Übergangsre- Fraktion der »Partei der Regionen« politisch heimatlos gierung tragenden Parteien gespalten. Gleiches gilt auch gewordenen Abgeordneten hinter dem neu gewählten für die Diskussion über das anzuwendende Wahlrecht, Präsidenten scharen. Schließlich ist seine Wahl der Ab- denn Poroschenko hätte sicher nichts dagegen, das bis- schluss des seit Ende Februar andauernden Übergangs- herige »Grabenwahlrecht« mit 225 direkt gewählten prozesses und verspricht, eine Phase größerer innenpoli- Abgeordneten und derselben Anzahl über Parteilisten zu tischer Stabilität einzuleiten. Zum anderen bedeutet die wählender Kandidaten beizubehalten. Gerade für einen Nähe zum Präsidentenamt zumindest keine Nachteile für Präsidenten, der sich seine parlamentarische Basis erst den in der Ukraine weiterhin vorherrschenden Typus des noch sichern und diese ausbauen möchte, ist es leich- Polit-Unternehmers. ter, auf eine möglichst hohe Anzahl formal unabhän- giger Abgeordneter, die nur ihrem Wahlkreis und den daraus resultierenden (Geschäfts-)Interessen verpflichtet Technik der Machtausübung – sind, einzuwirken, als auf große Blöcke von »Parteisolda- der mögliche Weg zu Parlamentsneuwahlen ten«, die nach den ukrainischen Gepflogenheiten »top- down« von den Parteiführern ausgewählt werden und Der aktuellen Popularität, sowohl beim Wähler als auch daher von Julia Timoschenko präferiert würden. Letztere bei manchem Abgeordneten, diametral entgegen ste- tritt folglich auch konsequent dafür ein, dass zunächst hen allerdings zurzeit noch die Mehrheitsverhältnisse ein System starrer Listenwahl auf Grundlage des Verhält- im 2012 gewählten Parlament, wo UDAR gerade einmal niswahlrechts eingeführt werden müsse. 41 von 450 Abgeordneten stellt. Daher ist zu erwarten, dass das Duo Poroschenko / Klitschko auf die möglichst Als Auffanglösung, falls der Weg zu Neuwahlen sich als rasche Durchführung von Neuwahlen (des Parlaments zu steinig erweisen sollte, bleibt für das Tandem Poro- und auf kommunaler Ebene) noch in diesem Jahr hin- schenko / Klitschko die (wie oben ausgeführt: durchaus arbeitet. Dies kann beispielsweise über den Weg der glaubwürdige) Drohung mit diesen. Da ca. 50 Prozent bewusst herbeigeführten Arbeitsunfähigkeit des »al- der Abgeordneten um ihre Sitze fürchten müssten (die ten« Parlaments geschehen, auf die die Auflösung der derzeitige Rada ist eben ein Abbild der Machtverhält- Werchowna Rada folgen könnte. Schon jetzt verlieren nisse vom Herbst 2012), mag sich mancher überlegen, sich in Sitzungswochen selten mehr als 230– 260 Ab- ob er dieses Risiko eingehen will. Als individueller Aus- 3
STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL weg böte sich an, einer informellen propräsidentiellen Demgegenüber herrscht zwischen Übergangsregierung Mehrheit beizutreten und somit noch drei weitere Jahre und Präsident im Prinzip Konsens über die Notwendig- den Sitz bis zur turnusmäßigen Neuwahl 2017 zu behal- keit einer maßvollen Dezentralisierung des Landes. Der ten. Dieser Weg scheint insbesondere für diejenigen, die entsprechende Entwurf für eine Verfassungsänderung auf dem Ticket der »Partei der Regionen« 2012 gewählt liegt in der Verfassungskommission der Werchowna wurden und deren Chancen auf Wiederwahl derzeit Rada und harrt der Begutachtung durch die Venedig- schlecht stünden, von Interesse zu sein. Ein besonderer Kommission des Europarates. Inhaltlich sollen den ukrai- Fokus bei der Formierung dieser »Mehrheit des Präsi- nischen Regionen Möglichkeiten zu einer eigenständigen denten« liegt daher auf den Gruppen »Wirtschaftliche Wirtschafts- und Strukturpolitik eingeräumt werden, mit Entwicklung« (37 Sitze) und »Souveräne Ukraine« (36 der Möglichkeit, bestimmte Steuersätze zu heben oder Sitze), die beide aus den Austritten der »Partei der Re- zu senken. Das Subsidiaritätsprinzip könnte Erwähnung gionen« hervorgegangen sind, sowie den fraktionslosen finden. Auf jeden Fall wird den Regionen ein tatsächlich Abgeordneten, die 70 Sitze innehaben. eigenständiges Haushaltsrecht zugestanden werden, womöglich verbunden mit einem Ausgleichsmechanis- mus auf gesamtstaatlicher Ebene. Es ist weiterhin ge- Verfassungsreform und Regierungsumbildung plant, künftig auch lokale Referenden abzuhalten (zu- mindest zu lokalen / regionalen Fragen). Ebenso wird die Für die bereits von der Übergangsregierung Jazeniuk russische Sprache in einer noch näher auszudefinieren- entwickelten Überlegungen zu einer Verfassungsre- den Form erwähnt und geschützt bzw. die Möglichkeit form in Richtung einer Neuverteilung der »balance of geschaffen werden, dies auf regionaler Ebene zu tun. power« zwischen Präsident und Parlament sowie der Die Gouverneure, so die Debatte, sollen fortan direkt Neujustierung des Verhältnisses zwischen Kiewer Zen- gewählt und nicht mehr durch Kiew zentral bestimmt trale und den Regionen gehen die Entwicklungen in werden. Da eine Verfassungsänderung aber mindestens unterschiedliche Richtungen. Es ist aufgrund der dar- 300 Stimmen der 450 Köpfe zählenden Rada verlangt, gestellten politischen Umgruppierungsprozesse nicht ist – wenn man davon ausgeht, dass sowohl »Swobo- zu erwarten, dass die Befugnisse des Präsidentenam- da« (35 Sitze) als auch die Kommunisten (33 Sitze) man- tes formal deutlich über das in der derzeit seit dem che Forderungen nicht unterstützen werden – ein brei- 22. Februar 2014 wieder geltenden Verfassung von tes Bündnis praktisch aller übrigen parlamentarischen 2004 hinausgehende Maß eingeschränkt werden. Da- Kräfte erforderlich. mit würden die Richtlinienkompetenz in der Außen- und Verteidigungspolitik als »domaine reservé« ebenso wie das Recht zur Ernennung der beiden dafür verantwort- Die vorerst beendete »Revolution« lichen Minister in der Hand des neu gewählten Amts- inhabers verbleiben, ebenso wie die Ernennung des Die erste Amtshandlung des neu gewählten Kiewer Inlandsgeheimdienstchefs und Generalstaatsanwalts. Bürgermeisters Klitschko war bezeichnenderweise der Daneben würde er ein recht stark ausgestaltetes sus- Versuch, die Maidan-Aktivisten zur Räumung des mit- pensives Vetorecht und das Recht zur vorzeitigen Parla- ten in der Hauptstadt gelegenen Platzes zu bewegen. mentsauflösung (unter Beachtung bestimmter Fristen in In der Folge sah man Putzkolonnen und Müllwagen den von der Verfassung vorgesehenen Fällen) behalten. die Zeugnisse der Zeitgeschichte entsorgen, ehe einige Angesichts der informellen Machtmittel des Präsiden- Widerständige dann doch ein paar Autoreifen in Brand ten, der im Moment zusätzlich über die Legitimation setzten und ankündigten, bis zu einer Neuwahl des Par- des ersten demokratisch gewählten Politikers auf natio- laments ausharren zu wollen. Diese »Vollendung der Re- naler Ebene nach den Maidan-Ereignissen verfügt, gibt volution« ist angesichts der faktischen Bedrohung des dieses legalistische Bild aber die tatsächlichen Einwir- ukrainischen Staatswesens im Osten des Landes aber of- kungsmechanismen nur unzureichend wieder. Tatsäch- fenbar selbst für Aktivisten wie Volodymyr Parasyuk, der lich wird in Kiew eine baldige Umbildung der Regierung am Abend des 21. Februar mit dem Sturm auf das Re- im Sinne Poroschenkos erwartet, zumindest, was einige gierungsviertel gedroht hatte und damit womöglich die der »technokratischen« parteilosen Ministerien angeht, Flucht des Präsidenten ausgelöst hatte, keine Priorität u. a. das Außenamt. mehr. Er rief zumindest bereits zur Räumung der Reste 4
STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL des Protestcamps auf. Nachdem sich der »Euromaidan« stellung eine mediale Bühne für die Propagierung der demnach physisch in Auflösung befindet und der träge politischen Ziele des Maidans bieten will und recht of- fließende Kiewer Verkehr sich demnächst wieder über fen von der Notwendigkeit der Ausbalancierung »pro- die Prachtstraße Kreschtschatyk wälzen wird, stellt sich russischer Propaganda« spricht. Nahezu sämtlichen die Frage, was vom Elan der zivilgesellschaftlichen Ak- nach Kiew einfliegenden westlichen Delegationen tivisten geblieben ist. Ihre zentralen Forderungen nach wird über ihre Botschaften angeboten, dort Presse- »neuen Gesichtern« in der Politik, einem Aufbruch nach gespräche abzuhalten und Interviews zu geben. Hier Europa und einem Ende der Korruption, die den Winter hat also zumindest der Aspekt der Vernetzung mit den über die politische Debatte auf dem Maidan bestimm- potenziellen »westlichen Gebern« bereits gut funkti- ten, sind jedenfalls derzeit noch nicht erfüllt. Eine kurze oniert. Zwischenbilanz ergibt folgendes Bild: Das einzige wirk- lich neue Gesicht in der ukrainischen Politik ist – und Eine Institutionalisierung und Verstetigung der Maidan- das auch nur mit Abstrichen – Witali Klitschko, der vom Bewegung in parteipolitsicher Hinsicht ist bisher an meh- Maidan eher wenig geliebt und gelegentlich ausgebuht reren Faktoren gescheitert: Zum einen fehlt es an unum- wurde. Der proeuropäische Kurs der Ukraine scheint strittenem Führungspersonal mit Ausstrahlungswirkung mit der Unterzeichnung des politischen Teils des Asso- auf das Land und die Regionen. Die auf dem Maidan ziierungsabkommens am 21. März zwar eingeschlagen, vertretenen Gruppen waren sehr gut in puncto Selbst- kann sich aber unter den aktuellen außen- und sicher- organisation und Improvisation, aber nun scheint ihnen heitspolitischen Bedingungen derzeit nicht wirkmächtig ihre Heterogenität und Zersplitterung zum Verhängnis entfalten. Und der Ruf nach dem Ende der Korruption zu werden. Einzig bei den Kiewer Stadtratswahlen konn- bleibt erst einmal ein frommer Wunsch, wobei in diesem ten aus dem Maidan hervorgegangene Kleinstparteien Bereich auf Druck der Zivilgesellschaft immerhin bereits einige Mandate in der Ratsversammlung gewinnen. Zum ein wichtiges Gesetzesvorhaben zu öffentlichen Aus- zweiten verhindern die Parteiengesetzgebung und die schreibungen3 verabschiedet wurde. faktischen finanziellen Notwendigkeiten eine erfolgrei- che Ausgründung einer konkurrenzfähigen Partei oder Aus dem »Euromaidan« hervorgegangen sind derweil Bürgerbewegung. Sollte sich das Szenario einer raschen zwei neue Institutionen bzw. institutionalisierte Formen Neuwahl als richtig herausstellen, dann kommt der Zeit- von »Umbrella-NGOs«. Zum einen gründeten verschie- faktor erschwerend hinzu. In so kurzer Frist – mit einer dene Initiativen und Nichtregierungsorganisationen Ende Neuwahl noch 2014 – würden die daran interessierten Februar 2014 gemeinsam die »Reanimation Package Re- etablierten Parteien und politischen Akteure es New- forms Initiative«, die seither verschiedene Gesetzesini- comern praktisch unmöglich machen, kampagnenfähig tiativen zu Transparenz, Justizreform und Öffentlichem zu werden. Rundfunk lanciert hat. Über diese Gruppe versuchen Teile der organisierten Zivilgesellschaft das »Momen- Was von der »Revolutionsstimmung« bleibt, ist die tum« für weitergehende Reforminitiativen zu nutzen, Möglichkeit, dass sich mit der zu erwartenden sozialen wobei deren Protagonisten ganz offen eingestehen, dass und wirtschaftlichen Talfahrt erneut Unzufriedene auf diese nur politische Wirkung entfalten werden, wenn der dem Maidan sammeln könnten. Auch dann, wenn die Druck westlicher Geberländer anhaltend stark bleibt. Die jetzt neu in ihre Ämter gekommenen Politiker nicht die EU bzw. »der Westen« allgemein werden aufgefordert, Erwartungshaltung bedienen, kann es durchaus sein, die Fehler der Zeit nach der Orangen Revolution von dass sich der Ärger in einer neuerlichen Protestbewe- 2004/05 nicht zu wiederholen, als das Interesse an der gung entladen wird. Der »Maidan reloaded« schwebt Entwicklung in der Ukraine recht bald wieder abnahm. nach den Ereignissen des letzten halben Jahres immer über den Köpfen der politisch Handelnden. Was häufig Das zweite Produkt der »Euromaidan«-Bewegung ist zu hören ist in Kiew: Auch 1917 folgte auf den Februar das »Ukraine Crisis Media Center«4, das laut Selbstdar- der Oktober und auf die erste Revolution die zweite. Die Frage ist nach den arabischen Erfahrungen aller- 3. Am 10. April 2014 verabschiedete die Rada das Gesetz Nr. 2289-VI dings erlaubt, ob diese dann noch demokratisch inspi- über »öffentliche Auftragsvergabe« mit strengeren Vergaberegeln und umfangreichen Anti-Korruptions- sowie Transparenzbestimmungen. riert wäre oder eine (erneute) autoritäre Wende bevor- 4. http://uacrisis.org. stünde. 5
Über den Autor Impressum Stephan Meuser leitet das Regionalbüro der Friedrich-Ebert- Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Mittel- und Osteuropa Stiftung in Kiew. Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland Verantwortlich: Dr. Reinhard Krumm, Leiter, Referat Mittel- und Osteuropa Tel.: ++49-30-269-35-7726 | Fax: ++49-30-269-35-9250 http://www.fes.de/international/moe Bestellungen / Kontakt: info.moe@fes.de Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schriftliche Zustim- mung durch die FES nicht gestattet. Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten ISBN sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. 978-3-86498-896-7
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