Nach der Wahl ist vor der Wahl - Die Ukraine nach dem Sieg Poroschenkos

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PERSPEKTIVE | FES UKRAINE

  Nach der Wahl ist vor der Wahl
              Die Ukraine nach dem Sieg Poroschenkos

                                                                STEPHAN MEUSER
                                                                        Juni 2014

n Der Milliardär Petro Poroschenko ist der erste Präsident der Ukraine seit 1991, der
  bereits im ersten Wahlgang gewählt wurde. Sein Wahlerfolg geht maßgeblich auf
  das taktische Bündnis mit Witali Klitschkos Partei UDAR zurück. Daneben erhielt er
  viele Stimmen von Wählern, für die die Stabilität des Landes an erster Stelle steht
  und die bereits deshalb für den nach allen Vorwahlumfragen klar führenden Kandi-
  daten stimmten.

n Nach der Wahl ist vor der Wahl: Der neu gewählte Präsident wird in den kommen-
  den Wochen und Monaten versuchen, seine Machtposition auszubauen und abzu-
  sichern. Dazu sind vorgezogene Parlamentswahlen das geeignete Mittel. Alternativ
  kommt die Bildung einer informellen »präsidentiellen Mehrheit« durch unabhängige
  und politisch heimatlos gewordene Abgeordnete des aktuellen Parlaments in Be-
  tracht. Parallel dazu ist damit zu rechnen, dass es zu einer baldigen Verfassungsre-
  form mit einer Dezentralisierung der Ukraine kommt. Die offene Frage ist aber, wie
  weitreichend diese sein wird, denn hierzu ist aufgrund der nötigen 2/3-Mehrheit ein
  breiter politischer Konsens erforderlich.

n Der Maidan-Bewegung ist es vorerst nicht gelungen, sich politisch zu institutionali-
  sieren und zu verstetigen. Stattdessen beherrschen wieder und weiterhin bereits be-
  kannte Kräfte die politische Szene. Dennoch wird es für die alten Eliten schwer sein,
  einfach zur Tagesordnung überzugehen, denn die Ziele des »Euromaidans« bleiben
  aktuell und könnten jederzeit wieder zu neuen Protesten führen.
STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL

                                    Wahlergebnis               er – auch im Hinblick auf seine sehr guten englischen
                                                               Sprachkenntnisse – in der ukrainischen Bevölkerung als
Die ukrainische Präsidentschaftswahl brachte einen kla-        weltgewandt und auf internationalem Parkett sehr vor-
ren Sieger: Der Milliardär Petro Poroschenko gewann am         zeigbar. Man darf sich aber nicht der Illusion hingeben,
25. Mai bereits im ersten Wahlgang mit 54 Prozent der          dass sein deutlicher Wahlsieg ausschließlich sein eigenes
Stimmen und weitem Abstand vor der Zweitplatzierten,           Verdienst ist. Viele seiner Wähler, vor allem im Osten
der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die nur          des Landes, werden auch mangels echter Alternativen
ca. 12 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielt. Da-            für ihn gestimmt haben. Während Julia Timoschenko
mit wurde erstmals seit 1991 ein Kandidat bereits im           im Wahlkampf das Image der »Frau von gestern« nicht
ersten Wahlgang gewählt. Alle weiteren Kandidaten              abstreifen konnte und außerdem immer wieder mit
erreichten nur einstellige Werte, wobei überraschen-           scharfen Attacken auf Russland polarisierte, konnte
derweise mit Oleg Ljaschko und Anatolij Grizenko zwei          Poroschenko die Rolle des ausgleichenden, ein wenig
national-populistische Kandidaten auf den Plätzen drei         über den Dingen stehenden Kandidaten spielen. Dass es
und vier landeten. Der ehemalige Vize-Ministerpräsident        erstmals seit langem keinen chancenreichen Kandidaten
Janukowitschs, Sergej Tigipko belegte nach rund 13 Pro-        aus dem Osten der Ukraine gab, spielte in Poroschen-
zent bei den letzten Präsidentenwahlen 2010 mit nun-           kos Hände, denn auch vor diesem Hintergrund bot seine
mehr unter 5 Prozent der Stimmen lediglich den fünften         Vergangenheit als Mitgründer der »Partei der Regionen«
Platz. Die dezidiert rechten Kandidaten Oleg Tyanibok          zumindest einen Anhaltspunkt für die dortigen Wähler,
(»Swoboda«) und Dmitrij Jarosch (»Rechter Sektor«) er-         sich »im Zweifel« besser für ihn zu entscheiden. Daneben
reichten zusammen weniger als 2 Prozent der Stimmen.           darf vermutet werden, dass er hinter den Kulissen bereits
                                                               frühzeitig den Kontakt zu den regionalen und lokalen
Poroschenkos Strategie, sich frühzeitig mit dem noch im        Eliten der Ostukraine gesucht hat, wo er auch aufgrund
Winter wie der große Gegenspieler von Ex-Präsident Janu-       seines persönlichen politischen Werdegangs (immerhin
kowitsch wirkenden Witali Klitschko und dessen UDAR-           war er einst auch Minister unter Präsident Janukowitsch)
Partei zu verbünden, ist aufgegangen. Klitschko wiede-         jedenfalls wesentlich besser vermittelbar ist als seine
rum zog aus diesem politischen Deal den entscheidenden         Konkurrenz. Schließlich darf der »externe Faktor« bei der
Vorteil beim Rennen um das Kiewer Bürgermeisteramt,            Wahlentscheidung nicht vernachlässigt werden. Unter
das er im dritten Anlauf endlich gewinnen konnte. Dieses       dem Druck der russischen Annexion der Krim und des
Bündnis, an dessen Zustandekommen sowohl der zurzeit           faktischen Bürgerkrieges in der Ostukraine, der die Mög-
in Wien festsitzende und nur gegen Kaution freigelas-          lichkeit der Wahlbeteiligung in den Regionen Donezk
sene Gas-»Oligarch« Firtasch als auch einige westliche         und Lugansk stark herabsetzte, erschien es offenbar
Länder hinter den Kulissen mitgeschmiedet haben sol-           manchem Wähler (und vielleicht auch mancher Wahl-
len, wird nun auf baldige vorgezogene Neuwahlen drin-          kommission) entscheidend, den ohnehin in allen Um-
gen, um auch die Machtverhältnisse im Parlament, der           fragen deutlich führenden Kandidaten zu unterstützen
Werchowna Rada, in seinem Sinne zu verändern.                  und somit eine Entscheidung schon im ersten Wahlgang
                                                               herbeizuführen. Zur Stabilisierung des Landes flossen so
                                                               Stimmen auf das Konto Poroschenkos, die er sonst erst in
        Warum Poroschenko? – Erfolgsfaktoren                   einem zweiten Wahlgang oder gar nicht erhalten hätte.

Die Popularität des neu gewählten Präsidenten speist
sich zum einen aus seinem frühzeitigen Engagement für          Nächster Schritt: Machtkonsolidierung
die »Euromaidan«-Bewegung, über die als erster um-             nach innen und außen
fassend und mit viel Sympathie sein eigener TV-Sender
5. Kanal berichtete. Zudem musste Poroschenko bereits          Im starken Gegensatz zu einigen westlichen Perzep-
im letzten Sommer einige geschäftliche Einbußen hin-           tionen Poroschenkos als eines durch die Rückkehr zur
nehmen, als Russland die Einfuhr bzw. Produktion seiner        Verfassung von 2006 weitgehend entmachteten Präsi-
Süßwaren mit fadenscheinigen Argumenten unterband.             denten stehen die bisherigen historischen ukrainischen
Dass er dies in Kauf nahm, wird ihm in der heutigen an-        Erfahrungen: Noch jeder neu gewählte Präsident hat
gespannten Situation positiv angerechnet. Daneben gilt         versucht, sich eine Machtbasis im Parlament, bei regio-

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STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL

nalen Eliten, in den Machtministerien (Innen, Außen,                           der antiterroristischen Aktion« genannt), die bereits un-
Verteidigung, Geheimdienst) und dem wirtschaftlichen                           mittelbar nach dem Wahltag einsetzte, trifft auf eine
Leben der Ukraine zu verschaffen. Warum sollte das die-                        separatistische Bewegung, die nach allen verfügbaren
ses Mal anders sein?                                                           Berichten gespalten ist in »echte Separatisten«, eher
                                                                               kompromissbereite Kräfte, die sich einen Verbleib in der
                                                                               Ukraine vorstellen können und originär aus Russland
   Verständigung mit den Eliten der Ostukraine                                 bzw. dem russischen Tschetschenien stammende Ver-
                                                                               bände. Bei Letzteren bleibt unklar, ob diese nun mit akti-
In diesem Sinne sind auch die bereits oben beschriebe-                         vem Zutun oder wohlwollender Duldung Moskaus in die
nen (Wieder-)Annäherungsversuche an die Überreste                              Ukraine gelangt sind. Dies scheint ein koordiniertes Vor-
der »Partei der Regionen« zu interpretieren. Ihre Parla-                       gehen der Anhänger der »Weg-von-Kiew«-Bewegung
mentsfraktion zählt trotz zahlreicher Austritte noch im-                       zu erschweren, zumal sich auch die Vielzahl der regio-
mer über 100 von einst 187 Sitzen. Hier geht es darum,                         nal auftretenden Führungsfiguren, »Volksgouverneure«
einen Kompromiss mit denjenigen Kräften zu finden,                             und »Volksbürgermeister« über die eigenen Ziele nicht
die im Osten der Ukraine noch über Rückhalt verfügen                           einig sind. Daneben hat die russische Führung die Wahl
und die für weitere Projekte, wie z. B. eine im breiten                        des neuen Präsidenten zwar nicht offiziell anerkannt,
Konsens erfolgende Verfassungsänderung politisch not-                          aber immerhin »respektiert« und nun auch nach NATO-
wendig sind. Auch im Lichte der sich in der Vorwahl-                           Angaben mit einem Teilrückzug der eigenen, hinter der
woche bereits abzeichnenden neuen Machtverhältnisse                            Grenze postierten Streitkräfte ein Entspannungssignal
ist daher das parlamentarische »Memorandum über                                gesendet. Zudem hat Poroschenko schon während der
gegenseitiges Einverständnis und Frieden«1 zu sehen,                           Wahlkampagne darauf hingewiesen, die Beziehungen
das am 20. Mai verabschiedet wurde. Es enthält neben                           mit Russland wieder verbessern und das Gespräch su-
der Selbstverpflichtung der politischen Kräfte auf eine                        chen zu wollen. Die nicht mehr völlig auseinanderlie-
Reform der Verfassung, inklusive einer Dezentralisie-                          genden Positionen im von EU-Kommissar Oettinger mo-
rung des politischen Systems, die Festschreibung der                           derierten Streit um (un-)bezahlte Gasrechnungen und
Ukraine als parlamentarisch-präsidentielle Republik.                           den künftigen Gaspreis deuten ebenfalls in Richtung
Daneben sollen Justiz, Staatsanwaltschaft und Polizei                          einer immerhin vorstellbaren Lösung zumindest dieses
reformiert werden, eines der »left-overs« der EU-For-                          Teilkonflikts mit dem großen Nachbarn. Eine erste Teil-
derungen aus der Zeit der Verhandlungen zum Assozi-                            summe der ausstehenden Gasrechnungen, umgerech-
ierungsabkommen 2013. Schließlich soll der Status der                          net 786 Mio. US-Dollar, wurde jedenfalls am 2. Juni von
russischen Sprache garantiert werden. Alle bewaffneten                         ukrainischer Seite überwiesen.
Gruppen werden zur Abgabe der Waffen sowie zur Räu-
mung besetzter Gebäude aufgerufen, ganz wie in den
Genfer Verhandlungen seit Ostern bereits vorgesehen.                           Poroschenko und Klitschko –
                                                                               ein Bündnis auf Gegenseitigkeit
Zum anderen ist Poroschenko offenbar überzeugt von
der Notwendigkeit, eine militärische Offensive in Do-                          Der innenpolitische Hauptpartner Poroschenkos, der
nezk und Lugansk innenpolitisch vorzubereiten und                              selbst nur über eine überschaubare »Mannschaft« und
abzusichern, indem er den Kontakt zu lokal einflussrei-                        eine nur in der Theorie existierende Parteistruktur na-
chen ehemaligen Anhängern seines geflüchteten Amts-                            mens »Solidarnost« (Solidarität) verfügt, ist seit Ende
vorgängers sucht(e). Diese zunehmende Opferzahlen                              März 2014 Klitschkos Partei UDAR. Beide Politiker eint,
fordernde militärische Offensive2 (offiziell »aktive Phase                     dass sie auf dem Maidan präsent waren und als rela-
                                                                               tiv »unbescholten« in Bezug auf Korruptionsvorwürfe
1. http://ukraine-eu.mfa.gov.ua/en/press-center/news/23241-memoran-            angesehen werden. Boxen (Klitschko) und Schokolade
dum-of-understanding-and-peace.                                                (Poroschenko) sind offenbar Geschäftsfelder, die in der
2. Nach Angaben des ukrainischen Generalstaatsanwaltes Makhnitsky              ukrainischen Öffentlichkeit als weniger belastet emp-
vom 3. Juni sind seit Beginn des »Antiterroreinsatzes« Anfang April
bereits 181 Tote zu verzeichnen, davon 59 Angehörige ukrainischer              funden werden als Bankenwesen, Gasgeschäfte oder
Sicherheitskräfte; http://www.kyivpost.com/content/ukraine/heavy-
                                                                               die Bau- bzw. Montanindustrie. Da sie beide auch in
fighting-in-eastern-ukraine-as-government-restarts-active-phase-of-anti-
terror-operation-350453.html.                                                  der Vergangenheit nicht in der allerersten Reihe der

                                                                           2
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Politik standen, können sie außerdem recht erfolgreich          geordnete in der Rada; den mit Poroschenko affiliierten
den Ruf nach »neuen Gesichtern« bedienen. Inwieweit             unabhängigen Abgeordneten und der UDAR-Fraktion
sich hier die in hohen Popularitätsraten niederschla-           kommt somit eine Schlüsselrolle in dieser Frage zu, die
gende Wahrnehmung der Bevölkerung mit der künf-                 als politischer Hebel genutzt werden kann. Es ist vor-
tigen Realität verträgt und ob nicht bereits der Keim           auszusehen, dass im Falle von Neuwahlen (die aufgrund
für die angesichts der großen Erwartungen zwangs-               der gesetzlich zu beachtenden Fristen technisch nicht
läufig nächste Enttäuschung der ukrainischen Wähler             vor dem Herbst durchgeführt werden könnten) der neu
gelegt wird, ist eine andere Frage. Jedenfalls bringen          gewählte Präsident seine Machtbasis stark verbreitern
beide sich mit ihren unterschiedlichen, sich ergänzen-          würde. Seiner »Solidarnost«-Gruppierung und UDAR
den Pluspunkten ein: hier das »neue Gesicht«, der ehe-          werden zusammen – wären schon jetzt Wahlen – dras-
malige Boxer Klitschko, dort der erfahrene Mann des             tische Stimmengewinne vorhergesagt. Hingegen müss-
Ausgleichs, polit-geografisch immer zwischen Ost- und           ten sowohl Timoschenkos »Batkiwschtschyna« als auch
Westukraine pendelnd, auf ein gutes Verhältnis zur EU           Tianyboks »Swoboda« mit Einbußen rechnen, wobei
setzend, aber auch rhetorische Brücken nach Russland            letztere – sofern sie sich nicht mit dem »Rechten Sek-
bauend.                                                         tor« zusammenschließt – sogar damit rechnen muss,
                                                                den Einzug ins Parlament zu verpassen. Daher werden
Nach dem doppelten Wahlerfolg vom 25. Mai beginnt               beide Parteien alles versuchen, Neuwahlen zum jetzigen
sich die ukrainische Politik auf das neue Kraftzentrum          Zeitpunkt zu verhindern. Bei der Timoschenko-Partei
Poroschenko / Klitschko auszurichten. In einer Phase gro-       kommt hinzu, dass sie derzeit praktisch alle wichtigen
ßer außenpolitischer und sozioökonomischer Unwägbar-            Regierungsämter innehat – es also besser auch durch
keiten ist es zum einen nichts Ungewöhnliches, dass sich        Neuwahlen kaum werden kann. Die Interessenlage ist
Teile der unabhängigen und der nach Austritt aus der            folglich zwischen den drei die derzeitige Übergangsre-
Fraktion der »Partei der Regionen« politisch heimatlos          gierung tragenden Parteien gespalten. Gleiches gilt auch
gewordenen Abgeordneten hinter dem neu gewählten                für die Diskussion über das anzuwendende Wahlrecht,
Präsidenten scharen. Schließlich ist seine Wahl der Ab-         denn Poroschenko hätte sicher nichts dagegen, das bis-
schluss des seit Ende Februar andauernden Übergangs-            herige »Grabenwahlrecht« mit 225 direkt gewählten
prozesses und verspricht, eine Phase größerer innenpoli-        Abgeordneten und derselben Anzahl über Parteilisten zu
tischer Stabilität einzuleiten. Zum anderen bedeutet die        wählender Kandidaten beizubehalten. Gerade für einen
Nähe zum Präsidentenamt zumindest keine Nachteile für           Präsidenten, der sich seine parlamentarische Basis erst
den in der Ukraine weiterhin vorherrschenden Typus des          noch sichern und diese ausbauen möchte, ist es leich-
Polit-Unternehmers.                                             ter, auf eine möglichst hohe Anzahl formal unabhän-
                                                                giger Abgeordneter, die nur ihrem Wahlkreis und den
                                                                daraus resultierenden (Geschäfts-)Interessen verpflichtet
               Technik der Machtausübung –                      sind, einzuwirken, als auf große Blöcke von »Parteisolda-
  der mögliche Weg zu Parlamentsneuwahlen                       ten«, die nach den ukrainischen Gepflogenheiten »top-
                                                                down« von den Parteiführern ausgewählt werden und
Der aktuellen Popularität, sowohl beim Wähler als auch          daher von Julia Timoschenko präferiert würden. Letztere
bei manchem Abgeordneten, diametral entgegen ste-               tritt folglich auch konsequent dafür ein, dass zunächst
hen allerdings zurzeit noch die Mehrheitsverhältnisse           ein System starrer Listenwahl auf Grundlage des Verhält-
im 2012 gewählten Parlament, wo UDAR gerade einmal              niswahlrechts eingeführt werden müsse.
41 von 450 Abgeordneten stellt. Daher ist zu erwarten,
dass das Duo Poroschenko / Klitschko auf die möglichst          Als Auffanglösung, falls der Weg zu Neuwahlen sich als
rasche Durchführung von Neuwahlen (des Parlaments               zu steinig erweisen sollte, bleibt für das Tandem Poro-
und auf kommunaler Ebene) noch in diesem Jahr hin-              schenko / Klitschko die (wie oben ausgeführt: durchaus
arbeitet. Dies kann beispielsweise über den Weg der             glaubwürdige) Drohung mit diesen. Da ca. 50 Prozent
bewusst herbeigeführten Arbeitsunfähigkeit des »al-             der Abgeordneten um ihre Sitze fürchten müssten (die
ten« Parlaments geschehen, auf die die Auflösung der            derzeitige Rada ist eben ein Abbild der Machtverhält-
Werchowna Rada folgen könnte. Schon jetzt verlieren             nisse vom Herbst 2012), mag sich mancher überlegen,
sich in Sitzungswochen selten mehr als 230– 260 Ab-             ob er dieses Risiko eingehen will. Als individueller Aus-

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STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL

weg böte sich an, einer informellen propräsidentiellen         Demgegenüber herrscht zwischen Übergangsregierung
Mehrheit beizutreten und somit noch drei weitere Jahre         und Präsident im Prinzip Konsens über die Notwendig-
den Sitz bis zur turnusmäßigen Neuwahl 2017 zu behal-          keit einer maßvollen Dezentralisierung des Landes. Der
ten. Dieser Weg scheint insbesondere für diejenigen, die       entsprechende Entwurf für eine Verfassungsänderung
auf dem Ticket der »Partei der Regionen« 2012 gewählt          liegt in der Verfassungskommission der Werchowna
wurden und deren Chancen auf Wiederwahl derzeit                Rada und harrt der Begutachtung durch die Venedig-
schlecht stünden, von Interesse zu sein. Ein besonderer        Kommission des Europarates. Inhaltlich sollen den ukrai-
Fokus bei der Formierung dieser »Mehrheit des Präsi-           nischen Regionen Möglichkeiten zu einer eigenständigen
denten« liegt daher auf den Gruppen »Wirtschaftliche           Wirtschafts- und Strukturpolitik eingeräumt werden, mit
Entwicklung« (37 Sitze) und »Souveräne Ukraine« (36            der Möglichkeit, bestimmte Steuersätze zu heben oder
Sitze), die beide aus den Austritten der »Partei der Re-       zu senken. Das Subsidiaritätsprinzip könnte Erwähnung
gionen« hervorgegangen sind, sowie den fraktionslosen          finden. Auf jeden Fall wird den Regionen ein tatsächlich
Abgeordneten, die 70 Sitze innehaben.                          eigenständiges Haushaltsrecht zugestanden werden,
                                                               womöglich verbunden mit einem Ausgleichsmechanis-
                                                               mus auf gesamtstaatlicher Ebene. Es ist weiterhin ge-
Verfassungsreform und Regierungsumbildung                      plant, künftig auch lokale Referenden abzuhalten (zu-
                                                               mindest zu lokalen / regionalen Fragen). Ebenso wird die
Für die bereits von der Übergangsregierung Jazeniuk            russische Sprache in einer noch näher auszudefinieren-
entwickelten Überlegungen zu einer Verfassungsre-              den Form erwähnt und geschützt bzw. die Möglichkeit
form in Richtung einer Neuverteilung der »balance of           geschaffen werden, dies auf regionaler Ebene zu tun.
power« zwischen Präsident und Parlament sowie der              Die Gouverneure, so die Debatte, sollen fortan direkt
Neujustierung des Verhältnisses zwischen Kiewer Zen-           gewählt und nicht mehr durch Kiew zentral bestimmt
trale und den Regionen gehen die Entwicklungen in              werden. Da eine Verfassungsänderung aber mindestens
unterschiedliche Richtungen. Es ist aufgrund der dar-          300 Stimmen der 450 Köpfe zählenden Rada verlangt,
gestellten politischen Umgruppierungsprozesse nicht            ist – wenn man davon ausgeht, dass sowohl »Swobo-
zu erwarten, dass die Befugnisse des Präsidentenam-            da« (35 Sitze) als auch die Kommunisten (33 Sitze) man-
tes formal deutlich über das in der derzeit seit dem           che Forderungen nicht unterstützen werden – ein brei-
22. Februar 2014 wieder geltenden Verfassung von               tes Bündnis praktisch aller übrigen parlamentarischen
2004 hinausgehende Maß eingeschränkt werden. Da-               Kräfte erforderlich.
mit würden die Richtlinienkompetenz in der Außen- und
Verteidigungspolitik als »domaine reservé« ebenso wie
das Recht zur Ernennung der beiden dafür verantwort-           Die vorerst beendete »Revolution«
lichen Minister in der Hand des neu gewählten Amts-
inhabers verbleiben, ebenso wie die Ernennung des              Die erste Amtshandlung des neu gewählten Kiewer
Inlandsgeheimdienstchefs und Generalstaatsanwalts.             Bürgermeisters Klitschko war bezeichnenderweise der
Daneben würde er ein recht stark ausgestaltetes sus-           Versuch, die Maidan-Aktivisten zur Räumung des mit-
pensives Vetorecht und das Recht zur vorzeitigen Parla-        ten in der Hauptstadt gelegenen Platzes zu bewegen.
mentsauflösung (unter Beachtung bestimmter Fristen in          In der Folge sah man Putzkolonnen und Müllwagen
den von der Verfassung vorgesehenen Fällen) behalten.          die Zeugnisse der Zeitgeschichte entsorgen, ehe einige
Angesichts der informellen Machtmittel des Präsiden-           Widerständige dann doch ein paar Autoreifen in Brand
ten, der im Moment zusätzlich über die Legitimation            setzten und ankündigten, bis zu einer Neuwahl des Par-
des ersten demokratisch gewählten Politikers auf natio-        laments ausharren zu wollen. Diese »Vollendung der Re-
naler Ebene nach den Maidan-Ereignissen verfügt, gibt          volution« ist angesichts der faktischen Bedrohung des
dieses legalistische Bild aber die tatsächlichen Einwir-       ukrainischen Staatswesens im Osten des Landes aber of-
kungsmechanismen nur unzureichend wieder. Tatsäch-             fenbar selbst für Aktivisten wie Volodymyr Parasyuk, der
lich wird in Kiew eine baldige Umbildung der Regierung         am Abend des 21. Februar mit dem Sturm auf das Re-
im Sinne Poroschenkos erwartet, zumindest, was einige          gierungsviertel gedroht hatte und damit womöglich die
der »technokratischen« parteilosen Ministerien angeht,         Flucht des Präsidenten ausgelöst hatte, keine Priorität
u. a. das Außenamt.                                            mehr. Er rief zumindest bereits zur Räumung der Reste

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STEPHAN MEUSER | NACH DER WAHL IST VOR DER WAHL

des Protestcamps auf. Nachdem sich der »Euromaidan«                       stellung eine mediale Bühne für die Propagierung der
demnach physisch in Auflösung befindet und der träge                      politischen Ziele des Maidans bieten will und recht of-
fließende Kiewer Verkehr sich demnächst wieder über                       fen von der Notwendigkeit der Ausbalancierung »pro-
die Prachtstraße Kreschtschatyk wälzen wird, stellt sich                  russischer Propaganda« spricht. Nahezu sämtlichen
die Frage, was vom Elan der zivilgesellschaftlichen Ak-                   nach Kiew einfliegenden westlichen Delegationen
tivisten geblieben ist. Ihre zentralen Forderungen nach                   wird über ihre Botschaften angeboten, dort Presse-
»neuen Gesichtern« in der Politik, einem Aufbruch nach                    gespräche abzuhalten und Interviews zu geben. Hier
Europa und einem Ende der Korruption, die den Winter                      hat also zumindest der Aspekt der Vernetzung mit den
über die politische Debatte auf dem Maidan bestimm-                       potenziellen »westlichen Gebern« bereits gut funkti-
ten, sind jedenfalls derzeit noch nicht erfüllt. Eine kurze               oniert.
Zwischenbilanz ergibt folgendes Bild: Das einzige wirk-
lich neue Gesicht in der ukrainischen Politik ist – und                   Eine Institutionalisierung und Verstetigung der Maidan-
das auch nur mit Abstrichen – Witali Klitschko, der vom                   Bewegung in parteipolitsicher Hinsicht ist bisher an meh-
Maidan eher wenig geliebt und gelegentlich ausgebuht                      reren Faktoren gescheitert: Zum einen fehlt es an unum-
wurde. Der proeuropäische Kurs der Ukraine scheint                        strittenem Führungspersonal mit Ausstrahlungswirkung
mit der Unterzeichnung des politischen Teils des Asso-                    auf das Land und die Regionen. Die auf dem Maidan
ziierungsabkommens am 21. März zwar eingeschlagen,                        vertretenen Gruppen waren sehr gut in puncto Selbst-
kann sich aber unter den aktuellen außen- und sicher-                     organisation und Improvisation, aber nun scheint ihnen
heitspolitischen Bedingungen derzeit nicht wirkmächtig                    ihre Heterogenität und Zersplitterung zum Verhängnis
entfalten. Und der Ruf nach dem Ende der Korruption                       zu werden. Einzig bei den Kiewer Stadtratswahlen konn-
bleibt erst einmal ein frommer Wunsch, wobei in diesem                    ten aus dem Maidan hervorgegangene Kleinstparteien
Bereich auf Druck der Zivilgesellschaft immerhin bereits                  einige Mandate in der Ratsversammlung gewinnen. Zum
ein wichtiges Gesetzesvorhaben zu öffentlichen Aus-                       zweiten verhindern die Parteiengesetzgebung und die
schreibungen3 verabschiedet wurde.                                        faktischen finanziellen Notwendigkeiten eine erfolgrei-
                                                                          che Ausgründung einer konkurrenzfähigen Partei oder
Aus dem »Euromaidan« hervorgegangen sind derweil                          Bürgerbewegung. Sollte sich das Szenario einer raschen
zwei neue Institutionen bzw. institutionalisierte Formen                  Neuwahl als richtig herausstellen, dann kommt der Zeit-
von »Umbrella-NGOs«. Zum einen gründeten verschie-                        faktor erschwerend hinzu. In so kurzer Frist – mit einer
dene Initiativen und Nichtregierungsorganisationen Ende                   Neuwahl noch 2014 – würden die daran interessierten
Februar 2014 gemeinsam die »Reanimation Package Re-                       etablierten Parteien und politischen Akteure es New-
forms Initiative«, die seither verschiedene Gesetzesini-                  comern praktisch unmöglich machen, kampagnenfähig
tiativen zu Transparenz, Justizreform und Öffentlichem                    zu werden.
Rundfunk lanciert hat. Über diese Gruppe versuchen
Teile der organisierten Zivilgesellschaft das »Momen-                     Was von der »Revolutionsstimmung« bleibt, ist die
tum« für weitergehende Reforminitiativen zu nutzen,                       Möglichkeit, dass sich mit der zu erwartenden sozialen
wobei deren Protagonisten ganz offen eingestehen, dass                    und wirtschaftlichen Talfahrt erneut Unzufriedene auf
diese nur politische Wirkung entfalten werden, wenn der                   dem Maidan sammeln könnten. Auch dann, wenn die
Druck westlicher Geberländer anhaltend stark bleibt. Die                  jetzt neu in ihre Ämter gekommenen Politiker nicht die
EU bzw. »der Westen« allgemein werden aufgefordert,                       Erwartungshaltung bedienen, kann es durchaus sein,
die Fehler der Zeit nach der Orangen Revolution von                       dass sich der Ärger in einer neuerlichen Protestbewe-
2004/05 nicht zu wiederholen, als das Interesse an der                    gung entladen wird. Der »Maidan reloaded« schwebt
Entwicklung in der Ukraine recht bald wieder abnahm.                      nach den Ereignissen des letzten halben Jahres immer
                                                                          über den Köpfen der politisch Handelnden. Was häufig
Das zweite Produkt der »Euromaidan«-Bewegung ist                          zu hören ist in Kiew: Auch 1917 folgte auf den Februar
das »Ukraine Crisis Media Center«4, das laut Selbstdar-                   der Oktober und auf die erste Revolution die zweite.
                                                                          Die Frage ist nach den arabischen Erfahrungen aller-
3. Am 10. April 2014 verabschiedete die Rada das Gesetz Nr. 2289-VI       dings erlaubt, ob diese dann noch demokratisch inspi-
über »öffentliche Auftragsvergabe« mit strengeren Vergaberegeln und
umfangreichen Anti-Korruptions- sowie Transparenzbestimmungen.            riert wäre oder eine (erneute) autoritäre Wende bevor-
4. http://uacrisis.org.                                                   stünde.

                                                                      5
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Stiftung in Kiew.                                               Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland

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